Buchcover

Marie Louise Fischer

Hörigkeit des Herzens

Roman

SAGA Egmont

1

»Bitte, laß mich fahren!« forderte sie und streckte ihm die Hand, Fläche nach oben, mit einer nahezu flehenden Bewegung entgegen.

Er hatte die Schlüssel gerade gezückt, und einen Augenblick sah es so aus, als wollte er sie in ihre Hand fallen lassen. »Nein«, sagte er dann, bückte sich und schloß auf.

Ihr schien es, als schwanke er leicht und geriete in Gefahr, sein Gleichgewicht zu verlieren. Sie zögerte immer noch einzusteigen, als er schon hinter dem Steuer saß. Deutlich waren die Zurufe der anderen zu hören, die um die Ecke am Olivaer Platz geparkt hatten, Lachen und das Zuschlagen von Wagentüren, unterlegt von dem anund abschwellenden Gebrause der Riesenstadt, die niemals, auch jetzt nicht, weit nach Mitternacht, völlig zum Schlafen kam. Der Himmel wölbte sich in einer Dunstglocke diffusen Lichts.

Er beugte sich über den Nebensitz und kurbelte das Fenster an ihrer Seite herunter. »Du brauchst nicht mitzufahren«, sagte er mit kühler Freundlichkeit.

Diese Feststellung alarmierte sie. Er hatte ja nur zu recht. Sie beeilte sich so sehr, neben ihm Platz zu nehmen, daß sie auf den ungewohnt hohen Absätzen ihrer Abendschuhe ins Stolpern geriet.

»Na also«, sagte er zufrieden.

Sie zog ihren Mantel eng an sich und knallte die Tür ins Schloß. Gleichzeitig verfluchte sie sich und ihre ewige Nachgiebigkeit. Warum konnte sie sich ihm gegenüber nie durchsetzen? Sie hätte nur den Kurfürstendamm überqueren müssen und wäre zu Fuß in weniger als zwanzig Minuten zu Hause gewesen.

Aber sie wußte auch, daß sie dazu die Kraft nicht aufbrachte. Sie hätte schlaflos im Bett gelegen und sich wieder und wieder gefragt, wieso sie ihn im Stich gelassen hätte. Nein, sie hatte sich nicht anders entscheiden können, auch wenn sie sich jetzt wie in der Falle fühlte. Der Motor sprang ohne Schwierigkeiten an. Fabian fuhr zügig los, durch die, wenn auch nicht leeren, so doch fast freien nächtlichen Straßen. Dabei summte er vor sich hin und schlug den Rhythmus auf das Lenkrad.

Eva versuchte sich zu entspannen. Es war ein so schöner Abend gewesen. Warum mußte wieder eine ihrer tausend Ängste sie umkrallen? Fabian hatte recht, wenn er ihr vorwarf, eine Provinzlerin zu sein. Nach all den Jahren in Berlin war sie immer noch im Herzen das kleine Mädchen aus dem Nest im Taunus.

Als er an einer Ampel halten mußte, hätte sie ihn fast noch einmal gebeten, sie ans Steuer zu lassen. Aber sie wußte nur zu gut, daß sie damit nichts erreicht, sondern ihn nur wütend gemacht hätte.

Er unterbrach seinen Singsang. »Starr mich nicht so an!«

Es war ihr nicht bewußt gewesen, daß sie das getan hatte: Sein schönes Profil, der volle Mund, das feste Kinn, die leicht gebogene Nase und die hohe, gewölbte Stirn, die jetzt, nachdem er sein Toupet abgenommen hatte, das er während der Aufführung tragen mußte, erst zur Geltung kam, hatte ihren Blick mit geradezu hypnotischer Kraft auf sich gezogen. Bei seinem Vorwurf, dem oft wiederholten Vorwurf, errötete sie und zwang sich, geradeaus zu sehen.

»Du warst wundervoll in deiner Rolle!« stieß sie hervor.

Er zuckte die Achseln. »Nu, na, nebbich.«

»Doch, warst du! Alle haben das gesagt.«

»Hör nicht auf das Gerede von Kollegen. Hinter dem Rücken tönt das anders.«

»Paul Seiters hat das bestimmt ernst gemeint.«

Wieder zuckte er wegwerfend mit den Schultern. »Der alte Seiters, dein großer Schwarm!«

»Ist er gar nicht.«

»Der hat leicht loben. Für den bin ich ja keine Konkurrenz. Was habe ich denn gespielt? Den Butler. Nichts als eine belanglose Charge. Eine Wurzenrolle dritter Ordnung.«

»Aber du warst großartig. Allein, wie du das ›Sir‹ gesagt hast.« Sie versuchte, ihn nachzuahmen. »›Wie Sie wünschen, Sir!‹ Lach nicht, ich kann das nicht wie du. Niemand kann das. Du wirst der Kritik auffallen.«

»Na ja«, gab er selbstgefällig zu, »ich habe aus einem Nichts eine runde kleine Sache gemacht.«

»Einen Charakter!«

»Du weißt ja, wie ich an die Dinge rangehe. Ich begnüge mich nicht mit dem, was der Mann auf der Bühne zu sagen hat, sondern ich frage mich: woher kommt er, was sind seine Träume, seine Ziele, wie steht es mit seinem Privatleben? Ein Butler, den man nur als Butler darstellt, wäre doch nichts als ein Klischee.«

»Ja, genau das bringst du auf die Bühne«, sagte sie begeistert, und ihre Augen hingen, ohne daß sie es merkte, schon wieder an seinem Gesicht, »damit fesselst du das Publikum. Ich schwöre dir, alle haben immer nur auf deinen Auftritt gewartet.«

»Nun übertreib man nicht, Kleene«, mahnte er in seinem artifiziellen Berlinerisch, konnte aber ein geschmeicheltes Lächeln nicht unterdrücken.

»Eines Tages«, prophezeite sie, »früher oder später wirst du der Größte sein.« Sie hatte inzwischen vergessen, daß er angeheitert, wenn nicht gar angekokst war. Er sprach, schien ihr, so vernünftig und sicher. Es war ihm wieder gelungen, sie ganz in seinen Bann zu ziehen.

»Warum kriegst du es nicht in deinen kleinen Schädel, daß mir an der Schauspielerei nicht das mindeste liegt? Das ist doch alles nur Possentanz. Was ich wirklich will …«

»… ist Schreiben!« ergänzte sie. »Aber das weiß ich doch. Nichts hängt enger zusammen. Wer könnte bessere Stücke schreiben als ein Schauspieler, dem die Gesetze des Theaters in Fleisch und Blut …« – Sie hatte voll Begeisterung geredet, unterbrach sich aber abrupt, als ihr bewußt wurde, daß sie nichts anderes tat, als ihn zu zitieren. Sie war dabei, einen seiner Sprüche zu wiederholen, die sie hundertmal gehört hatte. – ›Wie ein Papagei!‹ dachte sie. ›Er muß mich ja für ein ganz albernes Ding halten!‹ Ihr fiel auf, daß auch sie selber nicht mehr ganz nüchtern war.

Aber ihre Einfalt schien ihn diesmal nicht zu stören. Ungehemmt vertiefte er sich weiter in das Thema, das ihm mehr als alles andere am Herzen lag. Das Echo ihrer Stimme beflügelte ihn noch, und er merkte nicht einmal, daß es allmählich matter wurde.

Sie hatten das Rathaus Kreuzberg hinter sich gelassen und waren in die Baruther Straße eingebogen. Fabians Erregung übertrug sich nicht auf seine Begleiterin. Sie spürte, wie sie allmählich müde wurde. Seine Ausführungen, die sie so gut kannte, bedeuteten ihr kaum etwas, aber sie genoß den Anblick seines Gesichtes, das im schwachen Schein des Armaturenbretts schimmerte, die blonden Haare, die ihm über den Kragen fielen, und die Bewegungen seiner ausdrucksvollen schlanken Hände, die er zuweilen, um seine Worte zu unterstreichen, vom Lenkrad hob. All das war ihr wie ein Traum.

Ein heftiger Stoß gegen den einen der vorderen Kotflügel ließ sie jäh hochschrecken. »Was war das?«

»Nichts weiter.«

»Aber es hat doch geknallt!«

»Möglich, daß ich die Bordsteinkante gestreift habe«, erklärte er achselzuckend.

»Aber das war mehr! Halt an!«

»Wozu?«

»Wir müssen nachsehen, was passiert ist!«

Unbeirrt fuhr er weiter über die Kreuzung an der Amerika-Gedenk-Bibliothek vorbei und die Blücherstraße hinunter. »Wir beide sind doch gesund und munter oder etwa nicht?«

Sie packte seinen Arm und schüttelte ihn. »Du könntest jemanden angefahren haben!«

»Laß mich los! Sonst gibt es wirklich noch ein Unglück.«

Sie löste den Griff. »Bitte, bitte, laß uns nachsehen!«

»Stell dich nicht so an! Wenn was passiert wäre, hätte ich es gemerkt.«

»Aber es hat doch gebumst! Fast wäre ich gegen die Scheibe geflogen!«

»Bist du aber nicht. Jetzt gib Ruhe und reg dich ab. Du hast wirklich Talent, einem jeden Spaß zu verderben. Darauf kannst du dir was einbilden.«

»Spaß? Wo soll hier der Spaß sein?«

»Wirst du endlich den Mund halten? Oder muß ich noch deutlicher werden? Ich wünsche in den nächsten zehn Minuten kein Wort mehr von dir zu hören.«

Sie zuckte zusammen und machte sich so klein wie möglich.

»Sobald wir da sind, werden wir das Auto unter die Lupe nehmen«, fügte er versöhnlicher hinzu, »und du wirst sehen, daß überhaupt nichts passiert ist, du mit deinen ewigen Hirngespinsten.«

Sie schwieg, weil es nichts mehr zu sagen gab.

Der Hinterhof in der Urbanstraße, in dem Fabian zu parken pflegte, war überhaupt nicht beleuchtet. Es war stockdunkel zwischen den hohen Mauern. Hier schien alle Welt bereits zu schlafen. Nur aus den Fenstern einer einzigen Wohnung im Parterre drang zwischen den nicht ganz zugezogenen Vorhängen ein dünner Streifen Licht, zu schwach, um den Hof zu erhellen.

Fabian fand einen Platz zwischen zwei Lieferwagen. Mülleimer schepperten, als sie ausstiegen; sie hatten ein paar Katzen in die Flucht getrieben.

Eva hatte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach genommen und strahlte damit den rechten vorderen Kotflügel an. Er wies eine kräftige Delle auf; Lack war abgesplittert.

»Das ist gar nichts«, sagte Fabian, der hinter sie getreten war, »vielleicht ist die schon wer weiß wie lange drin, wir haben sie bloß nicht bemerkt.«

»Nein«, sagte Eva.

»Nicht einmal der Scheinwerfer ist kaputt.«

Sie beleuchtete den linken Kotflügel und fand ihn, wie sie nicht anders erwartet hatte, unbeschädigt. Während Fabian das Auto von beiden Seiten abschloß – es war ein Modell älteren Jahrgangs, noch ohne Zentralverriegelung und andere Schikanen –, ließ sie die Taschenlampe in der Manteltasche verschwinden.

»Oh, mein Gott!« entfuhr es ihr unwillkürlich.

»Hör auf zu jammern! Es ist ja nichts geschehen.«

Sie hatten mit gesenkten Stimmen gesprochen, fast geflüstert, nicht weil sie Angst gehabt hatten, belauscht zu werden, sondern weil sie bedrückt waren von der rabenschwarzen Finsternis ringsum. Über der Eingangstür zum Hinterhaus hatte es einmal eine Notbeleuchtung gegeben. Aber die Birne war seit langem ausgebrannt, und niemand dachte daran, sie zu ersetzen. Eva und Fabian mußten sich ihren Weg ertasten, und wenn sie sich nicht so gut ausgekannt hätten, wäre es ihnen kaum gelungen, ohne Lärm zu machen. Er drückte die Tür auf und knipste die Treppenhausbeleuchtung an. Einen Augenblick standen sie wie geblendet im Licht der nackten Glühbirne.

Eva zwinkerte mit den Augen.

»Du siehst käsig aus«, stellte er erbarmungslos fest.

›Du auch!‹ hätte sie fast zurückgegeben, brachte es dann aber doch nicht über die Lippen, weil es einfach nicht wahr war. Tatsächlich sah er blendend aus, fand sie, mit seinem scharf umrissenen Mund, der elfenbeinernen Haut und den grauen Augen, die fast schwarz wirkten im Kontrast zu seinem sehr hellen Haar. Weder die unschmeichelhafte Beleuchtung noch die Sorge um das, was geschehen war – wenn er Sorge denn überhaupt empfand –, konnten seinem Äußeren etwas anhaben. Sie hatte das schon oft und mit immer neuer Verwunderung konstatiert. Auch wenn er häßlich zu ihr war, selbst wenn er wütend wurde, verzerrten sich seine Züge nie, wie sich seine Haut auch nie verfärbte. Für sie, die rothaarige junge Frau mit der sehr weißen empfindlichen Haut, der, wie sie wohl wußte, jede Empfindung vom Gesicht abzulesen war, blieb das unfaßbar.

Er lief mit großen Schritten die Treppen hinauf, immer wieder zwei, drei Stufen überspringend, während sie mit gesenktem Kopf hinter ihm hertrottete, ungeschickt auf ihren dünnen, hohen Absätzen, und sehr unglücklich, den Tränen nahe.

Das Atelier, das er bewohnte, lag im fünften Stock, gleich unter dem Dachboden, und nahm fast die Hälfte der Etage ein. Ursprünglich hatte es riesig gewirkt und war denkbar unkomfortabel gewesen. Aber dann hatte seine Mutter, bei ihrem ersten Besuch entsetzt über die primitive Behausung ihres Sohnes, darauf bestanden, wenigstens ein Bad und eine Toilette einbauen zu lassen. Dadurch hatte der Raum an Größe verloren, dafür aber an Bequemlichkeit gewonnen. Der elektrische Herd – bei besonderen Besuchen mit einem handgewebten türkischen Tuch bedeckt – stand nach wie vor unverkleidet an der Zimmerwand; gespült mußte im Bad werden.

Der Raum war minimal möbliert, was ihn immer noch sehr groß erscheinen ließ. Es gab einige Schränke, eine überbreite Couch mit einem Bettkasten, einen Schreibtisch und zwei Sessel, die Fabian auf dem Flohmarkt erstanden hatte, einen modernen niedrigen Glastisch, einige Lampen und eine Fülle von Kissen, auf denen Besucher sich auf dem Boden verteilen konnten.

Selbstredend nahmen weder Eva noch Fabian die Einzelheiten dieses Ambientes wahr, das sie bis in den letzten Winkel kannten; beide waren sie mit den Gedanken weit fort. Er fühlte sich leicht erschöpft, glücklich über seinen Erfolg, aber schon wieder umschattet vom Aufsteigen einer vagen Depression, die nicht im Zusammenhang stand mit dem möglichen Unfall. Es war das Gefühl der Enttäuschung, die jedem Triumph auf dem Fuße folgt, eine Empfindung der Vergänglichkeit.

Er warf seinen Trench zu Boden, zog sich hastig aus, strebte ins Bad und zu Bett, erfüllt von dem Wunsch, sich sein schwindendes Hochgefühl wenigstens in ein paar schönen Träumen bis zum nächsten Morgen erhalten zu können.

Eva hingegen war erfüllt von dem Erschrecken über den Zusammenstoß. Sie hatte die Vision eines blutenden Opfers und wußte, daß sie Hilfe alarmieren mußte. Sie schlüpfte aus ihren Pumps, sammelte hastig Fabians Kleidungsstücke auf und versorgte sie auf Bügel. Hemd, Unterhose und Strümpfe knüllte sie zusammen und stopfte sie in den verschließbaren Wäschekorb, der gleich neben der Tür zum Bad stand.

Fabian lag mit geschlossenen Augen in der Wanne, deren Wasser vor Hitze dampfte.

»Ich muß noch mal weg«, verkündete sie so beiläufig wie möglich und war dankbar, daß seine Augen geschlossen blieben; sie war nicht einmal sicher, daß er sie überhaupt verstanden hatte. Aber das war ihr egal.

Sie hatte einen Blick auf ihr Spiegelbild erhascht, leicht verschwommen durch den aufsteigenden Wasserdampf. Mit den tiefschwarz getuschten Wimpern wirkte es geisterhaft blaß unter dem glatten leuchtend roten Haar.

Kurz überlegte sie, ob sie sich abschminken und umziehen sollte. Aber das würde nur einen unnötigen Zeitverlust bedeuten. So schlüpfte sie denn in ihre Turnschuhe und huschte aus der Wohnung und die Treppen hinunter.

Im Parterre klopfte sie kräftig gegen eine Wohnungstür, dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz, ein Geheimzeichen, auf das sie sich Einlaß erhoffte. Hier unten, das wußte jeder im Haus, trafen sich regelmäßig junge und alte Türken aus dem Kiez zum Karten- oder Würfelspiel, bei dem es, wie man sich zuraunte, um beträchtliche Summen ging. Natürlich war dergleichen verboten, wenn Eva auch nicht recht begriff, warum. Selbst wenn es nicht mit rechten Dingen zugehen sollte, so machte doch jeder auf eigene Verantwortung mit.

Sie mußte lange warten und hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Aber sie wußte nicht, wo sie sonst hätte telefonieren können. In Fabians Atelier hatte sie es nicht gewagt, denn er war unberechenbar. So genüßlich er auch im Bad gelegen hatte, war es ihm doch durchaus zuzutrauen, daß er mit einem Satz auf den Beinen gewesen wäre und ihr eine fürchterliche Szene gemacht hätte. Die Zelle an der nächsten Ecke war die meiste Zeit beschädigt oder außer Betrieb, und die Lokale waren geschlossen. Nur hier, bei Emin Atta, wurde am Wochenende die Nacht zum Tag gemacht.

Endlich wurde die Tür, bei vorgelegter Kette, einen Spaltbreit geöffnet.

»Tut mir leid, daß ich störe!« sagte sie.

Die Tür wurde wieder geschlossen, und eine Sekunde lang fürchtete sie, einfach ausgesperrt zu werden. Aber dann hörte sie, daß die Kette drinnen ausgehakt wurde. Dann erst öffnete sie sich so weit, daß Eva im trüben Licht der Flurbeleuchtung den Wohnungsinhaber erkennen konnte. Emin Atta, ein stämmiger untersetzter Mann Mitte Vierzig, wirkte, trotz der vorgerückten Stunde, frisch und ausgeschlafen. Sein glattes Gesicht zeigte, daß er sich vor Beginn, vielleicht sogar noch einmal während der Nacht, rasiert hatte. Hemd und Hose waren makellos sauber.

»Das tust du, Eva!« erklärte er, nicht einmal unfreundlich. »Was willst du?« Er schloß die Tür hinter ihr.

»Ich muß telefonieren.«

»Telefon bei Fabian kaputt?«

Es wäre leicht gewesen, ihm das vorzumachen, aber sie tat es dann doch nicht.

»Oder ein Geheimnis?« fragte er weiter.

»So was Ähnliches.«

Er trat einen Schritt beiseite und gab den Blick auf ein altmodisches Wandtelefon frei. »Telefonier hier.«

»Danke.«

Gedämpft durch eine geschlossene Innentür waren Männerstimmen zu hören.

Eva nahm den Hörer ab und wählte. Sie wünschte, Emin würde sie allein lassen. Aber das tat er nicht. Er lehnte, die kräftigen Arme in den aufgekrempelten Hemdsärmeln übereinandergeschlagen, gegen den Türstock und musterte sie aufmerksam. Bewußt machte er keinen Hehl daraus, daß er sich kein Wort entgehen lassen wollte.

»Polizei Notruf«, meldete sich eine kühle sachliche Frauenstimme.

»Es geht um einen Unglücksfall«, sagte Eva, »vor der Amerika-Gedenk-Bibliothek, Kreuzung Baruther-Zossener Straße.«

»Name und Adresse, bitte!«

Eva drückte die Gabel herunter und hängte den Hörer ein.

»Was für ein Unglück?« fragte Emin.

»Ich weiß nicht … ich bin mir nicht sicher …«, stotterte sie.

»Das geht mich nichts an, willst du wohl sagen. Da hast du recht. Es war eine sehr dumme Frage. Verzeih!« Er öffnete ihr die Wohnungstür.

»Aber nein, Emin, es ist doch nur natürlich, daß du dich interessierst.« Sie rang sich ein Lächeln ab und schlüpfte ins Treppenhaus. »Danke.«

Hinter ihr fiel die Tür ins Schloß, und die Kette wurde wieder vorgelegt.

Sie lief aus dem Haus, durch den finsteren Hinterhof auf die Straße. Das war etwas, das sie ursprünglich nicht vorgehabt hatte. Sie hatte gedacht, der Anruf würde genügen, sie zu beruhigen und ihr Gewissen zu entlasten. Aber die Stimme am Telefon, die ganz so geklungen hatte, als wäre sie es gewohnt, dergleichen Meldungen entgegenzunehmen – was ja auch den Tatsachen entsprach –, hatte alles noch viel realer gemacht. Eva wußte, daß sie nicht würde schlafen können, bevor sie sich nicht mit eigenen Augen vom Tatbestand überzeugt hatte.

Sie rannte leichtfüßig in ihren Turnschuhen die lange Urbanstraße hinunter in Richtung Bibliothek. Angst um sich selber empfand sie nicht. Es war nicht mehr die Stunde, in der Saufbolde unterwegs waren. Die hatten sich längst auf irgendeinen Schlafplatz zurückgezogen. Aus keiner Kneipe drang mehr Musik, und außer ihr schien keine Menschenseele unterwegs zu sein.

Aber sie konnte die Ahnung, daß etwas Schreckliches passiert sein mußte, nicht von sich schütteln. Es war ihr, als sträubten sich ihr die Nackenhaare.

Als sie die verhängnisvolle Stelle, dort, wo die Baruther und die Zossener Straße in spitzem Winkel aufeinandertrafen, erreicht hatte, wagte sie ihren Augen nicht zu trauen. Sie hatte so unbedingt erwartet, auf einen verkrümmten Körper zu stoßen, daß sie es kaum fassen konnte – nichts, aber auch gar nichts zu sehen. Sie ließ die Taschenlampe aufblitzen und beleuchtete dort, wo ihrer Meinung nach der Unfall geschehen sein mußte, den Ort. Er war leer.

Ihre Erleichterung war so groß, daß ihr fast schwarz vor Augen wurde. Tief atmete sie durch, um nicht die Besinnung zu verlieren. Erst als sie sich wieder gefangen hatte, umkreiste sie den vermeintlichen Tatort. Es war nicht auszuschließen, daß sie sich in dem genauen Punkt geirrt oder daß das Unfallopfer sich fortgeschleppt hatte. Aber es war nicht die Spur eines Zusammenstoßes zu sehen.

Also hatte Fabian doch recht gehabt. Sie hatte sich entsetzlich geirrt. Die Fantasie hatte ihr einen Streich gespielt – unendliche Erleichterung übermannte sie.

Ein Seufzer entrang sich ihr, so laut, daß sie erschrak. Dann mußte sie über sich selber lächeln. ›Du Gans‹, schalt sie sich, ›dumme, dumme Gans!‹

Dann eilte sie, schneller noch als sie gekommen war, den Weg zurück.