cover

Louis Lewin

Phantastica

Die betäubenden und erregenden Genussmittel

Für Ärzte und Nichtärzte

Mit einem einleitenden Essay von Helena Gand

Impressum

ISBN 978-3-940621-77-1 (epub)

ISBN 978-3-86408-006-7 (pdf)

Digitalisat basiert auf der zweiten erweiterten Auflage von 1927 aus der Bibliothek des Vergangenheitsverlags; bibliografische Angaben:

Lewin, Louis, Phantastica. Die betäubenden und erregenden Genussmittel. Für Ärzte und Nichtärzte, Berlin 1927.

Bearbeitung: Helena Gand / Frank Petrasch

Einleitendes Essay von Helena Gand

Die Marke „100% - vollständig, kommentiert, relevant, zitierbar“ steht für den hohen Anspruch, mehrfach kontrollierte Digitalisate klassischer Literatur anzubieten, die – anders als auf den Gegenleseportalen unterschiedlicher Digitalisierungsprojekte – exakt der Vorlage entsprechen. Antrieb für unser Digitalisierungsprojekt war die Erfahrung, dass die im Internet verfügbaren Klassiker meist unvollständig und sehr fehlerhaft sind. Die in eckigen Klammern gesetzten Zahlen markieren die Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe; durch die Paginierung ist auch die digitale Version über die Referenz zur gedruckten Ausgabe zitierbar. Anpassungen an die aktuelle Rechtschreibung sind wegen der besseren Lesbar- und Verständlichkeit behutsam vorgenommen worden.

© Vergangenheitsverlag, 2011 – www.vergangenheitsverlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

Inhalt

Louis Lewin – Entgegen der „faustischen Qual des Nichterkennenkönnens“

Vorwort.

EINLEITUNG.

1. Zur allgemeinen Orientierung.

2. Die Beweggründe für den Gebrauch betäubender und erregender Genussmittel.

3. Die Bedeutung der persönlichen Veranlagung in Bezug auf fremde Reize, die den Körper treffen.

4. Toleranz und Gewöhnung.

5. Immunität gegen Gifte.

DIE BETÄUBUNGSMITTEL.

1. Die Wirkungsart der Betäubungsmittel.

2. Systematik der betäubenden und erregenden Genussmittel.

EUPHORICA. SEELENBERUHIGUNGSMITTEL.

Opium. Morphin.

1. Geschichte des Opium- und Morphingebrauchs als Genussmittel. Opiumproduktion. Opiumbewegung.

2. Verbreitung des Opium- und Morphingenießens in der Jetztzeit.

3. Der Morphinismus.

4. Die erkennbaren Vorgänge bei Morphinisten und Opiumisten.

5. Fragen allgemeiner Natur, die sich an den Morphinismus knüpfen.

6. Die Hilfe gegen den wachsenden Morphinismus.

Kodein und Derivate, Dionin, Heroin, Eukodal, Chlorodine als Genussgifte.

Kodein.

Dionin.

Heroin.

Eukodal.

Chlorodine.

Der Kokainismus.

1. Die Geschichte der Koka und des Kokains.

2. Wirkungen von gewohnheitsmäßig aufgenommener Koka und Kokain.

3. Die Erscheinungsformen des Kokainismus.

PHANTASTICA. SINNESTÄUSCHUNGSMITTEL

Das Problem der Sinnestäuschungen.

Anhalonium Lewinii.

1. Die Geschichte der Pflanze.

2. Anhalonium Lewinii als Genussmittel.

3. Wirkungsbilder.

Der indische Hanf. Cannabis indica.

1. Die Verbreitung des Cannabinismus in Afrika.

2. Der Hanfgebrauch in Kleinasien und Asien.

3. Die Wirkungen des Hanfrauchens.

Der Fliegenpilz. Agaricus muscarius.

Die Art der Rauschzustände.

Nachtschattengewächse.

Das Bilsenkraut. Hyoscyamus niger.

Hyoscyamus muticus. (Hyoscyamus albus.)

Der Stechapfel. (Datura Stramonium.)

Datura arborea.

Duboisia Hopwoodii.

Banisteria Caapi.

Gelsemium sempervirens.

Die Loco-Kräuter.

INEBRIANTIA. BERAUSCHUNGSMITTEL.

Der Alkohol.

1. Bemerkungen zu der akuten Vergiftung.

2. Der chronische Alkoholismus.

a) Alkoholismus und Nachkommenschaft.

b) Individuelle toxische Störungen in der Trunksucht.

c) Rückblicke in die alkoholische Vergangenheit.

d) Die alkoholischen Getränke.

e) Mäßigkeitsbestrebungen und Abstinententum.

f) Schlussbetrachtungen.

Hoffmannstropfen.

Die Chloroformsucht.

Die Äthersucht.

Der Benzinrausch.

Die Stickoxydulsucht.

HYPNOTICA. SCHLAFMITTEL.

Chloralhydrat.

Veronal

Paraldehyd.

Der Sulfonalismus.

Bromkalium.

Bromural.

Das Kawa-Trinken.

1. Die Verbreitung der Kawa und des Kawatrinkens.

2. Die Bereitung und Verwendung des Getränkes aus der Kawa.

3. Die wirksamen Stoffe in der Pflanze und ihre Wirkungsart.

Kanna

EXCITANTIA. ERREGUNGSMITTEL.

Das Wesen der Erregungsmittel.

Der Kampfer.

Das Betelkauen.

1. Die Geschichte und die Art des Betelkauens.

2. Die Wirkungen des Betelkauens.

Das Kat.

Die Koffeinpflanzen.

Der Kaffee.

1. Die Vergangenheit des Kaffeegebrauches.

2. Kaffeeanbau und Kaffeeverbrauch.

3. Die Wirkungen des Kaffees.

Der Tee.

Die Kolanuss.

Geschichte, Herkunft, Verbreitung.

Die Wirkungen der Kola.

Ilex paraguayensis. Mate.

Ilex Cassine.

Pasta Guarana.

Kakao.

Der Tabak.

1. Allgemeine and geschichtliche Orientierung.

2. Die Verwendungsformen des Tabaks.

a) Das Tabakschnupfen.

b) Das Tabakkauen.

c) Das Tabakrauchen.

d) Die Eroberung der Menschheit durch den Tabak.

e) Die Einschätzung des Tabakgebrauches als Genuss und Gift.

f) Die körperlichen Störungen durch Tabak.

g) Ersatzmittel des Tabaks.

Das Paricá-Schnupfen.

Das Arsenikessen.

Quecksilber.

Schlusswort.

Anmerkungen und Kommentare

Louis Lewin – Entgegen der „faustischen Qual des Nichterkennenkönnens“1

Die „Phantastica“, ein enzyklopädistisches Werk der Drogenkunde, veröffentlichte der Chemiker Louis Lewin im Jahre 1924. Sie ist das Ergebnis einer langjährigen Faszination ihres Autors gegenüber den Drogen, „die den seelisch Gepeinigten lastfrei, den Schmerzdurchwühlten oder den dem Tode Geweihten hoffnungerfüllt [machen], dem durch Arbeit Geschwächten […] neue Leistungsimpulse [geben] […] und dem nach der Arbeit weltscheu und stumpf Gewordenen eine Stunde innerlichen Behagens und Zufriedenseins [verschaffen].“2

Schon seit 1886 beschäftigte sich der Berliner Wissenschaftler Lewin mit der Untersuchung derartiger Stoffe. Diese „betäubenden und erregenden Genussmittel“ führte Lewin in dem Neologismus „Phantastica“ zusammen. Der Autor plädierte mit diesem Werk für ein höheres wissenschaftliches Interesse, das den „phantastischen Stoffen“ auf Grund ihrer Bedeutung für Medizin, Psychiatrie, Psychologie, Jura und Ethnologie zukommen sollte. Laut Lewin hätten Genussmittel als anthropologische Konstante seit jeher in verschiedensten Kulturen existiert. Deshalb sollten sie – entgegen der bis zu diesem Zeitpunkt nur geringen Beachtung – nun in den Fokus der Wissenschaften gerückt werden.

Damit traf Lewin den Puls der Zeit. Das ausklingende 19. sowie das beginnende 20. Jahrhundert waren geprägt von einer tiefen Umbruchphase. In beinahe allen akademischen Zweigen formierten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch Differenzierung und Spezialisierung der Forschungen etliche Institute, die der Suche nach Erkenntnis, Raum und Zeit boten.3 Charles Darwin, Robert Koch und Wilhelm Conrad Röntgen, sind nur einige der bekannten Wissensdurstigen dieser Epoche. Mit den Untersuchungen der „Phantastica“ zu einer Zeit, in der unablässig geforscht und ergründet wurde, befand sich Lewin folglich inmitten des Versuchs, der – wie er es nannte – „faustischen Qual des Nichterkennenkönnens“4 zu entkommen.

Nach der Entdeckung des Herstellungsverfahrens von Morphin aus Opium im Jahre 1806, der Erzeugung von Kokain aus der Coca-Pflanze im Jahre 1859 sowie der Gewinnung von Heroin etwa 30 Jahre später, hätten Schriften wie Lewins von großer Bedeutung für den noch weitreichend unbekannten Umgang mit Drogen sein müssen. Doch hielt sich Lewins Erfolg im wissenschaftlichen Feld mit seinem Werk „Phantastica“ in Grenzen. Was war der Grund für diese unglückliche Entwicklung?

Lewins Schicksal spiegelt ein Stück deutscher Geschichte wider, in der Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus lange eine große Rolle spielten. Er lebte zu einer Zeit, in der antisemitische Ressentiments an den Hochschulen weit verbreitet waren und Wissenschaftler jüdischer Herkunft es nicht leicht hatten, sich akademisch Gehör zu verschaffen. Lewins Fachrichtung machte es ihm zusätzlich schwer, anerkannt zu werden. Sein fortschrittliches Denken, das heute als wissenschaftliches Pionierwerk im Umgang mit Drogen angesehen werden muss, wurde zu Lebzeiten noch äußerst zwiespältig betrachtet. Die Toxikologie und Drogenkunde waren zum damaligen Zeitpunkt unbekannte Terrains und befanden sich erst auf dem Weg, sich zu Wissenschaften zu etablieren.

Louis Lewin wurde am 9. November 1850 im westpreußischen Tuchel geboren. Mit seinen Eltern, Rahel und Hirsch Lewin, zog der sechsjährige Junge 1856 aus der polnischen Provinz Suwalki in Russland, in der es Mitte des 19. Jahrhunderts zu schweren Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung gekommen war, in das Berliner Scheunenviertel. In dem von Friedrich Wilhelm I. geschaffenen Viertel für bedürftige Juden, das sich am dicht bebauten Alexanderplatz befand, wurden ostjüdische Einwanderer im 19. Jahrhundert bevorzugt untergebracht.5 Aus den widrigen Umständen seiner Zeit und den einfachen Verhältnissen – als Schuhmacher waren die finanziellen Mittel seines Vaters nur begrenzt – versuchte sich Lewin bereits früh zu befreien. Aus eigener Willenskraft eignete sich der Sprössling, der von seinem Elternhaus nur das Jiddische erlernte, vorerst die deutsche, anschließend die hebräische, griechische, lateinische, englische und schließlich die französische Sprache an. So schaffte er es aus seinem starken Lerneifer heraus, von der jüdischen Gemeindeschule an das renommierte Friedrich-Werdersche-Gymnasium zu wechseln, an dem er im Jahr 1871 seine Reifeprüfung erfolgreich absolvierte. Hier fand er in seinem Lehrer Paul de Lagarde einen guten Freund und Förderer, mit dessen finanzieller Hilfe Lewin sein anschließendes Studium finanzieren konnte.

Seine Wissbegierde trieb den jungen Lewin zu einem Medizinstudium an die Friedrich-Wilhelm- Universität in Berlin, der heutigen Humboldt-Universität. Er promovierte schließlich mit einer preisgekrönten Arbeit zur Untersuchungen der Wirkung des Pflanzengifts Aconitin und arbeitete, nach seinem freiwilligen Dienst im Militär, in München als Assistent am Hygieneinstitut des bayrischen Chemikers Max von Pettenkofer. Im Jahr 1878 kehrte Lewin wieder nach Berlin zurück, um als Assistent am Pharmakologischen Institut der Universität tätig zu werden. Mit 40 Jahren habilitierte sich der Mediziner und erhielt im Jahre 1893 schließlich den Titel des Privatdozenten.

Doch Lehrauftrag sowie Prüfungserlaubnis blieben aus – Lewin wurden weder Räumlichkeiten zur Lehrtätigkeit zugesprochen, noch durfte er offiziell unterrichten. Der jüdische Mediziner wusste sich jedoch zu helfen, worin sich wieder sein starker Wille zeigt: Er zog in der Nähe der Berliner Charité und richtete dort sein eigenes Labor inklusive Lehrraum ein. In diesen Räumlichkeiten hielt Lewin fortan private, unentgeltliche Vorlesungen, die zahlreich besucht und von vielen Studierenden sogar auf Grund ihrer unkonventionellen und leidenschaftlichen Vortragsweise geschätzt wurden.6

Die Anerkennung an der Universität – die für ihn von größter Bedeutung war – blieb Lewin jedoch weiterhin verwehrt. Mehrmalige Bitten, die Kosten für sein Privatinstitut zu übernehmen, wurden von der Universität abgelehnt. War das aufgrund seines jüdischen Glaubens?

Das Lehrpersonal an den Universitäten des Deutschen Reiches entstammte im 19. Jahrhundert überwiegend dem wohlhabenden Bürgertum. Weniger als ein Viertel des Lehrkörpers der Berliner Universität in den Jahren 1871 bis 1933 war jüdischer Herkunft, davon hatten ungefähr 40 Prozent ihren Glauben gewechselt oder waren aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten, um ihre Karrierechancen zu steigern.7 Lewin stellte mit seinem jüdischen Ursprung somit eine der wenigen Ausnahmen an der Berliner Universität dar. Er lehnte es ab, zugunsten seiner Karriere zu konvertieren – vielleicht ein Grund wieso der Wissenschaftler so lange auf seinen Lehrauftrag warten musste.

1919 wurde Lewin dennoch zum Honorarprofessor an der Technischen Hochschule in Charlottenburg ernannt, doch blieb damit die ihm auf Grund seiner Leistung eigentlich zustehende ordentliche Professur weiterhin verwehrt. Erst 1923 erhielt er den offiziellen Lehrauftrag an der Charlottenburger Hochschule. Kurz zuvor verlieh ihm die Berliner Universität den Titel des Extraordinarius und damit endlich einen offiziellen Lehrauftrag. Das Lewinsche Privatinstitut am Charitégelände wurde erst im Jahr 1924 von der Universität übernommen, womit nun auch die dafür anfallenden Kosten übernommen wurden.

Lewin konnte diese geringe Würdigung seiner Forschungsleistung jedoch nicht lange schätzen. Nur fünf Jahre später erlag er den Folgen eines Schlaganfalls. Dadurch blieben ihm zumindest die Demütigungen, welche die jüdische Bevölkerung während des Nationalsozialismus erleiden musste, und damit das Schicksal seiner Frau Clara, die 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt starb, erspart.

Louis Lewin stellte sein Leben in den Dienst der Wissenschaft und leistete dadurch Pionierarbeit in der Drogen- und Arzneimittelforschung. Das Herausragende an seiner Leistung wird in der „Phantastica“ deutlich. In dieser Drogenenzyklopädie stellte Lewin erstmals Wirkung und Nebenwirkung verschiedener bewusstseinsverändernder Stoffe dar und zeichnete zudem die Geschichte des Drogenkonsums sowohl im eigenen Kulturkreis als auch in fremden Kulturen nach. In der Lewinschen Neuschöpfung des Begriffs „Phantastica“ benannte der Forscher fünf Gruppen von Genussmitteln, die er anhand ihres Wirkungsverlaufs von einander trennte. Zu unterscheiden waren für Lewin „Erregungs-“, „Sinnestäuschungs-“, „Berauschungs-“, „Schlaf-“ und „Seelenberuhigungs- mittel“. Mit einem wortreichen und gewaltigen Sprachduktus berichtete Lewin von Vorkommen und Wirkungen der „phantastischen Stoffe“, die teilweise – wie im Falle des Kaffees – nützliche Reaktionen, teilweise jedoch auch – wie am Beispiel des Kokains – verheerenden Folgen haben können. Lewin verklärt den Drogenkonsum damit in seiner Enzyklopädie nicht, sondern stellt auch die häufig beängstigenden Bilder der Abhängigkeit dar und lässt so seine dringliche Warnung vor dem Gebrauch bestimmter Stoffe verlauten.

Der Sprachstil des Chemikers gepaart mit den oft amüsanten Anekdoten zur Kulturgeschichte des Drogenkonsums erheben die „Phantastica“ zu einem Werk, das einen wissenschaftlichen Anspruch mit Leselust und Spannung vereint. Die Modernität und Fortschrittlichkeit Lewins in seiner „Phantastica“ ist noch heute, fast ein Jahrhundert nach ihrem Erscheinen, von bestechender Aktualität.

Vorwort.

Eine innigere Beziehung zum Leben der gesamten Menschheit haben, wenn man von Nahrungsstoffen absieht, keine von den unzählbaren chemischen Stoffen der Welt, als diejenigen, deren Geschichte und Wirkungen in diesem Werke zur Darstellung gebracht worden sind.

Ich gab ihm den Namen Phantastica, obschon unter diesen von mir formulierten Begriff nicht alles das fällt, was ich im engeren Sinne darunter verstanden wissen will. Aber fast allen hierher gehörigen Stoffen ist eine direkte Gehirnwirkung eigen, die in allen ihren Gestaltungen rätselhaft, unbegreiflich ist.

Ist in der belebten Natur der Wunder vielleicht größtes die Empfindung, so lässt der Versuch, pharmakologisch in das Gebiet der betäubenden und erregenden Stoffe einzudringen, dieses Wunder noch bedeutsamer erscheinen, weil hier der Mensch es vermag, das Alltagsempfindungsleben samt Willen und Denken durch chemische Stoffe, auch bei freiem Bewusstsein, in ungewohnte Formen zu wandeln oder den normalen Empfindungen Leistungshöhen und Leistungsdauer zu geben, die dem Gehirn sonst fremd sind. Chemische Stoffe sind es, die derartiges bewirken können. Die besten [2]von ihnen bildet das gewaltige Pflanzenreich, in dessen stillstes Wachsen und Schaffen menschliches Auge und Forschen noch nicht gedrungen sind. Werden sie auf das Gehirn übertragen, so rufen sie dort Wunder an energetischen Äußerungen wach. Sie machen den seelisch Gepeinigten lastfrei, den Schmerzdurchwühlten oder den dem Tode Geweihten hoffnungerfüllt, dem durch Arbeit Geschwächten geben sie neue Leistungsimpulse, die auch ein starker Wille nicht zustande brächte und dem nach der Arbeit weltscheu und stumpf Gewordenen eine Stunde innerlichen Behagens und Zufriedenseins.

Und alles dieses vollzieht sich auf der gesamten Welt durch einen oder den anderen dieser Stoffe bei allen, die im Besitze derer sind, nach denen sie Begehren tragen. Und sie sind es: Im Urwaldwinkel, wo ein Blätterbehang die kümmerliche Unterkunft bildet, wo auf meerumtobtem Eiland Menschen einen Zuwachs an zeitlich höherer Lebensintensität erwünschen oder ohne Wunschbedürfnis erhalten, wo auf fernen Bergeshöhen der Einsame von dem dumpfen, nicht zum Bewusstsein kommenden Gefühl seiner äußerlichen und innerlichen Lebensbeschränktheit bedrückt, das niedrige Einerlei seines Vegetierens durch Erregungsmittel belebter zu machen vermag oder wo Menschen der Zivilisation aus einem der vielen möglichen Gründe eine solche zeitliche, subjektiv angenehme Zustandsänderung ersehnen. Die Zauberkraft der betäubenden und erregenden Mittel versagt nie.

Weit strahlt die Bedeutung dieser Stoffe aus. Sie führen bei den Einen in die dunkelste Nachtseite menschlicher Leidenschaft, die schließlich in sittliche Ohnmacht, Verkommenheit und körperliches Elend ausklingt, bei den Anderen in fernerleuchtete Freudenstunden oder in gemütvolle und beschauliche Geisteszustände.

Neben diesen die ganze Menschheit als Beteiligte interessierenden Seiten bieten diese Stoffe ein sehr hohes wissenschaftliches Interesse für den Arzt, zumal [3] den Psychiater und den Psychologen, sowie für den Juristen und Ethnologen. Variationen des geistigen Sehens und Empfindens, die tangential oder, mehr als dies, an geistige Erkrankung heranrücken, können die Folgen des zu starken Gebrauches einiger solcher Stoffe sein. Psychoanalytisch, im wissenschaftlichen Sinne, wird hier die Möglichkeit besserer Wesenheitserkenntnis gewisser, auch in Geisteskrankheiten vorkommender seelischer Vorgänge gegeben. Hier bietet sich der Psychologie ein weites Arbeits- und Erkenntnisfeld dar, dessen Gatter bisher nur ganz vereinzelte Forscher hat eintreten lassen. Der Jurist soll in den hier für ihn auftauchenden Fragen über Verantwortlichkeitsbreite, Handlungsfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit von Menschen orientiert sein, die, unter dem dauernden Einfluss zumal von betäubenden Stoffen stehend, Anlass geben, dass man sich mit ihnen zivilrechtlich oder strafrechtlich beschäftigt. Für den Ethnologen bieten Verbreitung und Gründe des Gebrauches solcher Stoffe nach vielen Seiten hin und nicht zum mindesten in bezug auf die religionsphilosophische, überaus viele und für neue Aufklärungen vielversprechende Probleme dar. Ich habe der Anregungen für neue Forschungen in diesem Buche genügend gegeben. Ich ließ es frei von belastendem literarischen Rankenwerk, um die pharmakologische Auffassung klarer hervortreten zu lassen und gab doch genug für die sachliche und historische Orientierung.

„Es gibt in der gesamten Pharmakologie kaum ein schwierigeres Kapitel als eine erschöpfende und nach allen Richtungen zutreffende Analyse der Wirkungen der Genussmittel.“ Dieses Wort eines Pharmakologen ist wahr. Ich habe, nachdem ich im Jahre 1886 die ersten, auch chemischen, Untersuchungen über ein solches Genussmittel, die Kawa, kundgab, die so umfangreich nutzbar geworden sind, nicht aufgehört, an diesen Fragen zu arbeiten und manches in meinen Schriften folgen lassen. Dieses Werk, das erste [4] seiner Art, soll nicht nur die Ergebnisse meiner pharmakologischen Auffassungen widerspiegeln, die auch durch das Viele gestützt sind, was ich, in stets sehr lebendigen Beziehungen zur Wirklichkeitswelt, selbst gesehen oder Hilfesuchende mir unterbreitet haben, sondern auch belehrend und aufklärend für jene Hunderttausende wirken, die in dem wogenden Kampfe der Meinungen über betäubende und erregende Genussmittel sich einen klaren Blick über die Bedeutung derselben verschaffen wollen.

Nachdem die erste Auflage dieses Werkes in so kurzer Zeit in vieler Menschen Hände gekommen und überreich mit Zustimmung und Lob bedacht worden ist, folgt ihr die neue, von dem gleichen Geiste getragene und nur im Tatsachenstoff erweiterte. Erneut wird die Menschheit auf das hier dargelegte große Problem hingewiesen, das nicht im schnellen Ansturm gelöst werden wird und gelöst werden kann. Ändernwollen und Ändernmüssen bedürfen sehr viel Zeit zu ihrer Erfüllung, weil übergroße Hemmnisse, die ihre weitverzweigten und mächtigen Wurzeln nicht nur in menschlicher Leidenschaft haben, sich ihnen entgegenstellen. Aber jeder, auch der kleinste Schritt des Vorrückens in der Abwehr von Schädigung des Menschengeschlechts stellt einen wahren Segen dar.

Berlin,

im Sommer 1924,

im Frühling 1926.

Louis Lewin.

[5]

Einleitung.

[7]

1. Zur allgemeinen Orientierung.

Seit Kunde von Menschen auf dieser Erde zu uns gelangt ist so auch die, dass sie Stoffe aufnehmen, die nicht Nahrungs- oder Sättigungsstoffe waren, sondern bewusst dem Zwecke dienen sollten, für eine gewisse Zeit einen Zustand von Euphorie, von Behagen, von erhöhtem, subjektiv angenehmem Wohlbefinden hervorzurufen. Solche Kräfte fanden sie in alkoholischen Getränken und einigen sehr wenigen Pflanzenstoffen, den gleichen, die auch heute noch für den genannten Zweck gebraucht werden.

Kein modernes chemisches Bemühen war bisher imstande, irgend etwas auf synthetischem Wege zu finden, was dem in rätselhafter Weise von den Völkern aller Erdteile als zweckmäßig für ihre euphorischen Wünsche erkannt gewordenen Material auch nur im entferntesten an Wirkungen gleichkäme. Die potentielle Energie der letzteren hat die Erde erobert und über scheidende Gebirge und trennende Meere hinweg die Verbindung zwischen Völkern hergestellt. Die Genussmittel dieser Art sind das einigende Band zwischen Menschen entgegengesetzter Hemisphären, zwischen Zivilisation und Unzivilisation geworden und sie haben, seit sie die Menschen in ihren Bann schlugen, sich Wege für ihr Vordringen gebahnt, die, einmal eröffnet, auch für andere Zwecke begehbar geworden sind. Sie gestalteten sich zu Kennmarken, die, in Völkern zurückgeblieben, einen auch sehr weit zurückliegenden wunderbaren Wechselverkehr unter ihnen so sicher diagnostizieren lassen, wie der Chemiker an einer chemischen Reaktion die innerlichen Beziehungen zweier Stoffe zu erschließen vermag. Der unbewusste Kontakt, der [8] sich durch die Verbreitung solcher Mittel zwischen ganzen Völkerreihen eines Erdteils vollzogen hat, erfordert wohl stets Jahrhunderte oder Jahrtausende. Die Völkerkunde hat, worauf ich mehrfach schon hinwies, ein besonders großes Interesse daran, diesen Berührungswegen nachzugehen, hat aber nie den Versuch gemacht, die Elemente für die Rückverfolgung der hier auftauchenden wissenschaftlich und für die Menschheitsgeschichte so bedeutungsvollen Fragen zu suchen. Und doch würde sich bei eingehendem Forschen mancherlei, zumal mit vergleichend linguistischer Hilfe, finden lassen.

Schon das Finden der Eigenschaften erregend oder betäubend wirkender Stoffe und deren Verwendungsart stellt ein gewisses naturwissenschaftliches, durch praktische Beobachtung gewonnenes Erkennen und damit ein Stückchen vom Anfang von Kultur dar, das höchst beachtenswert ist. Und wenn es als ein Symptom von Zivilisation bezeichnet werden darf, dass nackte Bedürfnislosigkeit einem gewissen größeren Maß von Begehren weicht, dass das Individuum mit der primitiven, rohen Leibesnahrung, die ihm zuwächst oder die es sich erkämpft, nicht mehr zufrieden, Reizmittel, vor allem für sein Nervensystem, findet oder erhält und liebgewinnt, dann müssen auch in seiner Organisation die zeitlichen Bedingungen für ein solches körperliches Begehren, mindestens aber für das Lustgefühl, das es durch Erfüllung derselben empfindet, vorhanden sein.

2. Die Beweggründe für den Gebrauch betäubender und erregender Genussmittel.

Mehr als der reine Tatsachenstoff, der über solche Substanzen geliefert werden kann, interessieren den Denkenden die Beweggründe, die zu ihrem Gebrauche und Fortgebrauche veranlassen. Hier vereinen sich ja alle möglichen menschlichen Gegensätze: Unkultur und Kultur und deren Ab[9]stufungen in materiellem Besitz, Lebensstellung, Wissen, Glaube, Alter und Veranlagung in Körper, Geist und Seele.

Der in starre Frone gebannte Tagesarbeiter begegnet sich hier mit dem von Nahrungssorgen freien, sorgenlos von seinem Besitz Lebenden, der Regierende mit dem Regierten, der Wilde irgendeines fernen Eilandes oder des Kongowaldes oder der Kalahari- oder Gobiwüste mit Dichtern, Denkern, Männern der strengen Wissenschaft, mit Gesetzgebern, Staatenlenkern, Menschheitsverbesserern und Misanthropen, der friedlich Gesinnte mit dem Streitsüchtigen und der Religionslose mit dem Frommen.

Es müssen gewaltige und eigenartige körperliche Antriebe sein, die derart einigend wirken, dass sie so unübersehbar viele Varietäten von Menschen des Erdenrundes in ihren Bann zu schlagen vermögen. Mancher hat sich über sie geäußert, sehr wenige sie in ihrer Gesamtheit übersehen und ihre Wesenheit verstanden. Und noch weniger verstanden sie die inneren Zusammenhänge der Stoffe, in denen jene eigenartigen Energien lagern und die Beweggründe zu ihrem Gebrauch.

So meinte man, dass, je tiefer ein Volk auf der Leiter der geistigen Fähigkeiten stehe, um so gröber die ihm angenehmen Reizmittel seien und um so mehr würde es suchen, durch sie sich um sein Bewusstsein zu betrügen und sich von der dumpf gefühlten inneren Leere zu befreien.8 Ein ungewisses Ahnen eigener unverbesserlicher Unvollkommenheit im drückendsten Grade umfange z. B. die Indianer Südamerikas und deswegen eilten sie, von solchem melancholischen Mißgefühl durch heftige Aufregung sich zu befreien, d. h. durch den Gebrauch von Koka und anderen Stoffen.

Ja, Männer, die, wie Tolstoi, unfähig waren, in diese Fragen einzudringen, gingen auch in unserer Zeit so weit, als Ursache des Rauchens und Trinkens eine Betäubung des Gewissens und für den Gebrauch des Opiums im malayischen Archipel eine ,,ungenügende Erziehung auf christlicher Grund [10]lage“ heranzuziehen. Solchen unglaublichen Absurditäten begegnet man allenthalben reichlich. Sie sind geeignet, einerseits Erstaunen über die Mängel an Tatsachenkenntnis und des Urteils über den Menschen und seine Triebe hervorzurufen und andererseits den dringenden Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, dass mehr Erkenntnis über die hier in Frage kommenden Probleme in weiteren Kreisen geschaffen würde.

Die mächtigste Triebfeder für die häufige oder die Alltagsverwendung der hierher gehörenden Stoffe liegt in ihren Eigenschaften selbst, in ihrer Fähigkeit, in bestimmter Art und mehr oder minder lange die Funktionen der Lust- bzw. Annehmlichkeitsempfindungen vermittelnden Stellen im Großhirn wachzurufen und die Erinnerung an die empfundenen Gefühle in irgendeinem Umfange wachzuhalten. Die Wirkungsunterschiede zwischen den einzelnen sind groß. Selbst innerhalb der beiden großen Gruppen von Wirkungsmöglichkeiten, nämlich der Erregung und der Lähmung, schwanken die Erscheinungsformen ihrer Energieentfaltung. Sie stellen sich als mehr oder weniger abgestimmt und adäquat dem zeitlichen Zustand des Nervensystems des sie Einführenden dar.

Ebenso verschieden sind die ersten Veranlassungen, zumal für die betäubend wirkenden Mittel. Mag es nun aber die nackte, grundlose Nachahmung sein, die ja auf der Welt so viel närrisches oder verderbliches Tun veranlasst und für manche Menschen als dauerndes Zugpflaster für ihre Neugierde bis zur endlichen Erfüllung wirkt oder das Erkannthaben ihrer euphorischen Wirkung, als das Individuum sie als Arznei zu nehmen genötigt war oder die bewusste Absicht, eine angenehme zeitliche Zustandsänderung seiner selbst herbeizuführen, in eine andere Bahn des Denkens und Empfindens zu kommen, z. B. das zu erreichen, was einst ein Indianer in Guatemala, den man fragte, warum er soviel Aguardiente, d. h. Schnaps, trinke, ge[11]antwortet hat: Der Mensch müsse manchmal „zafarse de su memoria“, d. h. sich vor seinem Gedächtnis Ruhe schaffen – immer ist es die Reaktion der oft zauberhaften, manchem der Mittel eingeborenen Kraft auf das Gehirn, die alles weitere veranlasst, was sich danach im Körper von dem bis zur Sehnsucht anschwellenden Verlangen des Weitergebrauches an bis zu den dadurch veranlassten krankhaften Störungen abspielt.

Ich sah Männer, die zuerst aus Neugierde ein narkotisches Mittel nahmen und von der Wirkung desselben erfasst, zu Gewohnheitsgebrauchern desselben wurden. Verderbliche Popularisierung von Wissensstückchen über die Eigenschaften solcher Stoffe schuf und schafft Adepten in verhängnisvollem Umfange. Davon weiß die neueste Zeit zu klagen, in der die Narkomanie zu einer ungeahnten Höhe anschwoll – so hoch, dass selbst diejenigen, die in Bezug auf die Verbreitung solcher Leidenschaften Pessimisten waren, davon überrascht worden sind.

An mich wandten sich Männer mit nicht ganz unbekanntem Namen um einen Stoff zu erhalten, von dem sie erfahren hatten, dass er auffällige Sinnestäuschungen, Trugwahrnehmungen erzeuge. Sie hofften, von den letzteren angenehme Empfindungen zu erhalten, ja, einer meinte, sie sogar für dichterische Produktionen etwa höherer Ordnung verwerten zu können.

Und so könnte noch mancher andere Umstand als erster Veranlasser des in die Alltagsgewohnheit eintretenden Gebrauches betäubender oder erregender Mittel angeführt werden, denn das Leben und nur die Einzelleben mit ihren unübersehbaren zahlreichen, theoretisch gar nicht auszudenkenden Gestaltungsmöglichkeiten schaffen jene so oft überraschenden, für das Einzelindividuum entscheidend werdenden Ursachen für Normalsein, Kümmerlichsein oder Nichtsein.

[12]

3. Die Bedeutung der persönlichen Veranlagung in Bezug auf fremde Reize, die den Körper treffen.

Legte ich in dem Vorstehenden den letzten Grund der Sucht, solche Stoffe gewohnheitsmäßig zu gebrauchen, in deren oft wunderbare Wirkungseignung für das Gehirn, so ist damit zwar der wesentliche Anteil, den diese an der Entstehung auch der körperlichen Folgen hat, bezeichnet, unbeantwortet bleiben jedoch dadurch eine Reihe von schwerwiegenden Fragen, die auch sonst für das individuelle Leben des Menschen von höchster Bedeutung sind. Vor allem diejenigen, die sich auf die verschiedenartige Reaktion der Menschen unter dem Einflusse nicht nur solcher Betäubungsstoffe überhaupt, sondern auch anderer chemischer sowie andersartiger Einflüsse und auf die Möglichkeit beziehen, sie lange Zeit hindurch, scheinbar ungestraft, auch in Mengen zu vertragen, die, in kurzen Intervallen genommen, für andere körperliches Verderben zu bringen geeignet erscheinen. Schon das primitivste Wissen über sie lehrt ja, dass der größere Teil von ihnen Träger hoher Energie ist, die sich fast ausschließlich auf das Nervensystem erstreckt.

Die Beantwortung dieser Fragen ist seit Jahrtausenden oft versucht und nie gegeben worden. Sie zwingt auf ein biologisches Gebiet hin, das zu den dunkelsten der vielen gehört, die Menschen so gern aufhellen möchten, das Gebiet der Individualität, der Persönlichkeit, der persönlichen Veranlagung, zu dem auch das der Gewöhnung gehört. Kein Problem des menschlichen reaktiven Lebens drängt sich wie dieses dem Geiste auf. Auf Schritt und Tritt sperrt es den Weg und quält den, der auch nur bis zur Schwelle der Erkenntnis seines ganzen Inhalts vordringen möchte, seelisch mehr als irgendein anderes der vielen Wissensbegehrnisse, die nur als Fragen und Fragen aus dem Chaos dunkler, undeutbarer Vorgänge, die wir Leben nennen, zum Lichte, zur Erfüllung emporstreben wollen und – doch [13] immer nur Erkenntnisprobleme bleiben werden. Man leidet hier unter der faustischen Qual des Nichterkennenkönnens und bedauert tief, was gerade in unserer Zeit sich unangenehm bemerkbar macht und schon Molière wiederholt satirisch gegeißelt hat: die Sucht, das, was man nicht wissen kann, in ein nichtssagendes griechisches oder lateinisches Fremdwort zu kleiden oder eine erklügelte Vermutung so oft zu wiederholen, bis törichte medizinische und nichtmedizinische Adepten, des eigenen Denkens unfähig, die Phrase als Wahrheit zu stempeln unternehmen. Nicht gar so selten trifft man heute noch auf Deutungen von Arznei- und Giftwirkungen, die nichts anderes als gelehrt ausschauende Umschreibungen der Wirkungen sind. Man erinnert sich dabei der burlesken Szene in Molières „Le malade imaginaire“, in der Fakultätsmediziner auftreten und in einem lateinisch-französischen Kauderwelsch den als Arzt aufzunehmenden Baccalaureus examinieren. Auf die Frage nach dem letzten Grunde der schlafmachenden Opiumwirkung:

Demandabo causam et rationem quare

Opium facit dormire

antwortet der Examinand:

Quia est in eo

Virtus dormitiva

Cujus est natura

Sensus assoupire

d.h. weil in ihm eben schlafmachende und die Sinne betäubende Eigenschaften lägen. Und der Chor der Examinatoren ruft:

Bene, bene, bene, bene respondere

Dignus, dignus est intrare

In nostro docto corpore.

[14] Gerade Pharmakologie und Toxikologie werden auf diese Weise leider oft zum Tummelplatz auch von Verteilern metaphysischer Ungereimtheiten. Diese Lehren vertragen keine Philosopheme und von solchen ist kein Aufklärungserfolg zu erwarten. Arzneimittel und Gifte wurzeln mit ihrer Energie und Energieübertragung in einer stofflichen Welt, welche Wirkungserscheinungen kommen, aber nach dem Wie? vergebens fragen lässt.

Die in gewissen Grenzen bei Menschen zutage tretende Widerstandskraft oder Widerstandslosigkeit gegen manche mit potentieller Energie, auch von außen an sie gelangte Stoffe ist unerklärbar. Die einzige Annahme besteht, dass es eine verschiedene, das ganze körperliche Leben umfassende Energetik gibt. Diese kann man Lebenskraft nennen. Ich verstehe darunter die Summe aller chemischen, physikalischen und vom Willen beherrschten mechanischen Fähigkeiten, die reaktiv in nicht immer gleicher Form bei Individuen zur Betätigung kommen.

Diese eingeborene, an jeden Teil des Körpers, gleichgültig ob Gehirn oder Nerven oder Muskeln, Drüsen oder Eingeweide, Knochen oder Schleimhäute – an alles, was zellhaltig und nicht zellartig zur Konstitution des Gesamtorganismus gehört – sich knüpfende Energie ist nicht jene mystische Kraft, die man als Spiritus rector, als Archaeus in früheren Jahrhunderten in der Theorie des Körperlebens eine Rolle hat spielen lassen, sondern eine im Körper von Ort zu Ort, in Art und Stärke verschiedenartige, zerstörende, aufbauende, lösende, festigende, unübersehbar kompliziert und trotz aller auch individueller Verschiedenheiten immer gesetzmäßig waltende Arbeitsordnung, von der die schließlich verwirklichte Arbeitsleistung abhängt.

Sie äußert sich aktiv oder passiv in erhöhter oder verminderter Arbeit oder in den verschiedenen Gestaltungen des Ertragens, Nichtertragens oder Andersertragens von [15] Forderungen, die durch innerliche oder von außen kommende fremde Einflüsse reizartiger oder anderer Natur gestellt werden. Die Reaktionsformen auf solche Reize können von Mensch zu Mensch sehr weit, bis zur Unähnlichkeit auseinandergehen.

In diese Verschiedenheiten des individuellen Gesamtlebens bzw. des Reagierens von Körperteilen auf Reaktion heischende Potenzen stofflicher oder nichtstofflicher Natur sind auch einzuschließen der Ausgleichstrieb bzw. die Ausgleichsfähigkeit für Unordnungen, die in dem körperlichen Leben durch körperfremde Einflüsse entstanden sind. Jedes Lebewesen verfügt gegenüber einem es treffenden Schaden über ein gewisses Maß abwehrender und regulatorischer Energie, deren Größe einen ebenso schwankenden Wert darstellt, wie die Energie der normalen Lebensvorgänge. Die Betätigung der Selbsthilfe sehe ich als für das Wohl des Individuums erfolgende Zweckmäßigkeitsakte und nicht als zweckfreie innere Notwendigkeiten an. Ich stimme der Auffassung bei, die Pflüger in seiner teleologischen Mechanik zum Ausdruck gebracht hat: „Die Ursache jeden Bedürfnisses eines lebendigen Wesens ist zugleich die Ursache der Befriedigung des Bedürfnisses“, wobei als Ursache des Bedürfnisses jeder veränderte Zustand der lebendigen Organismen, der im Interesse der Wohlfahrt des Individuums in einen anderen Zustand erfolgt, zu verstehen ist. Die Selbsthilfe erfolgt stets in irgendeinem Umfange, kann aber – wenn es sich z. B. um Gifte einschließlich der Krankheitsgifte handelt – aufhören, wenn deren chemisch-reaktive Kraft die vitale Energie, die Lebenskraft, am Orte der Giftwirkung oder allgemein ausschaltet. Auch die den Geweben innewohnende Reservekraft vermag nicht unter solchen Umständen einen Ausgleich eines abnormen körperlichen Vorganges herbeizuführen.

Vielleicht wäre hier auch die geeignete Stelle auf eine Überlegung kurz hinzuweisen, die ich seit vielen Jahren zum [16] Gegenstand der Darlegung in meinen Vorlesungen gemacht habe. Man könnte nämlich daran denken, dass der Antrieb und die Verwirklichung von Ausgleichsvorgängen gegenüber gewissen körperfremden Einflüssen, die den menschlichen Organismus treffen, nach einem naturwissenschaftlichen Prinzip vor sich gehen, das unter dem Namen des Prinzips vom Widerstand gegen den Zwang oder des Prinzips vom kleinsten Zwang von d’Alembert, Gauss und später von Le Chatelier für chemische bzw. physikalische Vorgänge angegeben wurde. Es heißt: Jeder Zwang, der auf ein im Gleichgewicht befindliches System ausgeübt wird, ruft denjenigen Vorgang hervor, der den Erfolg des Zwanges zum Teil aufhebt (Widerstand der Rückwirkung gegen die Wirkung). Man kann auch sagen: Wird das Gleichgewicht in einem System durch einen äußeren Einfluss gestört, so entstehen Wirkungen, welche diesem Einflüsse entgegenarbeiten. Das Gleichgewicht wird in dem Sinne verschoben, dass der Zwang aufgebraucht wird. Systeme, die den angetanen Zwang nicht vermindern sondern vergrößern, sind nicht im stabilen sondern im labilen Gleichgewicht. Der menschliche Körper besitzt beide Arten. Die Folgerungen, die sich aus der Übertragung des genannten Prinzips auf chemisch-reaktive Vorgänge im menschlichen Körper, z. B. nach Einbringung von narkotischen Stoffen, ziehen lassen, im Einzelnen darzulegen ist hier nicht der Ort. Es mag genügen zu sagen, dass schon jetzt durch diese Betrachtungsweise die Vorstellungen über manche solcher reaktiven vitalen Erscheinungen erleichtert werden können.

Innerhalb der beiden extremsten Möglichkeitsgrenzen der gesamten regulatorischen Kräfte des Gesamtorganismus oder einzelner seiner Teile, von Erfolg bis zum Nichterfolg, gibt es zahlreiche von der Energie des Individuallebens abhängige Unterschiede.

[17] Dieses Stück von meist vererbtem Individualleben, die persönliche Veranlagung, die sich durch kein erkennbares äußerliches Körperverhalten und durch keine Gewebs- oder Säfteverschiedenheit verrät, muss für jeden reaktionsmöglichen Einfluss bewertet werden. Sie besteht nicht nur, sondern drängt sich meistens sogar auf. Ihre große Bedeutung leugnen, ist ein Zeichen medizinischer Unbildung, sie unterschätzen kann verhängnisvoll werden, in ihrem Wesen sie zu erklären wird nie einem Sterblichen gegeben sein. Sie wirkt und ist doch in allen ihren Teilen ein Mysterium. Der Versuch, für ihre Deutung nun gar die inkretorischen Drüsen heranzuziehen, muss, schon weil er eine allzubeschränkte Auffassung der Persönlichkeit verrät, zurückgewiesen werden. Sie stellt eine Gleichung mit so vielen unbekannten Größen dar, dass ihre Auflösung unmöglich erscheint.

Sie bringt es auch zuwege, dass normale körperliche Verrichtungen individuell so verschieden sind. Kaum eine Funktion von Körperorganen, von der Gehirn- und Rückenmarkstätigkeit an bis zu der Arbeit der Drüsen, der Assimilation von Nahrung, den allgemeinen Stoffwechselvorgängen, der Bewegung innerer Organe, der Kraftentfaltung muskulöser Teile, vollzieht sich bei den verschiedenen Menschen in gleich starker Weise. Diesen Verschiedenheiten in der Höhe physiologischer Leistung gleichzustellen sind diejenigen der reaktiven Äußerungen auf körperfremde Einflüsse. Nichts hat, von der ältesten Zeit bis heute, Ärzte und Laien biologisch so in Erstaunen gesetzt, wie die Tatsache, dass Krankheitsursachen, einschließlich der Arzneistoffe, Gifte und Genussmittel einen so verschiedenen Resonanzboden bei gewissen Menschen und Tieren finden.

So wird schon in früher Menschheitsgeschichte mitgeteilt, wie Verwundungen den einen töteten und schwerere den anderen freiließen, wie gewisse Tiere giftige Pflanzen in Mengen aufnähmen, durch die ein Mensch und andere Tiere vergiftet werden könnten. Galen, der große medizinische [18] Geist, dem man viel mehr als ein Jahrtausend in seinen Anschauungen nachging und der dann von manchem, der ihn nicht kannte, als Irreführer bezeichnet wurde, hat über Toleranz für Schädlichkeiten auf der Grundlage der Gewöhnung und Nichtgewöhnung Betrachtungen angestellt, die mehr wert sind, als die modernen, für den Kundigen bedeutungslosen Umschreibungen der einfachen, aber unerklärlichen Wahrheit, dass eben die wechselvolle reaktive Kraft chemischer Stoffe bei gewissen Individuen oder Rassen unter sonst erkennbar gleichen Verhältnissen kleiner oder größer ist als bei anderen oder überhaupt sich bricht an einer bestimmten eigenartigen Organisation des Betroffenen. Dies gilt auch für die Wiederherstellung von Krankheiten, gleichgültig ob es Wunden oder innere Störungen sind. So kann man es z. B. für wahr halten, dass Neger eine größere Heilungsenergie als Weiße für die ersteren haben. Dieser Erfolg ist nicht auf klimatische Bedingungen, sondern auf ihnen innewohnende Eigenschaften zurückzuführen.

Die Icheigenschaft kann für jede Art von Einwirkung: mechanische, chemische oder geistige, bestehen und sich durch Über- oder Unterempfindlichkeit kennzeichnen, die ihrerseits wieder die weitestgehenden Äußerungsformen haben können. Ein körperstarker Mensch kann gegen eine bestimmte stoffliche Einwirkung überempfindlich, ein schwacher unter- oder sogar unempfindlich sein. Die persönliche Eigenart schafft auch jene regelwidrigen Verlaufsarten von Vergiftungskrankheiten, auch durch betäubende oder erregende Stoffe, die, da sie einmal möglich sind, keine Voraussage gestatten. Keine Formel und kein Schema gibt es hier, die einen festen Rahmen für die Beurteilung bieten, denn alle gewollte Begrenzung des Urteils durchbricht die Individualität. Wie der Astronom für die Wahrnehmung mit seinem Auge eine „persönliche Gleichung“ hat, so gibt es wahrscheinlich für jeden Menschen, wie ich es [19] nannte – und kleine literarische Diebe es nachschrieben – eine „toxische Gleichung“, d. h. eine verschiedene Empfindlichkeitsgröße des Gesamtkörpers oder einzelner Organe gegenüber verschiedenen chemischen Stoffen. Sie bringt es zuwege, dass die funktionelle Reaktion auf einen solchen Stoff bei dem einen quantitativ, bisweilen auch qualitativ anders verläuft als bei einem anderen. Das Unfassliche wird auf diesem Gebiete zum Ereignis, dass z. B. von zwei Menschen, die in dem gleichen Räume der gleichen Einwirkung von Kohlenoxyd ausgesetzt sind, der eine leicht erkrankt, der andere stirbt oder mit einem unheilbaren Gehirnleiden oder einer Lungenentzündung oder einem Lungenzerfall oder anderen geweblichen Ernährungsstörungen dem Gifte seinen Tribut zahlt.

Die Umsetzung der Wirkungs- bzw. Gefährdungsmöglichkeit in die Schädigungswirklichkeit vollzieht sich durch alle den menschlichen Körper treffende Einflüsse nicht einheitlich gleich. Keinem Menschen war es bisher gegeben, zu erkennen, warum dies letzten Endes so ist. Auch für alles solches Geschehen gilt noch immer und wird in aller Zeit das Wort Albrechts v. Haller Geltung haben:

Ins Innere der Natur

Dringt kein erschaffener Geist,

Glückselig, wem sie nur

Die äußere Schale weist.

Mit einer sehr viel geringeren sachlichen Berechtigung als es vielleicht einmal von einem Berufenen, am Forschungswerke Beteiligten, geschehen könnte, hat Goethe versucht diesen Ausspruch zurückzuweisen. Für den Dichter „hat Natur weder Kern noch Schale – alles ist sie ihm mit einem Male“. Was aber Haller meinte, ist leider nur zu wahr. In der Biologie und allem anderen, was die Natur als Lösungsproblem von Unverständlichem und Unverstehbarem dar-[20]bietet, gibt es wirklich Schale und Kern: das Sichtbare und das dem Wesenheitserkennen Verschlossene. Vor allem in der Biologie. Wir erblicken allenthalben nur das Zifferblatt des Geschehens, mit seinen Zeigern, allein das Werk mit seiner treibenden Kraft zu erkennen, vermögen wir nicht. Es besteht hier die gleiche Kluft wie auf dem Gebiete des kausalen Erkennenwollens und Nichterkennenkönnens der Entstehung von Lebewesen oder eines ihrer Gewebe oder auch nur einer ihrer Zellen. Die Überzeugung von Kant in dieser Beziehung wird immer wahr bleiben: „Eher wird die Bildung aller Himmelskörper, die Ursache ihrer Bewegungen, kurz der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues eingesehen werden können, ehe die Erzeugung eines einzigen Krautes oder einer Raupe aus mechanischen Gründen deutlich und vollständig kund wird“. Auch „chemische Gründe“ werden nie zum Ziele führen.

Jeder Mensch trägt seine eigenen, individuellen biologischen Gesetze in sich und jeder ist der Träger seiner eigenen psychologischen Komplexe. Mithin gibt es auch keine psychologischen Konstanten. Jeder Versuch solche zu konstruieren, trägt a priori den Stempel der Unfruchtbarkeit in sich. Es ist aus diesem Grunde eine sichere aprioristische Beurteilung dessen, was an Wechselwirkung zwischen einem Stoff und dem Körper eintreten wird, unmöglich. Es ist bezeichnend, dass auch ein Mann wie Kant die hohe Bedeutung der Individualverschiedenheiten so erkannt hat, dass er an einen Arzt, Marcus Herz, schreiben konnte: „Studieren Sie doch ja die große Mannigfaltigkeit der Naturen.“

4. Toleranz und Gewöhnung.

Den eben vorgeführten Problemen gleichwertig ist das der Gewöhnung, das bereits seit frühester medizinischer Zeit die Denker beschäftigt hat. Die Gewöhnung umfasst körper[21]lich reaktive Ereignisse, die bisher keinerlei Möglichkeit einer begründeten, zuverlässigen Erklärung zuließen. Es handelt sich um die Tatsache, dass in jeder Leistungssphäre des tierischen Körpers ein von außen kommender Einfluss, der an sich geeignet ist, eine bestimmte funktionelle Reaktion auszulösen, bei wiederholter Einwirkung, unter sonst gleichbleibenden Bedingungen seiner Form und Masse, allmählich an Wirkung evtl. bis zum Versagen verliert.

Allenthalben im körperlichen Leben begegnet man diesem Ereignis. Wenn durch Druck auf eine Hautstelle, z. B. beim Rudern, Schmerzen und örtliche Veränderungen entstanden sind, so wird, falls sich die wirkende Ursache häufig wiederholt, nach und nach eine Abstumpfung derart eintreten, dass die gleiche Summe der mechanischen Leistung kaum noch empfunden wird und weiterhin örtliche Veränderungen ausbleiben. Dies kann, braucht aber nicht einmal die Folge von Schwielenbildung zu sein. Die sensiblen Nerven können, auch ohne dass eine Schwiele sie schützt, gegen die bezeichnete Art von Insult eine mindere Empfindlichkeit erlangt haben. So sah ich wiederholt, dass Gärtner, die speziell mit Kakteen arbeiteten, bei der Hantierung mit Mamillarien oder Echinokakteen an den Händen viele eingedrungene Stacheln trugen, ohne sonderlich dadurch belästigt zu werden, während bei einem nicht daran Gewöhnten schon ein einzelner infolge seiner Stechwirkung das lebhafte Bedürfnis nach Entfernung erregt.

Ähnliches an den Funktionen von Sinnesnerven zu sehen, bietet sich oft, besonders im praktischen Betriebsleben, Gelegenheit. So wird das Stampfen von schweren Maschinen, das Fallen des Dampfhammers, die Arbeit von vielen Klöppelmaschinen von den berufsmäßig solchen Geräuschen Ausgesetzten ebensowenig unangenehm empfunden als das Abschießen oder die Detonation krepierender Projektile von [22] Soldaten im Kriege schließlich empfunden wird. Alle Sinnesorgane können bei oft wiederholter Wirkung einer gleichen sie reizenden, erschütternden, ihre Funktion in irgendeinem Intensitätsgrade auslösenden Ursache, wie man sagt, eine Abstumpfung ihrer Empfindlichkeit erlangen und erkennen lassen.