Winterchaot

Inhaltsverzeichnis

1. Ärger

2. Frisch eingetroffen

3. Bin ich nicht

4. Grobe Fehleinschätzung

5. Offener Krieg

6. Neues Zuhause

7. Du hier?

8. Eskalation

9. Ein unausgereifter Plan

10. Wie damals

11. Abendessen

12. Montagmorgen

13. Vorbereitungen

14. Zuhause

15. Eine magische Zeit

16. Unbekanntes Terrain

17. Abgekühlt

18. Nachtwanderung

19. Feuer

20. Ein neues Jahr

21. Gute Vorsätze

22. Suche

23. Das ging ja schnell

24. Vorbereitung

25. Dunkelküsse

26. Torben

27. Sauftour

28. Reden

29. Allein

30. Keine Angst

31. Kater

32. Ein Plan

33. Bermsbüttel

34. Aufarbeitung

35. Probelauf

36. Gewissensbisse

37. Gedankenspirale

38. Außer Kontrolle

39. Generalprobe

40. Ernstfall

41. Mitternacht

42. Heimweg

43. Inspiration

44. Das Erwachen

45. Ohne ihn

46. Frühstück

47. Wanderung

48. Party!

49. Verraten

50. Gebrochene Versprechen

51. Eingekesselt

52. Daheim

53. Gut

54. Wach

55. Unter dem Meer

Impressum

 

Winterchaot: Ebernau 4

Text Copyright © 2017 Regina Mars

Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.

Regina Mars

c/o

Papyrus Autoren-Club,

R.O.M. Logicware GmbH

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

regina@reginamars.de

www.reginamars.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Umschlagbild und Umschlaggestaltung: Regina Haselhorst

Illustration Copyright © Regina Haselhorst

www.reginahaselhorst.com

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Reale Personen wären auch vernünftig genug, Safer Sex zu praktizieren, im Gegensatz zu den Fantasiegestalten in diesem Roman. Die müssen sich darum keine Sorgen machen, da es sie nicht gibt.

Aufgrund vereinzelter homoerotischer Szenen ist dieses Buch nur für Personen über 18 Jahren geeignet. Ja, es enthält schwulen Sex. Gern geschehen.

1. Ärger

 

Der Neue betrat die Klasse und Josh Winter wusste, dass er ein Problem hatte. Nein, eigentlich wusste er es zwei Sekunden später, als er Anna leise keuchen hörte. Anna mit den wunderschönen Bernsteinaugen und der süßen Stupsnase. Anna, in die Josh seit Monaten verliebt war. Leider war sie nicht in ihn verliebt. Wirklich nicht. Er hatte sie gefragt. Und ihre Antwort war genau die gewesen, die er gefürchtet hatte.

 

»Na ja.« Sie hatte, halb erfreut, halb peinlich berührt, zu Boden gesehen, als er ihr seine Gefühle gestanden hatte, auf der Silvesterparty von Dean. Lärm, Rauch und bierseliges Grölen waren bis in das Nebenzimmer gedrungen, in dem sie allein gewesen waren. »Weißt du, Josh, du bist nett, aber … mehr so wie ein Bruder oder ein … Kumpel. Sorry, ich weiß, wie das klingt. Und, also, du weißt schon.«

»Was weiß ich?«, hatte Josh hervorgebracht, obwohl sein Brustkorb sich angefühlt hatte, als hätte Anna die Rippen auseinandergebogen und sein Herz mit einem Akkuschrauber bearbeitet.

Sie fuhr sich durch die wunderschönen braunen Haare. »Ich hätte eh Angst, dass du nachher doch schwul bist.«

»Ich bin nicht schwul«, hatte er gekrächzt, ungefähr zum hunderttausendsten Mal in seinem Leben.

»Deine ganze Familie ist schwul.«

»Gar nicht wahr«, hatte er gesagt. »Meine Schwester ist lesbisch.«

Anna hatte ihn angesehen, als würde das ihr Argument noch bekräftigen. Ihr niedlicher Mund hatte sich verzogen und sie hatte sich die echt superhübschen Augen gerieben.

»Ich könnte einfach nie sicher sein. Und … Du weißt schon.«

Er wusste es wieder nicht. »Was?«

»Du siehst irgendwie aus wie so ein Rothaariger.«

Josh hatte sich eine Strähne seines Haares vor die Augen gezogen, um zu überprüfen, ob sie in den letzten Stunden spontan die Farbe gewechselt hatten. Hatten sie nicht. Immer noch waren sie dunkelschlammbraun.

»Ein Rothaariger, der sich die Haare gefärbt hat«, beeilte sie sich, zu sagen. »Mit deinen Sommersprossen und so. Ich meine, das ist nicht schlimm, aber … irgendwie nicht sexy.«

»Oh.«

»Und außerdem …«

Josh war zurück auf die Party getaumelt, bevor ihr noch mehr Mängel einfallen konnten.

Zwischen den lärmenden und saufenden Leuten, die auf das neue Jahr angestoßen hatten, war er auf einen Sessel gesunken und hatte versucht, nicht zu heulen. Hatte weitestgehend geklappt. Zum Glück war die Luft so rauchgeschwängert gewesen, dass seine feuchten Augen normal gewirkt hatten. Dean war vorbeigetorkelt und hatte Josh gewünscht, dass er im nächsten Jahr einen netten Kerl kennenlernen würde. Am besten schnell. Josh wusste, dass Dean mit allen möglichen Leuten eine Wette darüber abgeschlossen hatte, wann Josh sich endlich outen würde. Anscheinend hatte er auf Anfang Januar getippt.

Es war eine beschissene Art gewesen, das neue Jahr zu beginnen.

 

Aber heute Morgen, am ersten Tag nach den Sommerferien, war Anna Josh auf dem sonnenüberfluteten Hof begegnet. Total hübsch in ihren Jeansshorts und dem grauen Shirt. Sie hatte ihm zugelächelt.

»Josh«, hatte sie im Vorbeigehen gerufen. »Gut siehst du aus!«

Sein Herz hatte so wild gehämmert, dass er es nicht geschafft hatte, zu antworten. Oder ihr zu sagen, dass sie noch viel, viel besser aussah. Tat sie nämlich. Eigentlich hatte er beschlossen, sie zu vergessen, jetzt, endlich, aber … er hatte sich nicht gegen die Hoffnung wehren können, die sich in ihm ausgebreitet hatte.

Und dann, in der ersten Stunde, hatte sie sich neben ihn gesetzt und ihm von ihren Ferien erzählt und es war absolut magisch gewesen, wie sie von ihrem Mallorca-Urlaub berichtet hatte. Wie ihr sanfter Duft nach Honigshampoo und Sonnencreme zu ihm hinübergeweht war. Joshs ganzer Körper hatte gekribbelt vor Glück.

 

Dann war alles schiefgegangen.

 

»Darf ich Ihnen Ihren neuen Mitschüler präsentieren?«, schnarrte Herr Fußinger deprimiert. Er verkraftete das Ende der Sommerferien stets am schlechtesten. »Lucian Grahl.«

In einer Kleinstadt wie Ebernau gab es selten Neuzugänge, also starrten alle den Kerl an, als wäre er eine totale Sensation. Aber das war nicht der einzige Grund: Der Neue war der attraktivste Mann, den Josh je gesehen hatte. Nein, er war nicht plötzlich doch schwul geworden. Er hatte einfach Augen im Kopf.

Der Typ, der vollkommen gelassen nach vorne schlenderte, müde grinste und »Hi«, sagte, sah aus, als wäre er irgendeinem Bandplakat entsprungen. Komplett schwarz gekleidet, mit dunklen, welligen Haaren, geschwungenen Lippen, breiten Schultern und einer so schmalen Taille, dass die Hose bestimmt nur hielt, weil sie viel zu eng war.

Anna keuchte auf und Josh wusste mit absoluter Sicherheit, dass er den Neuen bis ans Ende seines Lebens hassen würde. Er wagte es kaum, den Kopf zu wenden. Als er es doch tat, wünschte er sich, er hätte es gelassen. Annas Augen glänzten wie 1000-Watt-Scheinwerfer, während sie den Trottel anschmachtete. So wie alle Mädels der Klasse. Aber die anderen konnten so viel starren, wie sie wollten. Nur Annas offensichtliche Begeisterung schmerzte. So stark, dass Josh einen Moment lang nicht atmen konnte.

Du blöder Mistkerl, dachte er und sah den Neuen aus zusammengekniffenen Augen an. Der blickte nicht zurück. War wohl zu arrogant.

Er schien überhaupt kein Problem damit zu haben, angestarrt zu werden. Vermutlich war er das gewohnt, der Angeber. Vollkommen ruhig steckte er die Hände in die Hosentaschen und wartete darauf, dass Herr Fußinger ihn ausführlicher vorstellte. Ein Tattoo ragte aus dem Ausschnitt von Lucians dunklem Shirt. Josh erkannte einen schwarzen Kreis, zwei Fühler und die leeren Höhlen eines Totenschädels. Seltsam, warum kam ihm das bekannt vor?

Er sank in seinem Stuhl zusammen und wollte nur noch heim. Anna seufzte leise.

»Lucian ist mit seinen Eltern nach Ebernau gezogen und wird das letzte Schuljahr mit uns verbringen«, murrte Fußinger. »Er kommt aus Hamburg.«

Auch das noch. Eine richtige Großstadt. Josh sah aus den Augenwinkeln, wie seine Klassenkameraden sich vorbeugten. Nur Dean und Dennis lümmelten sich extra-selbstbewusst in ihren Stühlen und sahen den Neuen abschätzig an. Er beachtete sie nicht.

»Lucian, erzähl halt was über dich.« Herr Fußinger schleppte sich zu seinem Pult und setzte sich, langsam wie ein Achtzigjähriger. Dabei war er erst Anfang dreißig. Einmal war Josh ihm auf dem Weihnachtsmarkt begegnet, und sein Lehrer hatte mit glühweingeschwängertem Atem geklagt, dass er sich seinen Job so nicht vorgestellt hatte. Er zähle die Tage bis zur Rente. Mussten noch viele sein, so wie er sich die Augen rieb und seufzte.

Lucian kratzte sich am bloßen Arm und sah an die Decke. Selbst das wirkte nicht unsicher, sondern cool. Ja, der Drecksack schien umgeben von einer undurchdringlichen Rüstung aus Coolness.

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen«, sagte er und natürlich war seine Stimme dunkel, voll und melodisch. Blödi. »Meine Eltern haben die alte Metzgerei übernommen und richten da eine Kunstgalerie ein. Meine Mutter kommt aus Ebernau. Ich war leider nur einmal hier, und da war ich noch ganz klein, aber jetzt bleiben wir. Wir müssen uns um meine Oma kümmern, weil sie nicht mehr ganz fit ist.«

Anna seufzte erneut. »Wie lieb«, hörte Josh von weiter hinten. Sein Kopf sank auf die verschränkten Arme. Hoffnungslosigkeit machte sich in ihm breit.

»Ich, hm, spiele Gitarre und habe in Hamburg Capoeira gemacht. Weiß nicht, ob ich damit hier weitermache oder mir was anderes suche. Mal sehen, was Ebernau so zu bieten hat.« Wieder dieses unverschämte, schräge Grinsen. Weiße Zähne. Schwarze Augen.

Wie ein Hai, dachte Josh trübselig.

Der Neue zuckte mit den Achseln. »Habt ihr irgendwelche Fragen?«

Drei Hände schossen hoch. Anna sprach, bevor es irgendjemand sonst tun konnte.

»Du bist in dieser Band, oder? Die, die beim Summer Open Air in Ravensburg aufgetreten ist? Ich hab euch gesehen!«

Nein! Josh schluckte. Der Neue fuhr sich durch die Haare, als wäre es ihm irgendwie peinlich. Er sah zu Boden.

»Ja, das waren wir. Iguana Bullet. Wir hatten echt Glück in diesem Jahr.« Er verzog das hübsche Gesicht. »Wir hatten jede Menge Gigs und haben ’ne Menge Festivals gespielt. Kein Wunder, dass ich sitzengeblieben bin.«

»Sitzengeblieben? Du bist schon achtzehn?« Annas Stimme war ein andachtsvolles Flüstern. Lucian nickte.

Josh war schlecht. Er war auch achtzehn und ein Sitzenbleiber, aber irgendwie hatte das Anna nie beeindruckt. Vielleicht, weil er nicht sitzengeblieben war, weil er über coole Festivals getourt war, sondern weil er ein planloser Chaot war, der dauernd seine Hausaufgaben vergaß.

Fünf weitere Hände schossen in die Höhe. Die Atmosphäre im Raum veränderte sich. Eine Begeisterung, die er hier noch nie erlebt hatte, packte jeden einzelnen von Joshs Klassenkameraden.

»Wart ihr nicht sogar in den Charts oder so?« Monas Augen waren rund wie Suppenteller.

»Nur kurz«, sagte Lucian.

Hör auf, so bescheiden zu tun, dachte Josh.

»Wie lange?«, fragte Dennis und gab sich Mühe, höhnisch zu klingen.

»Fünf Wochen. Die höchste Platzierung war, glaube ich, die Nummer zwölf.« Wieder erschien das schräge Grinsen. »Wolf, unser Schlagzeuger, war stinksauer, dass er so einen kommerziellen Scheiß-Song geschrieben hat.«

Gelächter. Helles Kichern von Anna. Der Raum stank vor Bewunderung. Josh versuchte, mit seinem Tisch zu verschmelzen und in eine andere Dimension zu versinken. Anna hob wieder die Hand.

»Wie fühlt sich das an, wenn man auf einer Bühne steht?«, fragte sie. Ihre Stimme war ein einziges Seufzen.

»Oh, gut«, sagte Lucian. »Verdammt gut.«

»Was für andere Bands habt ihr getroffen, Lutschen?«, fragte Bastian.

»Lucian«, korrigierte Lucian, als hätte er das schon tausendmal gemacht. »Also, in Ravensburg standen wir mit Hamster of the Week auf der Bühne und …«

Der Rest der Stunde wurde nicht besser. Lucian badete in der Bewunderung der Klasse und Josh wurde deutlich vor Augen geführt, dass der Neue ihm in absolut allem überlegen war. In wirklich allem. Er hätte sein rechtes Bein dafür gegeben, dass Anna ihn nur einmal so ansah wie Lucian. Sein einziger Trost war, dass eine Hälfte der Klasse Lucian »Lutschen« nannte und die andere »Luschen«. Ein sehr schwacher Trost. Josh hätte ihn gern »Lusche« genannt, aber der Neue konnte ja nichts dafür, dass Anna auf ihn stand. Und Anna konnte nichts dafür, dass sie auf den Neuen stand. Wie hätte sie nicht auf ihn stehen können?

Josh seufzte leise.

Das wird ein beschissenes Schuljahr, dachte er.

2. Frisch eingetroffen

 

Ehrlichkeit ist das erste Kapitel im Buch der Weisheit. Das hatte Lucians Vater gesagt. Okay, eigentlich hatte Thomas Jefferson das gesagt, aber Lucians Vater hatte ihn zitiert. Und Lucian wollte ehrlich sein, auch wenn es ihm eine Höllenangst einjagte. Selbst wenn sein Nacken von kaltem Schweiß bedeckt war, während er vor seiner neuen Klasse stand. Die wirkten ganz nett. Neugierig, klar, aber nur die zwei blonden Typen ganz hinten sahen ihn irgendwie feindselig an. Da war Lucian Schlimmeres gewohnt.

Es gab noch einen anderen, der ihn nicht mit strahlenden Augen anblickte: Der niedliche Braunhaarige, der am Fenster saß und schaute, als würde er sich am liebsten von einer Brücke stürzen. Was der wohl hatte?

Lucian erzählte irgendwas darüber, warum er hier war, und stellte sich vor, dass er auf der Bühne stehen würde. Das half gegen die Nervosität. Er war immer noch zittrig, aber man merkte es ihm nicht mehr an.

Wenn jemand fragt, sage ich die Wahrheit, dachte er. Ich verstecke mich nicht mehr.

Das Mädchen im grauen Top hob die Hand und stellte eine Frage. Nicht die, die er heimlich fürchtete, aber eine, die er genau so wenig beantworten wollte.

»Du warst in dieser Band, oder?«

Er seufzte innerlich. Ach, das. Aber er sagte die Wahrheit, echt und ehrlich. Plötzlich glotzten ihn alle an, als wäre er … irgendetwas, aber auf keinen Fall ein Mensch. Ein Halbgott, hatte John, ihr Sänger, gesagt. Der freute sich über die Aufmerksamkeit. Lucian wäre ganz gern mal wie ein normaler Mensch behandelt worden, aber anscheinend bestand die Welt darauf, ihn entweder als einen Star oder als totalen Dreck zu sehen. Selbst die beiden Blonden wirkten beeindruckt. Nur der Braunhaarige behielt seine deprimierte Miene bei. Lucian mochte ihn.

»Habt ihr euch getrennt, oder warum bist du hier?«, fragte einer der Blonden, in einem schwachen Versuch, ihn zu provozieren. »Also du und deine Band. Du kannst ja schlecht touren, wenn du bei uns bist, oder?«

Lucian schenkte ihm einen verächtlichen Blick. »Wir machen ein Jahr Pause. Wegen dem ganzen Touren haben wir alles andere vernachlässigt. Jetzt müssen wir das erstmal nachholen. John und ich holen das Abi nach, Medos macht seine Ausbildung fertig und Wolf seinen Bachelor. In einem Jahr geht’s weiter.«

»Ach so.« Das Mädel im grauen Top bekam Sternchenaugen. »Dann schreibt ihr neue Songs und so?«

Lucian nickte.

»Über jemand Speziellen?«, fragte sie. Eins der anderen Mädels kicherte spöttisch. Ihre Freundin fiel ein und die im grauen Top wurde rot. Lucian räusperte sich.

»Mal sehen. Kommt drauf an, was bis dahin passiert.« Ups. Klang das, als würde er mit ihr flirten? Ihre Wangen färbten sich noch röter und er fürchtete schwer, dass es so war.

Lucian, du Volltrottel, dachte er.

Als er sich endlich setzen durfte, war sein Rücken schweißnass. Vermutlich sah man es auf dem schwarzen Shirt nicht und außerdem war es eh sauheiß im Raum. Die Luft, die durch die gekippten Fenster drang, schien aus einem Fön zu kommen.

Natürlich hatte er als Neuer einen Platz ganz vorne bekommen. Der bebrillte Typ, der neben ihm saß, starrte ihn den Rest der Stunde über unauffällig an. Immerhin schwieg er.

 

Die Ruhe währte nur kurz. Kaum war die Stunde vorbei, bildete sich eine Traube um Lucians Tisch.

»Bist du reich?«, fragte ein ausgesprochen hübsches Mädchen. »Ich meine, mit den Touren und so … Habt ihr da viel verdient?« Ihre Augen glänzten wie Goldbarren.

»Leider nein. Bei einem guten Sommer und einem mittleren Hit kommt nicht so viel rum.« Er zuckte mit den Achseln und packte seinen Rucksack. »Dabei hätte ich nichts dagegen, Porsche zu fahren.«

Sie kicherte. »Und deine Freundin?«, fragte sie und strich betont gelangweilt die rotblonden Haare hinters Ohr. »War die traurig, als du so lange auf Tour warst?«

»Ich hab keine Freundin«, sagte Lucian und holte tief Luft. Gleich, dachte er. Du schaffst das, du alter Feigling.

Augen blitzten um ihn herum auf wie Sterne in der Nacht. Gleich.

»Oh.« Die Rotblonde versuchte, betrübt auszusehen. »Wie schade. Hättest du gern eine? Was für Mädchen magst du?«

»Gar keine.« Lucians Eingeweide krampften sich zusammen. Er wusste, dass er äußerlich vollkommen gelassen wirkte, aber innerlich bestand er nur noch aus harter, starrer Anspannung. »Ich mag Männer.«

Schweigen. Sterne erloschen. Irritiertes Blinzeln aus einem halben Dutzend Augenpaaren. Lucian zwang sich, ruhig zu atmen. Er spürte das feuchte Holz unter seiner Handfläche und die nasse Rückseite seines Shirts und die abartige Hitze, die von draußen über seine nackten Arme floss. War es überhaupt so heiß oder lag das an der Aufregung?

»Ach … so.« Dem rotblonden Mädchen schien nichts mehr einzufallen. »Na dann.«

»Und, äh, hattest du in Hamburg einen Freund?«, fragte eine andere schließlich.

Lucian zuckte mit den Achseln. Er war vollkommen fertig von all dieser Ehrlichkeit. Mehr war gerade einfach nicht drin.

»Was haben wir als nächstes?«, fragte er statt einer Antwort.

»Äh. Musik. Aber das ist nicht hier.« Sein bebrillter Nachbar räusperte sich. »Das ist im Musikzimmer.«

»Gut. Bis gleich.« Lucian lächelte und marschierte an ihnen vorbei. Seine Knie fühlten sich an wie nasse Watte, sein Herz wie ein hyperaktiver Wecker. Aber er hatte es geschafft.

Nicht schlecht, dachte er und genehmigte sich einen Seufzer, sobald er aus der Tür getreten war. Nun wussten es schon doppelt so viele Leute wie bisher. Und er hatte keinen Zweifel daran, dass die Zahl sich exponentiell erhöhen würde. Bis morgen wusste vermutlich jeder Bescheid. Und dann?

Es wird nicht wie damals, dachte er. Ganz bestimmt nicht. Das war … Pech. Und selbst wenn, jetzt kann ich damit umgehen. Ich bin jetzt ein Anderer. Ich bin jetzt stärker und der Erste, der mich auch nur blöd anquatscht, kriegt ’nen Nasenbruch vom Feinsten.

Lucian schluckte. Panik drängte seine Kehle hoch. Nein. Es würde diesmal ganz anders werden. Und er würde ehrlich sein.

Er fand die Toilette und kippte sich so lange kaltes Wasser ins Gesicht, bis er wieder ruhig war. Fast ruhig. Ein wenig ruhiger zumindest. Die Glocke läutete. Wo war eigentlich dieses Musikzimmer? Hätte er jemanden fragen sollen, statt cool davonzuschlendern? Warum fiel ihm so etwas immer erst nachher ein?

Etwas hilflos sah er sich im Flur um. Ganz hinten entdeckte er eine kleine Gruppe und registrierte mit Freude, dass er die Gesichter kannte. Es waren das Mädel im grauen Top, zwei andere und der deprimierte Dunkelhaarige. Den fand er eh sympathisch. Der Typ schien gerade in eine hitzige Diskussion mit dem blonden Kerl vor ihm vertieft zu sein.

Lucian näherte sich. Das Mädel im grauen Top bemerkte ihn. Sie tippte dem Dunkelhaarigen auf die Schulter und deutete auf Lucian. Der fuhr herum. Sein Gesicht war knallrot, die Lippen ein weißer Strich. Oh, er hatte Sommersprossen. Ziemlich süß.

»Hi«, sagte Lucian und lächelte.

3. Bin ich nicht

 

Josh schleppte sich aus dem Klassenraum, obwohl sein Körper zehn Tonnen zu wiegen schien. Anna hatte ihn nicht mal mehr angesehen. Den Rest der Stunde über hatte sie Lucian über seine Band ausgefragt und danach hatte sie ihn angeschmachtet, während der Neue cool auf seinem Platz gehangen hatte, cool in die Gegend geschaut hatte und cool gewesen war, was zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zu gehören schien. Josh hatte es aufgegeben, vernünftig und rational zu sein, und hasste ihn nun aus vollem Herzen. Gleichzeitig wünschte er sich so sehr, der Neue zu sein, dass es schmerzte. Wie es wohl wäre, wenn Anna ihn so …

»Boah, die belagern ihn ja richtig«, schnaubte die lieblichste Stimme der Welt neben seiner Schulter. Anna. Sie wirkte verstimmt. »Man kommt kaum zu ihm durch.«

»Er ist halt in dieser Band«, sagte Josh und grinste sie dämlich an. Er konnte nicht anders. Immerhin ging sie hier neben ihm durch den Flur, statt Lucian weiter auszufragen. Okay, ihre Freundin Mona war auch dabei, also konnte man es nicht wirklich als Date bezeichnen, aber es war besser als nichts. Die Sonne lachte und zauberte lustige Flecken auf den Boden, weil die Flurfenster mal wieder geputzt werden mussten. Einen Moment lang war Josh glücklich. Es währte nicht lange.

»Josh, hast du in den Sommerferien wen kennengelernt?«, fragte Mona und strahlte ihn aus kugelförmigen Augen an. Alles in ihrem Gesicht war rund. Sie hatte ein noch übleres Babyface als er. »Ihr wart doch in Paris, oder? Da gibt’s bestimmt viele Schwule.«

»Ich bin nicht schwul«, seufzte Josh.

Anna und Mona sahen ihn an, als glaubten sie ihm kein Wort. So langsam nervte das, verdammt!

»Vielleicht weißt du es nur noch nicht«, sagte Anna. »Hat dich schon mal ein Kerl so richtig angegraben?«

»Ein, zweimal«, murmelte Josh.

»Ach, echt?« Mona riss die Augen auf. »Wer denn?«

»Freunde von meinem Bruder Nils, aus Köln. Aber ich glaub, die haben mich nur aufgezogen. Die haben die ganze Zeit gelacht.«

»War das … unangenehm?«, fragte Anna.

Josh schüttelte den Kopf. »Nö.« Eigentlich war es ganz nett gewesen, dass ihm mal jemand gesagt hatte, dass er niedlich sei. Obwohl er selbstverständlich nicht niedlich, sondern rau, männlich und saustark war.

»Also hat es dir gefallen, hm?« Anna grinste.

Mona lächelte. »Wie schön«, sagte sie. »Wie heißt er? Hast du seine Nummer?«

»Ich will seine Nummer nicht!« Josh schaute sie böse an. »Warum zur Hölle denken immer alle, dass ich auf Jungs stehe?«

»Na, deine Familie …«

Josh stieß einen frustrierten Schrei aus. Mona schreckte zurück. Anna lachte.

»Ich verarsch dich doch nur«, sagte sie, aber Josh erinnerte sich ganz genau, warum sie nicht mit ihm zusammen sein wollte. Deshalb. Okay, und aus ein paar anderen Gründen. Er hatte Neujahr damit verbracht »Entfernung von Sommersprossen« zu googeln, bis sein Bruder Marc ihn dabei überrascht hatte. Der hatte sich nicht mehr eingekriegt vor Lachen.

»Können wir das Thema wechseln?«, brummte Josh.

Anna seufzte leise. »Meint ihr, Lutschen hat eine Freundin?«

Der Themenwechsel war eine beschissene Idee gewesen.

»Bestimmt hat er drei«, sagte Josh. »So Bandtypen haben immer ein Mädel in jedem Hafen und, äh, verhüten tun die auch nicht.«

»Du bist ja nur neidisch.« Anna schnaubte. »Ich wette, alle Jungs hier sind neidisch auf Lutschen.«

»Lucian«, verbesserte Josh, doch sie redete weiter, ohne ihn zu beachten.

»Ich glaube, er hat mich eben angesehen. Also, so richtig tief. Er hat fast nur meine Fragen beantwortet.«

»Oooh«, machte Mona und schaute beeindruckt. »Meinst du echt?«

»Ja.« Anna verschränkte die Arme und blieb stehen. »Ganz bestimmt. Habt ihr das nicht gemerkt?«

»Nein«, sagte Josh.

»Vielleicht«, sagte Mona.

»Er hat mich angesehen, als würden wir uns erkennen.« Anna sah aus dem Fenster, als gäbe es dort etwas Schöneres zu sehen als Asphalt und schwitzende Schüler. »Ja, das glaube ich wirklich. Ich habe es gespürt.«

»Ich habe auch etwas gespürt, als er mich angesehen hat.« Mona deutete auf ihre umfangreiche Brust und Josh war einen Moment lang abgelenkt. »Hier drin. Ganz tief.«

»Ja, schön, aber dich hat er nicht so angesehen wie mich.« Anna warf die Haare zurück und Mona sah zu Boden.

»Warum nicht?«, murrte sie. »Immer willst du alle Jungs haben.«

»Gar nicht wahr.«

»Wohl. Bei Bastian hast du dich auch vorgedrängelt. Und bei Jonas. Ich will auch mal dran sein.«

Annas Zeigefinger stach fast in Joshs Nasenspitze. »Du kannst Josh haben.«

Was?

»Sehr witzig«, sagte Mona und stemmte die Hände in die Hüften. »Äh, sorry, Josh. So war das nicht gemeint. Es ist nur, weil du schwul bist.«

Josh verspürte das dringende Bedürfnis, seinen Kopf gegen die Fensterscheibe zu hauen, bis er entweder rot oder schwarz sah.

Dann kam es noch schlimmer: Ein harter Schlag traf seine Schulter.

»Josh, alte Schwulette«, lachte Dean. »Ich hab gute Neuigkeiten!«

Josh rieb sich die schmerzende Stelle und sah ihn böse an.

Dean grinste breit. »Rat mal, was gerade rauskam, du kleiner Homofürst.« Er versuchte, Josh in die Wange zu kneifen, aber der wich aus. Er prallte gegen Mona und konnte sie gerade noch am Arm festhalten.

Sie blinzelte. »Was denn, Dean?«, fragte sie.

»Dass Joshilein endlich seine Jungfräulichkeit verlieren könnte.«

»Ich bin keine Jungfrau!« Joshs Stimme hallte von den Wänden wieder. Ein paar vorbeiziehende Elftklässlerinnen kicherten und er spürte seine Ohren heiß werden. »Bin ich nicht, das wisst ihr.«

»Kommt jetzt wieder die Geschichte von dem Mädel auf der Chaletparty?« Dean grunzte. »Wer soll dir das abnehmen?«

»Aber es stimmt!«

»Ja, ja.« Dean lachte. Die Mädchen ebenfalls. »Jetzt hör dir endlich meine guten Nachrichten an und sei dankbar.«

»Nur, wenn die Nachricht ist, dass du dir Analherpes eingefangen hast«, sagte Josh, ohne nachzudenken. Also wie immer.

Deans Gesicht verfinsterte sich. »Haben wir ein Problem, Joshilein?«, fragte er trügerisch ruhig. »Bisher war das hier ’ne lustige Unterhaltung, aber wenn du mir so kommst, kann sich das schnell ändern.« Seine breiten Knöchel knacksten.

Josh sah auf die hell behaarten Hände und schluckte. Eigentlich prügelten sie sich seit der achten Klasse nicht mehr und, logisch betrachtet, würde Dean ihn nicht im Schulflur vermöbeln, aber … Wütend auf sich selbst senkte er den Kopf.

»Kein Problem«, murmelte er.

»Gut, gut.« Deans Ochsenzähne blitzten. »Dann kann ich euch ja endlich erzählen, dass der Neue auch ’ne Tucke ist.«

Alle Farbe verließ Annas Wangen. Ihre hübsche Stupsnase zitterte.

»Erzähl keinen Scheiß.« Sie schob die Unterlippe vor. »Das sagst du doch nur, weil du eifersüchtig auf Lutschen bist.«

»Luschen«, verbesserte Dean. »Und er ist wirklich eine Schwuchtel. Er hat es selbst gesagt.«

»Hat er nicht.« Annas Stimme war auf einmal sehr leise. »Wann soll das gewesen sein?«

»Gerade eben.« Dean lachte überglücklich. »Als die ganzen blöden Weiber um ihn rumgestanden haben, als wär sein Schwanz aus Schokolade oder so. Dabei ist der Typ ein totaler Lackaffe. Na, jedenfalls hat er dann eiskalt rausgehauen, dass er auf Kerle steht. Glückwunsch, Josh: Ihr seid zu zweit.«

»Oh«, sagte Anna.

»Oh nein«, flüsterte Mona.

»Verdammte Hacke, ich steh nicht auf Männer!«, knurrte Josh. Am liebsten hätte er gebrüllt, aber dann wäre er wieder ausgelacht worden.

»Na ja.« Mona straffte sich und klopfte Josh auf die Schulter. »Wenigstens du hast Glück. Wenn ihr die einzigen Schwulen in der Oberstufe seid, muss er dich ja nehmen.«

»So funktioniert das nicht und ich will ihn nicht!«

»Du bist doch nur schüchtern.« Anna verschränkte die Arme. Verletzter Stolz verdunkelte ihre Augen. »Liegt’s dran, dass er zu hübsch für dich ist?«

»Ist er nicht!«

»Keine Sorge, alter Freund.« Dean lächelte wie ein fetter Wüstenfuchs. »Ich frag ihn gleich mal, ob er mit dir in die Kiste hüpfen will. Geht ja nicht an, dass du in deinem Alter immer noch unberührt bist.«

»Ich bin nicht … Das tust du nicht!« Josh ballte die Fäuste. Er wusste nicht, ob er lieber heulen oder Dean eine reinhauen sollte. Beides waren furchtbare Ideen, aber er war so wütend und so … Warum zur Hölle sagte Anna sowas? Glaubte sie das wirklich? Warum, verdammt noch mal, wollten sie ihn jetzt mit diesem Angeber verkuppeln?

»Ich frag ihn gleich in Musik.« Dean grinste so breit, dass seine Backen sich über die Mundwinkel stülpten. »Der wird begeistert sein.«

»Das tust du nicht!«, rief Josh. Anna tippte ihm auf die Schulter.

»Was?«, fragte er und fuhr herum.

Oh. Der Neue stand vor ihm. Von Nahem war er noch attraktiver. Galle stieg in Joshs Magen auf. Er hasste den Kerl. So sehr.

»Hi«, sagte der Neue und lächelte. Wie ein Model, nur schöner.

Josh holte tief Luft. »Ich will nichts von dir!«, rief er. »Ich bin nicht schwul! Und ich bin nicht an dir interessiert, also lass mich in Ruhe!«

Der Neue blinzelte. Etwas blitzte in seinem Gesicht auf, nur einen Moment lang. Schmerz? Doch bevor es Josh leidtun konnte, veränderte Lucians Miene sich. Er sah Josh abschätzig an. Die schweren Augenlider senkten sich über den kalten Haifischaugen und sein voller Mund verzog sich spöttisch.

»Du wärst mir eh zu hässlich«, sagte er. »Warum denkst du, dass ich an einem gepunkteten Spargel wie dir interessiert wäre?«

4. Grobe Fehleinschätzung

 

Was dachte dieser sommersprossige Lauch sich? Dass … Lucian einen Moment lang gedacht hatte, dass er vielleicht ganz niedlich sei? Das hatte er nicht gedacht! Ganz bestimmt nicht! Wie hätte der Trottel ihm das ansehen können? Und überhaupt, was für ein Arschloch war der, ihn so anzubrüllen? Ein homophobes Arschloch, das war klar. Einer, der glaubte, wenn er nett zu einem wie Lucian war, würden gleich alle denken, er würde fürs gleiche Team spielen.

Lucian betrachtete das Gesicht des homophoben Trottels. Es verzog sich zu einer wütenden Maske.

»Gut!«, brüllte der Braunhaarige. Seine Stimme war rau und unstet, als würde er immer noch mit den Nachwirkungen des Stimmbruchs kämpfen. »Mir egal, wenn du mich hässlich findest! Ich bin nämlich nicht an dir interessiert! Überhaupt nicht, klar?«

»Total klar.« Lucian schnaubte leise. »Hör auf zu kreischen, du Zicke.«

Äußerlich ruhig wischte er sich einen winzigen Spucketropfen von der Wange. Innerlich tat alles weh. Panik rauschte durch seine Glieder.

Es geht wieder los, kreischte eine Stimme. Es wird genau wie damals! Es war seine eigene Stimme. Schrill und angstverzerrt.

Nein, dachte Lucian. Das bin ich nicht mehr.

Obwohl er sich fühlte, als hätte man ihn mit kochendem Wasser übergossen, wich er dem Blick des homophoben Trottels nicht aus. Der starrte ihn an. Fiese grüne Augen hatte der. Stechend bunt wie eine Warnweste.

»Ich kreische nicht«, brummte der Trottel und brach den Blickkontakt ab, indem er an Lucian vorbeimarschierte. Mit geballten Fäusten.

Lucian sah ihm nach, während der Arsch den Gang hinuntermarschierte. Dumpfe Schritte hallten von den Wänden wider, selbst als er längst um die Ecke gebogen war.

»So ein Arschloch«, murmelte Lucian.

»Mach dir nichts draus, Lutschen«, sagte das Mädel im grauen Top. »Er ist halt seltsam.« Sie sah ihn verlegen an. Ja, die anderen drei wirkten nicht feindselig und er entspannte sich ein wenig.

»Ich glaube, Josh ist sich seiner Sexualität unsicher«, sagte der blonde Gorilla und schüttelte mitleidig den Kopf. »Ganz schön gemein, das an dir auszulassen.«

»Voll gemein«, sagte das Mädchen mit den hellen Locken, das aussah, als hätte es kein Wort verstanden.

»Der ist immer so?«, fragte Lucian.

»Der dreht vollkommen durch, wenn man auch nur andeutet, dass er nicht hundertprozentig hetero ist«, sagte der Blonde. »Keine Ahnung, warum der so übersensibel reagiert.«

»Wahrscheinlich steht er wirklich auf Kerle und kommt damit nicht klar«, knurrte Lucian. Der Schock ebbte langsam ab. Mist, innerlich war er immer noch viel zu schwach. Warum war es so leicht, ihn zu verletzen?

»Das glaub ich auch.« Der Blonde lachte. »Wir haben sogar ’ne kleine Wette laufen. Darüber, wann rauskommt, dass er schwul ist.«

»Ach, echt? Kann ich einsteigen?«, fragte Lucian.

»Mit ’nem Zehner bist du dabei. Und der Jackpot ist echt prall.«

»Die Wette läuft schon seit fast zwei Jahren«, sagte die Lockige. »Jedes Jahr wetten wir neu und bis jetzt hat keiner gewonnen.«

»Vielleicht hab ich ja Glück«, sagte Lucian wider besseren Wissens. Er kramte einen Zehner aus seiner Hosentasche und hielt ihn dem Blonden hin. Der holte sein Handy aus der Hosentasche.

»Okay, du Superstar. Nenn mir einen einzigen Tag zwischen heute und dem Abi. Wer am nächsten dran ist, gewinnt.«

Lucian zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Erster Zweiter?«

»Erster Februar. Ist notiert.« Der Blonde grinste.

Seltsame Wette, dachte Lucian. Aber was wusste er schon davon, wie es hier lief?

 

Die Drei waren nett und brachten ihn zum Musikzimmer. Den ganzen Weg über prahlte der Blonde, Dean, damit, dass er im Winter irgendwelche legendären Skihänge hinuntergefahren war. Skifahren schien hier eine große Sache zu sein. Noch merkte man nicht viel davon, dass sie sich in einem Wintersportparadies befanden. Je länger der Tag dauerte, desto mehr schwitzte Lucian.

Als sie in das Musikzimmer kamen, war der Raum schon voll. Der Trottel war auch da. Josh. Vornübergebeugt wie ein garstiger Troll saß er in einer Ecke und kritzelte auf seinem Collegeblock herum.

Lucians Magen schmerzte, als er ihn sah. Es erinnerte ihn an all die anderen blöden Kommentare, die er sich eingefangen hatte.

Sitz bloß nicht neben mir, sonst denken alle, ich bin auch schwul.

Was glotzt du mich so an, Schwuchtel? Bist du etwa in mich verliebt?

Wir wollen dich nicht mehr in der Band haben. Du weißt schon. Geht halt nicht.

Er atmete tief ein. Er war jetzt groß und stark und wusste, wie man sich wehrte. Mit Worten und mit Fäusten. Warum war er innen drin immer noch ein verängstigter kleiner Bengel?

Kein Lehrer war in Sicht. Anna, das Mädchen im grauen Top, zeigte Lucian einen freien Platz und setzte sich gleich neben ihn. Sie war auf dem Weg hierher sehr ruhig gewesen. Kein Wunder, Dean hatte ja die ganze Zeit geredet.

»Weißt du«, sagte sie leise durch den allgemeinen Trubel, »wegen Josh …«

»Josh interessiert mich nicht«, sagte Lucian kalt. So kalt, dass er sie zusammenzucken sah. »Sorry. Ich … Sag mal, wohnst du schon immer hier?«

»Ja.« Sie verzog das Gesicht. »Langweilig, oder?«

»Gar nicht.«

»Aber du bist so viel herumgekommen, das muss doch super sein.«

»Mal mehr, mal weniger super«, sagte er.

Mal sehr viel weniger, dachte er und sah auf die zerkratzte Tischplatte. Jemand hatte einen grinsenden Totenkopf darauf gemalt und schraffiert. Gar nicht schlecht. Und die glubschäugigen Kröten, die drumherum saßen und die Zungen herausstreckten, sahen verdammt witzig aus.

»Ich würde gern mal irgendwo bleiben. Aber hey, Dean hat nur vom Skifahren geredet. Was macht man denn hier im Sommer?«

»Oh, also, es gibt einen Badesee ein paar Kilometer von hier und da gibt’s auch immer wieder Partys und so.« Ihre Zähnchen blitzten. »Letztes Jahr war richtig viel los. Und zwei Orte weiter gibt es ein kleines Festival, also nicht so groß wie das Summer Open Air, aber …«

Sie erzählte und geriet immer mehr in Begeisterung. Lucian hörte ihr zu und ließ den Blick über seine neuen Klassenkameraden schweifen. Ein paar von den Jungs waren ganz süß und … Hä? Josh sah zu ihnen herüber und seine Miene wirkte, als wäre ihm ein Bagger über den Fuß gerollt.

Homophober Trottel, dachte Lucian. Stört’s dich, dass ich existiere?

Doch Josh sah nicht ihn an, sondern Anna. Seltsam. Versuchsweise beugte Lucian sich ein Stück näher zu ihr. Anna errötete leicht, aber der Effekt auf Josh war durchschlagend: Nun schaute er, als wäre vor ihm eine Wagenladung Welpen verendet.

Du bist eifersüchtig, dachte Lucian. Diebische Freude keimte in ihm auf. Nur, um den Idioten zu ärgern, richtete er das Wäscheschildchen, das hinten aus Annas Top lugte.

»Sorry, das hat rausgeguckt«, sagte er.

»Oh, danke.« Sie strahlte ihn an.

Joshs Miene zufolge war gerade ein Atomkrieg ausgebrochen.

Tja, scheint, als wäre er nicht schwul, dachte Lucian. Den Zehner sehe ich wohl nicht wieder. Aber jetzt weiß ich immerhin, wie ich es dem Idioten heimzahlen kann.

5. Offener Krieg

 

»Aus dem Weg, Joshilein!« Dean rammte Josh mit der Schulter, fing den Ball und dribbelte auf den Korb zu.

Josh stürzte, rollte sich ab und kam wieder hoch. Im Stürzen hatte er Übung. Immer wenn der Sportlehrer wegsah, verteilten Dean und Dennis Fouls an alle. Aber Josh gab nicht auf. Er mochte Basketball. Immerhin war es hier mal ein Vorteil, ein langer Spargel zu sein.

»Alles gut?«, fragte Martin und er nickte.

Hinter Martin tauchte der Neue auf. Der Mistkerl, der mit Anna flirtete, obwohl er angeblich schwul war. Josh hatte es gesehen. Der hatte ihr sogar aus der Hand gelesen oder so. Josh hatte keine Ahnung, was genau die beiden gemacht hatten, weil er zu weit weg gesessen hatte. Seinen alten Platz hatte der Neue jetzt und Josh bereute schon, den aufgegeben zu haben. Doch auf der Tischplatte war kaum noch Platz für neue Kritzeleien gewesen.

Sven schnappte sich den Ball. Er war in Joshs Team, und der rannte los, um seinen Verfolger abzuschütteln. Sven passte zu Josh, der umdribbelte Dean und gab den Ball an Martin weiter, der ihn sofort zurückwarf. Josh sprang, streckte sich und feuerte den Ball in Richtung des Korbes. Würfe von außerhalb der Dreierlinie waren seine Spezialität.

Drei Punkte, dachte Josh, während der Ball auf den Metallring zuflog. Komm schon, drei Punkte, dann haben wir Gleichstand …

Eine Hand schoss zwischen den Ball und den Korb und klaubte ihn aus der Luft. Der Neue war aus dem Nichts aufgetaucht wie … ein Delfin oder so. Ein dummer Delfin. Er landete elegant. Dennis klopfte ihm auf die Schulter und dieser nervige Lucian sah auf und grinste Josh an. Ja, der schaute ihn an und sonst niemanden. Ärger kochte in Josh hoch. War der Mistkerl etwa auch noch sportlich?

Keuchend holte er Luft, sog den seifig-gummiartigen Geruch der stickigen Turnhalle in die Lungen und wandte sich an Martin, der den Neuen deckte.

»Wir tauschen die Plätze, okay?«

»Okay.« Martin lächelte. »Danke.«

Warum danke?

Kurz darauf wusste Josh es: Der Neue war etwas kleiner als er, aber schnell. Wie ein Gepard hetzte er über das Spielfeld, duckte sich und entkam Josh immer und immer wieder. Und er redete auch noch!

»So schlecht bin ich ja noch nie gedeckt worden«, raunte er Josh zu und grinste ihn über die Schulter hinweg an. »Gib dir mal Mühe.«

»Laber nicht, spiel«, knurrte Josh. Sie wurden unterbrochen, als der Ball in ihre Richtung flog. Der Neue streckte sich … und Josh schob sich vor ihn und schnappte ihm den Ball weg. Er passte zu Sven und genehmigte sich ein zufriedenes Lachen.

»Schlechte Deckung, ja? Was sagst du dazu?«

»Okay, du deckst mich super. Wirklich erstklassig.« Wieso grinste der Typ jetzt schon wieder? War das ein Witz oder … Oh.

»Ich bin nicht schwul!«, zischte Josh. »Hör auf mit der Scheiße.«

»Je lauter du es verneinst, desto wahrer wird es«, behauptete der Blödmann. Dann tauchte er unter Joshs Arm durch, schnappte sich im Laufen den Ball und legte einen überragenden Slam Dunk hin. Josh hätte ihn am liebsten erwürgt.

Er wollte den Blödmann fragen, was er von Anna wollte, obwohl er doch angeblich auf Jungs stand, aber der Sportlehrer tauchte plötzlich wieder auf und pfiff ab. Joshs Team hatte verloren. Und Lucian hatte auch noch die letzten beiden Punkte gemacht.

Josh ignorierte den Neuen den Rest des Schultages über. Also ungefähr zehn Minuten lang. Sowohl in der Dusche als auch in der Umkleide würdigte er Lucian keines Blickes. Er merkte, dass ein Teil der Jungs sich seltsam verhielt, so lange der Neue im Raum war. Anton ließ seine Schuhe zweimal fallen und machte merkwürdige Verrenkungen, um sie wieder zu bekommen. Als wollte er Lucian nicht den Rücken zudrehen. Komisch. Erst, als Lucian mit einem obercoolen »Tschüss« die Umkleide verlassen hatte, kapierte Josh, woran es lag.

»Er hat mich nicht angeschaut, oder?«, fragte Anton Sven. »Also irgendwie … rallig oder so?«

Sven schüttelte den Kopf. »Ne, der hat die ganze Zeit auf seinen Spind geguckt.«

»Sicher? Er hat nicht heimlich geglotzt?«

»Nö, glaub nicht.«

Dennis schnaubte leise. »Wenn ich den je erwische, wie er mich angeiert, hau ich ihm die Nase platt, das könnt ihr mir glauben.«

»Müssen wir mit ihm duschen?«, fragte Martin. Er kratzte sich am Arm. »Ich meine, er ist in Ordnung, eigentlich, aber … das ist irgendwie komisch, oder?«

»Was heulst du rum?«, fragte Dean und lachte. »Wir duschen doch auch mit Josh. Ne zweite Schwuchtel macht’s nicht schlimmer.«

Josh warf seinen Spind mit einem Knall zu, marschierte aus dem Raum und schleuderte die Tür noch fester ins Schloss. Trottel. Er wünschte, er wäre stark genug, um sich mit Dean anzulegen. Er wünschte es wirklich. Aber er wünschte sich so einiges und selten wurde etwas davon wahr.

 

Mies gelaunt stapfte er nach Hause. Je baufälliger die Häuser wurden, je mehr es nach überlaufenden Mülltonnen stank, desto lausiger fühlte er sich. Kein Wunder, dass Anna Lucian vorzog. Nicht nur, weil der besser aussah als Josh und ihm in allem überlegen war. Sondern auch, weil der garantiert nicht im schäbigsten Haus des schlechtesten Viertels von Ebernau lebte. Konnte Lucian auch gar nicht, da wohnte Josh nämlich.

Trübselig sah er an dem windschiefen Fachwerkhaus am Ende der schmalen Straße hoch. Eigentlich liebte er sein Zuhause. Er kannte jeden staubigen Winkel und jede knarrende Fußbodendiele. Aber wenn er versuchte, es durch Annas Augen zu sehen oder, noch schlimmer, durch Lucians … Dann schämte er sich dafür.

Er zerrte die Tür auf. Aus der Küche kamen Geräusche und einen Moment lang freute Josh sich. Jemand war zu Hause! Dann sah er, dass es sein Bruder Marc war.

»Was machst du denn hier?«, fragte Josh.

Marc sah von dem Laptop auf, den er auf den Küchentisch gestellt hatte. Lose Blätter umgaben ihn, alle bekritzelt mit seiner ordentlichen Schrift. Er grinste, nervig wie immer.

»Joshi! Was ist dir denn über die Leber gelaufen?« Er lachte und sein blödes Sonnyboygesicht verzog sich höhnisch. »Ist dir wieder eingefallen, dass du eine mickrige Jungfrau bist?«

»Ich bin keine … Ach, egal.« Josh schleuderte seinen Rucksack in eine Ecke, warf sich vor Marc auf einen wackeligen Stuhl und vergrub das Gesicht in den Armen. Der leichte Holzgeruch der Küche tröstete ihn. Immerhin war es hier kühler als draußen und ein angenehmer Hauch legte sich auf seinen feuchten Nacken. Die Kräuter auf der Fensterbank sandten den frischen Geruch von Basilikum und Thymian zu ihm herüber. »Ich hab keine Lust mehr auf Schule. Ich schmeiß alles hin und werde Matrose.«

»Dafür bist du doch viel zu schwach«, sagte Marc.

»Gar nicht wahr.« Josh wartete auf die nächste blöde Bemerkung. Stattdessen klopfte Marc ihm mit einem zusammengerollten Blatt Papier auf den Hinterkopf.

»Was ist los, Zwerg?«, fragte er. »Hat dich wer geärgert?«

»Ja. Du.«

»Außer mir, meine ich. Jemand, der nicht dein Lieblingsbruder ist und das nicht darf.«

»Nils ist mein Lieblingsbruder«, murrte Josh. Aber er sah auf. »Wir haben einen Neuen in der Klasse. Der ist ein Arsch.«

»Aha.« Marcs Gesicht verfinsterte sich. »Hat er dir was getan?«

»Nicht richtig. Also nicht direkt.« Josh ging den Tag in Gedanken durch. »Eigentlich war ich vielleicht kurz ein Arsch zu ihm.« Er schluckte. Schlechtes Gewissen kroch seine Kehle hoch. »Ich hab ihn angemotzt, dabei war ich doch sauer auf Dean. Und Anna.«

»Anna.« Marc sprach den schönsten Namen der Welt aus, als haftete der Gestank verfaulter Kartoffeln daran. »Hält die dich immer noch hin? Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass du die vergessen sollst.«

»Wollte ich auch.« Josh richtete sich auf. »Aber heute Morgen war sie plötzlich total nett und hat mich begrüßt und …«

»Die ist immer nett, wenn du beschließt, sie zu vergessen. Die will dich nicht vom Haken lassen.«

»Gar nicht wahr. Sie ist voll lieb.«

Marc verdrehte die Augen. »Okay, immerhin warst du kurz sauer auf sie. Ich schätze, das ist ein Fortschritt. Und das hast du an diesem Neuen ausgelassen.«

Josh nickte. Mist. »Vielleicht sollte ich mich entschuldigen … Aber der war auch ein Arsch!« Lucians blödes Gesicht erschien vor ihm. »Ich meine, wenn ich ihn irgendwie verletzt hätte, würde ich das, bestimmt, aber … den interessiert eh nicht, was ich mache. Der ist viel zu cool dafür. Und zu hübsch und sportlich und traumhaft und …«

»Bist du etwa in ihn verliebt?« Marcs Augenbrauen wanderten nach oben.

»Nein!« Josh verschränkte die Arme. »Ich hab dir gesagt, dass ich nicht schwul bin.«

»Interessiert mich eh nicht.« Marc gähnte. »Du findest den Neuen also total traumhaft, aber ihr habt euch angezickt. Ist das alles?«

»Mja.« Josh seufzte. »Anna mag ihn.«

»Super. Lass die beiden Spaß zusammen haben. Wenn sie mit ihm in die Kiste hüpft, kriegst du sie vielleicht endlich aus dem Kopf.«

Marc, dieser unsensible Trottel. »Aus den beiden wird nichts. Er ist schwul. Aber er fummelt trotzdem dauernd an ihr rum. Also … zumindest sagt er, dass er schwul wäre. Was, wenn er doch hinter ihr her ist? Ob er sich nur tarnt?«

»Zu sagen, dass man schwul ist, um Mädchen rumzukriegen, ist eine selten dämliche Idee.«

»Aber es funktioniert!« Panik krallte sich in Joshs Eingeweide. »Sag mal, machen dich noch Frauen an, seit du mit Flo zusammen bist?«

»Klar.« Marcs Zähne blitzten. »Aber ich sehe ja auch hammergut aus.«

Josh blickte ihn entsetzt an. »Der Neue sieht auch hammergut aus!«

»Also langsam machst du mich neugierig.« Mit einem Seufzen legte Marc die Blätter zur Seite. »Hast du ein Foto oder so?«

Josh schüttelte den Kopf. Er schnappte sich den Laptop, bevor Marc protestieren konnte, und gab den Namen von dieser blöden Band ein. Iguana Bullet. Sofort wurden ihm ein paar Dutzend Videos vorgeschlagen. Er klickte auf das erstbeste und drehte den Bildschirm so, dass sie beide darauf schauen konnten.

Festivallärm erfüllte die Küche. Klatschen, Schreien und Gitarren, die jaulend gestimmt wurden. Über tausende von Köpfen hinweggleitend zoomte die Kamera auf die Band zu, die vorne auf der Bühne stand. »Summer Open Air«, las Josh auf dem gigantischen Banner hinter ihnen. Und kleiner »Iguana Bullet«. Vier schwarzgekleidete Typen standen dramatisch nebeneinander. Wie auf ein unsichtbares Signal begannen sie, auf ihre Instrumente einzudreschen. Am heftigsten bewegte sich Lucian. Er trug die Haare länger als heute Morgen und eine ganz andere Energie ging von ihm aus. Wütend wie ein gefangener Leopard. Fast manisch bewegte er seinen schweißbedeckten Körper. Er spielte, rasend schnell, sank in die Knie, schüttelte sich die Mähne aus dem glänzenden, wunderschönen Gesicht … Absolute Hoffnungslosigkeit überkam Josh. Ach, die Band war das. Das Lied mochte er auch noch!

»Hä?« Marc sah ihn an. »Ist der Neue im Publikum?«

»Nein.« Josh hob einen schwächlichen, uncoolen Finger und deutete auf Lucian, der spielte, als wäre er vom Teufel besessen. Er war so weit rücklings gebeugt, dass sein Hinterkopf die Bretter berührte. Harte Brustmuskeln zeichneten sich unter seinem klammen Shirt ab. »Das ist er.«

»Heilige Scheiße.« Marc pfiff leise durch die Zähne. »Ich nehm alles zurück. Der ist heiß. Bist du ganz sicher, dass du nicht …«

»Nein«, knurrte Josh. »Ich hab nur Augen im Kopf.« Er zögerte. »Der sieht wirklich total gut aus, oder?«

Marc wirkte fast zerknirscht. »Ja, sorry. Wenn der hinter deinem Mädel her ist, hast du keine Chance.«

»Danke für die Ermutigung.« Josh sah auf die zerkratzte Tischplatte. »Aber wenn er doch sagt, dass er schwul ist … warum flirtet er dann mit Anna?«

»Um dich zu ärgern?«

»Ne, so wichtig bin ich dem nicht.« Josh stützte den Kopf in die Hände. »Glaub ich zumindest.«

»Wahrscheinlich nicht.«

Marc war echt überhaupt keine Hilfe. Niedergeschlagen musterte Josh das Zettelchaos auf dem Tisch.

»Was machst eigentlich du hier? Hat Flo dich rausgeworfen?«

»Witzig.« Marc sah auf den nächstbesten Zettel und verzog den Mund. »Ne, die Trottel über uns haben einen Wasserschaden verursacht und wir müssen aus der Wohnung raus. Ne Woche mindestens, bis das repariert ist. Wir dachten, wenn Flo solange bei seiner Mutter wohnt und ich bei meiner, kommen wir mal zum Lernen, statt nur … Du weißt schon.«

»Will ich nicht wissen.« Er redete von Sex oder Busseleien oder so, richtig? »Und wie läuft das Lernen?«

»Okay.«

»Lügst du?« Josh legte den Kopf schief.

Marcs Augen wurden schmal. Dann seufzte er.

»Neben Flo komme ich mir vor wie ein Trottel. Der war auf dieser Privatschule und hat da sogar aufgepasst. Ich kapier immer nur die Hälfte und auch nur, wenn er mir das erklärt.«

»Oh. Zeig mal her.« Josh sah auf den erstbesten Zettel und verstand kein Wort. »Ui.«

»Jupp. Ich weiß nicht, ob das Studium so eine gute Idee war. Ich meine, ist es bestimmt. Wir müssen Maries Ferienhäuser und den ganzen Kram irgendwann ja verwalten und da wäre es ganz gut, wenn wir wissen, was wir tun. Aber das klappt nur, wenn ich das hier hinkriege.«

Flo, Marcs Freund, hatte beschlossen, in das Familiengeschäft einzusteigen und zur Überraschung aller war Marc dabei. Also nur, so lange es seiner Sportlerkarriere nicht im Weg war. Aber im Sommer ließ sich eh nur snowboarden, wenn sie dafür den Kontinent verließen. Also hatten die beiden gemeinsam ein Fernstudium begonnen.

»Wenn’s nicht klappt, bist du ja immer noch Profi-Snowboarder.« Josh versuchte, aufmunternd zu klingen.

»Ja.« Marc seufzte. »Aber ewig kann ich das nicht machen. Spätestens mit vierzig ist es vorbei und was dann? Ne, ich muss das hier hinkriegen. Irgendwie.«