Buchcover

Marie Louise Fischer

Wie neu geboren

Saga Egmont

1

Als sie erwachte, wußte sie nicht, ob es Tag oder Nacht war. Ein Traum hielt sie umfangen, der sie zutiefst erschreckt hatte. Ihr Herz klopfte heftig, aber immerhin erkannte sie nun, daß es nur ein Traum gewesen war.

Er hatte fröhlich begonnen. Sie war ein kleines Mädchen gewesen, schöngemacht, in einem weißen, reich gesmokten Kleidchen. Glänzende braune Locken waren auf ihre Schultern gefallen. Sie hatte sich wie eine Prinzessin gefühlt inmitten anderer, ebenfalls herausgeputzter Kinder. Ein Fest wurde gefeiert. Was für ein Fest?

Julia konnte sich nicht mehr erinnern. Aber es hatte im Freien stattgefunden. In einem Garten? Einem Park? Einem Hinterhof?

Waren Erwachsene dabeigewesen? Sicher nicht. Ein Erwachsener wäre ihr bestimmt zu Hilfe gekommen.

Julia lag mit geschlossenen Augen da, angestrengt bemüht, den bösen Traum zu bannen.

Jemand hatte ihr im Traum ein Tuch vor das Gesicht gebunden. Kräftige kleine Hände stießen sie um sich selbst herum, bis ihr schwindelig wurde und sie ins Taumeln geriet.

Noch war alles zum Lachen, ein Spiel. Blinde Kuh. Sie wußte, sie mußte nun versuchen, die anderen zu fangen.

Alle waren zum Greifen nahe. Sie zupften sie an ihrem schönen Kleid und an den Locken. Jemand stupste sie sogar mit dem Finger auf die Nasenspitze. Aber wenn sie jemanden erhaschen wollte, streifte sie immer nur vorbei.

Doch plötzlich hatte sich die Szene geändert, ohne daß sie es sogleich gemerkt hätte. Sie war fortgefahren, die Hände auszustrecken, sich um sich selbst zu drehen, hierhin und dorthin ein paar Ausfallschritte zu machen, bis sie endlich begriff, daß niemand mehr da war. Alle hatten sie verlassen. Sie war ganz allein. Und die Binde um ihren Kopf war wie ein eiserner Ring.

Sie wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton hervor. Entsetzen packte sie. Ihr war, als wäre sie ausgestoßen und geächtet — für immer.

Julias Herzschlag beruhigte sich. Es war nur ein Traum gewesen, ein ganz dummer Traum, der nichts zu bedeuten hatte.

Oder doch? Die Augenbinde trug sie noch immer. Julia faßte sich an die Stirn.

»Nein«, ertönte eine kühle, helle Stimme, »Frau Palmer, das dürfen Sie nicht. Der Herr Professor hat es Ihnen doch erklärt, nicht wahr?« Julia fühlte, wie jemand ihr Handgelenk umfaßte und ihren Arm sanft, aber energisch hinunterdrückte. »Haben Sie das ganz vergessen?«

Julia versuchte, die Augen zu öffnen, aber es gelang ihr nicht. »Ich weiß gar nicht, wo ich hier bin«, erwiderte sie.

»Tatsächlich nicht?« Die kühle Stimme klang erstaunt.

»Nein, Schwester, ich …« Julia brach ab, weil ihr etwas an ihren eigenen Worten sonderbar erschien.

»Also doch. Sie sind ganz nahe dran, Frau Palmer. Ich bin Schwester Heidrun, und Sie liegen hier in der chirurgischen Klinik von Professor Kellermann.«

»Ich hatte einen Unfall?«

»Aber nicht doch. Ganz im Gegenteil! Sie haben sich einer Schönheitsoperation unterzogen.«

Allmählich, ganz allmählich kam die Erinnerung zurück. »Ich habe es also wirklich gewagt?« fragte sie ungläubige.

»Ja, das haben Sie, Frau Palmer.«

Sie hatte sich also freiwillig operieren lassen. Plötzlich überkam sie Angst. Wenn sie nun entstellt war? Sie hatte von solchen Fällen gehört und gelesen. Die Furcht setzte sich wie ein Alp auf ihre Brust, so daß sie kaum noch atmen konnte.

Es schien, als könnte Schwester Heidrun ihre Gedanken lesen. »Und es ist alles gutgegangen«, erklärte sie beruhigend. »Der Herr Professor war sehr, sehr zufrieden. Jetzt müssen Sie aber brav mithelfen, damit alles gut verheilen kann.«

Julia spürte, wie ihr ein Röhrchen in den Mund geschoben wurde.

»Nehmen Sie einen Schluck, das wird Ihnen guttun. Keine Angst, in ein paar Tagen können Sie wieder aus der Tasse trinken.«

Gehorsam saugte Julia und kam sich dabei ein wenig wie ein Baby vor. Das Getränk schmeckte ihr köstlich, obwohl sie nicht recht definieren konnte, was es war. Frisch gepreßter Apfelsinensaft? Vielleicht.

»So, jetzt ist’s genug.« Das Röhrchen wurde ihr wieder entzogen. »Jetzt sollten Sie noch ein bißchen schlaffen.«

»Aber ich bin gar nicht mehr müde.«

»Das werden Sie gleich wieder sein, Frau Palmer.«

»Wieviel Uhr ist es denn?«

»Halb zwei.«

»Und heute früh bin ich operiert worden?«

»Nein. Gestern. Aber hören Sie auf zu fragen. Sprechen ist nicht gut für Sie. Entspannen Sie sich lieber.«

»Ich werde es versuchen, Schwester.«

»Recht so. Ich bleibe bei Ihnen.«

Mit einem Seufzer streckte Julia die Glieder. Ich liege also hier in der Klinik von Professor Kellermann im schönen Allgäu. Umsorgt und behütet. Kein Grund zur Panik also.

Während die Minuten, die Stunden, die Tage vergingen, döste Julia vor sich hin. Manchmal schlief sie auch tief und fest ein. Wenn sie schließlich erwachte, fühlte sie sich frisch und ausgeruht. Und dann überschlugen sich die Gedanken in ihrem Kopf: Was hatte sie hierher gebracht? Wie war sie zu dem Entschluß gekommen, sich liften zu lassen?

Wenn Professor Kellermann kam, wurden die Verbände gewechselt, ohne daß man ihr erlaubte, in den Spiegel zu sehen oder ihr Gesicht auch nur zu betasten.

»Geduld, meine Liebe!« forderte der Professor immer wieder. »Folgen Sie meinem Rat: um mit den Problemen des Lebens fertig zu werden, braucht es in erster Linie Geduld. Knifflige Fragen lassen sich nicht übers Knie brechen.«

Schwester Heidrun oder eine ihrer Kolleginnen gaben ihr zu trinken, bald schon nicht mehr aus dem Röhrchen, sondern aus einer Schnabeltasse. Man führte sie zur Toilette und wusch sie mit lauwarmem Wasser von Kopf bis Fuß.

Es kam kein Besuch für sie, nicht einmal ein Anruf; sie hatte niemandem anvertraut, wohin sie sich zur »Erholung« begeben hatte. Das Radio einzustellen reizte sie nicht. Es quäkte, so fand sie, zu aufdringlich nahe an ihrem Ohr. Zudem war sie nicht in der Lage, einen Sender zu bestimmen, sondern hätte sich damit begnügen müssen, was der Leiter der Klinikzentrale für gut und richtig befand. So verziehtete sie lieber.

Julia hatte Zeit, viel Zeit. Sie konnte sich nicht erinnern, je eine solche Muße gehabt zu haben. Sie war durch ihr Leben gesaust, so jedenfalls kam es ihr vor, ohne auch nur einmal zu verschnaufen. In den letzten Jahren hatte sie sogar das Kunststück fertiggebracht, sich zu schminken, ohne sich dabei wirklich anzusehen. Sie wußte, der Anblick würde ihr nicht gefallen, und so kniff sie dabei innerlich die Augen zu.

Wann hatte es angefangen? Sie war ein so schönes Mädchen gewesen. Nein, darin täuschte sie sich nicht. Sie sah sich noch vor sich: langbeinig, braun gelockt, mit diesen tiefblauen Augen, die Robert »Veilchenaugen« genannt hatte. Ach ja, wie lange das her war!

Aber schon viel früher, als sie noch das kleine Julchen Heinkes gewesen war, hatten alle sie vergöttert: der Vater, ein einfacher Mann, der ihr keinen Wunsch abschlagen konnte, und die Mutter, die stundenlang an der Nähmaschine gesessen hatte, um ihr die schicksten Modelle zu schneidern, die sie im Laden nicht erstehen konnte. Immer war sie wie ein Püppchen gekleidet gewesen. Selbst in Jeans oder Overalls sah sie adrett und hübsch aus, als ginge es nicht zum Spielplatz oder zur Schule, sondern geradewegs zum Laufsteg.

Es gab Kinder, die sie deswegen gehänselt oder sogar mit Dreck beschmissen hatten. Aber sie hatte sich nichts daraus gemacht.

»Ihr seid ja nur neidisch!« hatte sie zurückgegeben und den Kopf in den Nacken geworfen, daß ihre glänzenden Locken nur so flogen.

Das war tatsächlich ihre feste Überzeugung gewesen, die sie gegen Pöbeleien gänzlich unverletzlich machte. Sie war immer die Schönste von allen gewesen, in jeder Klasse und in jeder Gruppe. Sehr viel eleganter als die rundliche Annelore, die sich als Tochter eines Fabrikbesitzers alles leisten konnte, aber es einfach nicht verstand, sich richtig zu kleiden.

Es war jedoch nicht so gewesen, als hätte Julia nur Neider und Spötter um sich gehabt. Im Gegenteil! Sie war beliebt gewesen. Sie hatte sich ja auch niemals aufgespielt. Schön zu sein war für sie eine Selbstverständlichkeit, und sich so hübsch wie möglich anzuziehen, gehörte einfach dazu. Sie hatte nie begriffen, daß es Menschen gab, die sich nicht darum bemühten. Ein Kleid in der richtigen Form, eine Jacke in der passenden Farbe konnte doch sogar aus dem unansehnlichsten Mädchen etwas machen. Was konnte man doch nicht schon allein mit einem schönen Seidentuch zaubern!

Bei den Lehrern hatte sie durch die Bank mit ihrem gepflegten Auftreten Mißtrauen erregt. Ihre Schulleistungen waren schlecht beurteilt worden — schlechter, als sie es verdient hatte, denn sie war alles andere als eine dumme Gans. Aber das gesamte Lehrerkollegium war sich darin einig gewesen: von einem Mädchen, das nur Kleider im Kopf hatte, war nichts Gutes zu erwarten.

Ihr hatte auch das nichts ausgemacht, denn sie hatte nur den einen Wunsch gehabt: so schnell wie möglich die Schule hinter sich zu bringen. Für sie waren ModezeitSchriften von jeher sehr viel interessanter gewesen als ein Gesehichts-oder gar ein Algebrabuch.

Schon als kleines Kind hatte Julia mit einer vorn abgerundeten Schere bunte Modelle ausgeschnitten und, auf Packpapier, ganze Szenen mit ihnen geklebt und arrangiert, Später hatten sie und ihre Mutter die neuesten Trends mit heißen Wangen studiert: Welche Richtung würde sich durchsetzen und welche im Sand verlaufen? Vor allem aber: Wie konnte man mit einfachen Mitteln ein teures Modell imitieren?

Ja, es war ihre Mutter gewesen, Johanna Heinkes, die ihr den Sinn für Mode vererbt, anerzogen und gefördert hatte.

Der große Kummer, der sie beide verband: Wo und wann hätte Julia die umwerfenden Abendroben, das raffinierte Cocktailkleid oder den verwegenen Strandanzug tragen können? Sie zu schneidern, hätte die Mutter sich durchaus zugetraut, doch es bot sich einfach keine Gelegenheit, diese Modelle auch zu tragen.

Dann kam die Tanzstundenzeit und damit die Versuchung, den vorgegebenen kleinbürgerlichen Rahmen zu sprengen. Julia widerstand, wenn auch nur schweren Herzens. Sie war schon modebewußt genug, um zu erkennen, daß overdressed genauso ein Fehler war, wie schlecht angezogen zu sein. So wurden ihre Tanzstundenkleidchen nur ein wenig raffinierter als die der anderen. Und ihre Abendkleider für den Mittel- und den Abschlußball blieben, so elegant sie auch waren, doch immer noch jungmädehenhaft.

Nur in ihren Tagträumen — und denen hing sie häufig nach — kam Julia ganz groß heraus. Da war sie ein paar Jahre älter, mindestens zwanzig, trug lange Kleider, die tief ausgeschnitten waren, kühne Minis, die ihre langen Beine zur Geltung brachten, und strenge, fast maskuline Reitanzüge. Reiterdreß — warum? Als kleines Mädchen wäre sie gern geritten, aber nie hatte das Geld dafür gereicht. Doch in ihren Träumen konnte sie reiten, als hätte sie ihr Lebtag nichts anderes gemacht. Sie trug die Breeches und die Lederstiefel, die Peitsche mit dem silbernen Knauf unter dem Arm, mit einer Anmut und Selbstverständlichkeit, die ihresgleichen suchte. Und das bedeutete ihr mehr, als in Jeans und Pulli auf einem richtigen Pferd zu sitzen.

Als Kind hatte Julia sich gewünscht, wie die Mutter zu werden, die immer so glücklich war, wenn sie mit der großen Schere Stoffe zuschnitt oder ihre altmodische Nähmaschine rattern ließ. Johanna Heinkes bestärkte sie darin, das Schneiderhandwerk von Grund auf zu erlernen — was ihr selbst nicht vergönnt gewesen war. Sie hatte sich alles selbst beigebracht.

Doch machte es sie nervös, wenn die Tochter ihr helfen wollte; kein Stich war ihr fein, keine Naht akkurat genug. Es war bitter für das kleine Mädchen zu erleben, daß alles, was sie mühevoll und mit immer feuchter werdenden Händen erarbeitet hatte, spätestens am nächsten Tag wieder aufgetrennt wurde. Zuerst geschah das heimlich, und es dauerte lange, bis Julchen dahinterkam. Es gab einen bösen Streit, und beide, Mutter und Tochter, vergossen Tränen. Sie versöhnten sich aber bald wieder. Sie hatten es ja beide nur gut gemeint. Aber Julchen hatte die Lust an Nadel und Faden verloren.

»Macht nichts!« tröstete die Mutter sie. »Warum sollst du dich auch jetzt schon damit plagen? Warte, bis du in die Lehre kommst!«

Von der Mutter angespornt, blieb das Schneiderhandwerk nach wie vor bis in die Teenagerzeit das Ziel der kleinen Julia. Das jedenfalls erzählte sie ihren Freundinnen und den Lehrern. Ihre Träume und Hoffnungen gingen jedoch weit darüber hinaus. Sie wollte Designerin werden, selbst Mode machen und entwerfen.

Aber dann starb die Mütter, und in Julias Leben tat sich ein tiefer Abgrund auf. Plötzlich — sie wußte selbst nicht, warum — war ihr die Schneiderei verhaßt. Für die Mutter — Johanna hatte auch für fremde Leute genäht — war es doch eine Fron gewesen. Stunde um Stunde hatte sie an ihrer Maschine gesessen, über die Stoffbahnen gebeugt, und hatte den feinen Staub der zerschnittenen Gewebe eingeatmet. Womöglich hatte sie dadurch ihre Lunge ruiniert, da sie, trotz der Mahnungen des Doktors, von dieser Arbeit nicht lassen wollte.

Mit ihren sechzehn Jahren fühlte Julia sich alt. Eine Schneiderlehre würde drei Jahre dauern, bis zur Meisterprüfung noch mindestens weitere vier, rechnete sie sich aus. Der Weg über eine Modeakademie kam schon aus finanziellen Gründen für sie nicht in Frage. Sieben Jahre harter und — wie sie sich eingeständ — ungeliebter Arbeit, das war für sie zu viel. Es mußte einen leichteren Weg zur Mode geben.

Der Spiegel zeigte ihr diesen Weg. Sie war hoch gewachsen, hatte schmale Hüften, eine schlanke Taille und einen festen Busen. Alles, was sie trug, kam bei ihr bestens zur Geltung. Und so reifte in ihr der Entschluß heran, Mannequin zu werden.

Sie erbettelte vom Vater die Erlaubnis, eine Mannequinschule besuchen zu dürfen. Sie wohnten damals in Ratingen, und zum Unterricht mußte sie täglich nach Düsseldorf fahren. Schon das allein erfüllte ihn mit Sorge. Aber bei all ihrer Schönheit war Julia so frisch, so unbefangen, so unschuldig, daß er schließlich doch nachgab. Im Gegensatz zu ihren Freundinnen hatte sie noch nichts mit Jungen im Sinn — es gab einfach niemanden, der ihr gefiel. Julia wartete auf ihren Traumprinzen. Sie rauchte nicht, noch trank sie, und Drogen kamen für sie überhaupt nicht in Frage.

Es erstaunte sie nicht, daß in die Schule auch Mädchen und junge Frauen aufgenommen worden waren, die kaum die Voraussetzungen für den angestrebten Beruf erfüllten. Sie dachte nie über die anderen nach, nur über sich selbst.

Erst die Leiterin, eine Frau von Kreuth, machte ihr diese Tatsache bewußt. »Meine Damen, wer in diesen Unterricht kommt«, pflegte sie zu sagen, »hat damit nicht die Garantie in der Tasche, Karriere als Mannequin oder als Model zu machen. Es wäre verantwortungslos von uns, Sie das glauben zu lassen. Aber keiner Frau kann es schaden, wenn sie das Beste aus sich herauszuholen gelernt hat.«

Die Schülerinnen, ob dünn oder mollig, klein oder groß, waren jedenfalls alle mit Feuereifer bei der Sache. Sie bemühten sich, ihre Haltung zu verbessern, lernten Schritte, Wendungen, Bewegungen und Posen, die Kunst des Schminkens und Frisierens.

Aber nur einer von ihnen, nämlich Julia, konnte Frau von Kreuth nach dem Abschluß ein ernsthaftes Angebot machen; ein Pariser Couturier suchte ein neues Gesicht für seine nächste Kollektion.

Julia würde nie vergessen, was für widersprüchliche Gefühle in jenem Augenblick auf sie eingestürmt waren: irrsinniges Glück, es so rasch geschafft zu haben; Erstaunen, daß wirklich ihr das passierte; Angst, der Vater könnte es verbieten; ein schlechtes Gewissen, ihn allein zu lassen, und Unsicherheit, weil sie kein Französisch konnte.

Frau von Kreuth begriff, wie überwältigt das junge Mädchen war. »Ich kann Ihnen natürlich nichts garantieren«, sagte sie einschränkend. »Sie müssen sich erst einmal vorstellen. Bisher hat man nur Ihre Mappe begutachtet. Aber immerhin ist man bereit, Ihnen die Fahrt zu finanzieren, und das bedeutet, unserer Erfahrung nach, schon sehr viel.«

»Ich kann nicht«, erwiderte Julia leise.

Frau von Kreuth hob fragend die schön geschwungenen Augenbrauen.

»Mein Vater würde mir das nie erlauben.«

»Und wenn ich mit ihm spräche?«

»Ich könnte ihn auch nicht so einfach verlassen. Es ist noch kein Jahr her, daß meine Mutter gestorben ist.«

Damit war die Entscheidung gefallen. War sie richtig gewesen? Wäre ihr Leben nicht in ganz anderen Bahnen verlaufen, wenn sie ihren Vater angefleht hätte, sie doch reisen zu lassen? Ganz gewiß. Aber sie war nicht der Typ, der über Leichen ging, weder damals noch jetzt. Doch immer wieder hatte es in ihrem Leben Momente gegeben, in denen sie bereute, der schillernden Versuchung nicht nachgegeben zu haben. Inzwischen sah sie ein, daß sie der großen Freiheit damals noch nicht gewachsen gewesen wäre. Denn so reif sie sich auch gefühlt hatte, den Freundinnen mit ihren albernen Liebschaften weit überlegen, sie war doch zu jung gewesen.

Frau von Kreuth schien derselben Ansicht zu sein, denn sie drängte nicht weiter in sie. »Schade«, meinte sie nur, »aber ich kann es verstehen. Wenn Sie denn unbedingt in Ratingen bleiben wollen …«

Julia hätte beinahe erwidert, daß es ihr genügen würde, wenn sie abends oder vielleicht auch nur am Wochenende nach Hause kommen könnte. Doch rechtzeitig begriff sie, daß es höflicher und auch klüger war, Frau von Kreuth nicht ins Wort zu fallen.

» … dann wäre wohl eine Anstellung bei der Firma ›Pro vobis‹ für Sie das richtige. Die Firma ist noch jung, drängt mit hochwertiger Mode auf den Markt. Das könnte sehr interessant für Sie werden.«

Vom Pariser Starmodel, denn als solches hatte sie sich schon gesehen, zum Hausmannequin in der Provinz, das war eine bittere Enttäuschung, und entsprechend hatte sich wohl auch ihre Miene verzogen. Was ein Hausmannequin war, wußte sie nur zu gut: ein Mädchen, das dem Modeschöpfer für Anproben zur Verfügung zu stehen hatte, nebenbei aber allerlei Bürokram erledigen mußte. Mit dem Glanz des Laufstegs hatte das nichts mehr zu tun.

Frau von Kreuth schien ihre Gedanken zu erraten. »Ich weiß, viele von euch jungen Damen scheuen die Arbeit im Büro«, sagte sie mit einem nachsichtigen Lächeln. »Ich habe das immer für einen Fehler oder auch ein bemerkenswertes Stückchen Faulheit gehalten. Im Herzen einer Firma tätig zu sein, verschafft einem Einblicke in das Innerste des Betriebes, in die Mechanismen von Einkauf, Fertigung und Verkauf, die Sie als Außenseiter nie bekommen würden. Halten Sie sich vor Augen, Julia: Mannequin kann man nicht ewig bleiben. Es ist deshalb viel klüger, von Anfang an zweigleisig zu fahren.«

Julia war vernünftig genug gewesen, das zu begreifen. Wenn sie auch nicht gerade einen Luftsprung machte, als sie die Stellung bei »Pro vobis« tatsächlich bekam, war sie doch recht froh darüber gewesen. Es bedeutete für sie, daß sie bei dem Vater und in der vertrauten Umgebung bleiben, den Kontakt mit ihren Freundinnen aufrechterhalten konnte, nicht mehr auf Taschengeld angewiesen war, sondern von nun an ein festes Gehalt bezog.

Im übrigen behielt Frau von Kreuth recht: Was sie über die Probleme der Damenmode und ihre Herstellung lernte, sollte Julia für ihr ganzes späteres Leben von Nutzen sein.

Bei diesem Gedanken glitt Julia, ohne es zu merken, ins Land der Träume hinüber.

2

Als sie erwachte, wußte sie nicht, für wie lange sie eingeschlafen war. Stunden? Oder hatte sie nur ein kurzes Nickerchen gemacht? Das Licht im Zimmer, das sie durch die dünne Mullbinde hindurch wahrnahm, hatte sich jedenfalls kaum verändert.

Sie hatte nichts geträumt — zumindest nichts, was ihr im Gedächtnis geblieben wäre. Aber sie erinnerte sich noch gut daran, was ihr vor dem Einschlafen durch den Kopf gegangen war, und knüpfte daran an.

Ihr Eintritt bei »Pro vobis«, eine imposante alte Villa am Stadtpark mit hohen Räumen und stuckverzierten Decken. Ihr Büro unterhalb der breiten Marmoftreppe, das früher wohl ein Diensthotenzimmer gewesen war. Dazu gehörten ein Kabinett mit Toilette und Waschbecken, in dem sie ihren Mantel aufhängen und ihre Tasche lassen konnte. Ein vergittertes Fenster zum Hof hinaus. Ihr Stuhl mit dem Rücken dazu, ein einfacher Tisch, eine Schreibmaschine, Karteikästen — Computer waren zu der Zeit noch nicht so verbreitet —, Regale mit Ordnern an der Wand zum Aufgang hin, an der freien Wand ein Modeposter, farbenfroh und elegant. Sie sah das alles noch genau vor sich.

Und ihre Vorgesetzten und Mitarbeiter? Wie sie heute waren, hätte sie genau beschreiben können: Elvira Hagen, die Seele des Unternehmens; Dr. Hagen, ihr Mann; Roland Marquard, der Couturier; Ilse-Lore Schneider, seine Gehilfin, die ständig mit einem besteckten Nadelkissen hinter ihm herscharwenzelt war, beflissen und voller Bewunderung. Inzwischen hatte sie längst seine Stellung eingenommen, war hart und selbstsicher geworden, eine Frau, die sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen ließ.

Aber wie waren sie damals gewesen? Damals — vor gut fünfundzwanzig Jahren. Sosehr Julia sie jetzt auch haßte, sich von ihnen betrogen, belogen und gedemütigt fühlte, sie mußte sie einmal sehr sympathisch gefunden und ihnen vertraut haben, besonders der Chefin. Ansonsten wäre sie sicher nicht so lange bei der Firma geblieben, und »Pro vobis« hätte nicht eine so große Rolle in ihrem Leben gespielt. Inzwischen wußte sie, daß Elvira ein rücksichtsloses Biest war. Wäre ihr das damals schon bewußt gewesen, hätte sie die Stelle gewechselt. Aber sie war der Firma treu geblieben. Demnach mußte sie Elvira wirklich gemocht haben.

Quälend langsam stieg das Bild der jungen Elvira Hagen vor ihrem geistigen Auge auf.

Ja, Elvira war jung gewesen, als Julia ihre Stellung bei »Pro vobis« angetreten hatte, obwohl sie es damals nicht so empfunden hatte. Sie selbst, ein halbes Kind noch, hatte in der Chefin, die Mitte zwanzig gewesen sein mochte, eine reife, überlegene Frau gesehen. Sie war hübsch gewesen, schlank und zierlich, mit ihrem damals noch naturblonden Haar. Sie war ständig in Bewegung gewesen, sprunghaft wie eine Katze, sprühte voller Ideen, mit unruhigen braunen Augen.

Ihr Mann, der mehr als sie von Finanzen und Buchführung verstand, schien sich in erster Linie der Aufgabe zu widmen, ihre rasch aufflammende Begeisterung zu dämpfen und ihr Tempo zu mäßigen. Er war schon in jungen Jahren ein schwerfällig wirkender Mann mit einem braunen Hundeblick gewesen.

Julia hatte von Anfang an den Eindruck gehabt, daß er sie mochte und daß er, wenn die Chefin mit ihr unzufrieden war, ein gutes Wort für sie einlegte. Dabei war er allerdings sehr vorsichtig und diplomatisch vorgegangen. Wenn sie allein waren, lächelte er ihr freundlich zu, hatte hin und wieder ein aufmunterndes Wort für sie und erlaubte sich sogar auch schon einmal einen Scherz, um sie zum Lachen zu bringen. In Gegenwart seiner Frau beachtete er sie jedoch überhaupt nicht. Obwohl der Aufbau von »Pro vobis« ohne ihn nicht denkbar gewesen wäre, stand er bei Elvira unter dem Pantoffel.

Mit Roland Marquard hatte Elvira es nicht so leicht. Er war der einzige in der Firma, der ihr Widerstand entgegenbrachte. Er war sehr schweigsam, ein kultivierter blasser Mensch mit auffallend schönen langen Händen, verlor nie ein unnötiges Wort, konnte sich aber ausgesprochen stur stellen, wenn es um Materialien, Stoffe, Schnitte und Trends ging. Obwohl Elvira das Sagen hatte, setzte er sich meistens durch. War dies nicht der Fall, stellte sich in der Regel im nachhinein heraus, daß er recht gehabt hatte. Elvira schenkte dem keine Beachtung, und er versagte es sich, bei der nächsten Auseinandersetzung darauf anzuspielen.

Ilse-Lore hingegen vergötterte den Meister. Jede seiner Ideen und seiner Anweisungen saugte sie in sich auf. Nur selten wagte sie selbst einen Vorschlag.

Wenn Julia, das Ende eines Seidenballens locker um sich drapiert, dastand — Marquard liebte es, die Wirkung eines Stoffes auf diese Weise abzuschätzen und sich davon inspirieren zu lassen — sagte Ilse-Lore zuweilen: »Man sollte ihn vielleicht bauschig verarbeiten!« oder »Ich stelle mir die Taille leicht gerafft vor!«

Aber keine ihrer Anregungen wurde von Marquard je aufgegriffen; selten gab er zu erkennen, daß er sie auch nur gehört hatte.

Julia schwieg. Sie war um eine anmutige Haltung bemüht, stellte ein Bein leicht vor und drehte sich in den Schultern, wenn der Designer es von ihr erwartete.

Natürlich hatte sie eigene Ideen, was aus diesem oder jenem Stoff am besten zu machen wäre. Nicht umsonst hatte sie sich jahrelang mit der Mutter über modische Effekte unterhalten und ihr beim Zuschneiden und Verarbeiten der Stoffe zugesehen. Aber sie wußte, daß ihre Ansichten hier, unter Fachleuten, nicht gewünscht waren. Jedoch empfand sie sehr stark den Reiz, der von einem ganz neuen, noch unversehrten Stoff ausging, und genoß es, ihn auf der Haut, seinen kostbaren Geruch in der Nase zu spüren.

Wenn er erst einmal zugeschnitten und zusammengeheftet war, verlor sich dieses Gefühl. Es war anstrengend, leblos wie eine Puppe dazustehen, während Marquard hier einen Kreidestrich anbrachte, dort eine Naht löste oder eine Nadel steckte. Sie konnte sich dabei selbst im Spiegel beobachten, aber selten erkannte sie, was diese kaum merklichen Änderungen bewirkten. Sie war dann froh, wenn sie endlich entlassen wurde und in ihr Büro zurückkehren durfte, wo sich, wie ihr schien, die Arbeit inzwischen angehäuft hatte.

Bei der zweiten und dritten Anprobe, wenn man das Kleid, die Jacke, die Hose oder den Mantel schon durchaus im Ansatz erkennen konnte, wurde es für sie interessanter. Sie durfte sich bewegen, um das gute Stück voll zur Geltung zu bringen, merkte auch selbst, wenn die Taille nicht saß, die Schultern zu breit geschnitten waren oder die Rocklänge nicht stimmte. Aber sie verkniff sich jede Bemerkung darüber, wenn sie nicht direkt gefragt wurde.

Einmal sagte der Meister, während er eine Naht aufriß: »Hören Sie, warum haben Sie sich nicht beklagt? Der Bund muß doch gekniffen haben.«

»Das schon. Aber ich war sicher, Sie würden es selbst bemerken.«

Es war einer der ganz seltenen Augenblicke, wo Marquard ihr freundlich in die Augen sah. »Gutes Mädchen«, lobte er sie lächelnd.

Diese Anerkennung gab ihr die Sicherheit, daß sie mit ihrer passiven Haltung richtig lag.

Die Anproben waren mühevoll, aber das Wissen darum, daß alle Modelle von »Pro vobis« ihr auf den Leib geschneidert wurden, gab ihr auch eine angenehme Genugtuung. Andererseits wurde sie dadurch auch gezwungen, ihre Linie auf den Millimeter genau zu halten. Einmal hatte sie, ohne sich etwas dabei zu denken, zu viele Weintrauben gegessen, und ihr Bauch hatte sich gebläht.

Das hatte bei dem stillen, ausgeglichenen Marquard fast zu einem Nervenzusammenbruch geführt.

»Was ist mit Ihnen?« hatte er geschrien. »Was ist passiert? Sagen Sie mir nicht, Sie erwarten ein Baby. Das dürfen Sie nicht! Das wäre eine Katastrophe!«

Julia war über seine Reaktion erschrocken gewesen, gleichzeitig aber auch geschmeichelt. Ihr Verstand sagte ihr, daß sich notfalls auch ein anderes Mädchen mit einer guten Figur finden lassen würde. Aber sie hielt es doch auch für möglich, daß gerade sie den Designer inspirierte. Jedenfalls war sie froh, ihn beruhigen zu können.

Er nahm ihre Erklärung gnädig an, grollte aber doch noch, als sie sich entschuldigt hatte: »Machen Sie das nie wieder, Julia.«