List und Liebe

1. Shirley

2. Gwen

3. Familienessen

4. Konzentration

5. Eine Nervensäge

6. Misstrauen

7. Schlecht gespielt

8. Gefangen

9. Kalt und heiß

10. Heiß und kalt

11. Auf gar keinen Fall und niemals

12. Wunschdenken

13. Geständnisse

14. Jagdfieber

15. Skandalös

16. Bedingungen

17. Ruhe vor dem … was?

18. Nachhilfe

19. Ungewöhnliches Verhalten

20. Mist

21. Sorgen

22. Hart geprüft

23. Ein sehr gestörtes Abendessen

24. Date

25. Abwarten und nachdenken

26. Neu

27. Im Rausch

28. Abrupt

29. Draußen

30. Desaster

31. Entlarvt

32. Allein

33. Gegen den Rest

34. Einsamkeit

35. Vertrauen

36. Morgen

37. Lieblingsfarben

38. Verrat

39. Müde

40. Geborgen

41. Weihnachten

Impressum

 

List und Liebe: Ebernau 3

Text Copyright © 2017 Regina Mars

Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.

Regina Mars

c/o

Papyrus Autoren-Club,

R.O.M. Logicware GmbH

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

regina@reginamars.de

www.reginamars.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Umschlagbild und Umschlaggestaltung: Regina Haselhorst

Illustration Copyright © Regina Haselhorst

www.reginahaselhorst.com

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Reale Personen wären auch vernünftig genug, Safer Sex zu praktizieren, im Gegensatz zu den Fantasiegestalten in diesem Roman. Die müssen sich darum keine Sorgen machen, da es sie nicht gibt.

Aufgrund vereinzelter homoerotischer Szenen ist dieses Buch nur für Personen über 18 Jahren geeignet.

1. Shirley

 

Gwendolyn Ophelia Luise von Rieke-Rothaus hielt ein Referat. Leider.

»Na ja, und dann sind sie nach …« Sie sah auf die Notizen in ihren perfekt manikürten Händen. Ihr süßes Gesicht verzog sich, als sie versuchte, die eigene Handschrift zu entziffern. »Dann sind sie nach Teneriffa gesegelt und dann haben sie den Äquator überquert und, äh, dann sind sie in Südamerika angekommen und dann …« Sie zwirbelte eine blonde Strähne zwischen den Fingern. »Na, den Rest könnt ihr euch denken, nicht wahr?«

Gwen lächelte. So strahlend, dass Shirley ein leises Seufzen von rechts vernahm. Luis' Seufzen. Der verschlang Gwens schlanke Gestalt mit den Augen. So wie jedes männliche Wesen in der Klasse, aber Luis war ein besonders hoffnungsloser Fall. Seit Gwen ihm im letzten Jahr die Ehre gewährt hatte, zwei Wochen lang ihr Freund zu sein, schmachtete er sie an. Shirley fragte sich ernsthaft, warum. Seit der Sache mit Luis hatte Gwen mindestens vier ebenso kurzfristige Beziehungen gehabt. Außerdem hatte sie dreimal die Sportart gewechselt, sieben neue Frisuren ausprobiert und zwei Fremdsprachen angefangen.

Kurzzeitig war sie in Shirleys Spanischkurs gewesen, bis sie die Lehrerin überredet hatte, dass sie zu Japanisch wechseln durfte. Gwen kam mit so etwas durch. Ein unschuldiger Augenaufschlag, ein Lächeln, das ihre Grübchen zum Vorschein brachte und alle taten, was sie wollte. Sie meinte es ja nicht böse. Sie war einfach jemand, der schnell das Interesse verlor.

Das Referat hatte übrigens spannend begonnen. Gwen hatte voll Leidenschaft von Magellans Kindheit erzählt, davon, wie er in einer verarmten Adelsfamilie aufgewachsen war, wie früh seine Eltern gestorben waren und wie er sich trotz aller Widrigkeiten hochgekämpft hatte. Aber schon, als er den ersten Kapitänsposten erreicht hatte, war ihre Stimme monotoner geworden und sie hatte immer öfter in ihre Notizen schauen müssen. Die nun anscheinend zu Ende waren.

»Das war’s.« Gwen lächelte. Warmes Herbstlicht fiel durch die Fenster auf ihre goldenen Haare und ihre graublaue Schuluniform. Sie sah aus, als wäre sie einem Werbeprospekt entstiegen. Es war ein bezauberndes Bild, wie sie vor der Tafel stand, in dem hellen Raum mit den stuckverzierten Decken, strahlend schön und aufgeweckt. Kurz: die ideale Schülerin. Ihre Frisur saß perfekt, ihre Haltung war elegant und sie erzählte völligen Schwachsinn. »Der Ferdinand hat die Welt umsegelt und, äh, alles wurde gut und er lebte glücklich bis an sein Lebensende.«

Herr Wuller sah Gwen ungläubig an. Selbst der langwimprigste Augenaufschlag würde sie jetzt nicht mehr retten.

»Bis an sein Lebensende?«, fragte Wuller. Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

Gwen nickte und machte Häschenaugen.

Shirley überlegte, ob sie Gwen irgendein Zeichen geben konnte. Ihr irgendwie verständlich machen konnte, dass ihre Version der Realität nicht ganz mit der in den Geschichtsbüchern übereinstimmte. Aber sie tat es nicht. Nicht nur, weil Gwen darauf bestand, Magellan »den Ferdinand« zu nennen. Shirley war immer noch sauer auf sie. Dieses Püppchen hatte ihr die erste Drei in ihrer gesamten Schullaufbahn eingebrockt. Also verschränkte Shirley die Arme, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, und beobachtete, wie Gwen vorne an der Tafel ins Schwitzen geriet.

»Wurde wirklich alles gut für Magellan?«, bohrte Wuller weiter und ließ die Fingernägel über sein Pult tanzen.

Gwen überlegte fieberhaft. Nachdenklichkeit stand ihr gut, so wie eigentlich alles. Leise Panik huschte über ihr Engelsgesicht.

»Nein, also, er …« Sie sah in die Klasse, auf der Suche nach Rettung. Es gab keine. »Natürlich war er nicht immer glücklich. Er, äh, also seine Ehe ist in die Brüche gegangen, weil er so viel unterwegs war?« Sie sah Wuller fragend an.

Der verdrehte die Augen. »Nein.«

»Er war immer sehr traurig, weil er eine Glatze hatte? Ich meine, der Hut kaschiert das ganz gut, aber …«

»Nein.«

»Die anderen Matrosen haben ihn geärgert, weil er Ferdinand hieß? Ich weiß auch nicht, was seine Eltern sich dabei gedacht haben …« Ihre Stimme verklang.

»Nein.« Herr Wuller seufzte. »Kann jemand Frau von Rieke-Rothaus erklären, warum Magellans Weltumseglung kein Happy End hatte?«

Shirley hasste sich ein wenig, weil sie als Einzige die Hand hob.

Abiturnote 1,0, sagte sie sich. Abiturnote 1,0. Keine Rücksicht.

»Frau Winter?« Wuller nickte ihr zu.

»Er starb, bevor sie endete«, sagte sie. »Im April 1521 wurde er bei einem Kampf mit den Einheimischen von Mactan getötet. Er bekam eine Lanze ins Gesicht und eine unter den rechten Arm und war vorher schon von einem vergifteten Pfeil durchbohrt worden.« Die blutigen Details waren ihr die liebsten. »Die Weltumseglung wurde zwar abgeschlossen, aber ohne ihn. Von 237 Mann und fünf Schiffen, die gestartet waren, kamen nur 18 Mann und ein Schiff zurück.«

»Genau«, sagte Wuller.

»Oh nein«, sagte Gwen. »Der arme Ferdi.«

Wuller schaute sie an, als hätte sie gefurzt. Eigentlich ganz nett von Gwen, dass sie Mitleid mit einem Kerl hatte, der vor über 500 Jahren verstorben war.

»Frau von Rieke-Rothaus, wie weit haben Sie das Buch, das sie vorstellen sollten, gelesen?«, fragte er. Seine Stimme schnitt durch die Luft wie ein Rasiermesser. »Anscheinend nicht bis zum Ende, oder?«

»Nein.« Gwen sah zu Boden. »Tut mir leid. Der Anfang war super, aber dann … Also, es wird schon etwas öde und … Dann habe ich angefangen, Hockey zu spielen und meine ganze Zeit ist für das Training draufgegangen.« Sie hüstelte.

Wullers Miene wurde immer finsterer. Unangenehmes Schweigen hing im Raum, drückend wie ein heranziehendes Gewitter.

»Frau von Rieke-Rothaus, wenn Sie in der zwölften Klasse«, er wurde lauter, »noch nicht in der Lage sind, ein Buch zu beenden, für dessen Lektüre Sie DREI WOCHEN ZEIT HATTEN …«

»Genau genommen hatte Magellans Geschichte ein Happy End«, platzte Shirley heraus. Irgendjemand musste etwas tun, sonst würde der Rest der Stunde daraus bestehen, dass Wuller Gwen anbrüllte. Und da sich mal wieder keine der reichen Gören dazu herabließ … »Ich meine, seine Expedition hat als erste die Welt umsegelt, auch wenn nicht alle Teilnehmer lebend ankamen. Sie haben endgültig die Kugelform der Erde bewiesen, die bis dahin immer noch angezweifelt wurde und deshalb hat sein Name die Jahrhunderte überdauert und … das ist doch was. Außerdem wurde die Magellanstraße nach ihm benannt, er ist also quasi unsterblich geworden, auch wenn er, na ja, gestorben ist.«

Sie versuchte, überzeugend zu schauen. Wullers Gewittermiene glättete sich. Ein wenig. Ein ungläubiges Schnauben entkam seinen Nasenlöchern.

»Das könnte man so sehen«, brummte er. »Wenn man die Geschichte sehr großzügig auslegt. Fakt ist aber, dass Frau von Rieke-Rothaus erneut die ihr gestellte Aufgabe nicht erfüllt hat.«

»Der Anfang war korrekt.« Shirley, du solltest einfach die Klappe halten, dachte sie. Einfach die Klappe halten. Aber darin waren die Mitglieder ihrer Familie nie besonders gut gewesen. »Dafür sollte sie ein paar Punkte bekommen, oder?«

Wuller sah sie an, als wäre sie vollkommen bekloppt.

»Die Punkte vergebe ich, Frau Winter«, knurrte er. Das war es wohl mit Shirleys Lieblingsschüler-Status gewesen. »Von Rieke-Rothaus, Sie bekommen sieben Punkte, weil ich ein gnädiger Lehrer bin. Setzen Sie sich.«

Gwen duckte sich und huschte an ihren Platz zurück. Leise seufzend ließ sie sich neben Shirley nieder.

»Danke«, flüsterte sie. »Ich hab gedacht, gleich reißt er mir den Kopf ab.«

Ihr Atem kitzelte Shirleys Ohr und der dezente Duft ihres Parfüms zog herüber. Vanille und Sandelholz. Shirley sah stur nach vorne.

»Bitte«, flüsterte sie.

»Weißt du«, wisperte Gwen in ihr Ohr, »ich wollte echt weiterlesen, aber mir sind immer die Augen zugefallen und irgendwie habe ich es total vergessen, bis gestern Abend …«

»Von Rieke-Rothaus! Folgen Sie dem Unterricht?«, brüllte Wuller.

»Nei... äh, ja. Natürlich.« Gwen richtete sich auf und versuchte, aufmerksam zu schauen. Sie wirkte wie ein Kindergartenkind, das so tat, als wäre es schon eine richtige Schülerin. Shirley schüttelte innerlich den Kopf.

 

***

 

Sobald der Geschichtsunterricht vorbei war, strahlte Gwen wieder.

»Danke nochmal!« Sie haute Shirley erstaunlich kräftig auf die Schulter. »Das war so supernett von dir!« Anscheinend hatte sie schon vergessen, dass Shirley ihr ganzes Streberwissen über Magellan ausgebreitet und sie bloßgestellt hatte. Noch mehr, als Gwen sich selbst bloßgestellt hatte.

Shirley brummte irgendetwas Undeutliches.

»Reiten wir mal wieder aus, Shirley?«, fragte sie. »Das haben wir schon so lange nicht mehr. Hast du heute Nachmittag Zeit?«

»Nein, ich muss lernen«, sagte Shirley. Das stimmte ja auch.

Ein Schatten flog über Gwens Gesicht. »Oh. Okay. Also, vielen Dank für die Rettung. Bis später!« Schon lächelte sie wieder. Sie schnappte sich ihre Burberry-Tasche, hüpfte zu den anderen Klassenprinzessinnen hinüber und schnatterte mit denen, bis sie gemeinsam aus der Tür verschwunden waren.

Dom tauchte neben Shirleys Pult auf.

»Lernt sie überhaupt mal?«, fragte er. Zweifelnd sah er der Mädelstruppe mit den hochglanzpolierten Haaren nach. »Ihr Referat über Effi Briest lief genauso.«

»Glaub kaum. Ich verstehe immer noch nicht, wie sie es bis in die Zwölfte geschafft hat, ohne sitzenzubleiben.«

»Charme, gutes Aussehen und reiche Eltern.« Dom lächelte. »So wie du.«

Shirley schnaubte. Witzig. Sie besaß exakt nichts davon. Das Einzige, was sie hatte, war ihr Gehirn, und das trainierte sie gerade wie ein Bodybuilder seinen Bizeps.

»Lernen wir heute?«, fragte sie und wie immer nickte Dom.

Als sie gemeinsam durch den Flur gingen, bemerkte Shirley, dass eine entgegenkommende Gruppe Mädchen ihnen böse Blicke zuwarf. Nein, nicht ihnen. Ihr. Dom schauten die Mädchen an, als hätte er eine Schokoglasur mit Zuckerherzen. Wie üblich. Und wie üblich duckte er sich unangenehm berührt, bis sie an denen vorbeigegangen waren.

»Hab ich was im Gesicht?«, murmelte er unbehaglich. »Nein, oder?«

»Doch, hast du«, sagte Shirley. Sie hob ihre Stimme zu einem verzückten Quietschen. »Strahlende Schönheit. Freu dich doch. Andere Jungs würden Werweißwas dafür geben, so angesehen zu werden.«

»Hmja, toll.« Dom sah zu Boden. Der arme Kerl. Er konnte ja nichts dafür, wie er aussah. Wie einer von diesen Boygroup-Boys, mit weichen, welligen Haaren, seelenvollen dunklen Augen und einem Gesicht, das vollkommen symmetrisch war. Symmetrie war Schönheit, das hatte Shirley gelesen. Der perfekte Abstand zwischen Augen, Nase, Mund und Kinn, sowie deren Größe im Verhältnis zum Rest. Wieder ein Beweis, dass man alles berechnen konnte.

»Ist ja nicht deine Schuld, dass du hübsch und reich bist.« Shirley versuchte, nicht zu lächeln. »Du armes Häschen.«

»Klappe.« Er grinste. »Und ich bin überhaupt nicht reich.«

»Ne, aber dein Vater ist der drittreichste Mann von Ebernau.«

»Der viertreichste. Und Ebernau ist nicht sehr groß.«

»Immerhin groß genug, dass sich diese Bonzenschule hier lohnt.«

Er hob gespielt vornehm eine Augenbraue. »Diese exklusive Privatschule, meinst du.«

»Bonzenschule für nichtsnutzige Gören.«

»Was verstehst du denn davon, du Stipendiatin?« Er zog an ihrem Pferdeschwanz. Ein braunhaariges Mädel, das an der dunklen Wandtäfelung lehnte, warf Shirley den vernichtendsten Blick zu, den sie heute empfangen hatte.

»Kann nicht verstehen, was er an ihr findet«, hörte Shirley sie zischen. Das verstand niemand. Nicht mal sie selbst war sich ganz sicher, warum Dom ausgerechnet mit ihr befreundet war.

Sie hatte nicht damit gerechnet, überhaupt Freunde zu finden, als sie auf die Wilhelmine-von-Grävenitz-Privatschule gewechselt war. An ihrer alten Schule hatte sie es genau zu einem Freund gebracht: ihrem Zwillingsbruder. Alle anderen hatten sie eine biestige Streberin genannt, allerdings nur hinter ihrem Rücken. Wenn man wie Shirley drei Brüder hatte, lernte man, auszuteilen.

Aber Dom war immer wieder bei ihr angekommen und hatte versucht, mit ihr zu reden. So lange, bis sie beschlossen hatte, dass er vertrauenswürdig war. Und das, obwohl er unter all den verwöhnten Söhnchen hier eins der reichsten war. Seinem Vater gehörte eine Restaurantkette, die Filialen in fast allen Städten der Umgebung hatte. Er war in einem gigantischen Anwesen aufgewachsen und von den besten Kindermädchen aufgezogen worden. Shirley betrachtete seine schwarzen Schuhe. Feinstes italienisches Leder. Vermutlich. Was verstand sie davon? Genau: nichts.

Doch auf seine Art hatte Dom genau so viele Probleme wie sie. Die Mädchen mochten ihn, obwohl er nicht auf Mädchen stand und die Jungs waren sauer, weil die Mädchen hinter ihm her waren. Wenn die wüssten … Seit Valentin bei Luzia abgeblitzt war, weil die auf Dom stand, hatte der das halbe Hockeyteam als Feind. Und dann war Dom in einer Umfrage auch noch zum schönsten Jungen der Schule gewählt worden. Mit Abstand.

»Ich sag’s ihnen«, flüsterte er, als hätte er ihre Gedanken gehört. Sie musste nicht mal fragen, was, so oft hatten sie das Gespräch schon geführt. »Bald. Ich … ich muss mich nur erst mental vorbereiten. Ich will nicht, dass sie dich weiter so behandeln.«

»Mir ist egal, wie die mich behandeln.« Shirley grunzte undamenhaft. »Ich glaub kaum, dass die netter zu mir werden, wenn rauskommt, dass wir wirklich nur Freunde sind. Ich meine, wir sagen ihnen ja, dass da nichts zwischen uns läuft und sie glauben es nicht. Warum soll sich das ändern«, sie senkte die Stimme, »sobald du dich outest?«

Er schenkte ihr einen dankbaren Blick. Und stolperte. Einer der Hockeyspieler, die ihnen entgegenkamen, hatte ihn geschubst. Marten van Meddel. Sein Gesicht war zu einem höhnischen Grinsen verzogen.

»Weichei«, hörten sie im Vorbeigehen. »Schönling.«

Shirley wirbelte herum, aber Dom packte ihren Arm.

»Nicht«, warnte er. »Lass ihn reden, was er will. Mir ist nichts passiert und das ist er nicht wert.«

»Überhaupt nichts ist der wert«, knurrte Shirley. »Und er braucht ’ne Abreibung, sonst denkt er, er kommt immer mit dem Scheiß durch.«

»Eine Abreibung? So eine wie Daniele letztes Mal?« Dom zog sie mit sanfter Gewalt weiter. Marten und seine dämlichen Freunde, die ihm lachend auf die Schultern hauten, verschwanden um die nächste Ecke. »Ich will nicht, dass du schon wieder suspendiert wirst, Shirl.«

»War doch nur eine Woche«, sagte sie, obwohl er eigentlich recht hatte. Sie durfte ihr Abi nicht nochmal gefährden.

»Eine Woche und eine dreißigseitige Strafarbeit.«

»Über die Verbreitung der Pest auf der Seidenstraße. Das hat sogar Spaß gemacht. Genau wie Daniele das Buch auf die Nase zu hauen.«

»Das Buch? Das war die Herr-der-Ringe-Gesamtausgabe.« Dom schüttelte den Kopf. »Der kann froh sein, dass er noch ein Gesicht hat. Und alles nur, weil er mir ein Bein gestellt hat.«

»Vor der Treppe. Der hätte dir das Genick brechen können.«

»Dafür sind meine Reflexe zu gut«, sagte Dom gleichmütig. »Ich habe keinen Kratzer abgekriegt.«

»Ich versteh dich nicht.« Shirley war nicht ganz klar, ob sie Dom bemitleidete oder bewunderte. Vielleicht beides. »Wenn ich du wäre, würde ich jedem, der so einen Scheiß labert, die Nase brechen. Du machst doch Taekwondo, warum wendest du das nicht an?«

»Das wäre nicht sehr nett.«

»Nervensägen wie Daniele und Marten sind nicht nett. Ich bin nicht nett. Und du solltest auch nicht nett sein.«

»Eben hast du Gwen geholfen. Das war ziemlich nett, würde ich sagen.« Dom öffnete die Tür des Musikzimmers und sah sie an. Seltsamer Blick. Als wüsste er etwas, das sie nicht wüsste. So ein Blödsinn.

»Gar nicht«, motzte sie. »Ich wollte nur nicht, dass Wuller sie bis zum Gong anschreit. Das würde das Püppchen nicht verkraften.«

»Ach, das Püppchen ist ein Stehaufmännchen.« Dom warf sich auf seinen Platz und Shirley setzte sich neben ihn. »Und sie mag dich. Warum freundest du dich nicht mit ihr an? Dann hättest du es hier bestimmt leichter.«

»Nach unserem Referat? Niemals.« Shirley schleuderte ihren Collegeblock auf das Pult und lehnte sich in ihrem ergonomischen Stuhl zurück. Wie jeder Stuhl in der Wilhelmine-von-Grävenitz-Schule schmiegte er sich an ihren Hintern, als wäre er nur für ihn geschnitzt worden. »Wegen ihr habe ich eine Drei bekommen. Ich habe noch nie eine Drei bekommen.«

Dom schwieg. Eh besser, der Musiklehrer betrat gerade das Klassenzimmer. Trotz des trüben Wetters draußen war der Raum warm und gemütlich. Mit den hohen Fenstern und den weißen Vorhängen sah er eher wie ein Vortragssaal als wie ein Klassenraum aus. Die Luft roch nach altem Holz und Parkettpolitur.

Diese Drei würde sie Gwen nie verzeihen. Wenn die gelernt hätte … Wenn die ihren Teil erledigt hätte, hätte Frau Iretzka ihnen nicht diese beschissene Gemeinschaftsnote gegeben.

Mit neu entfachter Wut schaute Shirley zu Gwen hinüber, die gerade mit ihrer Freundin Emily redete und gleichzeitig kleine Zöpfchen in ihre Haare flocht. Der Musiklehrer ermahnte sie, zuzuhören. Gwen schaffte es, drei Minuten lang stillzusitzen, dann begann sie, auf ihrem Collegeblock herumzukritzeln. Shirley erkannte Herzchen und Blumen, die aussahen, als hätte ein Kindergartenkind sie gezeichnet. Ein verträumter Ausdruck war auf Gwens Gesicht erschienen.

Konzentrier dich, du Püppchen, dachte Shirley. Wir sind nicht zum Spaß hier.

2. Gwen

 

Shirley Winter war sehr … direkt. Niemand sonst hatte Gwen je so angeraunzt wie sie damals. Na ja, fast niemand. Und das nur, weil Gwen vergessen hatte, ihre Hälfte von diesem blöden Referat zu machen. Sie hatte einfach andere Sachen im Kopf gehabt … Dumme Sachen. Gwen seufzte leise. Kein Wunder, dass Shirley sie nicht leiden konnte. Die war so ernsthaft und konzentriert und vergaß nie, dass sie Hausaufgaben hatte, weil ein neues Hobby oder eine neue Handtasche oder ein neuer Freund sie ablenkte.

Gwen hatte vergessen, das Referat vorzubereiten, weil sie damals total in Luis verschossen gewesen war. Luis mit den graugrünen Augen … oder waren sie braun? Gwen wusste es nicht mehr sicher. Sie hätte nachschauen können, schließlich war er immer noch in ihrer Klasse. Doch jedes Mal, wenn sie ihn ansah, bekam er diesen hoffnungsvollen Gesichtsausdruck und das wollte sie nicht. Sie wusste ja auch nicht, warum sie sich so schnell entliebt hatte. Wie so oft war alles nach zwei Wochen vorbei gewesen. Von ihrer Seite aus. Luis hoffte offenbar immer noch auf ein Rematch. Genau wie Jonathan, mit dem sie danach zusammen gewesen war.

Du bist das schönste Mädchen von Ebernau, hatte Jonathan ihr gestern erst ins Ohr geflüstert, als sie an ihrem Spind gestanden hatte. Einfach so, im Vorbeigehen. Gwen war nicht eingebildet, aber das hörte sie wirklich oft. Verdammt oft. Dabei wollte sie das gar nicht sein. Was sie sein wollte, war glücklich. Aber kein Junge, kein Pferd und kein Auto hatten sie je glücklich gemacht. Nicht mal der Porsche, der seit ein paar Wochen in ihrer Garage stand und darauf wartete, dass sie ihren Führerschein bestand.

Sie seufzte leise und malte ein weiteres Herz in ihren Block. Wenn sie sich einmal richtig verlieben würde, so total verknallen, wie in Filmen oder Büchern oder Liedern, dann wäre sie glücklich, oder? Bestimmt. Nur in wen sollte sie sich verlieben? Die interessanten Jungs an ihrer Schule hatte sie langsam durch und bis zum nächsten Urlaub dauerte es noch lange. Doch die Wintersaison begann bald und in den Weihnachtsferien würden wieder Jugendliche aus ganz Deutschland und Österreich nach Ebernau kommen. Es gab Hoffnung.

Nur nicht aufgeben, dachte Gwen und merkte erst nach Minuten, dass der Musiklehrer irgendetwas von ihr wollte.

 

***

 

»Zum Wohl, ihr Süßen!« Ihre Dreiergruppe war so laut, dass sich Leute zu ihnen umdrehten, trotz des Lärmpegels in der Bar. Machte nichts, denn sie waren ein hübscher Anblick: Emily und Linnea in ihren schwarzen Kleidchen und Gwen in ihrem roséfarbenen.

Die Augen von Manuel, dem Barbesitzer, hatten erfreut aufgeleuchtet, als sie zur Tür hereingekommen waren und er hatte gleich das »Reserviert«-Schildchen vom besten Tisch verschwinden lassen, damit sie sich setzen konnten. Dem, der ganz am Rand der Empore stand, so dass man sie durch den gesamten Raum und die Fensterfront sehen konnte. Gwen und ihre Freundinnen schmückten die Bar wie drei funkelnde Diademe die Auslage eines Schmuckgeschäfts.

»Auf das Wochenende!«, rief Linnea.

»Auf neue Männer und neue Abenteuer!«, quietschte Emily.

»Und vor allem auf uns!« Gwen grinste breit. Ihr Moskito-Glas klirrte gegen die Mojitos der anderen beiden.

»Irgendwann müssen wir dir beibringen zu trinken, Süße.« Emily sah sie mitleidig an. »Das ist doch kein Cocktail, das ist reine Geldverschwendung.«

Gwen führte den Strohhalm zum Mund. »Aber es hält schlank.«

»Als ob du das nötig hättest.« Emilys Blick glitt an Gwens Körper entlang. Linnea dagegen sah sich in der Bar um. Trotz des stetig heranbrandenden Lärms, der überlauten Gespräche und der durcheinanderwuselnden Gäste war ihr Blick so starr und konzentriert wie der eines Hais auf der Suche nach frischer Beute.

»Wie findet ihr den da hinten? Auf zwei Uhr, blond, an der Bar?« Ihr süßlich-pfefferminziger Atem drang in Gwens Nasenlöcher. »Würdet ihr den mit nach Hause nehmen?«

»Hm.« Emily musterte den hochgewachsenen Kerl im Anzug. »Bisschen alt, oder? Ich hab den noch nie gesehen, der muss frisch eingetroffen sein.«

»Vielleicht ist er so reich, dass er im November schon Urlaub machen kann.« Emily spielte mit ihrem Silberring. »Wirkt wie ein Banker, oder?«

»Student«, sagte Gwen. »BWL.«

»Meinst du?« Emily verzog enttäuscht das Gesicht. »Obwohl, dann wäre er wenigstens nicht so alt …«

»He, wisst ihr, an wen der mich erinnert?« Gwen legte den Kopf schief. »Shirleys Bruder. Den Snowboarder.«

»Marc Winter?« Linnea strich eine Haarsträhne über die Schulter zurück. »Aber der ist doch … Na, ihr wisst schon. Vom anderen Ufer.«

»Er kann ja trotzdem so aussehen wie der da.«

»Ja, aber Gwenni, das … Du weißt schon.«

»Was weiß ich?«

Linnea beugte sich zu ihr vor. »Jetzt werde ich mich die ganze Zeit fragen, ob der da auch auf Schwänze steht.«

Emily kicherte lautstark. Gwen sah auf ihr Cocktailglas.

»Ich hab mal für Shirleys Bruder geschwärmt«, gab sie zu. »Vor drei Jahren, als er den Zabulonin-Cup gefahren ist. Ich stand ganz vorne im Publikum und hab gebrüllt wie eine Verrückte.«

»He.« Emily schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich. Der ist aber auch ein heißes Schnittchen, egal, für welches Team er spielt.«

»Tja, leider fürs falsche.« Linneas glänzende Lippen verharrten auf halbem Weg zu ihrem Strohhalm. »Ich hätte eigentlich gedacht, dass seine Schwester auch so … andersrum ist.«

»Shirley?« Gwen blinzelte. »Aber die ist doch nicht … Also sie ist doch mit Dom zusammen, oder?« Sie wusste auch nicht, warum, aber der Gedanke, dass Shirley Winter auf Mädchen stand, war irgendwie elektrisierend.

»So eine Verschwendung.« Linnea verdrehte die Augen. »Was zur Hölle findet der an ihr? Die ist doch voll die Schreckschraubentussi. Mit der Brille und dieser komischen Jacke, die sie immer anhat. Da fehlen sogar Knöpfe und ich wette, die hat sie von ihrem Bruder geerbt. Das ist ganz sicher keine Mädchenjacke. Deshalb dachte ich ja auch, dass sie ’ne Lesbe ist.«

»Ha.« Jetzt, wo der Gedanke in Gwens Kopf aufgepoppt war, konnte sie an nichts anderes mehr denken. »Sie und Dom behaupten doch, dass sie nur Freunde wären.«

»Ja, aber wer glaubt das bitte? Warum sonst sollte er mit ihr rumhängen? Die ist doch total hässlich.«

»Ich wette, sie ist richtig billig.« Emily kicherte. »Diese Mädels aus der Unterschicht machen für jeden die Beine breit, der mit ein paar Scheinen winkt. Vielleicht mag Dom sie deshalb.«

»Sie ist sehr nett«, sagte Gwen und stellte ihr Glas ab. »Sie hat mir heute erst geholfen.«

»Ja, toll.« Emily pickte ein Pfefferminzblatt aus ihrem Mojito. »Aber erst hat sie dich schön bloßgestellt. Woher weiß die so einen Scheiß? Ich meine, welche normale Frau interessiert sich für so alte Seefahrerdudes? Keine.«

»Sie weiß total viel«, sagte Gwen. »Ich hab ihr damals beim Reiten geholfen, als sie ankam. Da hatte sie noch nie auf einem Pferd gesessen, aber wusste schon, was der Unterschied zwischen einem hannoverschen und einem englischen Reithalfter ist.«

»Ja, echt seltsam.« Linnea verdrehte die Augen. »Genau so seltsam wie ihr Stil.«

»Oh, ich finde diesen Nerdy Chic-Look total süß.« Gwen lächelte. »Mit der großen Brille und den verstrubbelten Haaren und so. Das steht ihr voll.« Allerdings hatte sie Shirley letztens ein Kompliment dafür gemacht und die hatte sie nur verständnislos angeschaut. Als wüsste sie gar nicht, was Nerdy Chic war.

»Wenn du sie so süß findest, frag sie doch, ob sie mit dir ausgehen will.« Linnea wackelte mit den Augenbrauen. Emily kicherte. Gwen spürte ihre Wangen heiß werden, tat aber unbeeindruckt.

»Haha«, motzte sie. »Die mag mich ja nicht mal.«

»Ich sag doch, dass sie seltsam ist, Gwenni.« Linnea prostete ihr zu. »Sonst mögen dich einfach alle.« Sie überlegte. »Sogar deine Exfreunde. Irgendwann musst du mir mal verraten, wie du das machst. Benedict schickt mir immer noch total fiese Nachrichten, wenn er besoffen ist.«

»Den hast du auch mit seinem Bruder betrogen«, gab Emily zu bedenken. Linnea zuckte mit den Schultern. Bevor sie etwas sagen konnte, fiel ein Schatten über ihren Tisch.

Es war der blonde Typ von der Bar. Neben ihm stand ein weiterer Kerl, offenbar ein Freund von ihm.

»Hallo Ladys«, sagte der Blonde und schaute Gwen an.

»Hi.« Linnea und Emily fuhren sich, scheinbar gleichgültig, durch die glänzenden Mähnen. Die Aufregung strahlte ihnen aus jeder Pore.

»Hallo.« Gwen nickte den beiden Männern zu. Die entblößten ihre Zähne zu einem Raubtierlächeln.

»Dürfen wir euch etwas zu trinken spendieren?«, fragte der Freund.

»Das ist lieb, aber …«, begann Gwen. Linnea stieß ihr den Ellenbogen in die Rippen und brachte sie zum Schweigen.

»Na gut«, sagte Emily. Sie schürzte die Lippen und spielte gelangweilt mit ihrem Strohhalm herum. »Wenn ihr unbedingt wollt.«

»Wir wollen«, sagte der Blonde und schaute Gwen an, als wollte er sie auffressen.

Gwen seufzte innerlich. Sie waren doch gerade erst angekommen! Jetzt würden die beiden Kerle ihnen den ganzen Abend auf die Pelle rücken. Sie kannte solche Männer. Männer mit Raubtierlächeln und mehr Selbstbewusstsein, als ihnen guttat.

Emily und Linnea freuten sich darüber, also sollte sie sich wohl auch für den Blonden und seinen Freund begeistern. So schwer es ihr fiel. Viel lieber hätte sie einen richtigen Gentleman kennengelernt. Einen höflichen, charmanten Prinzen, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas und nicht bei jeder Gelegenheit seine Hand auf ihren Oberschenkel presste. Aber so einen schien es in ganz Ebernau nicht zu geben. Ob sie weiter weg suchen musste, um einen zu finden? Obwohl … einen gab es da. Gwen richtete sich auf. Der Gedanke war so plötzlich erschienen wie ein Blitz in der Nacht. Es gab einen richtig vollendeten Gentleman an ihrer Schule, der Frauen nicht nach ihrem Aussehen beurteilte. Einen, der ihr gegenüber noch nie anzüglich geworden war.

Dom.

3. Familienessen

 

Ihre Familie war laut, nervig und hielt sie vom Lernen ab. Wie üblich.

»Jetzt leg doch mal das Buch weg, Shirley«, sagte ihre Mutter. »Das Essen kommt gleich.«

»Ich muss das bis Montag kapiert haben«, brummte Shirley und hielt den Physikwälzer noch höher. So hoch, dass Jennifer Winters vorwurfsvolles Gesicht verschwand. Neben ihr stritten sich ihre Brüder Josh und Marc, obwohl ihr ältester Bruder Nils versuchte, die beiden auseinanderzubringen. Auch das war normal. Das einzig Unübliche war, dass sie nicht in ihrer Küche saßen, während sie ihr Chaos verbreiteten. Sie saßen in einem richtigen Restaurant. Maries Restaurant. Die Ex-Feindin ihrer Mutter und außerdem die Mutter von Marcs Freund Flo, was wahrscheinlich der Grund war, aus dem man sie noch nicht rausgeworfen hatte.

Immerhin, einen Restaurantbesuch konnten sie sich inzwischen leisten, seit Marc die großen Touren fuhr und Nils seine Stelle im Fitnessstudio angetreten hatte. War auch gut, dass sie nun mehr Geld hatten, ihre Brüder fraßen nämlich wie Scheunendrescher. Shirley wagte einen kurzen Blick hinter ihrem Physikbuch hervor. Ja, mehrere Augenpaare musterten Familie Winters Tisch. Die Gesichtsausdrücke der dazugehörigen Menschen schwankten zwischen neugierig und pikiert.

Sie mochte das Restaurant. Es war saugemütlich in der warmen Stube mit den massiven Deckenbalken und der rotweißen Dekoration. In ein paar Tagen würde sie durch rotgrüne Vorweihnachtsdeko ersetzt werden.

»Shirley, erzähl endlich was von deiner Schule«, sagte ihre Mutter.

»Wann kommt das Essen?«, murmelte Shirley.

»Kleine.« Die Stimme ihrer Mutter klang so drohend, dass Shirley ihr Buch einen Millimeter tiefer senkte. »Jetzt mach den Mund auf. Wir kriegen kaum was zu hören, seit du da bist, dabei interessiert uns das alle.«

»Mich nicht«, sagten ihre Brüder im Chor und duckten sich unter dem vorwurfsvollen Blick ihrer Mutter.

»Natürlich interessiert euch, wie es eurer Schwester da ergeht. An der Schule wird sie ihren ersten Freund kennenlernen.«

»Werd ich nicht«, knurrte Shirley. »Ich konzentriere mich aufs Lernen. Wenn ich ein Einser-Abi schaffen will, muss ich noch ’ne Menge tun bis zum Sommer.«

»Kleine, das Leben besteht nicht nur aus Lernen.« Ihre Mutter verdrehte die Augen.

»Lass sie«, sagte ausgerechnet Marc, ihr nervigster Bruder. Gleich darauf erschien ein hämisches Grinsen in seinem Mundwinkel. »Bei den reichen Söhnen da hat sie doch eh keine Chance, die Streberleiche.«

»Will ich auch gar nicht.« Shirley verschanzte sich wieder hinter ihrem Buch.

»Klar hat sie eine Chance«, brummte Josh, Shirleys Zwillings- und Lieblingsbruder. Er verschränkte die schlaksigen Arme. »Na, wenn sie wollte, hätte sie eine. Sie hat doch diesen Kerl mitgebracht, der war ganz hübsch, glaube ich.«

»Dom?« Marc kicherte. »Der hat sie doch gefriendzoned.«

»Hat er nicht!«, zischte Josh. »Ich wette, der mag sie voll.«

»Der mag sie voll.« Marcs Stimme quoll über vor Verachtung. »So funktioniert das nicht. Der müsste total verrückt nach ihr sein, so richtig saublöd verschossen, damit ihm nicht auffallen würde, was für eine Nervensäge sie ist.«

»So saublöd verschossen wie du und Flo?« Josh würgte. »Ne, danke. Das reicht ja schon, wie eklig ihr immer rumschmalzt, wenn wir dabei sind und nicht flüchten können.«

»So ein Schwachsinn. Halt die Klappe, du Gnom.«

»Ich bin kein Gnom, du Schmalzlocke!«

»Du bist total kindisch, du Jungfrau.«

Shirley erwartete, dass Nils wieder eingreifen würde, aber Josh und Marc stritten ungestört weiter. Sie ließ ihr Buch sinken und sah, dass Nils gedankenverloren auf seine Serviette starrte. Sein riesiger Körper wirkte krummer als sonst. Ja, er schien fast ein wenig … traurig. Dabei war er endlich zurück in Ebernau, nach den langen Jahren in Köln. Er hatte sich ewig drauf gefreut, zurückzukehren, also warum schaute er jetzt so? Shirley wollte ihn gerade fragen, als eine köstlich duftende Suppenschale vor ihrer Nase auftauchte.

»Bitte, eure Vorspeise.« Flo lächelte in die Runde. Schwungvoll setzte er vor jedem von ihnen eine Schale ab, die letzte vor Marc, der ihn, kaum, dass die Schale sicher auf dem Tisch stand, auf seinen Schoß zog.

»Kann ich dich als Vorspeise haben?«, murmelte er und drückte Flo einen Kuss auf die Wange. Flo lachte laut auf. Liebevoll sah er Marc an und kam so nah, dass sein dunkler und Marcs blonder Schopf sich fast berührten.

Josh gab ein ungläubiges Würgen von sich.

»Wird ja immer schlimmer«, brachte er hervor. »Kotz gleich.«

Marc schaffte es, ihm trotz des Gewichts auf seinem Schoß gegen das Schienbein zu treten. Josh heulte auf, sein Knie stieß gegen den Tisch, die Suppenschüsseln wackelten, Leute wandten sich zu ihnen um und ihre Mutter erhob sich.

»Ruhe jetzt!«, kommandierte sie. Und dann herrschte Ruhe. Selbst Flo und Marc kriegten es hin, sich voneinander zu lösen. »Wir essen jetzt, wie eine normale, wohlerzogene Familie, und ich will keinen Streit mehr!«

»Wer hat uns denn erzogen?«, murmelte Josh und schrumpfte ein paar Zentimeter, als ihre Mutter ihn ansah.

»Wie war das?«

»Habnichtsgesagt.«

»Guten Appetit!«, befahl Jennifer Winter. Shirleys Brüder begannen, die Suppe in sich reinzuschaufeln, Flo verkrümelte sich in die Küche und Shirley legte seufzend ihr Buch beiseite.

»Lass dir von Marc nichts einreden«, sagte ihre Mutter zwischen zwei Löffeln und schenkte Shirley ein strahlendes Lächeln. »Natürlich hast du Chancen bei Dom. Halt dir den schön warm, hörst du? Sein Vater hat Geld ohne Ende.«

»Wir sind Freunde, nicht mehr«, erklärte Shirley zum hunderttausendsten Mal.

»Ja, ja. Das kann sich schnell ändern.« Ihre Mutter grinste. »Wenn du willst, kann ich dir da Tipps geben.«

»Ich will nicht.« Shirley sah auf ihren Teller und hoffte, dass das Gespräch sich schnell wenden würde.

»Warum nicht? Wenn du dir mal die Augenbrauen zupfen würdest, oder auch nur die Haare vernünftig bürsten …«

»Ich bin zum Lernen da. Wie oft noch? Ich hab keine Lust, mir einen reichen Kerl zu angeln, weil ich, verdammt noch mal, selbst reich werde. Und dazu brauche ich ein gutes Abi.« Shirley packte ihren Löffel fester. »Jungs sind mir da nur im Weg.«

»Jungs können eine sehr schöne Ablenkung sein.« Ihre Mutter lächelte verträumt. Sie war immer noch hübsch. Vielleicht sogar hübscher als damals, als alle Kerle von Ebernau hinter ihr her gewesen waren. Kurz, bevor sie mit Nils schwanger geworden war.

»Ich lass mich nicht ablenken«, knurrte Shirley.

»Warum denn nicht?«

Weil ich nicht du bin, dachte Shirley. Weil ich meine Zukunft nicht für ein paar hübsche Augen und ein arrogantes Lächeln wegschmeiße. Weil ich, im Gegensatz zu dir, mein Abi schaffen will, statt mit einem dicken Bauch zu Hause zu hocken und zu wissen, dass meine Zukunft vorbei ist. Sie sagte nichts davon. Es wäre nicht fair gewesen. Ihre Mutter war ihren Weg gegangen und Shirley würde ihren eigenen einschlagen. Einen besseren, wenn es nach ihr ging.

Zum Glück, oder auch nicht, erklang eine engelsgleiche Stimme hinter ihr und lenkte ihre Mutter ab.

»Shirley! Was machst du denn hier?«

Widerwillig sah Shirley sich um und erkannte Gwen, die strahlend auf sie zuschwebte. Die glänzenden Haare wehten hinter ihr her wie ein Brautschleier.

»Gwen«, sagte sie, so unfreundlich wie möglich. Am besten gleich den Drang bekämpfen, zu lächeln und sich auch noch über Gwens Anblick zu freuen. Die war kein guter Umgang für sie. Und außerdem freundeten sich beliebte Blondinen und arme Streber nicht miteinander an.

»Hallo!« Gwen winkte in die Runde. Shirleys Familie blickte sie an. Ein Tropfen Suppe rann aus Joshs offenem Mund über sein Kinn. »Ist das deine Familie, Shirley? Ihr seht euch alle so ähnlich!«

»Hoffentlich nicht.« Marc, der arrogante Sack!

Gwen überging seine Unhöflichkeit, indem sie perlend lachte. »Shirley, ich muss unbedingt mit dir reden«, zwitscherte sie. Ein warmes Händchen legte sich auf Shirleys Schulter. »Es geht um mein Dings, mein Seelenheil, echt.«

»Aha.« Shirley führte einen Löffel zum Mund und schlürfte die Suppe extra laut in sich hinein.

»Es geht um«, Gwen senkte den Mund zu Shirleys Ohr, »Dom.«

Hä? Shirley drehte sich um. Veilchenblaue Augen flehten sie an, in Großaufnahme. Sie wurden von einem dichten Wimpernkranz umringt, so seidig, dass es ganz normal war, dass es ihr ein klein wenig schwerer fiel, zu schlucken.

»Was ist mit Dom?« Noch unhöflicher klingen!, sagte sie sich. Aber es war so unmöglich, gemein zu Gwen zu sein, wie einen Dalmatinerwelpen zu treten. Die biss sich auf die pralle Unterlippe und errötete.

»Ich, äh, wollte dich fragen, ob er mal was über mich gesagt hat.«

»Also gestern hat er mich gefragt, ob du jemals lernst.«

»Oh.« Gwen schaute betreten. »Mag er fleißige Mädchen? Na, wahrscheinlich. Dich mag er ja voll gerne … Hm. Auf was für Frauen steht er denn so?«

Keine, hätte Shirley am liebsten geantwortet. Aber sie musste diplomatisch sein, was nicht ihre hervorstechendste Eigenschaft war.

»Weiß nicht«, war das Beste, was sie zustande bekam.

»Ach, komm schon.« Gwen lächelte gewinnend. Josh sah sie an, als wäre ein Engel an ihrem Tisch erschienen. »Du bist seine beste Freundin. Du musst doch mehr über ihn wissen.«

»Wir reden nicht über sowas.«

»Worüber redet ihr denn dann?«

»Schulsachen.« Wie abweisend musste sie denn noch ihre Suppe löffeln, damit Gwen endlich abzog?

»Hm. Ist das alles?«

»Ja«, log Shirley. »Lern doch mal, dann kannst du Montag mit ihm über die Wirtschaft-Politik-Hausaufgaben reden.«

»Da hatten wir Hausaufgaben?« Gwen wirkte ehrlich entsetzt.

»Eine Zusammenfassung von Seite 365 bis Seite 387 über die Vor- und Nachteile einer direkten Demokratie«, leierte Shirley herunter. »Interessiert Dom brennend.«

»Danke für den Tipp!«, jubelte Gwen und plötzlich war Shirleys Kopf in einer stürmischen Umarmung gefangen. Ganz angenehm eigentlich.

»Meine Brille verrutscht«, knurrte sie.

»Sorry!« Gwen hatte die Frechheit, ihr noch einen fetten Schmatzer auf den Kopf zu geben, dann zog sie ab. Hinten am Fenster saßen ihre Eltern: eine schlanke Dunkelblonde und ein blasser, ernster Mann in einem seriös-grauen Anzug.

»War das nicht die Tochter von Mathilda von Rieke-Rothaus?«, fragte ihre Mutter.

»Jau. Gwendolyn Ophelia Luise von Rieke-Rothaus.« Shirleys Suppe war leergelöffelt.

»Tja, das war’s dann mit deinen Chancen bei Dom«, sagte Marc. »Gegen die kommst du nicht an.«

»Die war heiß.« Josh klang zutiefst beeindruckt.

»So heiß auch nicht«, murrte Shirley.

»Immerhin so heiß, dass Josh endlich in die Pubertät gekommen ist.« Marc grinste.

Josh warf ihm ein Stück Brot an den Kopf. Der Rest des Abends verlief nicht viel besser. Es war das reinste Wunder, dass Marie sie jeden Samstag hier essen ließ. Aber seit sie und Shirleys Mutter sich ausgesprochen hatten, waren die beiden unzertrennlich.

Letzte Woche erst hatten sie Cappuccino trinkend am Küchentisch gesessen, als Shirley heimgekommen war. Sie hatten so wilde alte Geschichten ausgepackt, dass selbst Shirleys Brüder einen roten Kopf bekommen hatten. Und dann waren die beiden feiern gegangen. In den Schlonzkeller, in dem sie Marc und Flo getroffen hatten. Marc war nicht allzu glücklich darüber gewesen, dass seine Mutter Bier verschüttend auf dem Tisch getanzt hatte. Vor allem, als ihn einer seiner Freunde gefragt hatte, ob sie Single sei.

Am nächsten Morgen hatten Shirley und Josh ihr ein Katerfrühstück ans Bett bringen müssen. Ach, sollte sie Spaß haben. In all den Jahren hatte Jennifer Winter nie eine beste Freundin gehabt. Nicht, seit Shirley denken konnte. Shirley selbst hatte eh Wichtigeres zu tun, als sich um die neu erwachte Feierlust ihrer Mutter zu sorgen. Dom vor Gwen beschützen, zum Beispiel. Warum war die jetzt ausgerechnet hinter ihm her?

4. Konzentration

 

»Die direkte Demokratie bezeichnet unter anderem eine Herrschaftsform«, Gwen seufzte, »in der die Macht oder ein Teil der Macht direkt vom Volk in Abstimmungen ausgeübt wird …«