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Über dieses Buch:

Das große Glück, was ist das eigentlich? Nach einem Schicksalsschlag hat sich die junge Landärztin Sabine Büttner in der Lüneburger Heide ein neues Leben aufgebaut. Sie weiß genau, dass es eigentlich keinen Grund gibt, sich zu beklagen … und trotzdem nagt dieser Gedanke an ihr: »War das wirklich schon alles?« Also beschließt sie, sich auf ein Abenteuer einzulassen: Sie wird das idyllische Auendorf für ein paar Wochen verlassen und sich einer internationalen Ärztegruppe anschließen, die in Afrika den Ärmsten der Armen helfen will. Allerdings wartet dort nicht nur die atemberaubende Natur auf sie, sondern auch der charmante Arzt Jack, der ihr vom ersten Moment an unverhohlen sein Interesse zeigt. Aber darf Sabine einem Herzensbrecher wie ihm wirklich vertrauen?

Über die Autorin:

Christa Canetta ist das Pseudonym der deutschen Journalistin und Autorin Christa Kanitz (1928–2015). Sie studierte Psychologie und lebte in der Schweiz und Italien, bis sie sich in Hamburg niederließ. Sie arbeitete für den Südwestfunk und bei den Lübecker Nachrichten; 2001 begann sie in einem Alter, in dem die meisten Menschen über den Ruhestand nachdenken, mit großem Erfolg, Liebesromane und historische Romane zu schreiben.

Von Christa Kanitz erschien bei dotbooks der Roman »Die Liebe der Kaffeehändlerin«.

Unter ihrem Pseudonym Christa Canetta veröffentlichte sie bei dotbooks »Eine Liebe in Frankreich«, »Das Leuchten der schottischen Wälder«, »Schottische Engel« und »Schottische Disteln« und »Die Heideärztin«.

Ebenfalls bei dotbooks erschienen die Romane »Jenseits der Grillenbäume«, »Im Land der roten Erde« und »Sommerwind über der Heide« aus dem Nachlass von Christa Kanitz: Drei zuvor unvollendete Romane, denen ihre Töchter – darunter die erfolgreiche Autorin Brigitte D’Orazio – gemeinsam den letzten Schliff verliehen und die nun unter dem Namen von Christa Kanitz‘ Enkeltochter Virginia veröffentlicht wurden.

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Neuausgabe Februar 2014, Juni 2021

Dieses Buch erschien bereits 2008 unter dem Titel »Der Ruf des Leoparden« bei Moments in der area verlag GmbH, Erftstadt

Copyright © der Originalausgabe 2008 area verlag GmbH, Erftstadt

Copyright © der Neuausgabe 2014, 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel unter Verwendung von Bildmotiven von Thinkstock; istockphoto

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-95520-314-6

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Christa Canetta

Die Heideärztin unter dem Kreuz des Südens

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Sabine atmete auf. Endlich geschafft, dachte sie müde und ging durch den Flur, um die Haustür abzuschließen. Helga, ihre Assistentin, brachte die Praxisräume in Ordnung, und Lotti bereitete das Abendessen vor. Jedenfalls verriet der Duft, der aus der Küche kam, dass auf dem Herd etwas Köstliches brutzelte.

Sabine lehnte sich für einen Augenblick erschöpft an den Türrahmen und dachte an die Anfänge ihrer Arbeit hier in Auendorf zurück, als sie abends enttäuscht und verzagt an dieser Tür gestanden hatte, weil nicht ein einziger Patient in ihre Praxis gekommen war. Aber das war nun vorbei. Sie hatte Reservestühle anschaffen müssen, die Helga im Flur aufstellte, wenn der Platz im Wartezimmer für die vielen Patienten nicht mehr ausreichte. Gerade jetzt im Frühjahr mit den Wetterkapriolen hatten Grippe, Bronchitis und Lungenprobleme viele alte Menschen erreicht. Zu dumm aber auch, dachte sie, dass ich die Leute hier auf dem Lande nicht zur Grippeimpfung überreden kann. Aber da sind sie stur, die Heidjer. Der Anblick einer Spritze, selbst wenn sie noch so winzig oder harmlos ist, wirkt für sie wie ein rotes Tuch. Sabine machte einen Schritt nach draußen und wischte mit dem Ärmel über das leicht beschlagene Messingschild mit der Aufschrift: ›Dr. med. Sabine Büttner, Ärztin für Allgemeinmedizin‹. Sie lächelte das Schild an. Wie glücklich war ich damals, als ich es nach zehn harten Jahren Krankenhausarbeit anschrauben konnte, erinnerte sie sich. Es war der Traum meiner Ausbildung und meiner Pläne, so ein Schild endlich besitzen zu dürfen, und dann prangte es an meiner Haustür, und kein Mensch kam, um sich von mir helfen zu lassen. Das wurde erst besser, als ein paar Unfälle die Menschen zwangen, meine Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil sonst niemand da war. Und als Henriette meine Freundin wurde. Sie lächelte in Gedanken an Henriette, die liebevolle Schwedin, die in ihrer Heidekate mit Kräutern und selbst gemachten Tinkturen den Heidjern half, weil die einen fremden Arzt, der noch dazu eine Frau war, ablehnten. Ja, ja, dachte Sabine, wenn die Heidjer sich etwas in den Kopf setzen, dann ist das da drinnen fest verankert, und es müssen Wunder geschehen, bis sie zum Umdenken bereit sind.

Sabine wollte gerade zurück ins Haus gehen, als sie in der Ferne ein Motorengeräusch hörte. Ein unbekanntes Motorengeräusch, denn die wenigen Autos, die in dieser Gegend unterwegs waren, kannte sie genau. Der Bürgermeister, der Polizist, der Müller in Immenburg, der Wirt vom ›Auenkrug‹ und zwei oder drei Bauern aus der Umgebung hatten Autos, und natürlich Paul, ihr Freund, der Forstmeister. Aber dieses näher kommende Auto hatte sie noch nicht gehört. Neugierig geworden, blieb sie noch einen Augenblick in der Tür stehen. Die Touristen, die im Sommer hierherkommen, fehlen an diesen nasskalten Frühlingstagen, und auch die wohlhabenden Patienten vom Paracelsus-Sanatorium verirren sich am frühen Abend nicht mehr in meine Praxis. Die warten um diese Zeit auf ihre geschmückten Fastenteller, auf denen nicht viel mehr zu sehen ist als kleine, feine Gemüsehäppchen und Kapuzinerblüten zur Dekoration, dachte sie schmunzelnd. Gott sei Dank habe ich keine Figurprobleme, ich kann essen, was mir schmeckt.

Das Motorengeräusch kam näher. Es kommt aus Richtung Lindenberg, es muss ein klappriger Lieferwagen sein, lauschte sie und ging in den Flur zurück. Man muss ja nicht gleich sehen, dass ich hier fremde Autos bestaune.

Der Motor wurde leiser. Der Wagen fuhr langsamer, als suche der Fahrer ein bestimmtes Haus. Sabine war ganz in den Flur zurückgetreten, als sie durch die offene Tür einen Kleinlaster halten sah. Auf der Tür stand ›Birkenhof‹, eine Telefonnummer und die Anschrift ›Oberlohe‹.

Oberlohe, dachte sie, das ist aber ziemlich weit weg. Wer will denn aus Oberlohe etwas von mir? Da der Fahrer ausgestiegen war, ging sie in den Vorgarten, um ihn zu begrüßen und nach seinen Wünschen zu fragen. Doch nach wenigen Schritten blieb sie stehen. Was ist das denn?, dachte sie erschrocken, denn ihr Herz begann zu rasen, eine Art Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper, und die Beine waren wie gelähmt. Der Mann, der ihr entgegenkam, hatte eine Wirkung auf sie, die ihr den Hals zuschnürte. Das gibt es doch gar nicht, stellte sie völlig irritiert fest und versuchte, sich aus dieser Starre zu befreien. Dann hatte der Fremde sie erreicht.

»Frau Doktor Büttner?«

Seine Stimme und die erwartete Frage lösten die Verspannung, die sie lähmte. »Ja, Sie wünschen?«

»Bei mir im Reitstall gab es einen Unfall, ich habe eine verletzte Frau in meinem Wagen, könnten Sie uns helfen?«

»Selbstverständlich. Was ist passiert?«

»Frau Hoffmann hat ihr Pferd geputzt und dabei – ich muss sagen dummerweise – ihre Sandalen anbehalten, statt feste Stiefel anzuziehen. Nun hat das Pferd ihr mit dem Hinterhuf auf den Fuß getreten. Es sieht schlimm aus, denn der Huf hatte ein Eisen, und das Pferd ist ein kräftiger Oldenburger Wallach.«

»Die Ärmste.«

Sabine winkte Helga zu, die näher gekommen war. »Bitte holen Sie den Rollstuhl, wir haben eine Patientin.«

Sie lief zu dem Wagen auf der Straße und fand eine wimmernde, zusammengesunkene junge Frau vor, die ein mit dicken Verbänden umwickeltes Bein umklammerte.

»Beruhigen Sie sich, Frau Hoffmann, wir bringen das in Ordnung. Alles wird gut«, versuchte Sabine sie zu trösten. »Ich bin Doktor Büttner und helfe Ihnen, kommen Sie, wir fahren Sie mit dem Rollstuhl in die Praxis.«

Sie winkte die Arzthelferin heran, und der unbekannte Mann hob die Frau aus dem Auto und setzte sie vorsichtig in den Stuhl, dann übernahm er den Transport in das Haus. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, erklärte er etwas atemlos. »Ich bin Johannes Hegenbach aus Oberlohe. Ich habe einen Reitbetrieb.«

»Danke«, erwiderte Sabine. »Ich bin hier die Ärztin.«

»Das weiß ich. Wir sind hergekommen, weil Sie einen Röntgenapparat haben, jedenfalls wurde mir das erzählt.«

»So ist es.«

Helga zeigte dem Mann den Weg, öffnete die Türen und half ihm schließlich, die Patientin auf das Untersuchungsbett zu legen.

Vorsichtig entfernte Sabine die äußeren Verbände. Dann erklärte sie: »Es ist besser, Sie warten jetzt draußen. Die Dame bekommt ein Schmerzmittel, und dann untersuche ich den Fuß.« Sie sah den Fremden nicht an, sie wusste genau, ihr Herz würde ein paar Schläge zu viel machen, und die konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Im Hinausgehen sagte der Mann: »Den Strumpf konnte ich ihr nicht ausziehen, den hat sie noch an.« Und allein die Stimme genügte, um Sabine abermals einen leichten Schock zu versetzen.

Was ist denn los mit mir?, schimpfte sie innerlich. Wie kann man sich so überrumpeln lassen? Gleichzeitig zog sie eine Spritze auf, um der Frau ein Schmerzmittel zu verabreichen. »Sind Sie allergisch gegen irgendetwas?«, fragte sie und säuberte die Haut für die Spritze. »Oder nehmen Sie Medikamente, die ich kennen müsste?«

»Nein, nichts«, schluchzte die Frau und ließ sich von der Arzthelferin ein paar Papiertaschentücher geben. Mit den Tränen verwischte sie ihr Make-up, und während sie auf die einsetzende Wirkung des Schmerzmittels warteten, half Helga ihr, das Gesicht zu reinigen. Als die Schmerzen etwas nachließen, entfernte Sabine die restlichen Verbände, die bereits an dem blutverklebten Strumpf festhafteten. Die Frau weinte wieder. Mit lauwarmem Wasser betupfte Helga den Fuß, damit sich der Strumpf löste.

»Der Wotan, so heißt mein Pferd, hat mich noch nie getreten, aber eine Fliege hat ihn unruhig gemacht, und plötzlich sprang er zur Seite und direkt auf meinen Fuß.«

»Wir kriegen das schon wieder hin«, beruhigte Sabine die Frau. Die Spritze schien langsam zu wirken, die Frau wurde etwas müde und wirkte auch nicht mehr so verspannt. Endlich löste sich die verklebte Masse vom Fuß, und Sabine konnte den zerfetzten Strumpf und die Verbandsreste entfernen. Das Bein sah schlimm aus. Bis zur Wade hinauf war es blaurot und geschwollen, und der Fuß glich einem blutigen Brei. Behutsam untersuchte ihn Sabine, die einzelnen Zehen waren kaum zu erkennen. »Wir müssen den Fuß röntgen«, erklärte sie der jungen Frau, »aber das tut ja nicht weh, also keine Angst, wir sind ganz vorsichtig.« Gleichzeitig bedeckte sie das Bein mit Gazestücken, um der Frau den schrecklichen Anblick zu ersparen. Vorsichtig halfen sie ihr wieder in den Rollstuhl.

»Sind Sie gegen Tetanus geimpft?«, fragte Sabine.

»Nein, ich glaube nicht. Ich bin nur als Kind einmal geimpft worden.«

»Dann müssen wir das nachholen. Gerade bei diesem Sport, bei dem Sie leicht einmal mit Schmutz in Berührung kommen, ist die Tetanusimpfung unbedingt nötig.«

»Muss das denn sein?«, schluchzte die Frau.

»Sie haben eine offene Wunde, Frau Hoffmann, und ich könnte mir vorstellen, dass der Pferdehuf, der diese Wunde verursacht hat, nicht gerade sauber war.«

Nachdem die Frau die zweite Spritze bekommen hatte, brachte Helga sie in den Röntgenraum, und gemeinsam betteten sie die Verletzte so auf die Liege, dass Sabine den Fuß von allen Seiten röntgen konnte. Dann bat sie Helga, die Aufnahmen zu machen, und während die Assistentin die Aufnahmen entwickelte, sprach Sabine mit dem Reitstallbesitzer, denn so viel war klar, hier konnte die Verletzte nur notdürftig versorgt werden. Sie musste auf dem schnellsten Wege in ein Krankenhaus, und zwar für eine lange Zeit, sollte der Fuß jemals wieder gebrauchsfähig werden.

Sabine ging in das Wartezimmer. Johannes Hegenbach sah sie erwartungsvoll an. Sie riss sich zusammen, denn sie musste einigermaßen gefasst auftreten, auf keinen Fall konnte sie ihm zeigen, wie gehemmt sie in seiner Gegenwart war.

»Herr Hegenbach, das ist ein schwerer Unfall. Die Dame muss mit einem längeren Krankenhausaufenthalt rechnen. Wenn meine Befürchtungen eintreffen, sind alle Zehen gebrochen, wenn nicht sogar zertrümmert, und auch die Fußmittelknochen und das Fußgelenk sind schwer beschädigt.«

»Und wann treffen Ihre Befürchtungen ein, Frau Doktor?«

Hörte sie da eine leichte Ironie in den Worten? »Sobald die Aufnahmen entwickelt sind«, sie sah auf die Uhr, »ich denke, in fünf Minuten habe ich Klarheit.«

»Wie geht es Frau Hoffmann?«

»Sie ist etwas ruhiger, das Schmerzmittel wirkt.«

Helga winkte von der Tür her. »Die Aufnahmen sind fertig, Frau Doktor.«

Sabine, froh, sich in ihre Arbeitsräume zurückziehen zu können, nickte dem Mann zu. »Ich gebe Ihnen gleich Bescheid.«

Die Röntgenaufnahmen bestätigten, was sie befürchtet hatte. Grob ausgedrückt, sah der Fuß völlig zermalmt aus. Sabine holte tief Luft, dann ging sie zu der Patientin.

»Frau Hoffmann, Ihrem Fuß geht es nicht besonders gut, aber das wissen Sie ja selbst.«

Mit Tränen in den Augen sah die Frau sie an. »Was passiert denn jetzt? Im Augenblick habe ich gar kein Gefühl mehr in dem Fuß.«

»Das liegt an dem Schmerzmittel. Aber Sie müssen mit einer längeren Behandlungsdauer rechnen. Einer Behandlung in einem Krankenhaus. Leider sind alle Zehen gebrochen, und auch die Fußmittelknochen und das Fußgelenk sind stark beschädigt.«

»Ein Krankenhaus? Mein Gott, ich kann doch nicht in ein Krankenhaus gehen. Können Sie den Fuß nicht so eingipsen, dass ich damit laufen oder humpeln kann?«

»Leider nein, Frau Hoffmann. Sie würden bleibende Schäden davontragen und in Ihrem ganzen Leben nicht mehr richtig laufen können, wenn der Fuß nicht ganz geheilt wird. Und dazu braucht er Ruhe und fachärztliche Hilfe.«

»Aber ich muss doch arbeiten. Ich kann mir eine lange Krankheit gar nicht leisten. Ich arbeite die meiste Zeit am Computer, da könnte ich den Fuß hochlegen und schonen.«

»Frau Hoffmann, ich muss Sie dringend bitten, einen Facharzt zu konsultieren. Sie müssen sich in einer Klinik behandeln lassen.«

Die Frau weinte wieder. »Und was soll ich jetzt direkt machen?«

»Ich rufe einen Krankenwagen und lasse Sie in die Nähe von Bremen bringen. Dort im Unfallklinikum Großbresenbek haben Sie die besten Ärzte. Ich weiß das, ich habe jahrelang dort gearbeitet.«

»Aber ich habe doch gar nichts bei mir, ich bin vom Stall aus direkt hierhergekommen, weil es der kürzeste Weg zu einem Röntgenapparat war. Ich habe nicht einmal meine Handtasche dabei.«

»Das ist nicht so schlimm, Frau Hoffmann, das sind Kleinigkeiten, die am Rande gelöst werden. Machen Sie sich keine Sorgen, Ihr Reitlehrer wird sich um Ihre Sachen kümmern.«

»Der Johannes hat selbst den Kopf voller Probleme, und jetzt soll er sich auch noch um mich kümmern!«

»Er ist der Reitstallbesitzer, er hat auch eine Verantwortung für alles, was in seinem Stall passiert. Glauben Sie mir, er wird froh sein, wenn nicht größere Probleme durch Ihren Unfall auf ihn zukommen.«

»Aber nein, er kann ganz bestimmt nichts dafür. Es war allein meine Dummheit. Sonst ziehe ich immer die Stiefel an, bevor ich in die Stallgasse gehe. Aber heute hatte ich es eilig, weil ich mit Freunden zusammen ausreiten wollte. Und da dachte ich, erst einmal den Wotan putzen und satteln und dann schnell in die Stiefel. Na ja, das hat nun eben nicht geklappt.«

»Ich wundere mich, dass das Pferd so kräftig getreten hat.«

»Na ja, ich hatte eben nur dünne Sandalen mit Riemchen an und dann der Zementboden in der Stallgasse, der gibt keinen Zentimeter nach.«

»Oh ja, Zement ist hart. Also, ich mache Ihnen jetzt einen dicken Salbenverband um den Fuß, dann kleben die Verbandsmittel nicht fest, und Sie haben keine Probleme, wenn alles im Krankenhaus entfernt wird. Wie ist es mit den Schmerzen?«

»Ja, so langsam fühle ich meinen Fuß wieder.«

»Gut, dann gebe ich Ihnen noch eine Spritze, bevor Sie abfahren, und Sie werden sehen, in Großbresenbek sind Sie in den allerbesten Händen. Ich kenne dort Doktor Bellmann, und ich werde ihn anrufen und ihm sagen, dass er sich ganz besonders liebevoll um Sie kümmern soll.«

»Danke. Und was wird mit Johannes?«

»Den schicke ich gleich zu Ihnen herein. Sobald ich den Verband angelegt habe, setzen wir Sie wieder in den Rollstuhl, dann können Sie sich besser mit ihm unterhalten, diese Röntgenliege ist doch sehr unbequem.«

Sabine strich eine dicke Crememasse auf den Fuß und bandagierte ihn ganz vorsichtig. Danach legte sie eine Schiene an, die den Fuß vor Berührungen mit Decken oder Laken schützte, und dann half ihr Helga, die Patientin wieder in den Rollstuhl zu setzen, und fuhr sie ins Wartezimmer.

Was die beiden besprachen, konnte Sabine nicht verstehen, sie hörte aber, dass Frau Hoffmann wieder weinte. Dann rief sie in Großbresenbek an und verlangte, Doktor Bellmann zu sprechen. Als er sich endlich meldete, atmete sie erleichtert auf. Gott sei Dank, dachte sie, er ist da. »Hallo Jochen, hier ist Sabine. Wie geht es dir?«

»Gut, gut, mein Mädchen, und dir?«

»Auch gut, aber ich habe hier einen Unfall, den ich zu dir in die Klinik schicken möchte.« Mit kurzen Worten schilderte sie den Fall und fragte: »Du kümmerst dich doch darum?«

»Natürlich, Sabine, das ist mein Beruf. Soll ich von hier aus einen Krankenwagen schicken?«

»Ja, das wäre am besten, denn in dem klapprigen Kleinlaster, mit dem sie hergekommen ist, kann ich sie nicht weiterfahren lassen.«

»Gut, der Wagen fährt gleich ab. Schick bitte die Röntgenaufnahmen mit, dann können wir hier sofort mit der Behandlung anfangen. Wie ist es mit Medikamenten?«

»Ich gebe ihr eine zweite Spritze gegen die Schmerzen, sonst hält sie die Fahrt nicht aus, und ich habe sie gegen Tetanus geimpft.«

»So schlimm ist es?«

»Schlimmer, Jochen, ich weiß nicht, ob ihr den Fuß überhaupt retten könnt. Ich hoffe es nur.«

»Wir tun unser Bestes, das weißt du.«

Sabine ging hinüber ins Wartezimmer zu der Patientin und dem Reitstallbesitzer. »Ich habe mit der Klinik telefoniert, man bereitet alles für Sie vor, Frau Hoffmann, Sie sind dort in den besten Händen. Der Krankenwagen wird in gut einer Stunde hier sein, um Sie abzuholen. Meine Assistentin bringt Sie gleich hinüber in meine Wohnung, dort können Sie auf der Couch liegen, und Ihr Bein bekommt endlich Ruhe. Haben Sie hier alles besprochen?«

»Ja«, schluchzte Beate Hoffmann ziemlich verzweifelt, »Herr Hegenbach informiert meine Freundin, die wird sich dann um meine Sachen kümmern und sie mir ins Krankenhaus bringen.«

Der Fremde stand auf. »Wenn es Ihnen recht ist, fahre ich Frau Hoffmann mit dem Rollstuhl in Ihre Wohnung, ich kann sie dann hochheben und auf die Couch betten.«

»Danke, das wäre sehr nett.« Sabine fühlte sich dem Mann gegenüber noch immer gehemmt. Nimmt das denn gar kein Ende?, dachte sie und vermied es, ihn anzusehen, als sie die Türen zwischen Warteraum und Wohnhalle öffnete. »Bitte, dort drüben ist die Couch.«

Am Eingang zur Küche stand die Haushälterin. Lotti war es gewohnt, dass Patienten ihren Stundenplan durcheinanderbrachten. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte sie die unerwarteten Gäste und sah ihre Chefin fragend an.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Danke, nein, ich muss so schnell wie möglich zurück in meinen Reitstall.« Er drehte sich um, küsste der Patientin die Hand, wünschte ihr gute Besserung und nickte Sabine zu. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich so gut um Frau Hoffmann gekümmert haben«, sagte er, nickte auch der Haushälterin zu und ging. Nach einigen vergeblichen Versuchen sprang der Motor des Kleinlasters an, und keine fünf Minuten später war von dem Wagen nichts mehr zu hören.

Sabine sah ihre Patientin an. »Möchten Sie etwas trinken? Ein stilles Wasser vielleicht?«

»Nein, danke, ich möchte nur ganz ruhig liegen.«

Helga kam aus der Praxis. »Frau Doktor, ich brauche die Unterlagen von Frau Hoffmann: Anschrift, Krankenkasse und was sonst noch nötig ist. Kann ich das hier aufschreiben?«

»Selbstverständlich.«

Helga notierte alles, und Sabine erfuhr, dass ihre Patientin Innenarchitektin war, in Verden an der Aller lebte und in Oberlohe bei einer Freundin ihren Urlaub verbrachte.

Als Helga alles aufgenommen hatte, verabschiedete sie sich. »Ich gebe alles in den Computer ein, dann fahre ich nach Hause, wenn's recht ist, Frau Doktor.«

»Danke, Helga, und einen schönen restlichen Feierabend.«

Sabine setzte sich zu der Patientin und ließ sich ein wenig von ihrem Reiterurlaub erzählen, um sie von ihren Schmerzen und den Gedanken an die Folgen abzulenken.

»Ach, wissen Sie«, erklärte Beate Hoffmann, »ich bin schon zum zweiten Mal in Oberlohe. Man kann dort Pferde mieten oder sein eigenes unterstellen. Es ist eine wunderschöne Gegend, und die Reitwege sind einmalig«, schwärmte sie.

»Und? Haben Sie dort ein eigenes Pferd?«

»Nein, leider nicht, aber es wäre ein Traum von mir. Der Wotan gehört in den Stall, aber wenn ich dort Urlaub mache, kann ich ihn für die ganze Zeit mieten, da gewöhnt man sich aneinander.«

»Ich habe noch nie etwas von einem Reitstall in Oberlohe gehört.«

»Es gibt ihn auch noch nicht lange. Ich habe erfahren, dass Johannes Hegenbach seinen abgewirtschafteten Gutshof retten will und hofft, durch Reitunterricht und Pensionspferde etwas Geld zu verdienen, mit dem er dann nach und nach die Landwirtschaft wieder aufbauen kann.«

»Das wird schwer sein in der heutigen Zeit, wo so viele Bauern ihre Höfe aufgeben, weil sie einfach mit den Ausgaben, den Auflagen und den Bestimmungen nicht mehr zurechtkommen.«

»Ja, das ist schwer, der Hansi schuftet von früh bis spät, aber viel Erfolg hat er nicht. Er hat damals mit vier Reitpferden angefangen, inzwischen hat er zehn und ein paar Pensionspferde, darauf ist er schon richtig stolz.«

»Alles braucht seine Zeit, ich habe auch ganz klein angefangen, und es hat fast ein Jahr gedauert, bis ich sagen konnte: Jetzt läuft die Praxis.«

»Mir ist es genauso gegangen, man muss viel Geduld mitbringen, wenn man solche Phasen und den Beginn einer Selbstständigkeit überleben will.«

Sabine beobachtete, dass ihre Patientin wieder Schmerzen hatte. »Ich gebe Ihnen eine zweite Spritze gegen die Schmerzen, sobald wir den Krankenwagen hören. Dann überstehen Sie die Fahrt besser.«

Obwohl sie sich gern weiter mit der jungen Frau unterhalten hätte, vor allem, weil sie mehr über diesen attraktiven Mann erfahren wollte, verzichtete sie auf die weitere Unterhaltung. Es war schon seltsam, dass ein Mann sie derart beeindruckt hatte. So etwas war ihr einfach noch nie passiert, und dabei kannte sie eine ganze Menge netter, faszinierender Männer. Die Ärzte im Klinikum waren fast alle charmant und anziehend, abgesehen natürlich von ihrem Exverlobten, der sie mit einer Lernschwester betrogen hatte, und auch abgesehen von dem rundlichen, beinahe glatzköpfigen Jochen Bellmann, der gern mehr wollte als eine gute Freundschaft und inzwischen eine andere Frau gefunden und geheiratet hat. Es muss dieses Selbstbewusstsein gewesen sein, das dieser Mann ausstrahlte, überlegte sie, diese absolute Sicherheit im Auftreten, die Widersprüche von Anfang an ausschloss. Der Handkuss, mit dem er Frau Hoffmann verabschiedete, zeugt von Stil, dass er für mich nur ein Kopfnicken übrig hatte, zeugt von Nichtachtung. So eine Gemeinheit, dachte sie, wahrscheinlich behandelt er Menschen, die ihm Geld bringen, besser als solche, die Unkosten verursachen. Dabei berechne ich ihm doch nichts, die Kosten wird schon die Krankenkasse erstatten. Es sei denn, er wäre in irgendeiner Weise Schuld an dem Unfall, dann müsste er mit Unkosten rechnen. Aber dafür wird er ja wohl eine Haftpflichtversicherung haben. Und außerdem hat Frau Hoffmann alle Schuld auf sich genommen, erinnerte sie sich.

Draußen kam ein Wagen näher. Autoscheinwerfer bestrahlten die Straße, und das Blaulicht tauchte die kahlen Bäume in ein künstliches Licht. Helga hatte die Außenbeleuchtung angelassen, sodass der Wagen das Arzthaus sofort fand.

Zwei Sanitäter kamen durch den Vorgarten, als Sabine die Haustür öffnete. Sie hatten eine Trage dabei und stellten sich vor.

Sabine lächelte freundlich: »Wir haben Sie schon erwartet. Die Patientin liegt bei mir im Wohnzimmer, kommen Sie bitte mit.« Die beiden Männer begrüßten Beate Hoffmann, und Sabine bot ihnen Kaffee an, den sie dankbar tranken, während Sabine ihr das versprochene Schmerzmittel gab. »Es war ein langer Tag heute, da tut so ein Kaffee richtig gut.«

Als das Mittel erneut Wirkung zeigte, betteten sie die Patientin auf die Trage, und Sabine begleitete die drei bis zum Krankenwagen. Fünf Minuten später war der Wagen in der Dunkelheit verschwunden. Blaulicht funkte durch die Nacht, aber das Martinshorn ließen die Männer ausgeschaltet, um die Dorfbewohner nicht zu stören. Sabine löschte die Lampen, verschloss die Tür und ging müde zu Bett. Der Appetit auf das Abendessen war ihr vergangen. Sie sah noch immer den verletzten Fuß vor sich und dachte bei sich: Hoffentlich müssen sie ihn nicht amputieren.

Kapitel 2

Sabine lag lange wach in dieser Nacht. Sie dachte an die verletzte Frau, die vielleicht in diesen Minuten ihren Fuß verlor, wenn Jochen Bellmann nicht ein Wunder vollbrachte, sie dachte an Paul Albers, den Forstmeister, der ohne sie nicht leben konnte – das hatte er zumindest gesagt – und der nun schon wieder seit drei Tagen den Weg zu ihr nicht gefunden hatte, und sie dachte an den Reiter aus Oberlohe, der sie vollkommen aus dem Konzept gebracht hatte. Wie war das möglich? Wie konnte es geschehen, dass ein fremder Mann von einem Augenblick zum nächsten sie vollkommen verwirrte?

Obwohl sie ihn kaum angesehen hatte, um seinem intensiven Blick nicht zu begegnen, sah sie ihn jetzt sehr genau vor sich: die verstaubten, an den Innenseiten grau gescheuerten Reitstiefel, die engen braunen Reithosen mit den abgewetzten Lederbesätzen an den Knien, das braune Polohemd mit dem kleinen Monogramm von Pikeur, die ölgetränkte grüne Barbourjacke und das leicht zerzauste schwarze Haar – sein Bild war so deutlich, als stünde er in hellstem Tageslicht direkt vor ihr.

Verärgert drehte sich Sabine auf die andere Seite. Verflixt, dachte sie, warum spukt der Mann so permanent in meinem Kopf herum? Ich sollte an Paul denken, er ist der Mann, dem ich eine gemeinsame Zukunft versprochen habe, damals am Weihnachtsabend im verschneiten Wacholdergebüsch auf der Heidehöhe, als wir das Mufflonwild beobachteten. Von ihm sollte ich träumen. Aber selbst wenn ich mich bemühe, sein Bild verschwimmt immer wieder vor meinen Augen. Woran zum Teufel liegt das? Machst du dich zu rar, mein lieber Paul, vermeidest du immer noch Gefühlsausbrüche? Wir lieben uns doch. Aber wie lange hält eine Liebe, wenn sie nicht gepflegt wird?

Wütend drehte sich Sabine auf den Bauch und schlug mit der Hand auf das Kopfkissen. Himmel, Paul, warum bist du so introvertiert, warum fällt es dir so schwer, Liebe zu zeigen? Wie soll das denn weitergehen mit uns, wenn du so verschlossen bist?

Es wurde schon hell, als Sabine endlich einschlief. Sie träumte von Ronca, ihrer Setterhündin, die ihr Jochem Bellmann, ihr Freund und Kollege, vor einem Jahr geschenkt hatte. »Ronca soll dich hier in der verlassenen Heidegegend bewachen«, hatte er gesagt und ihr das kleine, feuchte Hundebündel in den Arm gedrückt. Plötzlich war Sabine hellwach. Wo ist Ronca? Sie rief nach dem Hund, der nachts auf ihrem Bettvorleger schlief, aber nichts rührte sich. Erschrocken stand sie auf. Habe ich sie gestern Abend etwa ausgesperrt? Aber dann hätte sie doch protestiert und so lange gebellt, bis ich sie hereingelassen hätte.

»Ronca?«, rief sie noch einmal, aber alles blieb still. Sie zog sich hastig an und lief nach unten. Aber weder vor der Haustür noch vor der Hintertür wartete der Hund. Wann und wo habe ich sie zum letzten Mal gesehen?, überlegte sie und lief in die Praxisräume, die für den Hund tabu waren. Aber Ronca war weder im Haus noch im Garten, und auch auf der Straße war sie nicht zu sehen.

Es war kurz nach sieben. Die Sonne war aufgegangen, und es versprach ein schöner Tag zu werden. Die Haustür wurde geöffnet, und Lotti kam herein. Besorgt rief Sabine ihr zu: »Haben Sie Ronca unterwegs gesehen? Ich vermisse sie.«

Lotti schüttelte den Kopf und stellte ihre Einkaufstaschen ab. »Nein, mir ist sie nicht begegnet. Ich war beim Fleischer und beim Bäcker und gegenüber bei der Leni, weil wir frischen Honig brauchen, aber Ronca habe ich nicht gesehen. Vielleicht stromert sie in der Heide herum?«

Wenig später rief Lotti aus der Küche: »Ihr Futter von gestern Abend steht auch noch hier. Sie hat nichts angerührt.«

Sabine folgte ihr in die Küche. »Das kann nicht sein. Ronca lässt nie ihr Futter stehen.«

»Es sei denn, sie ist schon vorher weggelaufen.«

»Aber wann und wohin?« Die beiden Frauen überlegten. »Wann haben wir sie zuletzt gesehen?«

»Kurz vor dem Abendessen kam doch dieser Mann mit der verletzten Frau, da war sie schon weg, sonst hätte sie bestimmt gebellt, weil sie die Leute nicht kannte.«

»Stimmt. Während der Praxiszeit ist sie immer im privaten Teil des Hauses, damit sie die Patienten nicht anbellt, aber die Praxis war schon geschlossen, als er kam. Und später hatte ich die fremden Leute sogar im Wohnzimmer, da hätte sie sich bestimmt bemerkbar gemacht.«

»Aber sie ist noch nie fortgelaufen.«

»Vielleicht ist sie einem Hasen gefolgt, oder sie hat einen Fasan im Garten aufgestöbert. Sie ist schließlich ein Jagdhund.«

Lotti nickte. »Wir sollten den Forstmeister anrufen.«

»Er hätte sich bestimmt gemeldet, wenn er Ronca gesehen hätte.«

»Trotzdem.«

»Na gut, ich rufe an.«

Draußen ging die Haustür. Helga kam, um die Praxis für die ersten Patienten zu öffnen. Auch sie hatte den Hund nicht gesehen. Das Wartezimmer füllte sich.

»Ich rufe beim Forstmeister an«, erklärte Lotti der Ärztin. »Sie müssen wenigstens eine Tasse Kaffee trinken, bevor Sie mit der Arbeit anfangen.«

Aber während Lotti zum Hörer griff und Sabine ihren weißen Kittel anzog, läutete es an der Privatklingel des Hauses. Da Sabine der Haustür am nächsten war, öffnete sie. Draußen stand Johannes Hegenbach und hielt eine fröhlich mit der Rute wedelnde Ronca an einem Stück Bindfaden fest.

Konsterniert starrte Sabine Mann und Hund an. »Aber ... wie kommen Sie und der Hund ... mein Gott, ist Ronca ...«, stotterte sie. Dann bückte sie sich und umarmte ihren Hund. »Wo warst du bloß, wie kannst du mich so erschrecken?«, flüsterte sie und löste den Bindfaden vom Halsband. Dann erst sah sie den Mann an. »Entschuldigen Sie, ich habe mir solche Sorgen gemacht, Ronca ist noch nie fortgelaufen. Wo war sie denn? Wo haben Sie sie gefunden?«

»Sie lief heute Morgen zusammen mit meinem Hund auf unserem Hof herum. Ich kann mir nur vorstellen, dass sie gestern Abend zu meinem Rex auf den Laster gesprungen und mit uns gefahren ist. In der Dunkelheit habe ich nicht bemerkt, dass ich zwei Hunde hinten auf dem Wagen hatte.«

»Du dummer Hund«, versuchte Sabine zu schimpfen, aber die Freude über das Wiedersehen war zu groß, und das merkte Ronca ganz genau und sprang freudig um Sabine herum.

»Zum Glück hatte Ihre Hündin Namen und Adresse am Halsband eingraviert, da habe ich gewusst, wohin sie gehört.«

»Danke! Ich danke Ihnen vielmals«, stammelte Sabine und folgte dann dem Gebot der Höflichkeit: »Möchten Sie hereinkommen? Der Kaffee ist gerade fertig. Frische Brötchen sind auch da. Ich selbst muss jetzt leider in die Praxis.«

»Danke, nein, ich muss auch weiter. Wissen Sie schon etwas über Frau Hoffmann?«

»Nein, so früh würde ich in der Klink noch keine Auskunft bekommen. Ich rufe später dort an.«

»Ja, das wäre gut, werden Sie mich informieren, wie es ihr geht? Hier ist meine Karte.«

»Ja, natürlich.« Sie nahm die Karte und streckte ihm zur Verabschiedung die Hand entgegen. Als er sie nahm und mit seiner großen kräftigen Hand drückte, erfasste Sabine wieder dieses ungewollte Unbehagen, das zur Lähmung der Beine und zu einer Gänsehaut am ganzen Körper führte und beinahe auch ihre Stimme verschluckt hätte. Leicht errötet flüchtete sie in ihre Praxis und sah vom Fenster aus, wie er in seinen klapprigen Laster stieg, den Motor anließ und abfuhr.

»Himmel, was für ein Mann!«, dachte sie und bat die Assistentin, den ersten Patienten hereinzuholen.

Sabine widmete sich mit dem üblichen Eifer und mit gewohnter Sorgfalt ihrer Arbeit. Sie verbot sich die Gedanken an diesen unerwarteten Besuch und wechselte Verbände, horchte Lungen ab und maß den Blutdruck. Erst in der Mittagspause gestattete sie sich einen Gedanken an den Morgen. Nicht nur der fremde Mann war ihr ein Rätsel, sondern vor allem ihre Reaktion auf ihn. Seine Ausstrahlung hatte eine Kraft, die ihr gefährlich werden konnte, das spürte sie sehr genau. Selbst in seiner Arbeitskleidung gab er sich durch und durch als Gentleman. Seine Sprache war perfekt, und obwohl er kaum gesprochen hatte, waren die wenigen Worte genau platziert und von einem tiefen, beruhigenden Klang. Und dennoch, dachte Sabine, unter dem beruhigenden Ton gibt es etwas Gefährliches, etwas Geheimnisvolles mit einer beängstigenden Anziehungskraft.

Sabine sah nachdenklich aus dem Fenster, dorthin, wo vor Stunden dieser kleine Lastwagen gestanden hatte und dann fortgefahren war. Es war die Selbstsicherheit, die er ausstrahlte und die sie nicht fassen konnte. Und weil sie damit nicht zurechtkam, entschied sie sich, ihn nicht zu mögen. Überragende Personen hatte sie noch nie gemocht. Das fing bei ihrem Vater an, der eine charismatische Persönlichkeit gewesen war, aber zu dem sie trotzdem keine gute Beziehung gehabt hatte, ging über zu überheblichen maskulinen Professoren, die zum Glück sehr selten waren, und reichte nun bis zu diesem Mann, der sie rundum lähmte.

Mittags rief Sabine im Unfallklinikum Großbresenbek an und sprach mit Jochen Bellmann. »Wie geht es Beate Hoffmann? Könnt ihr den Fuß retten?«

Bellmann, bei dem Stress in der Unfallklinik wie immer von hektischer Unruhe gepackt, war etwas atemlos, als er ans Telefon kam. »Hallo, Sabine, du hast gute Vorarbeit geleistet. Wir werden den Fuß retten können, wenn keine Infektionen hinzukommen. Aber er sieht grässlich aus.«

»Was wirst du machen?«

»Ich werde versuchen, die Zehen zu rekonstruieren, damit sie vernünftig laufen kann, aber ein hübscher Fuß wird das nie wieder.«

»Frau Hoffmann wird froh sein, überhaupt laufen zu können.«

»Jetzt schon, aber irgendwann wird sie sich schämen, diesen Fuß zu zeigen. Und dabei ist sie doch noch so jung.«

»Sie war leichtsinnig. Das weiß sie genau.«

»Natürlich, aber dieser kleine Leichtsinn wird ihr ein ganzes Leben lang Schmerzen und Scham bereiten.«

»Ja, das ist wirklich grausam.«

»Aber sag mal, Sabine, hat sie eigentlich niemanden, der sich um sie kümmert? Sie wartet auf eine Freundin, die ihr Kleidung und Kosmetika und die Handtasche aus dem Pferdestall bringen sollte. Aber hier meldet sich niemand.«

»Das weiß ich nicht. Sie hatte auch mir gegenüber etwas von einer Freundin erwähnt, bei der sie zurzeit Urlaub macht.«

»Hm, wir brauchen natürlich ihren Personalausweis, ihre Versicherungskarte, die Anschrift von Angehörigen, denn wir müssen die Frau mehr als einmal unter Vollnarkose operieren, da müssen wir doch wissen, um wen es sich handelt und wen wir eventuell benachrichtigen müssen – du weißt schon, was ich meine.«

»Ja, natürlich. Aber ich kenne nur den Reitstallbesitzer, der sie hergebracht hat. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Bitte setze dich mit dem Mann in Verbindung, vielleicht weiß der, wo diese Freundin ist. Wir konnten unter der Handynummer, die Frau Hoffmann uns gegeben hat, niemanden erreichen.«

»Ich werde es versuchen. Wenn ich etwas erfahre, rufe ich dich an.«

»Danke. Und, Sabine, wie geht es dir?«

»Gut, Jochen, ich habe viel zu tun, aber das wollte ich ja auch.«

»Dann haben dich die Heidebauern also endgültig akzeptiert?«

»Ja, soweit sie hier sind. Aber die meisten sind als Saisonarbeiter unterwegs und haben ihre kleinen, unergiebigen Höfe geschlossen, das weißt du ja.«

»Und wer sind deine Patienten?«

»Die Alten, die nicht wissen, wohin, und auf den Höfen leben müssen, weil sie ihre Dörfer nicht mehr verlassen können, und die jungen Leute, die keine Arbeit in der Stadt und in der Umgebung finden. Und natürlich die Frauen und Kinder, die ihre Männer und Väter nicht zur Saisonarbeit begleiten können. Dann sind da noch die Waldarbeiter, ein paar Kinder aus einem Heim, die wenigen Bauern, die es noch gibt, und die Angestellten in den Gemeindeämtern und in den größeren Betrieben. Ich meine damit die Gasthäuser, die Mühle, die Reitanlage in Immenburg, und ab und zu kommt auch mal jemand vom Schloss und braucht Hilfe.«

»Eine interessante Mischung.«

Hörte sie Ironie in der Stimme und eine winzige Geringschätzung? »Du weißt, Jochen, dass ich diese Art von Arbeit wollte. Außerdem gibt es genug durch die Sozialstationen und die Schulen zu tun.«

»Ich weiß, ich weiß, ich hoffe ja nur, dass es dir bei allem auch wirklich gut geht.«

»Danke, Jochen, ich bin zufrieden, und wer kann das schon von sich sagen?«

»Da hast du recht. Und nun versuche bitte, den Reitlehrer zu erreichen, damit wir mit den Personalien von Beate Hoffmann weiterkommen.«

Aber als Sabine in Oberlohe anrief, wurde ihr gesagt, dass Johannes Hegenbach am Vormittag mit einer Reitergruppe zu einem mehrtägigen Wanderritt aufgebrochen sei. Seine Handynummer sei im Stall nur seinem Vertreter bekannt, und der gebe zurzeit einer Gruppe behinderter Kinder Reitunterricht und dürfe nicht gestört werden. Sie solle abends noch einmal versuchen, ihn zu erreichen.

m späten Nachmittag, Sabine hatte gerade die letzten Patienten verabschiedet, hörte sie, dass Caspar Winkler hinter dem Haus seine Schafherde vorbeitrieb. Sabine, die, immer wenn er kam, den Schäfer der Samtgemeinde begrüßte, weil er ein Freund geworden war und sie von Anfang an in vielen ihr unbekannten Gebräuchen beraten hatte, lief auch heute wieder hinaus, um ihn zu begrüßen.

»Hallo, Schäfer«, winkte sie ihn herbei, »komm auf einen Wacholderschnaps herein.«

»Danke, Doktor, aber ich muss mich beeilen, es wird schon dunkel, und die Schafe drängen in ihren Stall.«

»Dann warte zwei Minuten, ich hole die Flasche heraus. Ich habe ein paar Probleme, und einen guten Schluck kann ich auch gebrauchen.« Sie lief ins Haus zurück, und der Schäfer gab seinen Hunden ein paar Kommandos, sodass sie die Herde einkreisten und zum Stillstehen zwangen.

»Was gibt's, Doktor, seit wann hast du Probleme?«

Vorsichtig füllte Sabine die kleinen Gläser. »Ach, es gab einen Unfall, und es gab einen Mann, der mich beunruhigt, und ein Problem mit dem Paul, der sich nicht sehen lässt.«

»Doktor, das sind ja 'ne ganze Menge Probleme, die du hast.«

»Ja, und außer dir hab' ich keinen, der mir bei der Lösung helfen könnte.«

»Dann komme ich nachher vorbei. Oder ist es dann schon zu spät?«

»Nein, komm' nur, ich warte mit dem Abendessen auf dich.«

Kapitel 3

Sabine kam ins Haus zurück und bat Lotti, ein Abendessen für zwei Personen zuzubereiten. Lotti, die immer sehr froh war, wenn einmal Gäste ins Haus kamen und diese die tägliche Routine unterbrachen, bei der Sabine selten Besonderheiten erwartete, war mit Begeisterung dabei. »Kommt der Schäfer zum Essen?«

»Ja, ich möchte mit ihm einiges besprechen, und ein paar Fragen habe ich auch.«

»Das ist recht so. Der Caspar weiß im Dorf Bescheid. Er tratscht nicht wie die alten Weiber, aber er kennt sich aus.«

Sabine lachte. »Ja, da haben Sie recht, und er hat mir schon manchmal die Augen geöffnet, wenn ich nicht weiterwusste.«

»Er ist halt ein echter Heidjer und hier groß geworden. Deshalb vertrauen ihm die Bauern auch immer wieder ihre Schafe an.«

»Warum ›immer wieder‹?«

»Na ja, wenn der Winter beginnt, nehmen sie ihre Schafe in die eigenen Ställe, die heizen dort ganz schön ein, und das Geflügel oder die Schweine haben warme Unterkünfte. Aber wenn der Frühling kommt, sind sie froh, die Schafe beim Schäfer zu wissen.«

»Dann hat er im Winter Ferien?«

»Nein, Frau Doktor, wo denken Sie hin. Er hat doch die Herde von der Samtgemeinde, also von den vier Dörfern. Die brauchen die Gemeinden, damit die Heide kurz gehalten wird. Und um die Schafe muss er sich im Winter besonders kümmern. Die müssen gefüttert und der Stall muss ausgemistet werden, und nur bei gutem Wetter kommen sie ins Gehege. Da gibt's mehr zu tun als im Sommer, wo sie sich ihr Futter selbst suchen.«

»Ja, Sie haben recht, ich hatte die Stallarbeit vergessen. Dann wird er ja froh sein, dass er jetzt wieder unterwegs ist.«

»Das ist er. Und wenn er dann so nett eingeladen wird, dann macht's ihm noch mal so viel Spaß.« Lotti grinste. »Er weiß schon, wo er ab und zu mal vorbeiziehen muss mit seiner Herde.«

»Stimmt, Lotti, aber er hat mir schon so manchen guten Rat gegeben, ich bin froh, ihn hin und wieder zu treffen.«

Sabine ging nach oben, um zu duschen und sich umzuziehen. Sie war froh, das alte, leer stehende Arzthaus damals, als sie hier in Auendorf anfing, gekauft und renoviert zu haben. Es war zu einem behaglichen und bequemen Zuhause für sie geworden.

Draußen war es inzwischen dunkel, und Sabine freute sich, dass Lotti in der Wohnhalle Feuer im Kamin gemacht hatte.

Die flackernden Flammen färbten die Dielenbretter und die Deckenbalken in warme Goldfarben und sorgten für eine gemütliche Atmosphäre.

Aber Feierabend hatte Sabine noch nicht. Sie musste mit dem Reitlehrer in Oberlohe telefonieren und danach Jochen Bellmann anrufen. Der gute Jochen, dachte sie, er war mein Lehrmeister im Klinikum und hat mir am Anfang aus so mancher Schwierigkeit geholfen, und dann ist er zu einem wunderbaren Freund geworden. Eigentlich wollte er ja mehr – sie lächelte bei dem Gedanken an die schwierigen Momente, in denen sie ihm begreiflich machen musste, dass er nicht der Mann war, den sie sich erträumte. Er war einfach nicht ihr Typ.

Zornig runzelte Sabine die Stirn. Stattdessen habe ich mich in den attraktivsten Arzt der Klinik verliebt und totalen Schiffbruch erlitten. Eine Woche vor der Hochzeit mit diesem Don Juan habe ich ihn mit einer Lernschwester in flagranti erwischt. Tja, das war dann das Ende meiner Arbeit in Großbresenbek, ich wollte nicht zum Gespött der anderen werden, habe die Konsequenzen gezogen und mich hier selbstständig gemacht. Landärztin zu werden war schon immer mein Wunsch, jetzt habe ich ihn mir hier erfüllt.

Sie griff zu ihrem Telefonbuch und rief in Oberlohe an. Aber der stellvertretende Reitlehrer war noch immer beim Unterricht, und auch Doktor Bellmann konnte sie nicht erreichen. Ich muss es später noch einmal versuchen, dachte sie genervt und ging zu Lotti in die Küche, wo es wundervoll duftete.

»Was kochen Sie? Es riecht sehr verführerisch.«

Lotti nickte. »Vergessen Sie nicht, Frau Doktor, dass der Caspar auch mein Freund ist. Und wenn er im Dorf erzählt, dass er hier gegessen hat, dann wollen die Leute natürlich wissen, was ich aufgetischt habe. Da kann ich mich doch nicht blamieren.«

»Also, Lotti, was gibt es?«

»Wildschweinpastete mit Kräuterbutter und Preiselbeeren.«

»Jetzt? Um diese Jahreszeit?«

»Frau Doktor, Sie haben eine große Tiefkühltruhe, da ist alles zu jeder Zeit möglich.«

»Wunderbar. Dann werde ich den passenden Wein heraussuchen. Roten, nicht wahr?«

»Zu Wild immer, Frau Doktor.«

Sabine freute sich. Sie wusste natürlich, welchen Wein sie zu welchem Essen servieren musste, aber Lotti war so glücklich, wenn sie um Rat gefragt wurde, dass Sabine immer wieder die Unwissende spielte, um Lotti einen Gefallen zu tun. Sie hatte wirklich Glück mit dieser Haushälterin, die morgens kam und abends ging, auf ihrem eigenen kleinen Hof lebte und ihre fast erwachsenen Kinder versorgte, während der Mann als Saisonarbeiter auf großen Landgütern in Mecklenburg arbeitete und selten von seinem Lohn etwas mit nach Hause brachte.

»Gibt's denn auch eine Vorspeise und einen Nachtisch, Lotti?«

»Selbstverständlich. Vorneweg habe ich an eine Suppe mit grünen Schwemmklößchen gedacht, Sie wissen doch, der Schäfer hat's gern deftig, und zum Abschluss gibt's ein Eis mit Kirschwasser. Danach schmeckt der Kaffee dann besonders gut.«

»Na, bravo, Lotti, da haben Sie den Übergang zum gemütlichen Abend ja bestens eingeleitet. Aber wieso sind es grüne Schwemmklößchen?«

»Na, weil Spinat da drin ist.«

»Ach so, ja, natürlich, Spinat. Auch aus der Tiefkühltruhe?«

»Selbstverständlich.«

Sabine deckte den Tisch in der Essecke der Wohnhalle. Eine bunt karierte Leinendecke mit passenden Servietten, das Besteck mit den Holzgriffen, das Steingutgeschirr aus Dänemark und die Gläser, die sie auf einem Weihnachtsmarkt in Altenmedingen erstanden hatte, rundeten das Bild ab. Passend zum Essen sollte der Tisch rustikal und gemütlich aussehen. Sie wusste, was der Schäfer mochte, denn trotz seiner ländlichen Arbeit war er ein kluger Mann, der durchaus Sinn für die Feinheiten des Lebens besaß. Das hatte Sabine an seiner Beziehung zu Henriette erlebt. Die schwedische Heilerin, die seit vielen Jahren in einer einsamen Hütte am Schlehenweg wohnte und die Bauern mit natürlichen Heilmitteln versorgte, wenn sie sich scheuten, den Doktor aufzusuchen, war eine durch und durch gebildete Frau. Und diese beiden, der Schäfer und die Heilerin, hatten eines Tages der neuen Ärztin ihre Freundschaft angeboten und ihr Geheimnis anvertraut: die heimliche Beziehung und die gemeinsame Tochter Luuva.

Sabine stellte eine dicke Stumpenkerze aus Bienenwachs auf den Tisch und zündete sie an. Schnell verbreitete sich ihr angenehmer Duft im ganzen Raum. Als Ronca unruhig wurde und zur Tür lief, hörte sie, dass der Schäfer sein Fahrrad in den Carport schob. Sie öffnete die Haustür, Ronca stürzte begeistert über den wohl bekannten Besuch nach draußen, und Sabine sah den Schäfer im Licht der Hauslaterne näher kommen.

Fein hat er sich gemacht, dachte sie. Der Lodenanzug sitzt noch immer wie angegossen, und dem Mann sieht man die fünfundfünfzig Jahre weiß Gott nicht an. Kein Wunder, dass Henriette Gefallen an ihm findet.

»Hallo, Schäfer, schön, dass du da bist.« Sie begrüßten sich mit einer kleinen Umarmung, und Sabine bat ihn herein.

»Danke für die Einladung. Hier riecht es außerordentlich verführerisch, Doktor.«

»Ja, Lotti hat sich große Mühe gegeben.«

»Das dachte ich mir. Ich habe ihr ein Glas Holundergelee mitgebracht, den mag sie sehr, das weiß ich von früher.«

Lotti stand in der Küchentür und trocknete sich die Hände an der Schürze ab. »Danke, Caspar, du bist ein Schatz.« Und zu der Ärztin gewandt: »Frau Doktor, ich gehe jetzt, es ist alles fertig, Sie brauchen das Essen nur noch aufzutragen.« Sie wusste, dass die Ärztin sich mit dem Schäfer unterhalten wollte, und dabei hatte sie nichts zu suchen. Außerdem musste sie heim, auf ihrem Hof wartete schließlich auch noch Arbeit auf sie.

Das Essen war vorzüglich, aber während der Mahlzeit wollte Sabine nicht von ihren Problemen anfangen. Später aber, als sie beide vor dem Kamin Platz genommen hatten, konnte sie nicht länger an sich halten.