Sexy Versager

Inhaltsverzeichnis

 

1. Die Abenteuer von Bengalo Stutenknaller

2. Brötchen verdienen

3. Jute Jecken

4. Wettsaufen

5. Äh …

6. Reue, zu spät

7. Party!

8. Schlechter Sex

9. Mehr schlechter Sex

10. Gemeinsam

11. Oscar

12. Notruf

13. Wettrennen

14. Gute Taten

15. Romantik

16. Ein schwerer Gang

17. Sonntagsessen

18. Böller bauen

19. Kallenbroich

20. Spazierengehen

21. Märzen-Anstich

22. Nachwirkungen

23. Aufwärts

24. Mareks neues Leben

25. Drei Worte

26. Friedlich

Impressum

 

Sexy Versager

Text Copyright © 2016 Regina Mars

Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.

Regina Mars

c/o

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Alle Rechte vorbehalten

 

Umschlagbild und Umschlaggestaltung: Regina Haselhorst

Illustration Copyright © Regina Haselhorst

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1. Die Abenteuer von Bengalo Stutenknaller

 

»Junge, jetzt sei doch mal fröhlich.«

»Nein.«

Ben versuchte, mit der rechten Hand das Zigarettenpapier aus der winzigen Box zu ziehen, während er mit der linken sein Handy ans Ohr hielt. Klappte nicht. Also klemmte er das Ding zwischen Schulter und Kopf, eine Haltung, die nicht nur wehtat, sondern auch so wackelig war, dass das Display schon drei Sprünge davongetragen hatte.

Immerhin konnte er so Tabak aus der Packung rupfen. Die blaue Packung mit dem Foto, das er beim ersten Hinsehen für den Arsch einer Kuh gehalten hatte, die gerade furzte. Aber bei genauerer Betrachtung erkannte er es: Das schwarze Loch in der Mitte saß im faltigen Hals eines alten Mannes, nicht in einem Kuhhintern. »Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit«, las er. Und anscheinend verursachte es Halslöcher.

»Junge, hörst du mir überhaupt zu?«

Was?

»Ja klar, Mutti.«

»Nein, tust du nicht.« Sie klang todunglücklich. Wie immer, wenn sie mit ihm sprach. »Und du wirst nie auf mich hören. Du … dir ist ja egal, dass du uns hier zurücklässt. Ganz allein bin ich. Aber das stört den feinen Herrn ja nicht.«

»Wieso allein?«, knurrte Ben. »Andreas und Carolin wohnen doch noch bei euch und …«

»Carolin hat morgen einen Auftritt!« Mit einem Mal war seine Mutter wieder heiter wie ein Sommertag. »Hast du gehört? Im Gemeindehaus, mit der ganzen Truppe. Wir gehen alle hin. Willst du nicht auch kommen? Du hast es ja nicht so weit. Und an Karneval kannst du dir doch frei nehmen.«

»Mutti, bis Kallenbroich brauch ich sechs Stunden. Minimum.«

»Du hättest ja nicht so weit wegziehen brauchen«, zischte sie. »Du hattest doch alles hier: deine Eltern, deine Geschwister, deine Freunde … na, Freunde nicht, aber wenigstens Bekannte. Hättest nur ein bisschen glücklicher sein müssen, dann hättest du dich auch wohler gefühlt …«

Bens Gedanken schweiften ab. Er wusste eh, was jetzt kam: Ein Vortrag darüber, was für eine dumme Idee es gewesen war, nach Hamburg zu ziehen. Dass in der Heimat alles besser war. Dass er verdammt nochmal endlich ein bisschen lachen sollte, weil seine Mutter nicht glücklich sein konnte, wenn eines ihrer Kinder unglücklich war.

Er wusste ja auch nicht, was mit ihm nicht stimmte. Resigniert zündete er die schief gedrehte, murkelige Zigarette an und betrachtete sich in den beiden ausgeschalteten Bildschirmen: zu mager, zu mürrisch, zu blass. Die schwarzen Haare waren ungeschnitten und der graue Pullover hing von seinen knochigen Schultern wie ein leerer Mehlsack. Immerhin war er jung, was ihm in Hamburg ein paar Dates eingebracht hatte. Aber sobald die Kerle herausfanden, was er sonst noch für Probleme hatte, meldeten die sich auch kein zweites Mal.

Ben seufzte und nahm einen tiefen Zug. Wenn er aussähe wie dieser dämliche Marek aus seinem Studiengang, würden sich die Männer um ihn reißen, das war klar. Nur wollte er nicht aussehen wie der. Wie ein geleckter Anwaltssohn oder so. Immer gebügelt und geschniegelt und …

»… weiß auch nicht, was mit dir los ist, Junge«, sagte seine Mutter gerade. Ihre Stimme wurde immer schriller. »Du machst das doch mit Absicht! Du … du willst mich doch unglücklich machen!«

»Will ich nicht, Mutti«, murmelte Ben. »Mach ich nur irgendwie.«

»Ach, hör doch auf! Wenn du dir einmal Mühe geben würdest … Wenn du einmal versuchen würdest, ein glücklicher Mensch zu sein und die Sonne in dein Herz zu lassen …« Sie wurde poetisch, ein sicheres Zeichen dafür, dass das Gespräch gleich beendet sein würde. Ben wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Also rauchte er. »Ach, du hörst ja doch nicht. Du willst gar nicht hören! Ich … ich lege jetzt auf.«

»Mach's gut, Mutti.«

Ben hörte ein Klicken und fühlte sich ungefähr fünfhundert Kilo schwerer. Dabei wog er nicht mal siebzig. Bei starkem Wind hatte er Probleme, sich auf dem Bürgersteig zu halten und Hamburg war verdammt windig.

Aber das sonntägliche Telefonat mit seiner Mutter hatte immer diese Wirkung auf ihn. Diese beschwerende Wirkung. Als wären ihre Worte Blei, die durch sein Ohr krochen und sich in seiner Brust festsetzten. Mist, jetzt wurde er poetisch. Das konnte kein gutes Zeichen sein.

Ben erhob sich von seinem Schreibtischstuhl. Verlangend sah er auf die ausgeschalteten Bildschirme. War noch Zeit … Nein, war nicht. Er musste los, zur Arbeit. Sonntagszulage und so. Jetzt, wo die Klausurphase vorbei war, musste er sich um seine Finanzen kümmern. Seine wirklich sehr trostlosen Finanzen.

»Benni!« Nora klopfte an die Tür, die er wohlweislich abgeschlossen hatte. »Benniii!«

Aus dem Klopfen wurde ein Hämmern. Er drehte den Schlüssel im Schloss und riss die Tür auf.

»Was?«, blaffte er.

»Benniii!« Seine Mitbewohnerin strahlte ihn an. In ihren perfekt manikürten Händen hielt sie ein DVD-Cover. »Heute Filmabend? Bitteee!«

Ben sah auf das Cover. »Ein Mann zum Wegwerfen«, las er. Vorne drauf eine strahlende Blondine und ein verwirrt guckender Kerl mit dunklen Haaren.

»Ist das wieder so eine romantische Komödie?«

»Ja, klar«, schrillte sie. »Was ist? Filmabend? Nur ich und mein schwuler bester Freund.«

»Ich muss arbeiten.« Ben marschierte an ihr vorbei, ihre Proteste überhörend.

Schwuler bester Freund. Von wegen. Aus irgendeinem Grund glaubte sie, er hätte Interesse daran, mit ihr Mädchenfilme zu gucken und dabei rosa Marshmallow-Kekse zu futtern. Eine grobe Fehleinschätzung. Na ja, so hatte er wenigstens ein WG-Zimmer bekommen.

»Aber Benni, du arbeitest viel zu viel. Du musst mal entspannen.« Sie lachte.

»Keine Zeit«, knurrte er. »Muss die Miete zahlen. Essen kaufen. Überleben und so.«

»Aber du musst doch … Oh, übrigens, hattest du mal wieder ein Date?« Sie zwinkerte und wackelte aus irgendeinem Grund mit den Hüften.

»Nein.«

Fast hätte er es aus der Tür geschafft, als Rudi vor ihm auftauchte.

»Kein Date?« Rudis speckiges Gesicht verwandelte sich in eine lachende Buddha-Fratze. »Kein Problem, Dr. Love kann dir helfen. Gib mal her.«

Schon hatte er sich Bens Handy geschnappt, das er immer noch in der Hand hielt. Dr. Love?

»Wie heißt diese Dating-App nochmal? Weißt du, das Wichtigste ist ein guter Name. Du heißt da bestimmt nur Ben oder so … aber du brauchst einen richtigen Hammer-Namen. He, Hammer wäre schon mal gut. Hammerhengst oder Mr. Schwanzlurch oder … Ich hab's! Stutenknaller.«

»Gib das her!« Ben riss ihm sein Handy aus den Pfoten. »Ich muss zur Arbeit. Wenn ihr euch so für Dates interessiert, dann versucht doch mal selbst welche zu kriegen.«

»Ich … ich hab Dates«, sagte Nora. Ihr Ausdruck schwankte zwischen verwirrt und traurig. Ben wusste, dass er nicht weiterreden sollte, aber er konnte sich nicht zurückhalten.

»Ja, super. Aber mit was für Typen? Der Letzte hat unsere Kaffeemaschine mitgehen lassen, verdammt. Und der davor hatte eine Frau, zwei Kinder UND noch eine Geliebte. Denk vielleicht einmal nach, bevor du einfach den Erstbesten von der Straße hereinschleppst.«

»Aber …« Sie verstummte.

Rudi war eh ruhig. In dem halben Jahr, in dem sie zusammenwohnten, hatte Ben ihn weder mit einer Frau noch mit einem Mann gesehen. Ben hatte keine Ahnung, worauf Rudi eigentlich stand. Darauf, sich in seins und Noras Liebesleben einzumischen anscheinend.

»Und jetzt lasst mich in Ruhe, ihr Nervensägen!« Ben warf die Tür hinter sich zu.

Warum zur Hölle griffen die beiden ständig in sein Leben ein? Nora mit ihren romantischen Filmabenden, zu denen sie immer nur ihn einlud und nie Rudi, »weil der nichts davon versteht. Nicht wie wir beide.«.

Und Rudi, der zu jedem Thema alles besser wusste. Letztens hatte er Ben eine Viertelstunde lang mit Diättipps zugeschwallt, obwohl Ben nicht zu dick, sondern viel zu mager war und Rudi selbst fast seine XXL-Hemden sprengte. Und zwar nicht aufgrund seiner Muskelmasse.

Ben trat auf die dreckige Straße hinaus und hatte mit einem Mal ein schlechtes Gewissen. Ein schrottreifes Auto tuckerte vorbei. Der Wind trieb eine schmierige Plastiktüte vor seine schwarzen Stiefel und die Jugendlichen, die an der Bushaltestelle herumlungerten, warfen ihm abschätzige Blicke zu.

Hatte er seine Mitbewohner beleidigt? Klar waren die komisch, aber … das war er ja auch. Und er fühlte sich eh ständig wie ein Spinner. Also warum warf er anderen Leuten vor, dass sie sich seltsam benahmen?

Er würde mit Nora diesen blöden Film schauen. Demnächst. Ganz bestimmt. Vielleicht. Doch, würde er. Egal, wie tränenreich sie seufzte, sobald der depperte Held zum Flughafen losrannte, um seine Geliebte aufzuhalten … Konnte er Rudi irgendwie dazu bringen, das Elend mit ihm zu teilen?

Ben knurrte leise, dann öffnete er GaymeboysHamburg, die Dating-App, durch die er den letzten katastrophalen Kerl kennengelernt hatte. Nach kurzem Zögern änderte er seinen Namen in »Bengalo Stutenknaller«.

»Warum auch nicht«, murmelte er.

Knapp wich er einem senffarbenen Haufen Hundescheiße aus. Das hatte er schnell gelernt, als er hergezogen war. Wenn er jetzt noch lernte, mit dem Dreck, dem Lärm, der Kälte, den unfreundlichen Leuten und dem immer bewölkten Himmel klarzukommen, war alles gut.

Dann geh doch zurück nach Kallenbroich, flüsterte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Da hattest du das alles nicht und fandest es trotzdem scheiße. Wahrscheinlich hat Mutti recht und du willst einfach unglücklich sein.

Wollte er das? Seit Jahren war er entweder frustriert oder wütend. Er hatte gehofft, dass sich etwas ändern würde, wenn er nach Hamburg zog. In eine richtige Großstadt. Endlich ein Studium beginnen, weg von zuhause, hier, wo ihn keiner kannte. Endlich nicht mehr verheimlichen, dass er auf Männer stand, so, wie er das in der Heimat getan hatte. Nicht, dass ihm das irgendwelche Probleme erspart hätte.

Na, schmeckt's, du Freak?, hörte er eine zweite Stimme in seinem Kopf. Dennis Alfred. Sein geliebter Klassenkamerad, der ihm den Arm verdreht und ihn gezwungen hatte, Schafsköttel zu essen. Mehrfach. Von der siebten bis zur neunten Klasse. Und alle Freunde von Dennis hatten zugeschaut und gelacht.

Mit einem Mal kam ihm die graue Straße unter dem grauen Himmel gar nicht mehr so trüb vor. Im Vergleich zu Dennis Alfred war alles harmlos. Selbst diese zugeschissene, unfreundliche Stadt.

Niemand hatte ihm geglaubt, dass Dennis ihn quälte. Niemand glaubte dem seltsamen mageren Bürschchen, das nicht Fußball spielen konnte. Nicht mal die eigenen Eltern.

Dennis Alfred konnte Fußball spielen. Und Weiber flachlegen und Leuten, die am Boden lagen, noch Kies ins Gesicht kicken. Alles Eigenschaften, die einen in Kallenbroich zum King machten.

Na, Ben hatte ja einen Weg gefunden, sich zu wehren. Auch, wenn ihn das noch mehr zum Außenseiter gemacht hatte. Selbst jetzt, nach einem halben Jahr Hamburg, trug er immer mindestens eine seiner Geheimwaffen mit sich herum. Gut verpackt, aber erreichbar, in seiner abgewetzten, schäbigen Schultertasche.

Er nahm die S-Bahn in Richtung Pinneberg, sank in seinem Sitz zurück und ließ die fahle Landschaft an sich vorbeiziehen. Am Horizont sah er riesige Kräne, still, wie erstarrte Monster, die auf ihrem Vormarsch in die Stadt versteinert worden waren.

In Hammerbrook stieg er aus, zusammen mit einer Masse gebeugt laufender Menschen jeden Alters. Warum sahen die alle so verbittert aus? Heute war doch Sonntag, da hatten normale Menschen frei. Nur Ben nicht.

Er verließ das Bahnhofsgebäude mit der hässlichen Schalenverkleidung, nur um sich unter der noch hässlicheren Beton-Eisenbahnbrücke wiederzufinden. Drei Straßen und drei Minuten bis zur Arbeit. Zwei. Eine.

 

»Du bist zu spät«, begrüßte Jördis ihn, als er seine Tasche fallen ließ und sich auf den Schreibtischstuhl warf.

Wortlos loggte er sich ein und setzte sein Headset auf.

»Die merken das.« Jördis war nervös wie eine gefangene Spitzmaus. »Die können das sehen. Sie erfassen die Zeit.«

»Sind doch nur zwei Minuten«, brummte er und stützte sich auf der grauen Plastikplatte ab, die ihm als Schreibtisch diente.

Viel zu klein, kaum Platz für seinen Collegeblock und den Roman, den er zwischen den Anrufen las. Die Tische im Online-Sekretariat standen in Dreiergruppen zusammen. Sie nannten die Gruppen »Stationen«.

An jeder Station war Platz für drei Mitarbeiter, die dort telefonierten, oder vielmehr versuchten, wütende Kunden zu beruhigen. Elf Stationen ragten aus dem Teppichboden, wie Felsen aus einem bleigrauen Meer. Dreiunddreißig Mitarbeiter hätten in diesen Raum gepasst. Viel zu viele Menschen.

Glücklicherweise war heute Sonntag und es war ziemlich leer. Ben mochte Ruhe. Und die Wochenendzulage. Und die Nachtzulage, die er nachher auch einstreichen würde. Es dämmerte bereits.

»Sie könnten dich feuern«, flüsterte Jördis.

»Ist doch eh ein Scheißjob«, murrte Ben. »Wie viele haben heute schon geheult?«

»Nur zwei«, sagte Jördis. »Emily und … und ich. So ein Typ, der zu FitnessBuddys Porz wollte. Der war … der war ziemlich gemein. Der hat mich zu blöd zum Leben genannt und ein hohles Miststück.«

»Ach, scheiße.« Ben wusste nie, wie er Mitleid ausdrücken sollte. Er überlegte, ihr den Rücken zu tätscheln. Aber wer wollte schon von ihm getätschelt werden?

»Nicht so schlimm«. Eine offensichtliche Lüge. Sie schaffte es nicht mal, zu lächeln. »Dafür haben wir einen neuen Kollegen.« Sie senkte ihre Stimme. »Einen süßen neuen Kollegen. Da hinten, bei Anike und Bärbel.«

Ben sah sich um.

Kacke.

Nicht der, schrie er innerlich. Nicht dieser schmierige Schleimer!

Marek Kucera saß ganz hinten, strahlend schön und glattpoliert wie ein Kiesel. Und glücklicherweise halb verborgen von einer Trennwand, wegen der Ben ihn nicht direkt entdeckt hatte. Bärbel, ihre Supervisorin, erklärte ihm gerade etwas. Im Flüsterton, mit glänzenden Augen. Natürlich.

Alle Mädels flogen auf Marek Kucera. Diesen Sack. Aber das war es nicht, was Ben an ihm störte. Er hasste ihn, weil er wie die hübschere Ausgabe von Dennis Alfred aussah. Und, weil er genau den gleichen miesen Charakter hatte. Und, weil er überall beliebt war und weil er Ben gleich am ersten Tag als Bauer beschimpft hatte.

Gerade, als Ben noch Hoffnungen gehabt hatte, dass in Hamburg alles anders werden würde, lief ihm dieser Spacko über den Weg. Am ersten Tag des ersten Semesters des Chemiestudiums, als sie alle auf den Stufen vor der Uni gesessen hatten, um sich kennenzulernen. Ben war furchtbar schlecht darin, Leute kennenzulernen. Er hatte während des ersten Semesters nicht eine Freundschaft geschlossen. Marek dafür hundert. Mindestens.

Er beobachtete Marek. Beobachtete, wie er der Supervisorin aufmerksam zuhörte, nickte, seine weißen Zähne blitzen ließ. Dieses reiche Söhnchen. Was machte der hier? Musste er etwa Geld verdienen? Seine Eltern steckten ihm doch bestimmt alles in den Arsch, oder?

Am liebsten hätte er ihn danach gefragt. Aber schon kam ein Anruf durch und Ben musste sein Sprüchlein aufsagen.

 

2. Brötchen verdienen

 

»Guten Tag, Sie sprechen mit der Firma FitnessBuddys Porz. Mein Name ist Marek Kucera, wie kann ich Ihnen helfen?«

Gut, er hatte es richtig vorgelesen. Marek sah auf den Bildschirm vor sich, auf dem die gewünschte Begrüßung stand. Okay. Das Headset kratzte an den Ohren, aber ansonsten war der Job einfach. Den Anrufern erzählen, bei welcher Firma sie angeblich gelandet waren, versuchen, durchzustellen, und wenn das nicht klappte: Ihre Nachricht aufnehmen, die Rückrufnummer notieren und dann eine E-Mail mit allen Informationen an FitnessBuddys Porz schicken.

»Unsere Kunden sind Unternehmen aus ganz Deutschland, die sich keine Sekretärin leisten möchten. Wir leiten die Anrufe auf uns um und tun so, als würden wir in ihren Vorzimmern sitzen. Entweder verbinden wir oder geben die Anruferinformationen an den Kunden weiter.«

So hatte Bärbel es ihm erklärt.

»Ich will mit Herrn Berger sprechen«, sagte eine leicht gereizt wirkende Stimme am anderen Ende des Hörers.

Marek lächelte zuvorkommend. Der Anrufer konnte ihn nicht sehen, aber das Lächeln hörte man heraus. Auch das hatten sie ihm erklärt. Dreimal. Ob man ihm ansah, wie dumm er war?

»Herr Berger befindet sich gerade in einem Meeting«, sagte er. »Aber er ruft Sie gern zurück. Was darf ich ihm ausrichten?«

Kein Problem, so ein Job. Selbst, wenn man so langsam kapierte wie Marek …

»Sie dürfen ihm ausrichten, dass er ein verficktes Arschloch ist!«, brüllte der Anrufer. »Und ein beschissener Betrüger! Ich klag dem den Arsch ab, darauf kann er sich verlassen! Das können Sie ihm ausrichten!«

»Äh … gerne.« Was? Marek sah sich nach Hilfe suchend um. Aber Bärbel telefonierte gerade selbst und der andere Platz war leer.

»Was ist denn das Problem?, fragte er, obwohl sie ihm eingeschärft hatten, die Anrufe so schnell wie möglich zu erledigen.

»Das Problem?« Lautes Schnaufen. »Ich sag Ihnen, was das Problem ist! Vor fünf Monaten … FÜNF MONATEN hab ich bei ihm den Fitbodymaster3000 bestellt, und bis heute ist nichts angekommen! Vor fünf Monaten! Ich will mein Geld zurück!«

Marek hörte ein klagendes Fiepen in seinen Ohren.

»Ah, gut. Das richte ich ihm … gern aus.«

»Einen Scheiß richten Sie aus! Ich hab schon zwanzigmal angerufen und nie ist was passiert! Ihre saubere Kollegin hat auch immer behauptet, dass er zurückruft! Sie verbinden mich jetzt mit ihm! Sofort!«

»Aber … okay, ich versuche es gern«, sagte Marek. »Einen Moment, bitte.«

Er klickte auf den Button »Verbinden«. Hörte ein Tuten. Das System versuchte, ihn zu Herrn Berger durchzustellen. Marek sah zu Bärbel hinüber, die gerade das Headset vom Ohr streifte und sich dort kratzte.

»Bärbel«, wisperte er. Bärbel sah sich um und schenkte ihm ein Lächeln. »Ich hab hier jemanden dran und der Typ ist total sauer. Er meint, er wartet seit fünf Monaten auf ein Fitnessgerät oder so.«

Ein Schatten flog über Bärbels Gesicht. Ihr Mund lächelte nur noch breiter, aber in ihren Augen wurde es trüb.

»FitnessBuddys Porz?«, fragte sie. Marek nickte. »Einfach die Nachricht aufnehmen. Die rufen zurück.«

»Aber er sagt, er hätte schon zwanzigmal angerufen und niemand hätte zurückgerufen.«

»Das ist nicht unser Problem. Nicht unser Problem.« Ihre Stimme hatte etwas Mechanisches. »Einfach die Nachricht aufnehmen.«

»Aha.« Was? Marek hoffte, dass dieser Herr Berger einfach abheben würde. Dann könnte er den wütenden Anrufer durchstellen und das Problem wäre erledigt. Aber Herr Berger ging nicht dran.

Marek schaffte es mit Mühe und Not, dem Anrufer seine Nummer und seinen Namen abzuluchsen und an Herrn Berger zu schicken. Der Typ beschimpfte ihn noch eine Weile, dann legte er auf. Aha.

Im Lauf des Nachmittags kapierte Marek so langsam, was der Haken an seinem neuen Job war. Er bekam noch drei Anrufer für FitnessBuddys Porz, die alle stinksauer waren. Bei einem musste er auflegen, weil der Kerl sich nicht beruhigen ließ.

Außerdem riefen mehrere Leute an, die die letzte Mahnung von einem Kreditunternehmen bekommen hatten, bei dem sie keinen Kredit aufgenommen hatten. Alle panisch bis wütend. Marek wurde als Arschloch, Betrüger und Untermensch beschimpft. Bei allen gab er eine Meldung an seinen Vorgesetzten weiter.

»Die kümmern sich darum«, sagte Bärbel. »Wenn es zu viele Beschwerden über eine Firma gibt, kündigen wir ihren Vertrag.«

Trotzdem war es nervenzehrend. Bis acht Uhr abends sah Marek drei Online-Sekretärinnen in Tränen ausbrechen.

Er selbst kam ganz gut klar. Er war in seinem Leben schon so oft beschimpft worden, dass er damit umgehen …

»Ja, dann stecken Sie sich Ihren Scheiß-Fitbodymaster doch in den Arsch! Falls Ihr Arsch nicht viel zu fett dafür ist!«

Marek sah auf, als er die wütende Stimme hörte. Die kannte er. Ganz sicher.

Oh.

Halb verborgen hinter einer Trennwand, so, dass er ihn bisher nicht entdeckt hatte, saß Ben Ohlers.

Der Drecksack.

Bärbel sprang auf, lief rüber und riss Ben das Headset vom Kopf. Nervös sprach sie ins Mikro. Alle Augen waren auf Bens Platz gerichtet. Bärbel starrte ihn wütend an.

»Noch einmal und du kriegst eine Verwarnung«, hörte Marek sie flüstern.

Ben grunzte verächtlich. Natürlich. Ben hatte für alles nur Verachtung übrig. Für die Uni, die Kommilitonen, seine Noten … und trotzdem war er so gut wie Marek, der jeden Tag bis zu acht Stunden lernte. Niemand hatte diesem faulen, mies gelaunten Kerl irgendetwas zugetraut. Diesem mageren Burschen, der gelangweilt in allen Vorlesungen rumhing und sich nie Notizen machte.

Kaum jemand redete mit Ben, weil er auf Annäherungsversuche reagierte wie ein bissiger Hund. Marek hatte das selbst zu spüren bekommen. Am Anfang, als sie alle auf den Treppen herumgesessen hatten, hatte er Ben angesprochen. Gefragt, wo er herkam. Ben hatte irgendetwas von »vom Land« gebrummelt. Und als Marek gefragt hatte, ob er dann ein Bauer sei, hatte Ben ihn angesehen, als hätte Marek ihn gerade beleidigt.

Dabei war das doch eine berechtigte Frage, oder? Vermutlich, denn Marek hatte keine Ahnung vom Landleben. Er war in Hamburg aufgewachsen.

Das ganze Semester über war Ben zu cool und überheblich gewesen, um Freundschaften zu suchen oder mit irgendwem mehr als drei Worte zu wechseln. Marek hatte ihn nach Kräften ignoriert und sich ums Lernen gekümmert. Und um seine neuen Freunde. Vor allem um Manuela.

Aber dann kamen die Klausuren. Und Ben kassierte Einsen, dass allen Hören und Sehen verging. Klar, dass der so arrogant war. So ein Sack. So ein … Genie. Marek wurde schlecht, wenn er Bens überhebliche Fresse sah. Noch so einer, dem alles zuflog.

Was zur Hölle machte der in einem Telefonjob? Der war doch viel zu unfreundlich … Na, lange würde er den Job nicht mehr machen, wenn Marek sich Bärbels verärgertes Gesicht ansah. Hoffentlich.

Mist, er hatte zu lange rübergestarrt. Ihre Blicke trafen sich. Ben hob eine Augenbraue und winkte unmotiviert. Marek nickte ihm zu. Dann kam zum Glück ein Anruf.

Jemand schrie ihn an, weil er ein Karnevalskostüm bestellt hatte. Karneval war anscheinend in vollem Gange und das Kostüm war nicht angekommen.

Es sollte nicht der einzige Anruf dieser Art bleiben.

 

3. Jute Jecken

 

Ben musste eine rauchen. Sofort. Er würde verdammt nochmal durchdrehen, wenn er nicht auf der Stelle Nikotin in seinen Blutkreislauf bekam, aber diese bescheuerten Karnevalsfuzzis hörten nicht auf anzurufen. War doch nicht sein Problem, dass die Scheiß-Kostüme nicht geliefert wurden. Er sprach gerade mit dem – er sah auf seine Strichliste – siebzehnten Menschen, der bei »Jute Jecken« bestellt hatte, jetzt ohne Kostüm dastand und seinen Frust an Ben ausließ.

»Und ich will mein gottverdammt beschissenes maskierte Meerjungfrauenkostüm, das können Sie Ihrem Chef ausrichten, Sie Analversager!«

Was war das denn für eine Beleidigung? Immer wieder erstaunlich, dass die Leute ihm wüste Beschimpfungen an den Kopf warfen, ihn aber gleichzeitig siezten. Na ja, die Frau hatte sogar recht. Aber sie wusste ja nicht, dass Ben ein Analversager war.

Er drängte die Wut zurück. Schluckte die Worte: »Mir tut's ja auch leid, dass Sie keine Maske haben. Bestimmt sind Sie viel zu hässlich, um auf die Straße zu gehen.« herunter. Mehrfach. Er sah zu Bärbel hinüber. Bärbel und Marek. Die beiden waren die Einzigen, die noch da waren.

Hinter den Fenstern war nur noch Dunkelheit zu sehen. Beziehungsweise die Spiegelung eines deprimierenden Büros, in dem drei arme Schweine sich um hundert wütende Karnevalisten kümmern mussten. Ben war kurz davor, auf die Nachtzulage und seinen Job zu scheißen, die Station umzutreten und einfach zu gehen. Aber er brauchte das Geld. Und er war schon auf Bewährung …

»Benni, ich gehe jetzt.« Bärbel stand plötzlich neben ihm. Warum zur Hölle nannten ihn alle Benni? Er stellte sich nie als Benni vor. »Du kümmerst dich um Marek, ja?«

»Einen Scheiß tue ich.« Er schenkte Marek einen bösen Blick.

Dieser Strahlemann telefonierte am anderen Ende des Raums, ein höfliches, verständnisvolles Lächeln auf den Lippen, obwohl er garantiert einen von diesen Karnevalsspacken in der Leitung hatte. Er sah aus wie ein Surfer. Doch, so ein hochnäsiger, blonder Surfer-Dude aus irgendeinem Film …

»Benni.« Bärbel beugte sich zu ihm herunter. Er sah tiefe Schatten unter ihren Augen. »Du bist bereits auf Bewährung wegen deines Ausrasters vorhin. Du kümmerst dich jetzt um Marek oder du hast eine zweite Ermahnung am Hals. Hast du das verstanden?«

Ben zog die Schultern hoch und brummelte irgendetwas vage Zustimmendes. So ein Scheiß.

»Marek, komm her!«, rief Bärbel, sobald dieser Schleimbeutel aufgelegt hatte. Er wirkte genauso begeistert wie Ben. Immerhin das hatten sie gemeinsam. Mareks hübsches Strahlegesicht war ungewöhnlich mürrisch, als er seinen Kram in die Pappkiste packte und zu ihnen herübertrottete.

»Das ist Benni«, sagte Bärbel.

»Wir kennen uns.«

Ups, das hatten sie beide gleichzeitig gesagt. Marek sah auf Ben herab, so, wie er vermutlich auf alles herabsah. Klar, Ben war in seinen Augen ja auch ein Bauerntrottel. Kein Wunder, dass er nicht mit ihm zusammenarbeiten wollte.

Ben bedachte Marek mit einem kalten Blick.

»Ich zeig dir, wo's lang geht«, murrte er. »Setz dich. Sag, wenn du Hilfe brauchst.«

 

Aber Marek hatte anscheinend schon raus, wie es lief. Besser als Ben sogar, und das nach einem Tag. Er war viel begabter darin, den Hass der Anrufer zu mindern und ihnen ihre Telefonnummern zu entlocken.

»Das verstehe ich natürlich«, flötete er gerade. Dieser Musterschüler. »Ja, natürlich. Nein, das ist verständlich.« Seine Reicher-Bubi-Frisur wippte, als er nickte. Genauso eine Frisur hatte Dennis Alfred gehabt …

»Hoho, verständlich, wie du die Leute verstehst«, sagte Ben zu Marek, sobald der aufgelegt hatte. »Kannst noch ein paar Versteher mehr einbauen?«

Es war das erste Mal, dass er ihn ansprach, seit Bärbel gegangen war. Inzwischen war es Mitternacht. Nur noch zwei Stunden bis zum Feierabend.

Marek sah ihn an. Zog eine dunkelblonde Augenbraue hoch.

»Klar kann ich das«, sagte er. Sein linker Mundwinkel zuckte. »Und du?«

Ben blinzelte.

»Noch viel mehr«, behauptete er, ohne nachzudenken. »Wart mal ab.«

Schon klingelte es in seinem Head-Set.

»Guten Tag und willkommen bei »Jute Jecken – Karneval, Klamotten und mehr«. Mein Name ist Ben Ohlers, wie …«

»Wo bleibt mein Scheißkostüm, ihr Scheißdeppen?«, brüllte jemand in sein Ohr. Der Stimme nach ein Kerl um die siebzig.

»Habe ich das richtig verstanden?« Ben warf Marek einen herausfordernden Blick zu. »Ich habe verstanden, dass Sie verständlicherweise verärgert sind, weil sich der Verstand, Verzeihung, Versand Ihres Kostüms um wenige Tage verzögert hat.«

»Ja, dat haben Sie! Und ich will jetzt mein Scheißkostüm haben! Sofort! Ich warte seit drei Wochen auf dat Ding! Seid ihr denn bekloppt oder was?«

»Nein, wir haben nicht«, Ben schenkte Marek ein huldvolles Lächeln, »den Verstand verloren. Wir verstehen Ihre Ungeduld sehr wohl. Da es schon spät ist, ist Herr Monsen bereits heimgegangen, aber er ruft Sie selbstverständlich gern zurück.«

Ben sah Marek herausfordernd an. Der beobachtete ihn und nicht der Hauch eines Lächelns zeigte sich in seinem Surfergesicht. Sondern ein breites Grinsen.

»Einen Scheiß tu ich! Ich will mein Kostüm!«

»Verstehe ich Sie richtig? Sie möchten keine Nachricht hinterlassen? Bitte verstehen Sie, dass Herr Monsen Sie dann selbstverständlich NICHT zurückrufen kann. Ich würde mir ein wenig mehr Verständnis wünschen …«

Als der Anrufer zornesentbrannt auflegte, war Mareks Grinsen noch breiter geworden. Er sah gar nicht mehr so herzlich und harmlos aus, sondern fast ein bisschen … böse.

»Nicht schlecht«, sagte er.

»Danke«, murrte Ben. Was wurde das jetzt?

»Aber ich kann das besser.« Marek ließ seine Fingerknöchel knacken. »Wart mal ab.«

 

Die Nachtschicht mit Marek war erstaunlich lustig. Ben konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so viel Spaß gehabt hatte. Und das in seinem beschissenen Studentenjob.

Als Marek die »Verständlich«-Wette nach Punkten (23) gewonnen hatte, gingen sie dazu über, sich Worte vorzugeben, die der Andere ins Gespräch einbauen musste. Worte wie »Bundesautobahn« (»Ist das eine Reutlinger Vorwahl? Das liegt doch gleich neben der Bundesautobahn, nicht wahr?«) und »Schwanzkopf« (»Herr Berger ist gerade nicht anwesend und auch sein Kollege Herr Meier-Schwanzkopf …«).

Es war nicht direkt freundschaftlich, eher ein gnadenloser Konkurrenzkampf. Sie schenkten sich nichts. Aber es war viel witziger, als sich alleine von Karnevalisten beschimpfen zu lassen.

Schneller als sonst war es zwei Uhr morgens. Die Ablösung erschien.

Ben zeigte Marek, wo er die Kiste mit seinem Headset und seinem anderen Kram verstauen konnte und rieb sich die Augen.

»Ich brauch 'nen Drink«, murrte er. »Oder zwei. Oder ein paar Liter.«

»Ja, ich auch.« Marek rieb sich den Nacken. »Die KantenKlause hat noch auf und die ist gleich um die Ecke. Wie wär's?«

Ben warf ihm einen misstrauischen Blick zu. Was? Wieso wollte Marek mit ihm was trinken gehen? Sie waren noch nie gemeinsam was trinken gegangen. Außer einmal, ganz am Anfang des Semesters, aber Ben hatte mit kaum jemandem geredet und war nach einer Stunde abgehauen, weil ein Kerl namens »Alstermacker89« ihn angeschrieben hatte.

»Sicher?«, fragte er.

»Ja, die haben echt noch auf.« Marek gähnte. »Bin letztens mit Kathi und Manuela da gelandet, nach der Klausur in Anorganischer Chemie.«

Ben nickte. Vorsichtig. Eigentlich mochte er Marek nicht. Er hatte keine Ahnung, warum der plötzlich mit ihm Biere zischen wollte. Aber Ben war müde, fertig und hatte sich stundenlang anschreien lassen, ohne zurückzubrüllen. Er brauchte was zu trinken. Und eine verdammte Zigarette.

Natürlich schaute Marek ihn vorwurfsvoll an, als er eine bereits gedrehte aus seiner Jackentasche zog. Mr. Perfect rauchte selbstverständlich nicht.

»Was ist?«, knurrte Ben.

»Nichts.« Mareks Gesicht war auf einmal viel unfreundlicher.

 

Aber sie zogen ihren Plan durch.

Schweigend trotteten sie über die nachtleere Straße. Nur vereinzelt begegneten ihnen Betrunkene. Normalerweise war nachts mehr los, schließlich war das eine verdammte Großstadt. Aber heute, beziehungsweise gestern, war Sonntag, da schlief selbst Hamburg.

Schweigsam und zielgerichtet wie zwei Cowboys betraten sie die muffig riechende Kneipe. Leider drehte sich keine der rotnasigen Gestalten, die am Tresen saßen, um und fragte: »Was wollt ihr, Fremde?« Egal.

Die KantenKlause war genauso dunkel und widerlich, wie ihr Name versprach. Die erstaunlich gesund aussehenden Pflanzen im Fenster, die sie vor Blicken von außen schützten, stellten sich als Plastikimitate heraus.

Sie ließen sich in einer schummrigen Ecke nieder. Der schummrigsten. Ben versuchte, nicht daran zu denken, warum das Polster in seinem Rücken so klebrig war. Bestimmt hatte jemand dort einen Drink verschüttet. Einen gelblich-weißen.

Marek schien sich wohlzufühlen, obwohl er in dieses Loch passte wie ein Rubin in einen Haufen Wackersteine. Zumindest soweit Ben das in dem trüben Licht erkennen konnte. Entspannt lehnte Marek sich zurück. Ben lehnte sich noch viel entspannter zurück.

»Und, was trinkst du?«, fragte er. »Eine Buttermilch?«

Marek öffnete den Mund, um zu antworten, aber die krummnasige Kellnerin tauchte plötzlich neben ihnen auf.

»Was wollt ihr?«, fragte sie, überraschend melodisch.

»Zwei Bier und ein Korn«, sagte Marek und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Das wurde deutlich schmaler, als er zu Ben herübersah. »Und was willst du?«

Ach, so war das. Ben grinste und bestellte das Gleiche. Dieses Muttersöhnchen konnte er doch locker unter den Tisch saufen. Er war vielleicht ein Landei, aber das hatte auch Vorteile. Dieser Großstadtknilch hatte nie etwas so Brutales wie Opas selbstgebrannten Pflaumenschnaps erlebt, soviel war klar.

 

4. Wettsaufen

 

»Dassis so ein Scheißjob. Hättst dir keinen schlechteren aussuchen können«, nuschelte Ben und versuchte, seinen Kopf von der Tischplatte zu heben. Die dunklen Haare hingen ihm in der Stirn.

Marek betrachtete ihn mit müden Augen. Die Klause war noch genauso halbleer wie vor zwei Stunden. Aber sie beide waren voll. Total. Dieses Wettsaufen war nicht die allerbeste Idee gewesen.

»Rufen nur Arschlöcher an«, sagte Ben und richtete seinen Zeigefinger auf Marek. »Nur … nur Arschlöcher. Du wirs schon sehen.«

»Aber …« Lallte er? Irgendwie war der Raum … schräg. Immer, wenn Marek auf die Poster hinter Ben schaute, hatten sie einen anderen Winkel. »Aber die können ja nichts dafür. Ich wär auch sauer, wenn ich … wenn ich mein Kostüm nich bekommen hätte.«

»Was willst du denn für ein Kostüm?« Ben lachte abgehackt. »Ein Häschenkostüm? Hass du dich schon mal verkleidet?«

Ja, dachte Marek. Jeden Tag. Er schwieg.

»Alles Verbrecher«, murmelte Ben. »Nur Verbrecher. Nie liefern die.«

»Ja, aber, sie geben … Wir melden die Kunden, die nicht seriös sind ja und dann …« Marek versuchte, sich an das Wort zu erinnern. »Dann … kündigen sie ihnen.«

»Die künnigen gar keinem.« Ärger gab Ben die Kraft, sich aufzurichten. »Gar keinem. Nicht, solange die zahlen. Diese Scheiß-Fitnesstypen? Ich telefonier für die, seit ich … seit ich da angefangen habe. Seitdem schicken die ihre Geräte nich und …«

Er rülpste laut. Lachte dreckig.

Mit einem Mal fragte Marek sich, was er hier tat. Er sollte längst im Bett sein. Nicht immer noch in dieser Kneipe rumhängen mit diesem … Kerl. Irgendwie hatte er ständig das Bedürfnis, den zu beeindrucken. Bei diesem Wett-Telefonieren eben und bei diesem dummen Wett-Trinken …

Was wollte er beweisen? Dass er jetzt cool war? Dass er kein dicker Streber mehr war, der sich vor den Kids aus der Raucherecke fürchtete? Die hatten ihn seine ganze Schulzeit über gepiesackt. Ihn, den bebrillten Schwächling. Marek mit den guten Noten. Marek, der keine Freunde hatte.