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Samantha Daut

AM SCHERBEN UFER

Die Mindl-Kirschstein-Serie

Band 1

Roman

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© 2017 Samantha Daut

Umschlaggestaltung: Berthold Sachsenmaier

Lektorat: Susanne Junge

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Paperback 978-3-7439-1067-6
Hardcover 978-3-7439-1068-3
e-Book 978-3-7439-1069-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

Montag, 2. Juli 2012

Dienstag, 3. Juli 2012

Donnerstag, 5. Juli 2012

Freitag, 6. Juli 2012

Sonntag, 8. Juli 2012

Montag, 09. Juli 2012

Dienstag, 10. Juli 2012

Mittwoch, 11. Juli 2012

Freitag, 13. Juli 2012

Samstag, 14. Juli 2012

Sonntag, 15. Juli 2012

Montag, 16. Juli 2012

Mittwoch, 18. Juli 2012

Samstag, 21. Juli 2012

Sonntag, 22. Juli 2012

Donnerstag, 26. Juli 2012

Sonntag, 29. Juli 2012

Montag, 30. Juli 2012

Samstag, 4. August 2012

Montag, 6. August 2012

Freitag, 10. August 2012

Samstag, 11. August 2012

Montag, 27. August 2012

Dienstag, 28. August 2012

Donnerstag, 27. September 2012

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser!

Dieses Buch ist ein ganz besonderes Buch für mich. Die Idee dazu schlummerte schon lange in mir – und nun kam der Drang, sie aufzuschreiben. Als Schriftstellerin entwickle ich zu jedem meiner Bücher eine ganz besonders innige Beziehung. Doch an diesem – das ist eine ganz besondere Ausnahme – an diesem Buch hängt mein Herz – es ist mein Herzensprojekt! Das Plotten und die Entwicklung der Protagonisten haben mir sehr viel Spaß gemacht. Ich finde – so ging es mir jedenfalls – dass man sich sehr gut in meine Protagonisten hineinversetzen kann; ich hoffe, Sie empfinden das ähnlich: Ich freue mich schon sehr darauf, diese neue Reihe fortzusetzen.

Bedenken Sie beim Lesen: Nichts ist, wie es scheint – sogar der nette Nachbar von nebenan hat etwas zu verbergen – oder nicht? Wer ist Freund, wer ist Feind? Täuschung über Täuschung. Ich bin gespannt, was Sie zu meinem neusten Werk meinen!

Nun wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen!

Noch ein Hinweis in eigener Sache: Das in LUNA angekündigte ‚Wiedersehen mit einem alten Bekannten‘ findet nun doch nicht in diesem Buch statt. Ich habe mir die Freiheit genommen, dies komplett zu streichen, weil es meiner Meinung nach einfach nicht in dieses Buch passte.

Samantha Daut, im Januar 2017

Prolog

November 2007

Raul Hilliard saß müde am Küchentisch und löffelte sein Müsli, dazu trank er Milch – er liebte Milch. Seine Eltern Elke Gareis-Hilliard und Bernd Hilliard waren gestern Abend auf einer Architekturveranstaltung in München gewesen. Wahrscheinlich war es spät geworden, sie hatten wohl in einem Hotel übernachtet und würden heute zurückkommen, so dachte er. Denn als er gestern seine abendliche Joggingrunde am Haus seiner Eltern vorbei gedreht hatte, war noch alles dunkel gewesen und das Auto seiner Eltern stand nicht in der Auffahrt. Er hatte bereits eine eigene Wohnung. Nach dem Essen stellte er die Müslischüssel und sein leeres Glas in die Spüle. Raul streckte sich, dann trat er auf den Flur, wo er sich vor dem Spiegel seine braunen, kurzen Haare kämmte, die perfekt mit seinen blauen Augen harmonierten. Er würde jetzt eine Runde joggen gehen, das Handy nahm er vorsorglich mit. Seinen blauweißen Jogginganzug hatte er bereits angezogen.

Das Auto qualmte und Rauch stieg auf. Die Feuerwehr, die Rettungskräfte und die Polizei waren bereits vor Ort. Der Augenzeuge, Micha Bartel, stand fassungslos am Fahrbahnrand. Er schilderte der Polizei, dass er einen heftigen Streit zwischen dem Fahrer und seiner Beifahrerin gesehen hatte, dann hatte der Fahrer die Kontrolle über den Wagen verloren und war mit hoher Geschwindigkeit in die Leitplanke gerast. Es war Benzin ausgelaufen und ein vorbeifahrender Radfahrer hatte achtlos seine brennende Zigarette hineingeworfen. Die Insassen des Fahrzeugs waren sofort tot gewesen – der Rauch hatte ihnen die Luft zum Atmen genommen – sie waren erstickt. Im Geldbeutel der Toten fanden die Polizisten neben den Papieren ein Foto von einem jungen Mann. Auf der Rückseite des Fotos stand: Raul. Sie suchten weiter und fanden das glücklicherweise heil gebliebene Handy von einem der Toten und scrollten durch das Telefonbuch. Da: der Kontakt Raul Hilliard, das musste er sein; der Polizist las die Nummer vom Handy ab, gab sie in sein eigenes Mobiltelefon ein und wählte. Schon klingelte es.

„Raul Hilliard“, meldete sich Raul, vom Joggen außer Atem, mit seinem Namen, weil ihm auf dem Display seines Handys keine Rufnummer angezeigt wurde.

„Sind Sie ein Verwandter von Elke Gareis-Hilliard und Bernd Hilliard?“, erkundigte sich der Polizist.

„Wer sind Sie überhaupt?“, war Raul verwirrt.

„Ich bin Alwin Böhrhaupt, ich bin Polizist. Ein Augenzeuge, Micha Bartel, hat einen Autounfall beobachtet und uns verständigt“, begann der Beamte.

„Und was habe ich, bzw. meine Eltern damit zu tun?“, fragte Raul, noch immer verständnislos.

Der Polizist blieb gelassen: „Also sind Sie nun ein Verwandter von Elke Gareis-Hilliard und Bernd Hilliard, oder nicht?“, fragte er ruhig.

„Ja, ich bin der Sohn von Elke und Bernd. Wo sind Sie gerade?“, fragte Raul.

„Können wir uns treffen, an der Spree, am alten Wehr?“, Böhrhaupt hustete.

„Sicher. Ich trage ein hellblaues Hemd und bin in fünfzehn Minuten da“, erklärte Raul.

„Gut, bis dann!“, Alwin Börhaupt legte auf, und Raul rannte nach Hause, duschte schnell und zog sich um. Nun trug er ein hellblaues Hemd und eine blaue Jeans. Sofort machte er sich auf den Weg.

An der Spree angekommen, sah Raul bereits von weitem das völlig zerstörte Auto seiner Eltern. Er trat näher und begutachtete das Wrack. Der Polizist erklärte ihm den Unfallhergang. Tränen schossen Raul in die Augen…

Tagelang war er wie in Trance durch die Gegend gelaufen, auch seiner Arbeit als Zimmermann hatte er nicht mehr nachgehen können. Tage- und nächtelang hatte er durchgeweint. Er würde seine Eltern so in Erinnerung behalten, wie sie waren. Die Erdbestattung und alle Dinge, die er noch zu erledigen hatte, liefen wie der Film seines eigenen Lebens an ihm vorbei, er betrachtete alles als Außenstehender und nicht als Beteiligter. Das half ihm in seinem Schmerz wenigstens ein bisschen.

Nach der Beerdigung hatte es Tage gedauert, bis er sich dazu durchringen konnte, endlich mit dem Sortieren und Ordnen der Sachen seiner toten Eltern zu beginnen. Früh am Morgen machte er sich auf den Weg. Er besaß für die Wohnung seiner Eltern einen Zweitschlüssel für Notfälle. Nach und nach arbeitete er sich durch die Zimmer. Die Kleider seiner Eltern sortierte er in Müllsäcke und brachte diese zu Containern. Während des Sortierens musste er öfter Pausen einlegen, weil ihn der Schmerz und die Trauer um seine geliebten Eltern übermannt und machtlos gemacht hatten.

Als er einen Stapel Papiere in einer Schublade fand, fiel ihm ein Umschlag in die Hände, auf dem folgendes stand: Für Raul – 1986. Hektisch öffnete Raul ihn und fand einen Brief in dem folgendes stand:

Für meinen geliebten Sohn Raul

Wenn Du das liest, weiß ich nicht, was mit Bernd und mir sein wird. Ich wollte es Dir schon lange sagen, aber ich wusste nicht, wie. Ich habe es einfach nicht geschafft.

Raul, Bernd ist nicht Dein leiblicher Vater. Das ist der Berliner Rechtsanwalt, Dr. Konstantin Kirschstein. Es war ein One-Night-Stand im Mai 1986. Es tut mir leid. Ich habe all die Jahre geschwiegen, weil ich Deinen… weil ich meine Ehe zu Bernd nicht gefährden wollte. Deshalb war Bernd für mich immer Dein Vater.

Solltest Du Kontakt zu Deinem leiblichen Vater, Dr. Konstantin Kirschstein, aufnehmen wollen, seine Adresse ist: Brunnhohlder Straße 8 in 11428 Berlin-Schwalbensee.

Verzeih‘ mir bitte, ich hoffe, Du kannst meine Entscheidung verstehen.

In Liebe, Deine Mutter Elke

Raul las die Zeilen noch einmal und noch einmal und immer und immer wieder. Die Worte seiner Mutter fraßen sich durch sein Gehirn. Raul wollte das nicht glauben. Er musste zu dieser Adresse fahren und er musste Gewissheit erlangen – sonst würde er durchdrehen! Sofort machte er sich mit seinem Motorrad auf den Weg in die Brunnhohlder Straße 8 in Berlin-Schwalbensee. Es war früh am Morgen, erst kurz vor sechs, aber daran dachte Raul im Augenblick nicht.

Diesen Plan hatten sie vor sieben Jahren, im November 2000, gefasst, und von dort an hatte er alles recherchiert: die Vorlieben, die Abneigungen, die Familienverhältnisse, die Schwachstellen – einfach alles! Sieben Jahre lang hatte er die Familie akribisch beobachtet. Wenn der Zeitpunkt, den er bestimmte, gekommen war, dann ließ er seinen Hintermann verdeckt auf sie los. Er würde sich rächen. Das hatte er seinem Feind vor langer Zeit einmal geschworen, kurz vor dem Studium, als beide die gleiche Frau geliebt hatten … und dann war etwas passiert… und er hatte es bis heute nicht vergessen!

„Also, gehen wir alles noch einmal durch. Du wirst dich zu gegebener Zeit als neuer Nachbar einige Häuser weiter einmieten. Dann wirst du als Nachbar und Liebhaber um die Gunst der Anwältin und Anwaltsgattin buhlen. So lange, bis sie dir aus der Hand frisst. Sie muss dir vertrauen, das ist essentiell wichtig für den Plan. Wenn sie das tut, wirst du sie aushorchen. Du wirst dir ihre Sorgen, Ängste und Probleme anhören. Speziell alles, was mit ihrem Mann zu tun hat. Sie muss denken, dass du der einzige bist, dem sie uneingeschränkt vertrauen kann, hast du das verstanden? Auf mein „GO“ hin wirst du den Anwalt ein für alle Mal zur Strecke bringen, und die Anwaltsgattin wird dir dabei zusehen. Danach kannst du mit deiner Familie untertauchen. Ich verspreche dir, deiner Frau und deinen Kindern lebenslange Sicherheit, lebenslangen Schutz und ein Gehalt, bei dem du niemals wieder etwas arbeiten musst. Na, was meinst du?“, er streckte ihm die Hand hin.

„Und was erzähle ich meiner Frau, wenn ich manchmal einfach längere Zeit weg bin?“

„Du erzählst ihr, dass du einen neuen Job hast und dafür in eine Dienstwohnung ziehen musst. Oder dass du eine entfernte Verwandte besuchst – oder irgend so etwas! Lass dir was einfallen!“

Er dachte einen Moment lang nach, dann lächelte er, nickte und schlug ein: „Einverstanden, abgemacht!“

Sylvia Mindl-Kirschstein schritt das weiträumige Townhouse ab. Ihre nackten Füße glitten über die grauen Fliesen. Im Arbeitszimmer ihres Mannes Konstantin hörte sie Finger, die auf einer Tastatur klapperten: Hatte sie es sich doch gleich gedacht, ihr Gatte arbeitete bereits. Leichtfüßig schritt sie – nur mit einem cremefarbenen, kurzen Seidennachthemd bekleidet, auf dem sie einen ebenfalls cremefarbenen Seidenmorgenmantel mit schwarzer Spitze trug – hinein und umarmte Konstantin von hinten. Dabei kitzelten ihre langen Haare seinen Hals – das gefiel ihm. Er liebte diese schokobraunen, glatten, glänzenden Haare, die ihr blasses, porzellanähnliches Gesicht umrahmten. Ihre warmen, braunen Augen rundeten das Gesamtbild ab.

Die Arbeitszimmer von Konstantin und Sylvia lagen neben dem Schlafzimmer. Die Kanzlei, die sich beide teilten, war durch eine Eisentreppe zu erreichen. Sie befand sich im unteren Teil des Hauses und verfügte über einen separaten Eingang.

„Guten Morgen, mein Schatz“, ihre Stimme klang verschlafen. Sanft drehte er sich mit dem Ledersessel zu ihr um, dann erhob er sich und nahm ihre Hände in seine. Er trug bereits seinen grauen Anzug, die Lackschuhe und seine blaue Krawatte, auch seine schwarzen, kurzen, aber fülligen Haare waren akkurat gekämmt – wie immer.

„Guten Morgen, meine Schöne“, er küsste sie zärtlich. Bei ihr fühlte er sich geborgen, sie und die Familie gaben ihm Halt, alle waren immer füreinander da, wenn es darauf ankam.

Konstantin und Sylvia hatten sich im Jura-Studium 1992 kennen- und lieben gelernt. Es war buchstäblich „Liebe auf den ersten Blick“ gewesen. Sie waren öfter miteinander ausgegangen. Konstantin hatte sie zu Golf- und Squashspielen, zu Pferderennen und in die Oper ausgeführt. Ihren ersten Sex hatten sie in einer romantischen Hütte gehabt.

Schon nach drei Monaten hatten sie sich gegenseitig ihren Familien vorgestellt. Bei Sylvia glich dieser Besuch einem Desaster. Sylvias Vater war sofort nach ihrer Geburt verschwunden und hatte ihre Mutter Irene mit dem neugeborenen Baby zusammen mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Sonja sitzen gelassen. Daraufhin war Irene alkoholkrank geworden… Sylvias Kindheit war die Hölle gewesen… Und als Sylvia nun Konstantin mit zu ihrer Mutter und ihrer Schwester genommen hatte, hätte es kaum peinlicher sein können. Obgleich Sylvia extra früh morgens nach Hause gefahren war, um ihre Mutter in halbwegs erträglicher Verfassung anzutreffen, war diese bereits volltrunken gewesen. Ihr einziger Kommentar zu Konstantin war gewesen, dass sie sich freue, dass ihre Tochter Sylvia nun einen Mann an ihrer Seite hätte – das hatte sie gesagt, nein, eher gelallt… Eine Woche später war ihre Mutter an einer Alkoholvergiftung gestorben.

Konstantins Mutter Edith-Greta Kirschstein lebte in Berlin-Mitte, wenige Minuten von Berlin-Schwalbensee entfernt. Sie besuchte die Familie oft. Edith-Greta hat zur gesamten Familie – insbesondere zu ihrer Enkeltochter Constanze-Finja - ein sehr gutes Verhältnis.

Zu seinem Vater Richard Kirschstein hatte Konstantin keinen Kontakt mehr, da dieser ihn als Kind öfter verprügelt hatte. Edith-Greta und Richard leben getrennt. Sylvia konnte sich noch sehr gut daran erinnern, als Konstantin sie unter dem vom Feuerwerk hell erleuchteten Himmel Berlins am Brandenburger Tor auf den Knien gefragt hatte, ob sie seine Frau werden wolle, und sie hatte „Ja“ gesagt und ihn lange geküsst.

Am 31. März 2000 hatten Konstantin und Sylvia dann geheiratet; es war eine standesamtliche Trauung gewesen. Sylvia hatte ein bodenlanges, silbernes Hochzeitskleid mit einer langen Schleppe getragen, Konstantin einen schwarz-blauen Anzug mit silberner Krawatte und silbernem Einstecktuch. Der Hochzeitskuss war lang und romantisch gewesen. Nach ihrer Hochzeit und der Geburt ihrer Tochter lebten sie glücklich im Townhouse.

„Was machst du schon im Arbeitszimmer? – Ich meine…“, sie warf einen Blick auf die Wanduhr, „es ist erst sechs Uhr“, stellte sie müde fest und gähnte.

„Ich konnte nicht mehr schlafen, und deshalb habe ich mir gedacht, ich gehe in mein Arbeitszimmer und beantworte ein paar Mails“, erklärte Konstantin und griff nach seiner Espressotasse.

Er blickte seine Frau an. Er liebte einfach alles an ihr, jedes Grübchen, wenn sie lachte, ihre herzliche Art, ihren Kampfgeist, ihren Familiensinn und ihre Gabe, auch einmal Schwäche zu zeigen – einfach alles eben!

„Ich verstehe…“, gähnte Sylvia erneut, „ich gehe mal Constanze-Finja wecken.“

Sie ging ins Kinderzimmer, als es plötzlich an der Haustür klingelte. Sylvia hörte das Klingeln noch und wunderte sich. Konstantin erhob sich ächzend und ging zur Tür, um diese zu öffnen. Davor stand ein junger, braunhaariger Mann.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Konstantin. In diesem Moment trat auch Sylvia mit Constanze-Finja auf dem Arm zur Tür. Das kleine Mädchen trug einen rosafarbenen Schlafanzug, im Mund hatte sie einen ebenfalls rosafarbenen Schnuller und in den Händen hielt sie einen braunen Plüsch-Teddybären.

Alle drei blickten gespannt auf den Mann, der in der Eingangstür stand.

„Ich bin dein Sohn. Ich bin Raul Hilliard.“

Carsten saß in seinem Wohnzimmer und machte sich Gedanken, ob Sergios Vorschlag wirklich eine so gute Idee war. Aber die Angst, seine Familie zu verlieren, wog schwerer als seine moralischen Bedenken, und außerdem bot Sergio ihnen allen ein sorgenfreies Leben an. Die Chance, dass er es alleine schaffen würde, dem Spielen und dem Trinken zu widerstehen und seiner Familie Schutz zu bieten, war verschwindend gering. Es war gefährlich, sich auf einen Mann wie Sergio einzulassen, aber es gab für Carsten Picht nichts mehr, das er noch verlieren konnte.

Das war ein ziemlicher Schock für einen so schönen Morgen. Sie baten Raul natürlich zunächst hinein. Beim Frühstück erklärte Raul, wie er von der Existenz seines Erzeugers erfahren hatte.

Konstantin und Sylvia hatten sich vor einiger Zeit bei einem vertraulichen Gespräch alles über ihre Familien erzählt, und Sylvia wusste bereits von der Existenz seines unehelichen Sohnes; trotzdem waren beide sprachlos. Auch Constanze-Finja schaute den Mann aus großen Augen an. Eine kurze Weile herrschte Schweigen am Tisch.

„Herzlich willkommen in der Familie“, breitete Konstantin dann die Arme aus. Sylvia lächelte. Konstantin war eben ein Familienmensch durch und durch.

Vier Jahre später

Montag, 2. Juli 2012

Konstantin Kirschstein stellte einen Topf auf die Herdplatte und füllte kalte Milch hinein. Als die Milch erwärmt war, nahm er den Topf von der Platte und rührte drei Löffel Kakaopulver unter. Während des Zubereitens dachte er an seinen Sohn Raul:

Nachdem Raul vor vier Jahren zu der Familie gestoßen war, hatte Sylvia ihm ein Geständnis machen müssen. Sie war erst 17 Jahre alt gewesen, als sie im Oktober 1987 eine Tochter zur Welt brachte. Der Vater – kaum älter als sie selbst – hatte sie verlassen, noch bevor das Kind auf die Welt gekommen war, so dass sie sich entschlossen hatte, das Baby nach der Geburt zur Adoption freizugeben. Auch Sylvia hatte also außer der gemeinsamen Tochter Constanze-Finja noch ein weiteres Kind… Nach diesem Gespräch hatten Sylvia und Konstantin sich geschworen, keine Geheimnisse mehr voreinander zu haben und immer ehrlich zueinander zu sein.

Dass Raul nun die Familie erweiterte, erwies sich als Segen. Alle Beteiligten hatten sich auf Anhieb gut miteinander verstanden und Raul war sofort voll integriert. Einmal war Konstantin an Elkes Grab gewesen und hatte weiße Lilien niedergelegt. Ein einziges Mal – das erste und das letzte Mal. Konstantin war froh, dass Raul und er sich so gut verstanden. Obgleich Raul bereits eine kleine Wohnung hatte, hatte Konstantin ihm in Townhouse sein eigenes Zimmer eingerichtet, in das Raul nach einiger Zeit ganz eingezogen war. Und bei seiner kleinen Halbschwester Constanze-Finja stand Raul ohnehin hoch im Kurs.

Konstantins Gedanken glitten zurück ins Hier und Jetzt, zur Zubereitung des Kakaos. Er füllte das warme Getränk in eine Porzellankanne und schloss den Deckel. Die Kanne platzierte er mit einem Porzellanbecher auf dem Frühstückstisch. Anschließend bereitete er mit dem Vollautomaten noch zwei Espresso zu und stellte sie ebenfalls auf den Tisch.

Plötzlich entdeckte er einen Zettel:

Hi, Dad! Ich bin schon losgefahren zur Arbeit. Heute Abend komme ich nicht nach Hause. Ein Kumpel von mir feiert eine Party. Ich übernachte dann bei ihm. Ihr braucht also mit dem Essen nicht auf mich zu warten.    Gruß Raul.

Konstantin nahm den Zettel mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis. Da klingelte es an der Tür. Seufzend öffnete er sie. Seine Schwägerin Sonja stand davor.

„Sonja, was machst du denn schon hier?“, begrüßte er seine Schwägerin überrascht mit einer Umarmung.

Ihre blonden, glatten Haare trug sie offen – perfekt zu ihrer Jeans und dem lilafarbenen T-Shirt. Sie hatte eine sportliche, durchtrainierte Figur. Konstantin trug heute einen grauen Anzug und ein lilafarbenes Hemd mit einer blauen Krawatte. Sonja lachte und zeigte auf ihr Shirt und sein Hemd: „Als hätten wir uns abgesprochen, was?“, grinste sie.

Er nickte und lächelte. Dann erklärte sie den Grund für ihr spontanes Kommen: „Ich war gerade beim Bäcker, und als ich den Laden verließ, dachte ich, ich komme euch kurz besuchen und bringe euch Croissants mit. Die Verkäuferin hat mir vier Stück eingepackt, weil es wohl irgendeine Rabattaktion gibt.“

„Wunderbar, vielen Dank“, er nahm ihr die Bäckereitüte ab, und sie trat ein.

„Setz‘ dich doch“, lud er sie ein und schickte sich an, den Tisch zu Ende zu decken.

Sonja nahm an dem halb gedeckten Frühstückstisch Platz – doch kurze Zeit später sprang sie schon wieder auf.

„Ich helfe dir!“, meinte sie lächelnd; sie sprudelte nur so vor Tatendrang und Energie, dies war ein Markenzeichen von ihr; auch nach einem Neun-Stunden-Arbeitstag sprühte sie geradeso vor Eifer und Lebenslust. Konstantin und Sylvia bewunderten dies.

Sylvia gab nach außen hin immer die toughe Anwältin, die Unnahbare. Aber alle in der Familie wussten, dass sie in Wahrheit sehr weich, verletzlich und zerbrechlich war. Bei Konstantin zeigte Sylvia sich in schwachen Momenten auch ehrlich, bei ihm ließ sie ihren Sorgen, Ängsten, Tränen und Gefühlen freien Lauf – aber nur bei ihm.

Sonja gab die Croissants und die aufgebackenen Brötchen, die auf der Anrichte lagen, in einen mit einer lachsfarbenen Serviette ausgelegten Brotkorb aus Edelstahl und stellte diesen auf den Frühstückstisch. Sie strahlte und räumte noch andere Frühstückszutaten aus dem Kühlschrank, platzierte sie auf den Tisch und begann, Rührei zu machen.

Konstantin bot seiner Schwägerin einen Espresso an, den sie jedoch dankend ablehnte und stattdessen sagte: „Lieber einen Tee, wenn du einen hast? Vielleicht grünen Tee, oder Cranberry-Tee?“

„Cranberry-Tee hätte ich anzubieten“, stellte Konstantin nach einem Blick in das Tee-Regal fest.

„Ja, gerne“, meinte Sonja.

Und als das Teewasser kochte, goss Konstantin ihr den Tee ein und reichte ihr die Tasse. Sie nahm sie entgegen und blies andächtig in die Tasse, damit die heiße Flüssigkeit erkaltete: „Dankeschön.“

Konstantin nickte ihr lächelnd zu: „Was macht Nils? Wie geht es ihm?“, erkundigte er sich, nachdem er einen winzigen Schluck Espresso zu sich genommen hatte.

„Nils geht es gut. Er ist schon losgefahren – ins Fitnessstudio. Du weißt ja, er liebt seinen Job – fast genauso, wie du und Sylvia es tun“, war Sonjas Antwort, und beide mussten grinsen.

Mit Sylvias Schwester Sonja hatten Sylvia, Konstantin und die gemeinsame Tochter Constanze-Finja einen sehr guten Kontakt. Sonja hieß mittlerweile mit Nachnamen Dannheimer, denn sie war mit Nils Dannheimer, einem Fitnesstrainer, verheiratet. Beide waren vierzig Jahre alt und führten seit zwanzig Jahren eine glückliche, aber kinderlose Ehe. Sonja arbeitete in Nils‘ Fitnessstudio als Masseurin.

In diesem Moment trat Sylvia aus dem Schlafzimmer. Sie trug einen braunen Seidenmorgenmantel. Die braunen, langen Haare trug sie offen. Sie sah blass aus, fand Konstantin. Sylvia war ohnehin ein blasser Typ, aber für Konstantin hatte es den Anschein, dass sie heute noch eine Nuance bleicher aussah als sonst. Aber vielleicht täuschte er sich da auch.

„Guten Morgen, Liebling!“, Konstantin küsste sie.

„Guten Morgen“, entgegnete sie matt, den Kuss erwidernd.

„Ist alles in Ordnung, Liebes?“, wollte Konstantin besorgt wissen. Er schien sich doch nicht getäuscht zu haben.

„Ja, sicher. Ich habe nur schlecht geschlafen“, murmelte Sylvia müde und wandte sich ab. Sie drehte sich ihrer Schwester zu und umarmte diese herzlich: „Schön, dich zu sehen“, freute sie sich, „wie kommt es, dass du schon so früh hier bist?“

„Nils ist schon los ins Fitnessstudio. Ich war gerade beim Bäcker, es gab eine Rabattaktion und da dachte ich, ich bringe euch Croissants mit“, erklärte Sonja ihrer Schwester.

„Das freut mich sehr, dass du uns besuchen kommst, und danke für die Croissants!“

So frühstückten die Erwachsenen gemeinsam. Eine halbe Stunde später, um 06:30 Uhr, ging Sylvia ins Kinderzimmer, um Constanze-Finja zu wecken. Der Unterricht des Mädchens begann immer um 08:00 Uhr, aber meist fuhr einer ihrer Eltern sie bereits um 07:30 Uhr zur Schule. So hatte sie noch Zeit, wichtige Dinge mit ihren Freundinnen, insbesondere mit ihrer besten Freundin Lina, zu besprechen, die ebenfalls schon früh morgens in der Kernzeit-Betreuung war.

Lina war die Tochter von Götz und Gabriella Erdmann. Mit Götz waren mit Constanze-Finjas Eltern bereits seit Jahren befreundet. Alle drei hatten zusammen Jura studiert, und Götz war ebenfalls Anwalt geworden. Dann hatten sie zu dritt eine Kanzlei geführt, doch das war lange Zeit vor der Geburt von Constanze-Finja gewesen. Götz und Gabriella waren viel früher Eltern geworden, sie hatten bereits zwei erwachsene Söhne, Elias und Armin, die beide nicht mehr zu Hause wohnen. Sehr zu Götz‘ Missfallen hatte aber keiner seiner Söhne in seine Fußstapfen treten wollen – nein, denn beide arbeiteten in der Hotelbranche. Götz hatte sich jedoch vor einigen Jahren aus der gemeinsamen Kanzlei zurückgezogen und arbeitete jetzt als angestellter Anwalt in einer anderen Kanzlei, um mehr Zeit für seine herzkranke Frau Gabriella und für Nesthäkchen Lina zu haben. Gabriella war als Hausfrau und Mutter zuhause geblieben und immer für die Kinder da gewesen. Auch wenn sich die Familie nur in unregelmäßigen Abständen traf, telefonierten sie öfter miteinander.

Sanft strich Sylvia ihrer Tochter über das dunkelblonde Haar: „Bienchen, du musst aufstehen!“, sie lächelte ihre Tochter an.

„Mhm“, machte Constanze-Finja, wälzte sich noch einmal hin und her und gähnte herzhaft, bis sie sich schließlich aus der warmen und weichen Bettdecke schälte.

„Komm schon, der Papa hat längst Kakao für dich gekocht, und Tante Sonja ist auch da“, lockte Sylvia ihre Tochter.