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Karla hat die Arbeit in der Werbeagentur satt und träumt von einem Neuanfang als Illustratorin. Überraschend bekommt sie eine erste Chance und zeichnet während eines Urlaubs in der Toskana Entwürfe für ein Buch mit Katzengeschichten. Doch dabei kommt ihr so allerhand in die Quere …

 Nicht nur muss ihr Freund aus beruflichen Gründen nach München zurückreisen, ein hartnäckiger Verehrer rückt Karla auf die Pelle und sie wird von der Großfamilie des Hausverwalters vereinnahmt – auch das Zeichnen von Katzen ist schwieriger als gedacht. Zum Glück stellen sich im Garten des Ferienhauses sehr rasch lebende Modelle ein, und Karla findet in dem Maler Lucien einen Vertrauten und Berater.

 Gerade als sie sich am Ziel ihrer Träume glaubt, holen sie die Schatten der Vergangenheit ein …

 

Hermien Stellmacher zog im Alter von 15 Jahren von Amsterdam nach Deutschland. Sie studierte dort Grafik-Design und illustrierte zahlreiche Bücher und verzweifelte schon an so mancher Katzendarstellung. Sie lebt mit ihrem Mann und einem Kater in der Fränkischen Schweiz. www.hermien-stellmacher.de. www.facebook.com/hermien.stellmacher.autorin/

 

Im insel taschenbuch ist außerdem erschienen: Cottage mit Kater (it 4388)

 

 

HERMIEN STELLMACHER

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ROMAN

Insel Verlag

 

 




Für Alex

 

 

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4574.

© Insel Verlag Berlin 2017

© 2017 by Hermien Stellmacher

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

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Umschlag: zero-media.net, München

Umschlagfoto: Stefano Paterna/mauritius images; FinePic®, München

eISBN 978-3-458-75205-9

www.insel-verlag.de

Katzenglück und Dolce Vita

 

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1

Es sei ganz einfach, hatte der Mann an der Rezeption erklärt. »Gleich gegenüber gibt es Fahrkarten, und dann gehen Sie immer geradeaus. Sie können die Haltestelle gar nicht verfehlen.«

Ich überquerte die Gasse. Der Himmel über Bologna war strahlend blau. Im Tabacchi-Laden roch es nach Zigarren und gebrannten Kaffeebohnen. Der Inhaber sortierte Lottoscheine und diskutierte lautstark mit der Kundschaft. Ich kämpfte mich zu ihm durch, vorbei an Vitrinen und Regalen, in denen alles von Bürobedarf bis hin zu Süßkram und Zigaretten feilgeboten wurde.

»Buongiorno«, sagte ich. »Due biglietti per l'autobus, per favore.«

Der Mann riss zwei Fahrscheine von einer Rolle und knallte sie auf die Theke. »Due sessanta.« Ohne sich weiter um mich zu kümmern, setzte er das Gespräch mit den anderen fort. Ich legte zwei Euro sechzig auf ein kleines Tablett und ging hinaus.

Linie 28, 9:47 Uhr.

Die Busfahrkarten in der Hand, wiederholte ich die Zahlen wie ein Mantra.

Überall wurden Rollgitter hochgezogen, im Kosmetikgeschäft LUSH waren die Türen bereits offen. Der Seifengeruch, der mir in die Nase stieg, erinnerte mich an die Sendlinger Straße. Doch damit waren die Gemeinsamkeiten zwischen München und Bologna auch schon abgehakt. Die Geräuschkulisse war eine andere, die Leute sahen entspannter aus.

Ich selber war kein bisschen gelassen. Heute ging es um alles oder nichts. Ums Gehenkönnen oder Bleibenmüssen.

Die Straße mündete in eine große Piazza. Überwältigt von der Architektur und den intensiven Rot- und Ockertönen blieb ich stehen. Monumentale Bauten mit Torbögen, prächtige Palazzi mit gotischen Fenstern und Dachzinnen säumten den Platz. Dahinter ragten zwei mittelalterliche Türme in den Frühlingshimmel. Im Straßencafé vor einem Arkadengang richteten schwarz beschürzte Kellner alles für den Tag her.

Linie 28, 9:47 Uhr.

Ich eilte weiter. Immer geradeaus. Tauben- und Touristenscharen ausweichend kam ich zu einer vielbefahrenen Straße. Die Fußgängerampel sprang auf Grün, das Straßenschild bestätigte mir, dass ich richtig war: Via Dell'Indipendenza.

Ob der Name ein gutes Omen war? Vielleicht kam ich meiner eigenen Unabhängigkeit heute schon ein Stück näher. Beschwingt von dieser Vorstellung ging ich unter alten Arkaden weiter. Unter meinen Füßen Mosaiken, über mir prächtig bemalte Decken, wie in einem Freiluftmuseum.

Linie 28, 9:47 Uhr.

Als ich die Bushaltestelle entdeckte, entspannte ich mich. Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen. Doch diese Zuversicht verschwand schlagartig, als ich mir den Fahrplan anschaute: Die Linie 28 war nicht aufgelistet.

»Autobus ventotto?«, fragte ich einen Mann mit Aktentasche. Zur Sicherheit malte ich mit dem Finger eine 28 in die Luft.

Er zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Per la fiera?«

Fiera war die Messe. Ich nickte.

Der Mann deutete zuerst in die Richtung, aus der ich gekommen war, dann machte er eine Handbewegung nach rechts. »Parte dalla fermata Ugo Bassi.«

Ich sah auf die Uhr. 9:42. Panik machte sich in mir breit. Die Tasche unter den Arm geklemmt, rannte ich im Zickzack über die stark befahrene Straße, wich hupenden Autos und Bussen aus und erreichte mit klopfendem Herzen die andere Straßenseite. Dort kämpfte ich mich durch die Menschenmassen zurück.

An der Kreuzung suchte ich die Wände nach einem Straßenschild ab. Via Ugo Bassi. Außer Atem bog ich in den nächsten Arkadengang ein und rannte weiter.

Linie 28, 9:47 Uhr.

Kein Busschild weit und breit. Erst hinter der zweiten Querstraße entdeckte ich die Haltestelle und erreichte den Bus in letzter Sekunde.

Ich schaffte es noch, die Fahrkarte zu entwerten, dann fuhren wir schon los. Ich klammerte mich, obwohl ich nicht umfallen konnte, an einer Stange fest und versuchte, tief durchzuatmen. Nicht einfach bei den vielen Gerüchen um mich herum.

Der Franzose hinter mir benutzte ein süßliches Aftershave, das perfekt zu seiner näselnden Stimme passte, die Asiaten rechts von mir bevorzugten Sandelholz, die Italienerinnen zur anderen Seite rochen nach Zitrone und Moschus. Eine Mischung, die meine empfindliche Nase auf eine harte Probe stellte.

Auch sonst war die Gesellschaft kunterbunt. Jung und alt, seriös und leger. Sie unterhielten sich in so vielen Sprachen, dass die Kinder- und Jugendbuchmesse den Zusatz international redlich verdient hatte.

Während der Bus in die nächste Straße einbog, fiel mein Blick auf zwei Studenten, die zusammengequetscht auf einem Einzelsitz vor mir saßen. Sie sahen sich Illustrationen auf einem Bildschirm an.

»Boah! Wie hast du das denn gemacht?« Das Mädchen vergrößerte die Darstellung mit zwei Fingern. »Photoshop? Oder Mix?«

Der junge Mann schüttelte lachend seine Rastazöpfe. »1.0. Ganz ohne Technik. Einfach mit Pinsel und Farbe.«

Von einfach konnte kaum die Rede sein. Die ganze Illustration war in einem dunklen Petrolblau angelegt und zeigte mehrere fantasievoll gemalte Holzhäuser, die auf hohen Stelzen durch silbrige Nebelschwaden ragten. Auf dem höchsten Dach tanzte ein Paar vor einer Mondsichel.

Das Mädchen wischte über den Bildschirm. Eine dicke Seerobbendame kam zum Vorschein. In transparentem Tüll, mit einem hellblauen Hut und roten Stöckelschuhen saß sie gedankenverloren auf einer Parkbank.

Unsicher fasste ich durch das weiche Leder meiner Schultertasche nach meinem iPad. Die Zweifel und Ängste, die mich begleiteten, seit ich ernsthaft zu illustrieren begonnen hatte, waren sofort zur Stelle.

»Du wirst dich ganz schön blamieren«, tuschelten sie. »Deine Arbeiten sind nicht annähernd so gut!«

Um zu verhindern, dass der letzte Rest meines Selbstbewusstseins die Flucht ergriff, sah ich stur zum Fenster hinaus. Lebensmittelläden, Waschsalons und Reparaturwerkstätten wechselten sich mit Cafés ab, Schilder wiesen Touristen den Weg zum Hotel. Durch die einmündenden Straßen konnte ich immer wieder einen Blick auf die Innenstadt erhaschen, wo die höher steigende Sonne die Farben der Häuser leuchten ließ.

Mit jeder Haltestelle wurde die Idee verlockender, einfach im Bus sitzen zu bleiben und ins Zentrum zurückzufahren. Ich würde mit Marius frühstücken, mit ihm die Stadt erkunden und morgen in den Urlaub in die Toskana aufbrechen. Als hätte ich nie vorgehabt, die Messe zu besuchen.

In diesem Moment hielt der Bus vor einem großen Hallenkomplex. Die Türen öffneten sich zischend, und ich wurde mit den anderen Fahrgästen hinausgedrängt. In diesem Teil von Bologna herrschte die Farbe Grau vor. Nur über dem Eingangsbereich der Messe flatterten bunte Fahnen etwas Farbe ins Bild.

Meine Ängste und Zweifel waren mit ausgestiegen und ließen nicht locker. »Willst du dir das wirklich antun?«, raunten sie. »Du hast einen festen Job, du verdienst gut und wenn du das jetzt alles …«

Ich versuchte, sie nicht zu beachten, und nahm das letzte bisschen Mut zusammen. Ich hatte jede freie Minute in die Arbeiten dieser Mappe investiert. Wenn ich jetzt kniff, war alles umsonst gewesen.

Ich reihte mich in die Schlange vor den Kassen ein. Die letzten Monate kamen mir in den Sinn. Meine Freizeit war ohnehin schon eng bemessen gewesen. Doch seit ich diesen Wechsel ernsthaft in Erwägung gezogen und nebenbei angefangen hatte, zu illustrieren, war rein gar nichts mehr übrig geblieben. Sogar eines der wenigen Wochenenden, an dem auch Marius Zeit gehabt hätte, war meinem Traum, Bücher zu illustrieren, zum Opfer gefallen.

Endlich war ich an der Reihe und gab meine Personalien in den Registriercomputer ein – Name: Karla Becker, Alter: 38, Wohnhaft: München, Germany. In der Sparte ›Beruf‹ gab es eine große Auswahl, und ich schwankte zwischen Mediendesignerin und Illustratorin. Das eine war ich bereits, das andere wollte ich werden …

Ich entschied mich für Letzteres. Auch wenn ich noch keine Veröffentlichung vorzuweisen hatte, behielt ich damit mein Ziel fest im Auge.

 

Rote Hinweisschilder zeigten mir den Weg zur Halle 30, wo ich Termine vereinbart hatte. Ich beschleunigte mein Tempo, vorbei an Aufstellern und Werbetafeln, die Verlage und Sonderschauen anpriesen. Doch kurz darauf hielt ich abrupt an.

Links und rechts standen riesige Pinnwände, die über und über mit Angeboten und Arbeitsproben bedeckt waren. Viele Illustratoren hatten Visitenkarten beigefügt, manche Bewerbungen waren als raffinierte Pop-ups gestaltet.

Verwirrt überflog ich die Texte. Zeichner aus aller Welt priesen sich und ihre Arbeiten an. Nur ich hatte nichts dergleichen vorbereitet. Meine Zweifel meldeten sich auf der Stelle zurück.

Ich überlegte, wie der Text meiner Annonce aussehen könnte: »Kreative Senior-Artdirektorin möchte wieder ein selbstbestimmtes Leben führen. Zeichnet gut, tanzt mit allen Computerprogrammen Tango und ist zu (fast) allem bereit!«

Ich verwarf die Idee. Ich würde es wie geplant durchziehen. Es musste auch so klappen.

Ich folgte den Wegweisern um die trostlosen Gebäude herum. Am Ziel angekommen, blieb ich vor einer verspiegelten Tür stehen. Ich überprüfte mein Make-up und zog meinen Blazer zurecht. War das dunkle Agentur-Outfit nicht zu spießig für diese Messe? Hätte ich lieber etwas Bunteres anziehen sollen?

Abgesehen davon, dass ich auch privat nur Grau und Schwarz trug, war es für solche Überlegungen ohnehin zu spät. Ich zog die wuchtige Tür auf und betrat die Halle, in der sich mein Schicksal heute entscheiden würde.

Ich ging an den ersten bunten Verlagsständen entlang. Als nach der ersten Reihe eine zweite, ebenso bunte folgte, fragte ich mich, ob ich hier richtig war. Meine Arbeiten passten in keinster Weise zu diesen Häschen und Piraten. Und schon gar nicht zu den rosa gekleideten Prinzessinnen, die mich von vielen Covern anglitzerten.

Das ist nicht meine Welt. Hier gehöre ich nicht hin!

Suchend ging ich weiter umher, in der Hoffnung auf einen Verlag mit Geschenkbuchprogramm zu stoßen. Schließlich hatte ich in den Buchhandlungen in München einige entdeckt und wunderte mich, dass Titel dieser Art hier gar nicht vertreten waren. Hatte ich mich so getäuscht? Hätte ich mich besser informieren müssen?

Ich war nicht die Einzige, die orientierungslos umherirrte. Auch andere Besucher sahen sich das Angebot unsicher an. Doch im Gegensatz zu mir waren sie unendlich jung. Hatte die Bezeichnung ›senior‹ in der Agenturwelt etwas mit Berufserfahrung und Einfluss zu tun, schien ich hier zum alten Eisen zu gehören.

Ich versuchte, diese Tatsache so gut es ging zu ignorieren, und machte mich auf den Weg zu meinem ersten Termin.

 

Als ich die lange Schlange am Verlagsstand sah, glaubte ich zuerst, mich geirrt zu haben. Doch meinem Terminplaner zufolge war ich genau hier verabredet. Nachdem ich um die Wartenden herumgegangen war, entdeckte ich ein Schild: Illustratorendienst. Dabei schien es sich um ein Speeddating für Zeichner zu handeln. Eine Verlagsangestellte saß an einem Tisch und schaute sich in schneller Folge die Arbeiten der Bewerber an.

»It's rather boring«, sagte sie gerade zu der Japanerin, die ihr gegenübersaß. »I think you have to work hard!«

Ein Blick auf die Arbeiten zeigte mir, dass sie Recht hatte. Die Figuren hatten auf allen Bildern eine identische, nichtssagende Mimik, die Hintergründe waren blass und ohne jegliche Perspektive. Eine Szene glich der anderen.

»He! Hinten anstellen«, sagte eine junge Frau, die es fast geschafft hatte. »Wir warten alle.«

Ich entschuldigte mich und ging zum Ende der Schlange zurück. Waren im allgemeinen Messegewimmel durchaus Anzugträger unterwegs, fühlte ich mich in meiner Agenturuniform zwischen den bunt gekleideten Illustratoren buchstäblich wie das schwarze Schaf.

Lange blieb ich nicht das Schlusslicht. Immer mehr Leute stellten sich an. Zwei Studenten vor mir unterhielten sich über einen Empfang, der an diesem Abend im Zentrum stattfinden würde. Während ich ihnen mit einem Ohr zuhörte, überlegte ich, ob ich bei diesem Zirkus wirklich mitmachen wollte. Mir war klar gewesen, dass man in der Verlagsszene nicht auf mich wartete, aber dass die Konkurrenz so groß war, hatte ich nicht geahnt.

Langsam bewegte sich die Schlange vorwärts.

»Warst du schon am Stand der IO?«, fragte der Typ seinen Freund, der eine riesige Mappe neben sich stehen hatte. »Die machen Beratungen.«

»Die was?« Der Freund stellte die Frage, die auch mir auf der Zunge lag.

»Die Illustratorenorganisation.« Er zeigte zum Ende der Halle. »Gleich neben dem deutschen Gemeinschaftsstand. Die haben mir richtig gute Tipps geben können.«

»Wenn ich das hier überlebe, mache ich mich dort mal schlau«, antwortete der Student mit der Mappe. Wieder ging es ein wenig vorwärts.

»Tote hat es hier meines Wissens noch nie gegeben.« Der andere zog eine Grimasse. »Nur viele geknickte Seelen. Aber die werden abends mit Prosecco wiederbelebt.«

Links neben mir lagen Bilderbücher zur Ansicht aus. Kleine, tapfere Ritter verteidigten Burgen im Sandkasten, direkt daneben schlossen drei Schäfchen Freundschaft nach einem Streit.

Einen Meter weiter stand ich neben den Büchern für die ganz Kleinen. Zögerlich fuhr ich mit der Hand über den Plüschbauch eines Entchens. Das weiche Plastik des Covers verströmte einen Geruch, der an Vanille erinnerte. Wie der Geruch, den ich bei meiner Freundin Katrin wahrgenommen hatte, als ich sie zum ersten Mal nach der Geburt ihres Kindes besuchte. Ein Treffen, das ich nie mehr vergessen werde.

Kaum habe ich unten geklingelt, steht Stefan in der Haustür, einen vollen Windeleimer in der Hand. »Hallo! Die Mama ist oben!« Ohne weitere Begrüßung eilt er hinaus.

Ich gehe durch das Treppenhaus in den ersten Stock, die Tür ist angelehnt. Im Flur riecht es nach Vanille und Babyöl. Während ich meine Jacke aufhänge, klingelt das Telefon. Der AB springt sofort an: »Katrin, Stefan und die kleine Mia sind grad beim Stillen, Windelnwechseln, Trösten oder holen den fehlenden Schlaf von heute Nacht nach. Wenn wir wieder Zeit haben, rufen wir gern zurück. Das kann aber dauern.«

In einem Zimmer hinten höre ich Stimmen. Als ich hineingehe, verstummt das Gespräch. Ich fühle mich wie ein Eindringling.

Mama Katrin strahlt, als sie mich sieht. Sie sitzt in einem Schaukelstuhl, das kleine Wesen an ihrer Brust trinkt mit geschlossenen Augen. Vorsichtig umarme ich sie.

»Schön, dass du da bist«, sagt sie. »Es gibt Kräutertee. Wenn du aber lieber Kaffee möchtest, macht der Papa dir sicher welchen.«

Enttäuscht, Katrin nicht für mich zu haben, setze ich mich zu den beiden anderen Frauen und ihren Säuglingen in die Sitzgruppe. Während das Gespräch langsam wieder in Gang kommt, sehe ich mich im Wohnzimmer um. Die Vorhänge sind neu, auch die Bücherregale. Auf dem alten Vertiko, das wir vor Jahren vom Flohmarkt nach Hause geschleppt haben, liegen jetzt Windeln.

Katrin stellt mich ihren Gästen vor. Susanne mit dem kleinen Max, Diana mit der schreienden Anna scannen mich mit kritischem Blick. Ich bin keine von ihnen. Ich bin allein.

Da ein Aufenthalt in ihrer Mitte ohne Visum unzulässig ist, werden meine Personalien gewissenhaft überprüft. Ja, ich habe einen Mann, nein, ich bin weder verheiratet, noch heißen wir Papa und Mama. Nein, wir haben kein Haus und auch keine große Wohnung. Ja, obwohl schon 38, arbeite ich immer noch in der Werbung. Ja, richtig viel, und ja, ich weiß, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt, die nächste, höhere Lebensstufe zu erreichen: den Mutterstatus.

Dennoch gewährt man mir eine Kostprobe ihres Glücks. Katrin legt mir plötzlich das Baby auf den Schoß. »Ich glaube, Mia möchte dich kennenlernen.«

Bevor ich mich innerlich wappnen kann, liegt sie weich und schwer in meinen Armen, spüre ich die Wärme des kleinen Körpers. Zwei große Augen mit langen Wimpern fixieren mich. Ich muss mich beherrschen, meine Nase nicht in ihre Halsbeuge zu stecken, um den betörenden Babyduft tief in mich aufzusaugen.

Verstohlen streiche ich über den weichen Flaum auf ihrem Köpfchen und betrachte die zarte Haut, die perfekt geformten Ohrmuscheln.

»Das habt ihr gut hinbekommen!«

Ich würde ja auch gern, möchte ich rufen. Aber versteht denn niemand, dass es unmöglich ist? Kann keine von euch nachvollziehen, wie groß meine Angst ist, ein solch hilfloses Wesen ins Unglück zu stürzen? Dass ich keinen Plan habe, falls sich Fehler wiederholen und ich in die Fußstapfen meiner Eltern trete?

Ich gebe das Kind der Mama zurück, verabschiede mich überstürzt und renne mit klappernden Absätzen die Treppe hinunter. Erst als die U-Bahn sich in Bewegung setzt, beruhigt sich mein Herzschlag.

Wenn ich wieder Zeit habe, komme ich gern zurück. Aber das kann …

»He, dauert es noch lange?« Die forsche Mittzwanzigerin, die hinter mir stand, zeigte auf die Schlange, die sich längst weiterbewegt hatte.

»Sorry!« Als wäre es glühend heiß, ließ ich das Buch zurückfallen. Nur noch die beiden Studenten vor mir, dann war ich an der Reihe. Noch war Zeit zu fliehen.

Nein. Ich würde die Sache durchziehen. Genauso meine Frau stehen wie bei schwierigen Kundenpräsentationen. Und schon war es so weit.

Die Mappensichterin schüttelte mir kurz die Hand und kam sofort zur Sache. »Sie haben einen ganz netten Strich«, sagte sie, während sie Fragmente heranzoomte. »Entstehen Ihre Arbeiten am PC

»Unterschiedlich.« Ich zeigte auf die Darstellung einer schwarzweißen Katze, die zusammengerollt auf einer Bank in der Sonne lag. »Die Katze hier ist gezeichnet, Teile der Collage habe ich am PC erstellt.«

Ich hatte mit Katzen nicht viel am Hut, und die Arbeit war eher zufällig entstanden. Aber die Szene gefiel mir, weil das Tier eine solche Ruhe ausstrahlte.

»Haben Sie schon mal für einen Verlag illustriert?«

»Ich bin Designerin in einer großen Agentur. Da zeichne ich viel.«

»Ja, man sieht gleich, dass Sie aus der Werbung kommen«, sagte sie, als sie bei den letzten Arbeiten angekommen war. »Tut mir leid, aber ich sehe Sie überhaupt nicht im Kinderbuch. Vielleicht … bei den Geschenkbüchern.« Sie reichte mir das iPad zurück. »Wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf: Katzen sind zwar im Internet der letzte Schrei, aber im Buchsektor meiner Meinung nach ziemlich out. Nicht, dass sie Ihnen am Ende noch einen Strich durch die Rechnung machen.«

»Apropos Geschenkbuch«, sagte ich im Aufstehen. »Wo finde ich denn diese Verlage?«

»Hier gar nicht«, sagte sie spitz, »dies ist eine Messe für Kinderbuchverlage«, und begrüßte die nächste Bewerberin. Ich war entlassen.

Der Schweiß brach mir aus, und mit schnellen Schritten eilte ich auf einen der Ausgänge zu.

Das hier ist nicht meine Welt. Hier gehöre ich nicht hin!

Erst als ich draußen an der Hallenwand lehnte, frische Luft einatmete, wurde ich ruhiger.

Während ich erneut eine Flucht zurück in die Innenstadt erwog, vibrierte mein Handy. Eine Nachricht von Robert, meinem Chef, seines Zeichens Creative Director der Werbeagentur.

Brauche deinen Support! Welches Motiv ist denn jetzt durch und wo hast du das auf dem Server abgelegt? Melde dich! asap!

Wütend ging ich zwischen den Hallen hin und her und dachte an die vergangenen Wochen. Alles hatte sich um den Etat eines wichtigen Kunden gedreht, wir waren Tag und Nacht zugange gewesen.

Robert hatte alles abgeschossen, was ich ihm präsentierte. Mal war die von mir ausgewählte Schrift unentschlossen gewesen, mal hatten ihn meine Ideen nicht gerockt. Ich war ruhig geblieben, hatte tief durchgeatmet und weitergemacht. Nach neuen Ideen gesucht, bis ich am späten Abend zufällig mitbekam, wie er mit der Geschäftsleitung telefonierte. Ein Gespräch, in dem er meine Ideen als seine verkauft hatte. Der Idiot hatte sogar meine Wortwahl benutzt!

Ich hatte ihn umgehend zur Rede gestellt. Langsam hatte er sich im ergodynamischen Designerstuhl zu mir umgedreht und mich angesehen, als wäre ich die Putzfrau, die ihn in seinen heiligen Gedankengängen störte.

»Ich habe gerade zugehört«, sagte ich.

»So?« Mit seiner üblichen affigen Geste strich er sich das Haar aus der Stirn. »Die Chefs fanden meine Idee rund. Wir können weitermachen.«

»Deine Idee?!«

»Jetzt mach mal kein Theater, Karla. Deine Eitelkeiten stehen jetzt nicht auf der Strategie. Mach es einfach fertig, okay? Asap. Die Präsi ist morgen gegen zehn. Bis dahin muss die Sache sitzen.«

Damit war meine Audienz beendet gewesen, und ich war wütend an meinen Schreibtisch zurückgekehrt.

Verbittert trat ich gegen eine leere Coladose und verfolgte, wie sie scheppernd unter einem Rollcontainer verschwand. Besser hätte er seine Nachricht nicht timen können. Nun wusste ich wieder, warum ich hier war. Warum ich jede freie Minute in diese Illustrationen investiert hatte. Weil ich es satt hatte, mich verheizen zu lassen. Weil ich nicht mehr rund um die Uhr, möglichst auch noch im Urlaub, nach der Pfeife eines eingebildeten Schnösels tanzen wollte. Weil ich etwas völlig anderes machen wollte.

»Fahr zur Hölle!« Ich löschte die Nachricht und schaltete mein Handy aus.

Jetzt stand bei mir anderes auf der Strategie.

 

Mein nächstes Gespräch fand mitten in der Halle statt. Der große Stand war nach drei Seiten offen und das Angebot perfekt präsentiert. Zu meiner großen Erleichterung gab es hier keine Warteschlange, und ich meldete mich bei einer pink gekleideten Frau am Empfang.

»Herr Klingenbach wird gleich für Sie da sein.« Sie zeigte auf einen Bistrotisch am Rande der Ausstellungsfläche. »Wenn Sie dort bitte so lange warten würden? Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

Überrascht von diesem Kontrastprogramm nickte ich. Einen Augenblick später brachte mir ein spindeldürres Mädchen Kaffee und Kekse.

Um mich herum wurden Gespräche geführt, Verkaufszahlen diskutiert, und immer wieder fielen sich Leute begeistert in die Arme. Anscheinend war die Branche klein. Man kannte sich.

Zwei Kekse später tauchte Herr Klingenbach auf. Ein hochgewachsener Mann mit gegeltem Haar und Dreitagebart. Sein grünbraun karierter Anzug hätte bei meinen Kollegen Lachsalven hervorgerufen, doch er schien sich sehr wohl darin zu fühlen. Wiederholt strich er über den glänzenden Stoff und zupfte am Revers.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen. Die Koreaner finden immer kein Ende!« Er nahm sich mit spitzen Fingern ein Plätzchen vom Teller. »Na, dann zeigen Sie mal, was Sie für mich haben.«

Bei den ersten Illustrationen war Klingenbach ganz bei der Sache. Er fragte nach und sah sich die Arbeiten in Ruhe an. Das freute mich, und ich erläuterte ihm bestimmte Techniken näher. Bis ich irritiert aufsah. Er antwortete mittlerweile nur noch mit »Mm-mmh« und »Aha …«, und nun sah ich auch, wo sein Blick weilte. Nicht auf meinen Arbeiten. Er hielt regen Blickkontakt mit einer Frau am Stand gegenüber und rollte genervt mit den Augen.

Ich räusperte mich und sagte: »Ganz schön was los hier.«

»Pardon, ich war kurz abgelenkt.« Im Schnelldurchlauf scrollte er sich durch die restlichen Arbeiten. »Alles sehr, sehr schön. Aber leider nichts für unser Programm dabei. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen?« Er verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. »Weiterhin viel Glück!«

Während Klingenbach vor der Frau gegenüber einen regelrechten Balztanz hinlegte, trank ich meinen Kaffee aus. Dann erhob ich mich. Auch für mich war hier nichts dabei. Schließlich wollte ich nicht vom Regen in die Traufe kommen.

Trotz Keksen knurrte mir der Magen, und ich folgte den Pfeilen zu einer Snackbar. Ich kaufte mir ein Sandwich und ging ins Freie. Das improvisierte Café, das dort aufgebaut war, hatte den Charme eines Imbisses im Industriegebiet. Nur ein paar weiße und gelbe Bodenmarkierungen durchbrachen das Grau des Asphalts, italienisches Flair war Mangelware.

Das tat der Laune vieler anderer keinen Abbruch. Fast alle schienen sich zu kennen, riefen sich Grüße zu oder umarmten sich überschwänglich. Je fröhlicher die Stimmung um mich herum wurde, umso einsamer fühlte ich mich.

Das ist nicht meine Welt. Hier gehöre ich nicht hin!

Schnell aß ich mein Brötchen und kehrte zurück in die Halle. Lieber schlechte Luft als diese Begeisterung.

Während ich im Toilettenraum vor den Kabinen wartete, schaltete ich mein Handy ein. Um mich von meinen Niederlagen abzulenken, klickte ich mich durch diverse Facebook-Beiträge. Die Mappenfrau hatte recht: Es wurden Unmengen von Katzenbildern gepostet. Aber sollte ich die Arbeiten deshalb aus der Datei entfernen? Nein. Ich mochte sie gern.

Eine Nachricht kam herein. Sofort war mein Magen in Aufruhr. War es wieder Robert? Nein, Marius bat um Rückruf. Ich ging rasch wieder hinaus, um ihn anzurufen.

»Du errätst nie, wen ich im Hotel getroffen habe«, fiel mein Freund mit der Tür ins Haus.

»Erzähl!« Seine fröhliche Stimme gab mir das Gefühl, hier auch jemanden zu kennen und nicht ganz so einsam zu sein.

»Meinen alten Freund Daniel! Wir hatten uns völlig aus den Augen verloren, und plötzlich stand er neben mir in der Lobby. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass wir eine kleine Wanderung in den Apenninen machen. Mit dem Auto ist das ein Katzensprung von hier.«

Ich sah sein strahlendes Gesicht vor mir. Marius wanderte gern und hatte nur selten Zeit dafür. »Mach das. Viel Spaß!«

»Haben wir sicher. Und wie läuft es bei dir?«

»Na ja«, sagte ich. »Ob es mit den Illustrationen was wird, weiß ich nicht.«

»Bleib locker. Morgen fahren wir erst mal in Urlaub. Dann schauen wir in Ruhe weiter«, sagte er. »Zur Not bewirbst du dich einfach bei einer anderen Agentur.«

Einfach. Was als Trost gemeint war, rief unerwartet große Widerstände in mir hervor. Ich wollte keine andere Agentur, ich wollte ein anderes Leben.

Mein Leben.

 

Die Illustratorenorganisation hatte ich schnell gefunden. Da vor dem Schild Mappenberatung keine Warteschlange war, sah ich mich unsicher um.

»Kann ich dir helfen?« Eine junge Frau mit kurzen braunen Haaren setzte sich an den Tisch neben dem Schild.

»Wenn hier die Mappenberatung ist, ja.«

»Du bist richtig. Setz dich doch.« Sie zeigte auf einen Stuhl. »Du hast Glück, der große Ansturm ist gerade vorbei.« Sie reichte mir die Hand. »Ich bin Anna Karina.«

»Ich heiße Karla.«

Anna Karina schaute sich meine Arbeiten in aller Ruhe an. »Wo siehst du dich denn selbst?«, fragte sie nach einer Weile.

»Geschenkbuch würde mir gefallen«, sagte ich. »Blöderweise bin ich davon ausgegangen, dass diese Verlage hier auch vertreten sein würden.«

»Da wirst du hier keine Ansprechpartner finden. Aber deine Arbeiten eignen sich gut für dieses Segment.«

»Ich war mir sicher, dass einige Kinderbuchverlage auch Geschenkbücher im Programm haben. Oder täusche ich mich da?«

»Das stimmt, aber es sind wirklich nur Ausnahmen.« Sie zoomte ein paar Details heran. »Aber auch wenn Kinderbuch nicht dein Ding ist, hör dir ruhig mal an, was die Verlage hier zu deinen Illus sagen. Unterschiedliche Meinungen sind immer interessant. Das Schlimmste, was dir dabei passieren kann, ist der Satz –« 

»Passt nicht in unser Programm!«, ergänzte ich.

Anna Karina lachte. »Bingo!« Sie schrieb mir einige Verlagsnamen auf. »In Deutschland würde ich es auf jeden Fall bei diesen Adressen versuchen. Deine Collagenart finde ich übrigens super. Da würde ich weiter dran arbeiten. Das ist etwas ganz Besonderes.« Sie überlegte kurz. »Außerdem wäre es in deinem Fall sinnvoll, zwei Mappen zu machen. Eine für die Brot-und-Butter-Arbeiten und eine für die eher künstlerischen Illus.« Sie drückte mir die Hand. »Ich wünsche dir viel Erfolg!«

 

Nach diesem Gespräch fühlte ich mich ein wenig besser und beschloss, mich bis zum letzten Termin um vier Uhr bei den Verlagen aus Fernost umzusehen. Schließlich hatte es wenig Sinn, in die Stadt zurückzufahren. Im Hotel wartete niemand auf mich.

Der Rundgang führte mir vor Augen, wie verschieden die Geschmäcker waren. Ging es bei den deutschen Verlagen farblich eher gediegen zu, waren die Sachen, die hier präsentiert wurden, zum Teil so grell, dass mir die Augen wehtaten. Dabei stellte ich zu meiner großen Erleichterung fest, dass ich tatsächlich nicht schlecht zeichnete.

Als ich zur nächsten Halle abbog, um meinem Selbstbewusstsein weiter auf die Sprünge zu helfen, entdeckte ich den Hinweis zu einer Illustratorenausstellung. Minuten später fand ich mich zwischen weiß gestrichenen Trennwänden wieder.

In diesem improvisierten Raum umfing mich eine Stille, die mich überraschte. Als hätte der Messetrubel Respekt vor den Illustrationen, die hier hingen. Manche waren ganz filigran gearbeitet, andere bestanden aus kraftvoll gemalten Pinselstrichen, doch jede von ihnen zog mich in ihren Bann.

Bedächtig ging ich an den Arbeiten entlang, als wäre ich in einem Museum oder in einer alten Kirche. Nach dem zweiten Rundgang stellte ich fest, dass meine Zuversicht sich verabschiedet und Platz für meine Zweifel gemacht hatte. Ich hatte noch einen letzten Termin. Sollte ich überhaupt hingehen? Dieses Niveau würde ich im Leben nicht erreichen!

Ich dachte an die Nachricht, die Robert geschickt hatte, hörte seine hämische Stimme: »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du so was jemals hinkriegst, oder? Okay, du hast manchmal ganz nette Ideen, aber um in der Liga mitspielen zu können, musst du schon …«

Verdammt, was wenn er Recht hatte? Was, wenn ich im Geschenkbuch ebenfalls scheiterte? Was, wenn alles nur eine Schnapsidee war?

Ich zog mein Handy aus der Tasche. Ich konnte meine Existenz, meinen Job nicht wegen eines unrealistischen Traums aufs Spiel setzen. Ich musste Robert eine Antwort schicken. Asap.

Mit zitternden Händen schrieb ich ihm, wo er die gewünschten Dateien fand. Bevor ich die Zeilen abschickte, hielt ich inne. Ich brauchte einen Grund für diese Verzögerung. Am besten eine, die mich gleichzeitig in den kommenden Wochen vor ihm schützen würde.

Sorry, habe nur selten Empfang, fügte ich der Nachricht hinzu. Vielleicht würde es so funktionieren.

 

Bei meinem letzten Termin knallten die Korken. Nicht, weil ich auftauchte, sondern weil man einen Titel nach England verkauft hatte, wie eine Angestellte mir strahlend erklärte. Bevor ich bis drei zählen konnte, hatte ich ein Sektglas in der Hand und stieß mit wildfremden Menschen auf ein unbekanntes Buch und dessen Erfolg an. Der Einstieg hätte schlimmer sein können.

Als die erste Euphorie abgeebbt war, kam eine Lektorin auf mich zu. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen, Frau Becker. Aber auf diese Nachricht haben wir wochenlang hingefiebert.«

»Keine Ursache«, sagte ich. »Mir ist schon klar, dass Ihr Job nicht aus Trinkorgien besteht.«

Sie lachte. »An manchen Tagen wünscht man sich das durchaus. Aber jetzt zeigen Sie mir bitte Ihre Arbeiten. Ich bin sehr gespannt.«

»Darf ich mitgucken?« Eine Frau in meinem Alter setzte sich zu uns. Sie war mir vorher schon aufgefallen, weil sie so farbenfroh gekleidet war und tolle rote Schuhe trug. Nun sah sie mich durch ihre rotschwarze Brille freundlich an. »Ich bin Pauline Brinkmann. Quasi eine Kollegin.«

»Noch gehöre ich nicht zur Zunft«, sagte ich und überlegte, woher ich ihren Namen kannte. »Hast du nicht dieses schöne Geschenkbuch gemacht? Irgendwas mit Kakao …«

»Sind die Tage grau, brauche ich Kakao«, sagte Pauline. »Danke für das Kompliment.«

Die beiden nahmen sich viel Zeit für meine Illustrationen. Vor allem Pauline machte die Lektorin immer wieder auf Details aufmerksam und zoomte Einzelheiten heran.

Doch das Ergebnis war genauso niederschmetternd wie bei den vorherigen Terminen: Die Illustrationen passte beim besten Willen nicht ins Programm.

Mit einem Mal spürte ich eine Trauer. Die Würfel waren gefallen und die Karte, die ich gezogen hatte, war eindeutig: Gehe direkt zurück in die Agentur, gehe nicht über Los, ziehe kein neues Leben.

Ich schob das iPad in meine Tasche und verabschiedete mich rasch von den beiden. Der Kloß in meinem Hals wurde immer größer und die aufsteigenden Tränen stachen in meinen Augen.

Mit bleischweren Beinen schlich ich auf den Ausgang zu.

Das ist nicht meine Welt. Hier gehöre ich nicht hin …

Plötzlich war ich so müde, dass ich mich am liebsten auf der Stelle hingelegt und geschlafen hätte. Einfach nur schlafen und alles vergessen.

Ich hatte das Ende der Halle fast erreicht, als ich hörte, wie jemand meinen Namen rief. Überrascht sah ich Pauline auf mich zukommen.

»Nicht so schnell!« Sie stieß die Tür auf und begleitete mich hinaus.

»Deine Arbeiten gefallen mir richtig gut. Ich würde dir gern irgendwie helfen.«

»Im Ernst?«

»Aber ja! Was hältst du davon, wenn wir uns auf der Piazza zusammensetzen und überlegen, welche Verlage für dich in Frage kämen?«

Überrascht von so viel Freundlichkeit kämpfte ich erneut mit den Tränen. »Würdest du das wirklich tun?«

»Na klar. Ich warte nur auf eine Freundin, dann können wir los.«

In diesem Moment kam die aus der Halle auf uns zugerannt. »Rate mal, was passiert ist?!« Sie umarmte Pauline stürmisch. »Die machen mein Buch! Text und Illus. Ist das nicht großartig?«

Die freudige Energie der beiden Frauen war ansteckend und schickte meine Zweifel in die Wüste.

»Dann haben wir echt was zu feiern«, sagte Pauline. »Das ist übrigens Karla. Karla, das ist Jeannette.«

Die große, dunkelblonde Frau drückte mir strahlend die Hand. »Freut mich. Jetzt brauche ich aber erst mal einen eiskalten Aperol Sprizz und einen Platz in der Sonne. Danach bin ich zu jeder Schandtat bereit.«