Buchcover

Eirik Newth

Die Jagd nach der Wahrheit

Die unendliche Geschichte der Welterforschung

Aus dem Norwegischen von
Gabriele Haefs

Saga

Das neugierige Tier

Niemand weiß, wann die Neugier auf der Erde aufgetaucht ist. Vielleicht gab es sie schon bei dem Geschöpf, von dem alle auf dem Land lebenden Tiere abstammen, einer Amphibie (einem Tier, das an Land und im Wasser leben kann), das vor fast 350 Millionen Jahren existiert hat. Diese Amphibie hatte ein winzig kleines Gehirn, und da Neugier vom Gehirn abhängt, empfand dieses Tier vermutlich nicht dieselbe Neugier wie wir. Trotzdem kann es durchaus ein prickelndes Gefühl verspürt haben, als es anfing, das feste Land zu erforschen, diese spannende Welt, in der hundert Millionen Jahre lang nur Pflanzen und Insekten gelebt hatten.

Die Neugier hat sich auf jeden Fall früh eingestellt, sie ist schließlich eine nützliche Eigenschaft. Ein neugieriges Tier erforscht seine Umgebung und hat größere Chancen, dort einen sichereren Wohnort, reichere Jagdgründe und einen Partner zu finden, um sich dann zu vermehren. Solche Entdeckungsreisen sind für kleine Tiere gefährlich, denn in der Natur wimmelt es von hungrigen Fleischfressern; aber die Vorteile der Neugier wiegen die Nachteile dennoch auf.

Jeder hat schon mal beobachtet, wie Katzen und Hunde ihre Schnauzen in alles stecken und wie sie jeden Winkel und jede Ecke im Haus, in dem sie wohnen, auskundschaften. Sie müssen einfach immer wieder auf Entdeckungsreisen gehen. Genauso ist das bei den Schimpansen, die enge Verwandte von uns Menschen sind. Wenn ein Schimpanse etwas Neues und Unbekanntes sieht, zum Beispiel ein Zelt, in dem ein Affenforscher sitzt, dann hat er zuerst Angst und bleibt in sicherer Entfernung. Aber nach einer Weile siegt die Neugier. Der Affe kann sich nicht beherrschen, er muss das Zelt berühren, muss daran riechen und nachsehen, ob es etwas Spannendes oder Essbares enthält.

Bei Menschen und Tieren sind die Kinder neugieriger als die Erwachsenen. Das liegt daran, dass wir durch Neugier das Leben am besten erlernen können. Wenn ein Schimpansenjunges lernen soll, allein zurechtzukommen, kann seine Mutter ihm nicht alles beibringen. Das Kleine muss so neugierig sein, dass es sich traut, auf Bäume zu klettern, alle möglichen Nahrungsmittel zu probieren und in Erfahrung zu bringen, um welche Tiere es lieber einen Bogen machen sollte.

Menschenkinder experimentieren wie Affen, gleichzeitig aber stellen sie auch immer wieder bohrende Fragen. Mit vier oder fünf Jahren beginnt das „Fragealter“. Sobald ein Erwachsener in der Nähe ist, werden die seltsamsten Fragen gestellt, zum Beispiel, warum das Telefon klingelt und was es vor dem Universum gegeben hat. Dieses Fragealter ist eine der wichtigsten Phasen im Leben. Durch Fragen und Antworten legen Kinder sich das Wissen zu, das sie brauchen, um als Erwachsene zurechtzukommen.

Es gibt noch einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen der Neugier von Affen und der von Menschen. Anders als die Schimpansen fügen wir Menschen gern Wissensbrocken zu einem Ganzen zusammen, ungefähr so wie bei einem Puzzlespiel. Wir möchten Zusammenhänge finden, begreifen, warum etwas passiert. Diesen seltsamen Drang verspüren wir vermutlich seit mindestens hunderttausend, vielleicht auch dreihunderttausend Jahren, so lange, wie wir unser großes Gehirn haben.

Manches lässt sich leicht erklären. Dass es ohne Wolken keinen Regen geben kann und dass im Sommer die Tage lang sind, konnten auch die Menschen der Urzeit ohne Probleme verstehen. Aber in der Natur gibt es auch viele schwer erklärbare Phänomene. Alltägliche Dinge wie Sonne und Sterne, Blitz und Donner – und neugeborene Kinder – waren große Rätsel. Die Menschen suchten Antworten auf ihre Fragen, aber ihnen fehlten die Hilfsmittel, die wir heute haben. Zum Beispiel ist es von großem Nutzen, schreiben zu können, wenn wir etwas Überraschendes beobachtet haben und uns dazu unsere Gedanken machen, aber die Schrift wurde erst vor 5500 Jahren erfunden. Vorher verflog alles Wissen, das nicht weitererzählt wurde.

Deshalb kann man auch gut verstehen, dass die Menschen glaubten, Gottheiten steckten hinter allem, was sie nicht erklären konnten. Eine Gottheit ist ein Wesen, das viel größere Macht über die Natur besitzt als die Menschen. Die Gottheiten waren oft unsichtbar, sie konnten aber auch Menschen- oder Tiergestalt annehmen. Sie konnten die Menschen bestrafen, sie konnten sie für gutes Benehmen belohnen. Es war wichtig, die Gottheiten milde zu stimmen, und die Menschen beteten sie an und brachten ihnen Opfer, um sich reiche Ernten, gutes Wetter und viele Kinder zu sichern.

Der Sternenhimmel war für Menschen, die an Götter glaubten, besonders wichtig. Während vieles von dem, was in der Natur geschieht, zufällig und unsicher wirkt, vermitteln uns die Sterne ein Gefühl von Sicherheit. Die Sterne wandern auf festen Bahnen über den Himmel, ihr Aussehen ändert sich nicht im Lauf eines Menschenlebens, sie gehen zu festen Zeiten auf und wieder unter. In alten Bauerngesellschaften fanden auch wichtige Ereignisse wie Saat, Ernte und die Geburt der Lämmer immer in derselben Jahreszeit statt.

Da immer dieselben Sterne zu sehen waren, wenn im Herbst das Getreide eingebracht wurde, glaubten die Menschen, die Sterne hätten das Reifen des Korns bewirkt. Die Sterne wurden zu Gottheiten, die das Leben der Menschen lenkten, und die Sterndeuterei wurde deshalb zu einem wichtigen Beruf. Als die Schrift erfunden worden war, wurden darum sehr bald Beobachtungen von Sternen und Planeten notiert. Viele Religionen gehen noch immer davon aus, dass Gott (oder die Gottheiten) oben im Himmel wohnen.

Der Glaube an Götter war für die Menschen von großer Bedeutung, und noch immer ist er vielen wichtig. Aber das Problem dabei ist, dass die Menschen sich dann oft mit den Erklärungen zufrieden geben, die sie in ihrer Religion finden.

Die alten Ägypter hielten zum Beispiel die Sonne für das Auge des Sonnengottes Ra. In Ägypten wurde nicht weiter über die Sonne geforscht, alle wussten schließlich, dass sie Ras Auge ist. Und da in der Bibel steht, Gott habe die Welt innerhalb von sechs Tagen erschaffen, fanden es viele Christen überflüssig, sich für die Entstehung der Erde und des Lebens auf unserem Planeten zu interessieren. Auf diese Weise haben Religionen die Neugier der Menschen stark eingeschränkt. Oft wurden Menschen, die nicht an die Götter glaubten, bestraft, und deshalb behielten sie ihre Gedanken lieber für sich.

So ist es auch kein Wunder, dass die Menschen mehrere hunderttausend Jahre auf der Erde gelebt hatten, ehe sie entdeckten, dass sie auch auf andere Weise denken konnten. Diese wichtige Entdeckung wurde vor gut 2500 Jahren in einem kleinen Land namens Griechenland gemacht.

Alles ist Wasser!

Wenn man etwas verstehen will, muss man mit einer Frage anfangen. Die Frage braucht nicht besonders gescheit zu sein. Vieles von dem, was wir heute wissen, haben wir gelernt, weil Menschen vor langer Zeit Fragen gestellt haben, die anderen dumm vorkamen. Das hat sich zahllose Male wiederholt, seitdem es auf der Erde neugierige Menschen gibt. Bei der Jagd nach der Wahrheit sind alle Fragen erlaubt, ob sie nun schwieriger sind („Was war vor dem Universum?“) oder einfacher („Warum haben die Marienkäfer Pünktchen?“).

Ab und zu müssen wir auch unsere Forschungen hinterfragen. Eine solche Frage ist: „Was ist Wahrheit?“

Das ist eine einfache Frage. Mit der Antwort sieht es da schon ganz anders aus. Die Forscher sagen gern, in der Natur sei Wahrheit das, was wir mit unseren Sinnen beobachten können, also das, was sich sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken lässt. Wenn jemand ein rotes Auto sieht, sagt er die Wahrheit, indem er erklärt, es sei rot. Aber viele Menschen sind farbenblind und sehen keinen Unterschied zwischen Rot und Grün. Wenn also ein Farbenblinder ein rotes Auto als grün bezeichnet, lügt er deshalb trotzdem nicht. Für ihn ist es die Wahrheit, dass Rot und Grün dasselbe sind – für jemand anderen nicht.

Ähnlich geht es auch mit unseren anderen Sinnen: Gehör, Geruchssinn, Tastsinn der Haut. Alle Sinne funktionieren so, dass die Menschen die Wirklichkeit auf ihre eigene Weise erleben. Dieses Buch erzählt von vielen unterschiedlichen Ansichten, was die Wahrheit über die Natur ist, und es zeigt sich, dass es auf die Frage nach der Wahrheit keine abschließende Antwort gibt. Vielleicht werden wir niemals eine solche Antwort finden.

Das Problem mit Wahrheit oder Unwahrheit gilt auch für das, was hier steht. Die Geschichte der Jagd nach der Wahrheit handelt davon, was die Menschen gedacht haben. Es ist für uns schwer zu verstehen, was in den Köpfen unserer Bekannten vor sich geht. Selbst bei nächsten Angehörigen ist es schwierig. Wie schwer ist es da erst, die Gedanken von Leuten zu verstehen, die vor mehreren Jahrtausenden in einem fremden Land gelebt haben.

So ein Fall ist Thales, der als der erste Forscher gilt. Er wurde um das Jahr 625 v. Chr. in der griechischen Stadt Milet geboren. Er soll ein berühmter Kaufmann und Politiker und außerdem ein fähiger Astronom und Mathematiker gewesen sein. Er sagte für das Jahr 585 v. Chr. eine Sonnenfinsternis voraus, und er riet den Seeleuten, sich am Sternbild des Kleinen Bären zu orientieren, das immer nach Norden weist und das auf hoher See als eine Art „Himmelskompass“ dienen kann. Thales hat noch viele andere wichtige Entdeckungen gemacht und gilt als einer der klügsten Griechen aller Zeiten.

Ihm werden viel mehr großartige Leistungen zugeschrieben, als ein einzelner Mensch überhaupt erbringen kann. Alles jedoch, was wir über ihn wissen, ist erst lange nach seinem Tod aufgeschrieben worden. Die Forscher wissen in Bezug auf Thales nur eins ganz sicher: Er hat die Antwort auf die Frage „Woraus ist alles in der Natur gemacht?“ gesucht.

Jeder weiß heute, dass die Erde und alles, was es darauf gibt, aus Stein, Metall, Erde, Wasser und Luft besteht und Menschen und Tiere aus Fleisch, Fett und Knochen. Das wusste Thales natürlich auch. Was er wissen wollte, war, ob alles, was wir sehen, wirklich aus einem einzigen Stoff besteht, der sich auf unterschiedliche Weise verhält. Und Thales fand eine Antwort: Alles ist Wasser!

Thales glaubte, dass Menschen, Tiere, Pflanzen und alles, was es in der Natur sonst noch gibt, aus Wasser besteht und dass die Erde eine flache Scheibe ist, die in einem riesigen Meer schwimmt. Er glaubte außerdem, dass es vor langer Zeit nur Wasser gegeben hat, aus dem dann alles andere entstanden ist. Deshalb hat er das Wasser als „Urstoff“ bezeichnet.

Es ist schon seltsam, dass Thales sich für das fließende, durchsichtige Wasser entschieden hat, das so wenig Ähnlichkeit mit Gegenständen wie Steinen oder Bäumen hat. Aber die Stadt Milet, in der Thales lebte, liegt am Mittelmeer, in warmem, trockenem Klima. Die meisten Menschen ernährten sich von der Landwirtschaft und vom Fischfang, für sie war das Wasser deshalb lebenswichtig. Thales war auch viel gereist, und er wusste, dass die größten Reiche seiner Zeit, Babylon und Ägypten, an großen Strömen lagen. Ohne Wasser können die Menschen sich nirgendwo ansiedeln, und ohne Wasser stirbt jegliches Leben. Das war einer der Gründe, weshalb Thales das Wasser für einzigartig hielt.

Eine andere Besonderheit des Wassers ist, dass es in drei unterschiedlichen Formen auftritt. Diese Formen kann man in der Küche sehen. Aus dem Wasserhahn kommt Wasser in flüssiger Form. Im Kühlschrank ist es als Eis vorhanden, also in fester Form. Und wenn man einen Topf Wasser zum Kochen bringt, dann bilden sich graue Wolken aus Wasserdampf.

Alles, was wir in der Natur sehen, tritt entweder in fester Form, als Flüssigkeit oder als Gas auf. Thales kannte nur einen Stoff, den es in allen drei Formen gibt und der sich aus einer Form in eine andere verwandeln kann: Wasser. Deshalb hielt er auch so unterschiedliche Dinge wie Bäume und Milch und Wolken nur für unterschiedliche Erscheinungsformen von Wasser.

Thales hatte eine gute Frage gestellt, spätere Forscher erkannten seine Antwort jedoch als falsch. Und dennoch: Das Wichtige an Thales ist, dass er wie ein Forscher dachte. Er hatte begriffen, dass hinter vielen komplizierten Erscheinungen in der Natur eine einfache Ursache stecken kann. Thales hatte außerdem begriffen, dass Religion unsere Fragen nach der Natur nicht beantwortet. Die Antworten liegen in der Natur selbst. Wie wir sie finden, das ist unsere Sache.

Thales behielt seine Überlegungen nicht für sich: Er fing an zu unterrichten, und nach und nach hatte er viele Schüler. Diese Schüler stellten ihrerseits Fragen, und einige gelangten zu anderen Antworten als ihr Lehrer. Zum Beispiel glaubte sein Schüler Anaximenes, alles bestehe aus Luft. Solche Meinungsverschiedenheiten waren auch etwas Neues.

Eine Religion fordert in der Regel, dass alle einer Meinung sind. Wenn jemand ein Christ sein möchte, muss er allem zustimmen, was Jesus gesagt hat. Er muss auch hinnehmen, was in der Bibel steht, obwohl ihm manches davon seltsam oder falsch vorkommt.

Wenn jemand wie ein Forscher denken will, liegt der Fall anders. Dann muss er alle möglichen Fragen stellen und seine eigenen Antworten finden. Er darf nichts nur deshalb für die Wahrheit halten, weil irgendwer es behauptet hat.

Als Thales dieses neue Denken erfunden hatte, war damit auch ein neuer Beruf entwickelt: Philosoph. Dieses griechische Wort bezeichnet jemanden, der „das Wissen liebt“. Es ist die Aufgabe der Philosophen, die Natur und die Menschen zu studieren, zu diskutieren und Bücher zu schreiben.

Einige Jahrhunderte nach dem Tod des Thales hatten sich die Philosophen spezialisiert. Die einen interessierten sich für die Natur, sie wurden „Naturphilosophen“ oder „Wissenschaftler“ genannt. Anderen ging es mehr um die Frage, wie die Menschen denken und leben. Heutzutage nennt man nur noch diese Leute „Philosoph“. Wenn dieses Buch von der Jagd nach der Wahrheit handelt, sind hier nur die Naturphilosophen gemeint.

Es war kein Zufall, dass die ersten Philosophen aus Griechenland stammten. Die alten Griechen waren tüchtige Kaufleute, kühne Seefahrer und Entdecker. Zur Zeit des Thales hatten sie rund um das Mittelmeer Kolonien gegründet. Die Griechen beschlossen auch als Erste, dass das Volk entscheiden sollte, wer regiert. Noch immer wird ein solches System mit dem griechischen Wort für „Volksregierung“ als „Demokratie“ bezeichnet.

In Griechenland fanden neue Gedanken leichter Gehör als anderswo. Das galt nicht nur für Philosophen, sondern auch für Schriftsteller, Dichter und Bildhauer. Da unsere moderne Gesellschaft weiterhin von den Gedanken der alten Griechen beeinflusst ist, nennen wir Griechenland auch „die Wiege unserer Kultur“.

Alles ist Zahl!

Warum ist Mathematik so schwierig, und wozu müssen wir uns überhaupt mit ihr herumschlagen? Die Antwort auf die erste Frage ist einfach: Es haben so viele Menschen Schwierigkeiten mit Mathematik, weil unser Gehirn nicht zum Rechnen angelegt ist. Früher lebten die Menschen in einer Natur, in der Zahlen keine Rolle spielten und wo es darum ging, von einem Tag auf den andern zu überleben. Unser Körper hat sich seit damals nicht sehr verändert, und deshalb haben wir ein Gehirn, mit dem wir leichter im Dickicht einen Säbelzahntiger entdecken als zwei und zwei zusammenzählen können.

Dieser Mangel lässt sich leicht beweisen, zum Beispiel indem man die Augen schließt und versucht, sich fünf Gegenstände vorzustellen, Flaschen zum Beispiel, die auf einem Tisch stehen. Es gilt, fünf Flaschen deutlich vor sich zu sehen. Und dann soll das Gehirn noch eine weitere Flasche auf den Tisch stellen. Es fällt ungemein schwer, sie zu sehen. Beim Versuch, eine siebte Flasche hinzuzufügen, ist es fast unmöglich, alle Flaschen zu sehen, ohne sie der Reihe nach durchzuzählen. Nur sehr wenige Menschen können acht oder neun Flaschen gleichzeitig sehen.

So ist es auch kein Wunder, dass manche Völker Wörter für Zahlen nicht kennen. Sie haben nur ein Wort für „ein Ding“ und eins für „viele Dinge“, aber keines für „zwei“, „drei“ oder „vier“.

Und doch findet unsere Gesellschaft, wir sollten uns über Mathematikbüchern unser Höhlenmenschengehirn zermartern. Warum? Auf diese Frage gibt es zwei Antworten. Die eine wird gern von Lehrern und Eltern gepredigt, aber ich wiederhole sie trotzdem noch einmal: Wer im Leben zurechtkommen will, muss Ahnung von Zahlen haben.

Denken wir nur mal ans Geld. Um mit Geld umzugehen, muss man über Zahlen Bescheid wissen. Ein Taschenrechner ist gut und schön, aber man muss auch feststellen können, ob man vielleicht beim Zahlentippen die falschen Tasten gedrückt hat.

Es lohnt sich also, rechnen zu können. Und das war einer der Gründe, weswegen vor über 5000 Jahren die Mathematik erfunden worden ist, und zwar von den Sumerern, die im Gebiet zwischen den großen Strömen Euphrat und Tigris die ersten großen Städte bauten.

Die Sumerer stellten fest, dass das Leben in großen Städten ganz besondere Probleme mit sich bringt. Lebensmittel müssen zentral bevorratet, verwaltet und verteilt werden. Die Behörden müssen dafür sorgen, dass tausende von Menschen Steuern und Zollgebühren bezahlen. Sie sind für den Bau von Kanälen und Straßen, Häusern, Tempeln und Palästen zuständig. Zu allem sind wesentlich mehr Arbeiter und viel mehr Baumaterialien nötig, als auf dem Dorf je gebraucht worden waren. Gleichzeitig fingen viele Menschen an, vom Handel zu leben. Sie brauchten eine Übersicht über das, was sie kauften und verkauften.

Solche Probleme konnten gelöst werden, als die Sumerer das erste Zahlensystem erfunden und Regeln dafür aufgestellt hatten, wie Zahlen zusammengezählt und voneinander abgezogen, wie sie malgenommen und geteilt werden können. Wenn es zum Beispiel dreihundert Tage dauerte, einen Tempel zu bauen, und tausend Arbeiter pro Tag zwei Schalen Weizen brauchten, dann konnte ein sumerischer Bauherr schnell berechnen, dass er sechshunderttausend Schalen Weizen herbeischaffen musste. Er konnte mithilfe der Rechenkunst also gewissermaßen die Zukunft voraussagen.

Die Sumerer erkannten auch, dass die Bewegungen am Himmel etwas mit Zahlen zu tun hatten. Sie sahen natürlich, dass zur selben Jahreszeit, Jahr für Jahr, am Himmel dieselben Sterne zu sehen sind. Sie entdeckten auch, dass immer 365 Tage vergehen, bis die Sonne im Sommer den höchsten Punkt am Himmel erreicht. Und dass zwischen zwei Vollmonden immer 29 Tage vergehen. Das Seltsamste war jedoch, dass ein besonderer Sternentyp sich im Verhältnis zu den anderen Sternen bewegt. Diese „Wandersterne“, die wir heute Planeten nennen, taten das aber auf ebenfalls regelmäßigen Bahnen.

Der Himmel bietet natürlich immer einen spannenden Anblick, doch dass Sterne, Sonne und Mond offenbar auch Tage zählen, muss auf die Sumerer einen tiefen Eindruck gemacht haben. Jedenfalls fingen sie an, die Sterne regelmäßig zu beobachten. Die ersten Astronomen waren aller Wahrscheinlichkeit nach Sumerer.

Vor knapp viertausend Jahren eroberten die Babylonier das sumerische Reich. Sie übernahmen nicht nur das Land der Sumerer, sondern auch deren Schrift und Zahlenkenntnisse. Sie verbesserten die Mathematik und stellten unter anderem genaue Regeln auf, mit denen die Bewegungen von Sonne, Mond, Sternen und Planeten berechnet werden konnten. Diese mathematischen Regeln ermöglichten es auch, das zukünftige Aussehen des Himmels vorherzusagen.

Dieses Wissen muss auf die Menschen damals wie pure Zauberei gewirkt haben. Und das war auch der Sinn der Sache, denn die Babylonier glaubten, dass die Ereignisse am Sternenhimmel das Geschehen auf der Erde beeinflussten. Die babylonischen Astronomen waren im Grunde so etwas wie Priester, die versuchten, die Zukunft der Menschen zu berechnen. Diese alte Sternenreligion lebt bis heute unter dem Namen Astrologie weiter, eine Art Weissagung, die mithilfe der babylonischen Sternenmathematik getroffen wird.

Die Babylonier schrieben mit Holzstäbchen auf Tontafeln. Von diesen Tafeln sind mehrere hunderttausend erhalten, die meisten enthalten Listen über Warenbestände, Rechnungen und astronomische Tabellen. Das sagt uns, wie wichtig Rechnen (und Geld) im babylonischen Alltag gewesen sein muss.

In Babylon wurde auch die Geometrie erfunden, eine Form der Mathematik, die sich mit Figuren wie Dreiecken, Kreisen, Vierecken und mit Linien befasst. Das Wort „Geometrie“ bedeutet „Erdvermessung“. Die Nachbarn der Babylonier, die Ägypter, hatten ein besonderes Problem, an dem wir begreifen, wie die Geometrie angewandt werden konnte.

Die Ägypter waren (und sind) abhängig vom Nil, der jedes Jahr über seine Ufer steigt. Der Nil bringt fruchtbaren Schlamm mit sich, der auf den Feldern liegen bleibt, wenn sich das Wasser wieder zurückzieht. Das Problem war, dass der Nil auch Zäune und Steine mitreißen konnte, die die Grenzen eines Grundbesitzes anzeigten. Und dann brauchten die Bauern Hilfe von Menschen, die die Grenzen zwischen den Äckern neu vermessen konnten. Das war möglich mithilfe der Geometrie – der Erdvermessung.

Als die Griechen anfingen, sich für die Natur zu interessieren, war die Mathematik schon im ganzen Mittleren Osten verbreitet. Die Griechen bildeten sich gern ein, alles selber erfunden zu haben, und deshalb bezeichneten sie Thales als den ersten wirklichen Mathematiker.

Wir dagegen wissen, dass sich nur wenige griechische Philosophen mit den Babyloniern messen konnten. Einer von diesen wenigen war Pythagoras. Er wurde um 570 v. Chr. auf der Insel Samos geboren und war möglicherweise ein Schüler des Thales. Pythagoras ist vor allem durch zwei Entdeckungen berühmt geworden, von denen die eine nicht einmal von ihm stammt, nämlich der berühmte Satz des Pythagoras, der in der Geometrie wichtig ist.

Dieser Satz bezieht sich auf die Längen der Seiten eines Dreiecks. Er gilt für eine bestimmte Art von Dreieck, bei der zwei Seiten im rechten Winkel zusammentreffen. Einen rechten Winkel erhält man, wenn man einen Faden mit einem Lot nach unten hängen lässt. Der Winkel zwischen dem Faden und dem Boden ist ein rechter. Auch die Ecken dieser Buchseite sind rechte Winkel.

Bei einem Dreieck mit einem rechten Winkel kann man die Länge der längeren Seite berechnen, wenn man die der beiden kürzeren Seiten kennt. Am einfachsten lässt sich das in einer mathematischen Formel ausdrücken. Wenn die beiden kurzen Seiten a und b und die längere c genannt werden, dann lautet die Formel:

c × c = a × a + b × b.

Jeder Mensch kann nachprüfen, ob die Formel stimmt, indem er einfach die vorliegende Buchseite ausmisst. Dazu nimmt man eine Linie an, die aus der Ecke oben rechts in die Ecke unten links führt. Diese Linie teilt die Seite in zwei Dreiecke, von denen jedes einen rechten Winkel aufweist (eine Ecke der Seite). Jetzt kann man mit einem Lineal die Länge der Querlinie ausmessen. Und das Ergebnis mit sich selber malnehmen. Danach misst man Höhe und Breite der Buchseite aus. Diese beiden Zahlen mit sich selber malgenommen und dann addiert beweisen, dass die Länge der Querlinie mit sich selber multipliziert so groß ist wie die Summe von Höhe und Breite mit sich selber multipliziert.

Eigentlich hatten die Ägypter den Satz des Pythagoras entdeckt, als sie beim Pyramidenbau Dreiecke berechnen mussten. Später wurden mit diesem Satz die Höhe von Bergen und die Entfernung zu den Sternen berechnet (vgl. S.).

Die zweite Entdeckung dagegen stammt vermutlich wirklich von Pythagoras. Wenn die Saiten einer Harfe eine bestimmte Länge haben, dann werden die Töne jeder Saite klar und rein. Die Länge einer Saite lässt sich als Zahl schreiben, und Pythagoras glaubte, dass hinter dem schönen Klang Zahlen steckten. Deshalb stellte er für Musik mathematische Regeln auf.

Da Pythagoras in Babylon studiert hatte, wusste er auch, wie dort die Bewegungen von Sternen und Planeten berechnet wurden. Dass zwei dermaßen unterschiedliche Dinge wie die Musik und der Sternenhimmel mathematischen Regeln zu folgen schienen, brachte Pythagoras zu der Annahme, dass hinter allem in der Natur Zahlen stecken. Die Zahl war für ihn der „Urstoff“, so wie es für Thales das Wasser gewesen war.

Aber Pythagoras ging viel weiter als Thales. Er gründete eine neue Religion, in der die Zahlen Gottheiten waren. Diese Religion fand viele Anhänger. Solche „Pythagoräer“ gab es noch Jahrhunderte nach dem Tod des Meisters, und sie hielten ihren Glauben so geheim, dass jemand, der laut darüber sprach, zum Tode verurteilt werden konnte.

Obwohl uns die Vorstellungen des Pythagoras heute seltsam vorkommen, hat er doch etwas Wichtiges herausgefunden. Und jetzt kommen wir zu dem zweiten Grund, weshalb es wichtig ist, Mathematik zu lernen: Vieles von dem, was in der Natur geschieht, folgt tatsächlich mathematischen Gesetzen. Wenn auch nicht alles Zahl ist, so lässt sich doch fast alles mit Zahlen beschreiben. Es ist nicht leicht, die Ereignisse in der Natur zu verstehen, wenn man keine Ahnung von Mathematik hat.

Das wussten die griechischen Philosophen, und es war einer der Gründe, warum sie sich jahrhundertelang von der Mathematik faszinieren ließen. Zu Lebzeiten des Pythagoras war die Mathematik oft noch chaotisch und ungenau. Deshalb wurde eine neue Form von Mathematik mit festen Regeln zur Erforschung der Welt der Zahlen benötigt. Und diese Form wurde um das Jahr 300 v. Chr. entwickelt. Damals schrieb der Mathematiker Euklid sein Buch Die Elemente. Dieses Buch enthielt klare Vorschriften für die Anwendung der Geometrie und erklärte, wie mathematische Beweise geführt werden können.

Ein mathematischer Beweis soll zeigen, dass mathematische Regeln immer zutreffen. Zum Beispiel der Satz des Pythagoras. Woher sollen wir wissen, ob seine Aussage über Dreiecke immer zutrifft? Es wäre doch denkbar, dass für große Dreiecke andere Regeln gelten als für kleine. Mathematiker, die das Buch des Euklid gelesen hatten, konnten beweisen, dass der Satz des Pythagoras auf alle Dreiecke mit rechtem Winkel zutrifft, egal, wie groß sie sind.

Die Forschungen des Euklid waren so wichtig, dass seine Elemente bis in unsere Zeit als mathematisches Lehrbuch benutzt wurden.

Alles ist Atom!

Viele Philosophen glaubten nicht, dass die Natur aus Wasser oder aus Zahlen besteht. Da niemand beweisen konnte, wer Recht hatte, konnte jeder seine eigene Theorie aufstellen. Der Philosoph Empedokles, der um 490 v. Chr. geboren wurde, ging von vier Urstoffen aus: Feuer, Erde, Luft und Wasser. Diese Stoffe nannte er „Elemente“.

Der Philosoph Anaxagoras stimmte dem nicht zu. Er glaubte an eine unbegrenzte Menge von Elementen und meinte außerdem, der Mond bestehe aus Erde und die Sonne sei ein glühender Metallklumpen von der Größe der Halbinsel Peloponnes westlich von Athen. Diese beiden Himmelskörper waren für ihn also ein Teil der Welt der Natur, so wie Bäume und Steine. Die meisten Griechen hielten Sonne und Mond aber für mächtige Gottheiten, und viele Menschen waren über Anaxagoras empört. Er wurde ins Gefängnis gesteckt und am Ende aus seiner Heimatstadt Athen vertrieben.

Aber weder Empedokles noch Anaxagoras konnten erklären, woraus die Stoffe oder Elemente denn nun bestanden. Für sie waren die Elemente eine feste Masse. Und das stimmte ja mit dem überein, was wir im Alltag beobachten können. Wenn man einen Klecks Butter zwischen Zeigefinger und Daumen nimmt und dann zudrückt, bleibt die Butter trotzdem glatt. Man kann quetschen, so viel man will, die Butter wird sich nicht klumpig anfühlen. Das gilt auch für feste Stoffe. Wenn man ein Zuckerkorn zerstößt, erhält man ein feines Pulver aus kleineren Zuckerkörnern – Puderzucker. Wenn man ein winziges Puderzuckerkörnchen zerstoßen könnte, dann würde man noch winzigere Puderzuckerkörner erhalten.

Nichts weist darauf hin, dass die Stoffe in der Natur aus winzigen „Bausteinen“ zusammengesetzt sind. Aber irgendwo muss doch alles anfangen? Wenn wir uns vorstellen, dass ein Stoff, zum Beispiel Wasser, eine Art Einheitsbrei ist, bedeutet das dann nicht, dass sich das Wasser aus unendlich vielen kleinen Partikeln zusammensetzt?

Solche Fragen stellte sich der Philosoph Demokrit. Und er kam zu dem Schluss, dass es in der Natur „Bausteine“ geben muss. Er stellte sich eine Art winzigster Partikel vor, das Kleinste, was es in der Natur überhaupt gibt und was nicht mehr in kleinere Bestandteile zerlegt werden kann. Deshalb bezeichnete er diese Partikel mit dem griechischen Wort für „unteilbar“: Atom. Laut Demokrit schweben die Atompartikel durch den leeren Raum, und alle Veränderungen in der Natur werden durch Atomzusammenstöße hervorgerufen.

Die Atome sind zu klein, als dass man sie mit dem bloßen Auge sehen könnte, und sie sind von unterschiedlicher Form. Deshalb schließen sich manche Atome zu größeren Klumpen zusammen. Fester Stoff besteht aus solchen Atomzusammenballungen, und er löst sich auf, wenn sich die Atome voneinander entfernen. Atome können nicht verschwinden, sie können sich nur zu neuen Formen zusammenschließen.

Demokrit stellte sich vor, dass die Atome vor allem anderen existiert hatten und dass Sonne, Erde und alles andere in der Natur in einem gewaltigen Atomwirbel durch puren Zufall entstanden seien. Die Atome folgten ihren eigenen Gesetzen, und die Götter hatten auf sie keinen Einfluss. Deshalb waren die Götter für die Natur nicht von Bedeutung.

Diese Vorstellung erinnert an moderne Wissenschaft, und noch immer nennen wir die kleinsten „Bausteine“ in der Natur Atome. Aber zu Lebzeiten Demokrits ließ sich kaum jemand von seiner Vorstellung überzeugen. Viele Philosophen weigerten sich, etwas zu glauben, was sie nicht sehen konnten. Als viel überzeugender erschienen ihnen die Elemente des Empedokles, denn die bestanden aus Stoffen, die alle kannten.

Dass die Atome im leeren Raum treiben, mochten viele auch nicht glauben. Ein leerer Raum muss doch ein Nichts sein. Aber was ist denn überhaupt nichts? Und kann die Natur wirklich eine Mischung aus nichts und winzigen Partikeln sein? Solche Fragen waren ein wichtiger Grund, weshalb sich Demokrits Atomlehre niemals durchsetzen konnte. Aber sehr wichtig für den Misserfolg war auch, dass der am Ende bedeutendste Naturphilosoph von allen ihr seine Unterstützung verweigerte: Aristoteles.

Aristoteles

Aristoteles gehört zu den wenigen griechischen Philosophen, über die uns recht viel bekannt ist. Das liegt unter anderem daran, dass noch über zweitausend Seiten seiner Schriften erhalten sind. Deshalb wissen wir mit ziemlicher Sicherheit, dass er im Jahr 384 v. Chr. in der Stadt Stagira geboren wurde und dass sein Vater Leibarzt des Königs von Makedonien, einem Königreich in Nordgriechenland, war.

Was Aristoteles als junger Mann gedacht hat, wissen wir nicht, vielleicht weckte der Beruf seines Vaters bei ihm das Interesse an allem, was in der Natur wuchs, kroch und krabbelte. Als Sohn eines reichen Mannes konnte Aristoteles lernen, was er wollte, und deshalb begab er sich mit siebzehn Jahren nach Athen, der wichtigsten Stadt in Griechenland.

Dort gab es die Akademie, eine Art Philosophenschule. Die Akademie war im Jahr 387 v. Chr. von dem Philosophen Platon gegründet worden, der noch immer unterrichtete, als Aristoteles sein Studium aufnahm.

Platon interessierte sich nicht sonderlich für die Natur. Er hielt das, was wir sehen können, nicht für die wahre Wirklichkeit. Er glaubte, dass sich hinter allem in der Natur ein unsichtbarer Plan oder eine Idee dieses Gegenstandes versteckt, und nur diese Idee sei wirklich, nicht das Ding selber. Platon würde sagen, das Buch, das wir in Händen halten, ist nur ein Schatten des wirklichen Buches, einer weit über unsere Welt erhabenen Idee.

Nach Platons Vorstellung sollten sich die Philosophen auf die Ideen konzentrieren, und das war nur durch Denken möglich. Platon fand es sinnlos, die Natur zu studieren. Da sich die Mathematik oft mit Zahlen und Figuren beschäftigt, die nur in der Vorstellung der Menschen existieren, hielt Platon sie für die einzige Wissenschaft, die überhaupt der Mühe wert war.

Platons Gedanken waren nichts Neues. Sein großer Lehrmeister, Sokrates, hielt das Studium der Natur sogar für gleichbedeutend mit einer Geisteskrankheit. Es liegt auf der Hand, dass solche Vorstellungen Naturforscher nicht gerade weiterbringen. Trotzdem gelang Platon etwas, das für alle Forscher von großer Bedeutung war. Seine Gründung der Akademie erwies sich als gute Idee. Denn wenn sich Philosophen aus dem ganzen Land an einem Ort treffen, können sie voneinander lernen und mit anderen Philosophen diskutieren.

An der Akademie wurden mehr als achthundert Jahre lang Philosophen ausgebildet, und noch heute haben alle Forscher Schulen besucht, die Ähnlichkeit mit dieser Akademie haben. Heute heißen solche Schulen zwar Universitäten, aber die dort ausgebildeten Leute werden weiterhin als Akademiker bezeichnet.

Aristoteles freundete sich mit Platon an, aber er war nicht immer derselben Meinung wie sein Lehrer. Er glaubte zum Beispiel, dass das, was wir sehen, wirklich ist, nicht eine bloße Idee. Deshalb glaubte er auch, dass wir aus der Beobachtung der Natur sehr viel lernen können. Aristoteles war der erste griechische Philosoph, der ernsthafte Naturstudien betrieben hat.

Das war keine leichte Aufgabe, denn in der Natur geht es nicht gerade ordentlich zu. Steine, Wolken, Wasser, Tiere und Pflanzen, alles wuselt durcheinander, und nur wenig scheint auf einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Bestandteilen der Natur hinzuweisen.

Für unser Alltagsleben spielt das keine große Rolle. Das menschliche Gehirn hat sich dem Chaos in der Natur angepasst und löst das Problem dadurch, dass alles, was wir sehen, in Gruppen eingeteilt wird. Alles, was einen braunen Stamm und eine grüne Krone hat, landet in der Gruppe „Bäume“. Alles, was groß und weiß ist und sich am Himmel bewegt, gilt für uns als Wolke. Alles, was ein Fell, vier Beine und scharfe Zähne hat, wird von uns sehr schnell in die Gruppe „Raubtier“ einsortiert. Man braucht nicht über alles nachzudenken, was man sieht, sondern kann es in einer passenden Gruppe unterbringen. Dadurch kann man schneller denken, und das kann sich bezahlt machen, wenn man plötzlich einem Wesen mit Fell, vier Beinen und scharfen Zähnen gegenübersteht.

Aber man braucht nicht lange im Wald unterwegs gewesen zu sein, um zu erkennen, dass es verschiedene Bäume gibt. Manche haben runde Blätter, andere gezackte. Manche scheinen überhaupt keine Blätter zu haben, sondern spitze Nadeln. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch bei Blumen, Tieren und Steinen machen. Es gibt tausende und abertausende von verschiedenen Typen, ob wir es nun mit lebenden Wesen oder leblosen Gegenständen zu tun haben.

Das wusste auch Aristoteles, und im Lauf einiger Jahrzehnte studierte er über fünfhundert unterschiedliche Tier- und Pflanzenarten. Aristoteles interessierte sich für die Ähnlichkeiten der unterschiedlichen Arten, mit denen er sich beschäftigte. Tanne und Kiefer sind zwar unterschiedliche Baumarten, aber sie haben doch mehr Ähnlichkeit untereinander als beispielsweise Tanne und Birke. Aristoteles glaubte, dass Tier- und Pflanzenarten, die Ähnlichkeit miteinander haben, auf irgendeine Weise miteinander verwandt sind. Deshalb bezeichnete er auch Affen als eine Art Mittelding zwischen Menschen und anderen Säugetieren.

Besonders interessierte Aristoteles zunächst das Meer. Er beschäftigte sich ausgiebig mit Tintenfischen und Krustentieren. Er stellte auch fest, dass Delfine keine Fische sind, sondern Säugetiere, die Luft einatmen.

Viel Zeit verbrachte er damit, die Vermehrung von Tieren zu untersuchen. Wenn er ein Hühnerei in verschiedenen Stadien der Befruchtung öffnete, sah er, dass ein kleiner Punkt im Ei zu einem Embryo und dann zu einem Küken wurde. Aristoteles gilt als Begründer der Wissenschaft vom Leben – der Biologie – und der Wissenschaft der vorgeburtlichen Entwicklung von Tieren – der Embryologie.

Aristoteles stellte eine „Rangliste“ auf, in der Tiere und Pflanzen aufgeführt wurden. Ganz unten in dieser Rangliste standen die Pflanzen, die sich nur vermehren und wachsen können. Über ihnen stehen die Tiere, denn sie können sich außerdem noch bewegen. Ganz oben stehen die Menschen, die auch denken können. Von dieser Rangordnung sind bis heute die meisten Menschen überzeugt.

Aristoteles schrieb viele Bücher über seine Beobachtungen. Er beschreibt darin, wie Lebewesen aussehen, wie sie sich bewegen, was sie essen und wie sie sich vermehren. Kein anderer Philosoph hatte so viele Interessen wie Aristoteles. So schrieb er auch Bücher über Politik, Kunst, Moral und Astronomie.

Viele Griechen hatten damals bereits den Sternenhimmel studiert, aber Aristoteles hielt als Erster die Erde für eine Kugel – ein mutiger Gedanke in einer Zeit, in der die meisten Philosophen und überhaupt die meisten Menschen die Erde als flache Scheibe betrachteten. Dazu hatten sie schließlich allen Grund, da die Welt nun einmal nicht kugelförmig wirkt.

Beobachtungen bei einer Mondfinsternis hatten Aristoteles zu der Überzeugung kommen lassen, dass die Welt eine Kugel ist. Mondfinsternisse sind nur bei Vollmond möglich; sie beginnen damit, dass der Mond sich nach und nach orange verfärbt. Dann schiebt sich eine runde, dunkle Fläche vor den Mond. Diese Fläche verdeckt den Mond eine Zeit lang, dann verschwindet sie wieder.

Viele Menschen glaubten, die Götter färbten den Vollmond schwarz, um den Menschen Angst einzujagen. Aristoteles dagegen hielt die runde Fläche für den Schatten, den die Erde wirft, wenn sie von der Sonne beschienen wird. Der Schatten ist immer rund, und das ist nur möglich, wenn die Welt eine Kugel ist. Wenn die Welt eine Scheibe wäre, würde sie ab und zu schräg zur Sonne liegen. Und dann könnten wir bei einer Mondfinsternis nur einen dunklen dünnen Schattenstreifen sehen.

Aristoteles hatte noch ein weiteres Argument: Schiffe, die sich vom Land entfernen, scheinen hinter dem Horizont zu verschwinden. Zuerst verschwindet der Rumpf, dann das Segel und schließlich die Mastspitze. Das ist nur möglich, wenn die Welt kugelförmig ist, erklärte er. Die meisten Philosophen ließen sich davon überzeugen, und seither hielten die Akademiker die Welt für eine Kugel.

Aristoteles wandte dieselbe Technik an wie Thales von Milet. Er versuchte, ein Phänomen in der Natur durch Dinge zu erklären, die in der Natur vorkommen. Mondfinsternisse sind keine göttliche Mahnung, sie entstehen ganz einfach dadurch, dass eine Kugel einen Schatten wirft. Man kann selber sehen, wie Aristoteles sich das vorgestellt hat, wenn man den Schatten, den ein Tennisball an die Wand wirft, mit dem eines Tellers vergleicht. Wenn man den Teller in verschiedenen Positionen hält, sieht man, was ich meine.

Aber es reicht nicht, die Natur zu beobachten und eine Erklärung für das zu suchen, was wir sehen. Für dasselbe Phänomen gibt es oft mehrere Erklärungen, die ein Forscher auseinander halten muss. Aristoteles stellte eine Reihe von Regeln auf, wie Forscher vorgehen sollten. Solche Denkregeln werden „Logik“ genannt, und ein Großteil der Arbeit des Aristoteles handelt von Logik. Darüber schreibt er in einem Buch namens Organon (das bedeutet „Werkzeug“). Der Titel ist gut gewählt, denn Aristoteles hat den Forschern mit seinem Buch ein echtes Werkzeug an die Hand gegeben.

An dieser Stelle möchte ich mit einem für die Jagd nach der Wahrheit wichtigen Wort bekannt machen: Theorie. Das Wort kennt jeder. Manchmal hat es einen negativen Beiklang. Ein unpraktischer Mensch, der im Alltag nicht zurechtkommt, wird zum Beispiel oft als „Theoretiker“ bezeichnet. Und wenn wir sagen: „Ach, das ist ja nur eine Theorie“, dann bringen wir damit zum Ausdruck, dass eine Behauptung so vage ist, dass wir uns nicht weiter drum zu kümmern brauchen.

Aber die Forscher sehen das alles ganz anders. Wenn sie erklären wollen, was sie in der Natur sehen, dann brauchen sie dazu Theorien. Deshalb gehört es zur Aufgabe der Forscher, solche Theorien zu entwickeln. Wir können durchaus behaupten, die Jagd nach der Wahrheit sei eine Jagd nach neuen Theorien.

Zwischen einer Theorie und einer Idee besteht ein großer Unterschied. Wir alle können Ideen über das, was sich in der Natur abspielt, jederzeit aus dem Ärmel schütteln. Es ist kein Problem, eine andere Erklärung für Mondfinsternisse zu finden als die, die Aristoteles uns hinterlassen hat. Ich kann zum Beispiel sagen: „Eine Mondfinsternis findet statt, wenn eine große Vogelschar am Mond vorbeifliegt.“

Das ist eine lustige Idee, aber keine Theorie. Wenn andere Forscher meine Idee ernst nehmen sollen, muss ich Fragen beantworten können wie: „Warum bleiben die Vögel stumm, wenn sie am Mond vorbeifliegen? Warum fliegt die Vogelschar immer in Kreisformation, wenn sie sich über den Mond bewegt? Vogelscharen fliegen normalerweise dicht über unseren Köpfen. Wie ist es also möglich, dass die Menschen an verschiedenen Orten die dunkle Fläche vor dem Mond gleichzeitig sehen?“

Wenn meine Idee als Theorie durchgehen soll, muss ich all diese Fragen und noch viele weitere beantworten können. Und wenn meine Theorie eine Überlebenschance haben soll, muss ich andere Forscher überzeugen, dass meine Vogelschar-Idee eine bessere Erklärung für Mondfinsternisse bietet als die Theorie des Aristoteles.

Eine Theorie zu entwickeln lässt sich mit dem Bau eines Hauses vergleichen (und unter Forschern ist wirklich vom „Aufbau einer Theorie“ die Rede). Es ist eine mühselige Arbeit. Wie ein Maurer die Steine so aufeinander legen muss, dass ein solides Haus entsteht, so muss ein Forscher dafür sorgen, dass viele verschiedene Fragen eine Antwort finden. Und dabei hilft ihm die Logik des Aristoteles. Sie hilft Forschern, die Gedanken ihrer Theorie in die richtige Reihenfolge zu bringen und eventuelle Fehler und Mängel zu entdecken.

Oft heißt es, die Naturforschung habe mit Aristoteles eingesetzt. Aber sie hat auch mit ihm aufgehört – für nahezu achtzehnhundert Jahre. Denn Aristoteles war so bedeutend, dass viele spätere Philosophen nicht glauben mochten, dass er sich jemals geirrt haben könnte. Sie vergaßen ganz einfach, dass Aristoteles gesagt hat: „Wahrheit ist der Gedanke, der am ehesten mit der Natur übereinstimmt.“ Sie dachten stattdessen: „Wahrheit ist der Gedanke, der am ehesten mit Aristoteles übereinstimmt.“

Das führte dazu, dass sich tüchtige Philosophen, die anderer Ansicht waren als Aristoteles, mit ihren Ideen nicht durchsetzen konnten. Ein solcher Fall war Aristarchos von Samos, der um das Jahr 320 v. Chr. geboren wurde. Wie Aristoteles hatte er beobachtet, dass sich Sonne, Mond und Planeten über den Himmel bewegen. Aber er hatte dafür eine ganz andere Erklärung als der berühmte Aristoteles.

Aristoteles glaubte, die Erde stehe im Zentrum des Universums, während Sonne, Planeten und Sterne, an großen, durchsichtigen Kugeln befestigt, um sie kreisten. Diese Vorstellung lag durchaus nahe, denn der Himmel scheint sich wirklich um die Erde zu drehen. Die Sonne geht jeden Tag im Osten auf und im Westen unter, und das gilt auch für die Sterne und alle anderen Himmelskörper.

Aristarchos glaubte aber, dass sich die Sonne im Zentrum des Universums befindet und die Erde und die anderen Planeten sich um sie drehen. Der Himmel scheint sich von Osten nach Westen zu bewegen, weil sich die Erde in die Gegenrichtung dreht, von Westen nach Osten. Davon kann man sich selber ein Bild machen.

Man richte seinen Blick auf einen Gegenstand, zum Beispiel auf ein Bild an der Wand, und drehe den Kopf von rechts nach links. Das Bild scheint sich nach rechts zu bewegen. Man dreht seinen Kopf in eine Richtung, und das, was man sieht, wandert in die Gegenrichtung. Genauso ist es am Himmel, meinte Aristarchos. Die Erde dreht sich von Westen nach Osten, und der Himmel scheint in die Gegenrichtung zu rotieren.

Aristarchos versuchte auch, unsere Entfernung zu Sonne und Mond zu berechnen. Er kam zu dem Ergebnis, die Sonne sei zwanzigmal weiter von der Erde entfernt als der Mond. Diese Zahl ist etwa zwanzigmal zu klein, aber wenn man bedenkt, dass Aristarchos kein Fernrohr und keine modernen Instrumente hatte, war es doch eine beeindruckende Leistung.

Obwohl Aristarchos seine Ansicht mit ebenso guten Argumenten untermauern konnte wie Aristoteles, wissen wir doch fast nichts über ihn. Die Philosophen, die nach ihm kamen, haben seine Schriften nicht aufbewahrt. Er interessierte sie nicht weiter, weil er anderer Ansicht war als Aristoteles. Fast achtzehnhundert Jahre mussten vergehen, ehe seine Gedanken wieder auftauchten, diesmal an einem ganz anderen Ort in Europa.