Horrorhamster

1. Prolog

2. Ein Scheißjob

3. Vorfreude

4. Unerwartet

5. Im Hotel

6. Nicht im Traum

7. Probleme

8. Konfrontation

9. Gewissensbisse

10. Noch ein Gespräch

11. Verzweifelte Maßnahmen

12. Fliegen

13. Ortswechsel

14. Raumteiler

15. Neumond

16. Erwartung

17. Neubeginn

18. Eine herbe Enttäuschung

19. Reue

20. Heimkehr

21. Vor Sonnenaufgang

22. Wieder Hamster

23. Kampf

24. Allein

25. Nass

26. Pläne, Träume und das echte Leben

27. Eine Art Aussprache

28. Finale

29. Friede, Freude

30. Epilog

Impressum

 

Horrorhamster: Ebernau 2

Text Copyright © 2017 Regina Mars

Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.

Regina Mars

c/o

Papyrus Autoren-Club,

R.O.M. Logicware GmbH

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

regina@reginamars.de

www.reginamars.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Umschlagbild und Umschlaggestaltung: Regina Haselhorst

Illustration Copyright © Regina Haselhorst

www.reginahaselhorst.com

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Reale Personen wären auch vernünftig genug, Safer Sex zu praktizieren, im Gegensatz zu den Fantasiegestalten in diesem Roman. Die müssen sich darum keine Sorgen machen, da es sie nicht gibt.

Aufgrund vereinzelter homoerotischer Szenen ist dieses Buch nur für Personen über 18 Jahren geeignet. Ja, es enthält schwulen Sex. Gern geschehen.

1. Prolog

 

»Was willst du denn hier?«, war das Erste, was Marc Winter je zu ihm sagte. Flo wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

»Ich, also …«, begann er und hatte keine Ahnung, wie er weitermachen sollte. »Kennen wir uns?«

Hellgrüne Augen durchbohrten ihn. Selbst mit dreizehn sah dieser blonde Typ schon so arrogant aus wie ein uralter englischer Lord. Alle normalen Dreizehnjährigen waren wie Flo: unsicher, ungelenk und verpickelt. Na ja, vielleicht nicht ganz so unsicher wie Flo. Er war, wie stets, ein besonders erbärmliches Exemplar der Spezies »Junge«.

»Ich weiß, wer du bist«, sagte der Blonde und schnaubte verächtlich. »Du Schwächling. Du bist ihr Sohn.«

»I-ihr …« Flo verstummte. Jeder in Ebernau wusste, wer seine Mutter war, aber normalerweise bekam er deshalb keinen Ärger. Eher Bewunderung. Seine Mutter war das Mädel aus dem Fleischhauerviertel, das den reichsten Mann der Gegend geheiratet hatte. Die härteste Arbeiterin von ganz Ebernau. Marie, die inzwischen zwölf Chalets und ein Restaurant besaß.

Flo machte einen Schritt zurück. Der Blonde folgte ihm. Flos Kniekehlen stießen gegen eine der Holzbänke, in die Generationen von Skischülern ihre Initialen gekerbt hatten. Diese Hütte hatte mehr Kerben als glatte Stellen. Die rot-gelben Banner des Wintersportvereins verdeckten die schlimmsten Macken, aber es war offensichtlich, dass die Wände so alt und verbraucht waren wie die kalte Luft. Die elf Jungs und Mädchen, die sich hier versammelten, wirkten in der Umgebung wie blankpoliert. Ihre neuen Snowboard-Anzüge leuchteten vor den dunklen Wänden.

Nur der komische Junge, der Flo anfeindete, trug eine grüne Jacke, der die Hälfte der Knöpfe fehlte. Ihr Kragen war speckig und auf dem linken Ärmel prangte ein verwaschener Fleck. Der Kerl hätte schäbig ausgesehen, wenn sein hübsches Gesicht nicht gewesen wäre. Flo war sich noch nicht zu hundert Prozent sicher, dass er auf Jungs stand. Aber er musste jetzt schon zugeben, dass dieser Idiot ein gutaussehender Idiot war. Und ein Arschloch, offensichtlich.

»Gibst du zu, dass du ihr Sohn bist?«, fragte das Arschloch herausfordernd.

Flo ballte die Fäuste. Sie zitterten. Ja, er war schüchtern. So schüchtern und scheu, dass er sich kaum traute, mit Fremden zu sprechen. Doch selbst seine Geduld hatte Grenzen. Beleidigte dieser Trottel seine Mutter?

»Hast du ein Pro-problem mit meiner Mutter?«, fragte er den Blonden. Der schnaubte schon wieder. Ein fieses Lächeln huschte über seine Mundwinkel.

»Stotterst du auch noch?« Er verdrehte die Augen. »Nur dass du’s weißt: Deine Mutter hat meiner Mutter vor siebzehn Jahren die Skiköniginnenkrone geklaut. Sie wär’s garantiert geworden, wenn deine Alte nicht mit dem Richter angebandelt hätte.«

»Was? Das, äh, höre ich zum ersten Mal.« Flo straffte sich. »Und selbst wenn, was ist das für ein blöder Grund? Das ist ewig her. Vor siebzehn Jahren waren wir beide noch nicht geboren.«

»Waren wir beide noch nicht geboren«, höhnte der Arschlochidiot. »Das ist egal. Meine Familie vergisst nie, merk dir das.«

»Deine Familie?« Flo starrte ihn an. »S-seid ihr berühmt oder so? Wieso hab ich dich dann noch nie gesehen?«

Er hörte ein leises Kichern aus der Gruppe. Er sah, dass die Ohren des Blonden einen leichten Rotton annahmen. Die hellgrünen Augen verengten sich zu Schlitzen. Hätte Flo weiter zurückweichen können, hätte er es getan. Fast rechnete er mit einem Schlag. Bebend beobachtete er die Fäuste seines Gegners, die in schäbigen Handschuhen steckten.

Aber der Idiot wirbelte herum.

»Wer hat gelacht?«, rief er. Niemand antwortete. Alle starrten ihn an.

Was für ein Psychopath, dachte Flo.

Er zuckte zusammen, als der Trottel sich ihm wieder zuwandte. Er deutete auf Flos 450-Euro-Skijacke, als könnte sein Zeigefinger Laserstrahlen darauf abschießen.

»Dich mach ich fertig«, knurrte der Blonde.

»Was?« Flo sah sich panisch nach ihrem Trainer um. Aber der stand noch vor der Hütte und besprach die letzten Kleinigkeiten mit seinem Praktikanten. Flo begann zu bereuen, dass er sich für diesen Workshop angemeldet hatte.

»Mann, guck nicht so blöd.« Der Idiot verzog das Gesicht. »Ich hau dich doch nicht. Meinst du, ich hab’s nötig, Schwächlinge zu verprügeln? Ne, da draußen mach ich dich fertig. Auf dem Board. Deine teure Ausrüstung wird dir ’nen Scheiß bringen.«

Wut brodelte in Flo hoch.

»Was ist dein Problem? Ich hab dir nichts getan. Ich … ich kenne dich doch gar nicht.«

»Wirst du aber. Mich kennenlernen, meine ich.« Der blonde Trottel grinste breit. Spitze Eckzähne funkelten. »Auf der Piste bin ich der King. Wirst schon sehen.«

»Werd ich nicht«, sagte Flo, weil ihm nichts Besseres einfiel. Dann hatte er einen Geistesblitz, endlich. »Weil … ich dich so weit hinter mir zurücklasse, dass ich dich gar nicht sehen kann.«

»Ach ja?« Das Grinsen wurde breiter. »Das finden wir gleich raus.«

»Ja. Finden wir.«

Und jetzt? Flo war keinen Streit gewohnt. Er war schließlich ein Einzelkind, verdammt! Glücklicherweise schien es das gewesen zu sein. Der Blonde drehte sich um, stapfte auf die entgegengesetzte Seite des Raums und ließ sich zwischen zwei anderen Jungs auf eine der Holzbänke fallen. Die klatschten ihn ab, als hätte er gerade irgendetwas gewonnen.

»Idiotisch«, murmelte Flo. Er kannte sich so gar nicht. Sonst war er viel zu unsicher, um sich zu zanken. Was hatte dieser Proll an sich, das ihn so wütend machte?

»Es liegt nicht an dir«, sagte ein dunkelhaariges Mädel neben ihm. Allerdings so leise, dass der Blonde sie nicht hören konnte. »Der ist immer so. Ein Volltrottel.«

»W-wer ist das überhaupt?«, fragte Flo.

»Marc Winter.«

Oh. Ja, von Familie Winter hatte er gehört. Das ließ sich in einer Kleinstadt mit Dorfcharakter nicht vermeiden, selbst, wenn man die Privatschule am anderen Ende der Stadt besuchte. Marc musste in einem der ärmeren Viertel zur Schule gehen, an einem Ort, an dem einem offensichtlich keine Manieren beigebracht wurden.

Flo schwor sich, Marc Winter Schnee fressen zu lassen, wenn er an ihm vorbeizog. Er würde ihn schlagen, ganz fair. Da draußen. Der Kerl würde nicht wissen, was ihn erwischt hatte.

Leider kam es anders. Marc Winter, der arrogante Angeber in den ärmlichen Klamotten, war der beste Snowboarder, den Flo je erlebt hatte. Es dauerte Jahre, bis er ihn einholte. Und noch länger, bis sie zum ersten Mal ein freundliches Wort miteinander wechselten.

 

 

Fünf Jahre später

2. Ein Scheißjob

 

»Ich würde mich so gern wieder verlieben«, seufzte seine Mutter und stützte den Kopf in die Hände.

Sie lehnte an dem mit Brotkrumen übersäten Tisch wie eine jungfräuliche Prinzessin, die gleich ein Lied über die wahre Liebe anstimmen würde, zusammen mit einem Chor aus Vögeln, Mäusen und Kaninchen. Nun, Mäuse hatten sie hier tatsächlich ab und zu. Abgesehen von denen würde sie mit Lebensmittelmotten vorliebnehmen müssen.

Gerade waren die einzigen Geräusche allerdings das Knarzen des alten Hauses und das Klappern des Geschirrs. Der Geruch von Kaffee und frischem Brot lag noch in der heizungswarmen Luft.

»Richtig verlieben, wisst ihr?«

Marc und Josh sahen sie ungläubig an. Shirley fuhr damit fort, den Tisch abzuräumen, während sie ein Buch auf dem Unterarm balancierte, in das sie vollkommen vertieft war.

»Warum?«, fragte Josh, der Spätzünder. Marc bezweifelte, dass der mit fünfzehn schon herausgefunden hatte, was Mädchen waren. »Du warst doch schon verliebt.«

»Einmal ist nicht genug«, sagte ihre Mutter und seufzte erneut. Noch prinzessinnenhafter. »Selbst zweimal nicht.«

»Wie oft denn dann?«, fragte Marc misstrauisch. »Ne, warum lässt du es nicht einfach? Nachher kriegst du dann noch so eine nervige Blage, um die ich mich kümmern muss.«

»Du kümmerst dich überhaupt nicht!«, motzte Josh. Sein sommersprossiges Gesicht drückte Unmut aus. »Die Wohnung ist ein Saustall und kochen kannst du auch nicht. Seit Nils in Köln ist, geht hier alles den Bach runter.«

»Koch du halt«, sagte Marc. »Wenn du so darauf stehst.«

»Bitte nicht«, riefen seine Mutter und Shirley im Chor.

»Ich koche super«, behauptete Josh. Marc schnaubte.

»Stimmt, die Honigzwiebeln in Marmeladensauce gestern waren scheiß-delikat.« Er würgte.

»Ich versuch’s wenigstens!«, rief Josh. Er warf die Hände in die Luft. »Und ich erledige meine Aufgaben. Du schwänzt den Putztag dauernd für dein blödes Training!«

»Hey, ich bin so knapp davor, Profi zu werden.« Marc hielt Daumen und Zeigefinger Millimeter voneinander entfernt. »Ich hab keine Zeit für …«

»Ich sagte, ich würde mich gern wieder verlieben«, drängte seine Mutter sich dazwischen. Sie räusperte sich vernehmlich. »Immer nur zuhause hocken und mich um euch zu kümmern, das ist nichts für mich. Ich bin eine leidenschaftliche Frau.«

Josh sah sie entsetzt an.

»Romantische Liebe endet stets im Desaster«, behauptete Shirley, die davon noch weniger verstand als Josh. Niemand außer Marc verstand etwas davon. Er war bestimmt der Einzige im Raum, der in diesem Jahr schon jemanden flachgelegt hatte. Hoffentlich. Er hatte keine Ahnung, was seine Mutter so mit ihren erwachsenen Skischülern trieb.

»Ach, davon verstehst du nichts, Shirley«, sagte Jennifer Winter und verdrehte die Augen. »Ich meine, natürlich stimmt das, aber … lass deiner alten Mutter doch die Hoffnung auf etwas Romantik. Auf etwas Abwechslung.«

»Du bist nicht alt«, sagten die Zwillinge pflichtschuldig. Marc schwieg. Seine Mutter war vierzig, das war schließlich uralt!

»Und wozu soll dieses Verlieben gut sein?«, fragte Marc.

Sie schnaubte leise. »Das verstehst du nicht, Kleiner. Dafür bist du viel zu egozentrisch. Sich zu verlieben, das … Also dieser Moment, wo es passiert, der Moment, in dem man seinem Traummann in die Augen sieht, das ist …« Sie überlegte. »Das ist, als würde eine Konfettibombe in einem explodieren. Boom!« Sie warf die Arme in die Luft.

»Boom!«, rief Josh, der immer für Explosionen zu haben war.

»Konfettibomben gibt’s nicht«, murrte Marc.

Seine Familie war so bescheuert. Er schüttelte den Kopf und marschierte aus der Küche. Im Bad hatte er endlich Ruhe. Unter der funzligen Deckenlampe stylte er sich die Haare, bis er noch besser aussah als sonst. Als Einziger seiner Geschwister hatte er Mamas gutes Aussehen geerbt. Nils war ein Schrank, Josh ein Bubi und Shirley hätte selbst ohne Brille wie ein Bücherwurm ausgesehen. Aber Marc war der schönste Mann von Ebernau. Mindestens.

Und er wurde immer schöner. Mit achtzehn hatte er auch den letzten Rest Babyspeck verloren und seine Wangenknochen traten klar hervor. Zufrieden betrachtete er die harte Linie des Kiefers und seine breiten Schultern. Er grinste sich in dem halbblinden Spiegel an, bis er rüde von Shirley unterbrochen wurde, die an die Tür hämmerte.

»Geh endlich zu deinem blöden Job! Ich muss aufs Klo!«

Marc ließ sich extra lange Zeit dabei, die Tür zu öffnen, und dachte sehnsüchtig an den Tag, an dem er eine eigene Wohnung haben würde. Bald. Nach dem Ebernau-Cup in zwei Wochen war alles möglich. Wenn er den gewann, waren all seine Träume in Reichweite.

»Na endlich!« Shirley schubste ihn grob zur Seite. Erstaunlich kräftig für so ein mageres Vögelchen.

»Nerv nicht, Streberschlange«, motzte er.

»Bist ja nur neidisch, Hohlkopf.« Die Tür fiel krachend ins Schloss. Der Schlüssel drehte sich quietschend.

»Auf dich?« Marc lachte höhnisch. »Ich bin bald der beste Snowboarder der Welt und du kannst froh sein, wenn ich dann noch mit dir rede!«

»Infantil bist du!«, rief sie, was immer das heißen sollte.

Marc schüttelte den Kopf und ging zurück in die Küche. Sie sah wirklich saumäßig aus. Die Wandbords, Kerzenständer und Tonfiguren waren von einer dicken Staubschicht bedeckt und die Mülleimer quollen über. Er spürte Steinchen und Brotkrumen unter den Fußsohlen. Aber wann sollten sie auch putzen? Sie alle hatten Jobs, die Zwillinge zusätzlich Schule und Marc steckte mitten im härtesten Training seines Lebens. Und im absolut dämlichsten Job, den er je gehabt hatte. Wenn der nicht erstaunlich gut bezahlt gewesen wäre, hätte er sich nie dazu herabgelassen.

»Ich hau ab«, verkündete er und winkte Josh und seiner Mutter zu, die gerade den Tisch putzten.

»Was?« Josh fuhr hoch. »Hilf gefälligst mit! Du bist mit Spülen dran!«

»Keine Zeit. Mach ich heute Abend.«

»Machst du nicht!« Joshs Gesicht war rot vor Wut. »Machst du nie!«

»Wenn du so sicher bist, kannst du dich ja drum kümmern.« Marc zuckte mit den Achseln.

»Marc Anselm Winter!« Seine Mutter stützte die Hände in die Hüften. »Du spülst, oder es gibt Ärger!«

Marc knurrte leise. »Aber der Meirle feuert mich, wenn ich zu spät komme. Willst du, dass ich meinen Job verliere?«

Ihre Miene war eine wütende Fratze unter dem roten Schopf. So würde sich bestimmt niemand in sie verlieben.

»Dann halt heute Abend«, blaffte sie. »Aber dann wirklich!«

»Ja, klar.« Marc schlenderte in den Flur und zog sich die Schuhe an.

»Marc!«

»Ja, verdammt! Dann mach ich das halt!« Würde er nicht. Heute Abend war eine Party auf dem Hang und er würde direkt nach dem Training dort hingehen. Auch wenn er nicht lange bleiben und kaum etwas trinken konnte. Training war Training und seine Karriere ging vor.

Schwungvoll warf er die Tür hinter sich zu. Nicht nur, weil er genervt war, sondern auch, weil das blöde Teil sonst nicht im Schloss blieb. Ihr Haus wurde mit jedem Jahr baufälliger. Er sah zurück auf das windschiefe, zweistöckige Gebäude. Sein Zuhause, seit er denken konnte. Und doch hätte er alles dafür gegeben, auszuziehen. Irgendwohin, wo man abends ein Mädel mitnehmen konnte. Ein schickes Apartment vielleicht. Ein Loft, ein Chalet. Weiter oben am Hang wimmelte es von den Dingern. Aber die gehörten den reichen Touristen und den paar Ebernauern, die genug Kohle dafür hatten. Flos Mutter zum Beispiel.

Marc schwang sich auf sein Fahrrad und sauste los. Der eisige Wind schlug ihm ins Gesicht. Es prickelte wie Nadelstiche. Ekelhaft. Warum zur Hölle musste er sich dazu herablassen, diesen idiotischen Job zu machen? Flo arbeitete nicht. Der hatte, genau wie er, im Sommer sein Abi gemacht. Aber soweit Marc das aus der Ferne beurteilen konnte, tat er nichts. Na, außer snowboarden. Sonst wäre er nicht so gefährlich nah an Marc herangekommen.

Wie kam das überhaupt? Seit einem Jahr waren sie plötzlich ernsthafte Konkurrenten. Wie hatte Flo soviel besser werden können, obwohl Marc ihn sonst immer besiegt hatte? Er hatte sogar den Tetramin Plus-Cup gewonnen und Marc war nur Zweiter geworden.

Leise brummelte er in seinen Schal hinein. Wut stieg in ihm auf, als er daran dachte. Heiße Wut. Dieser reiche Nichtsnutz! Alles, was der besaß, hatten seine Eltern bezahlt. Die Klamotten, die Snowboards, die Privatschule … Alles. Der musste nie durch die Kälte radeln, kaum, dass die Sonne aufgegangen war, um einen total erniedrigenden Job zu machen. Nur, damit seine Familie durch den Winter kam, ohne, dass ihnen die Heizung abgedreht wurde.

Marc kreuzte die Hauptstraße, wich zwei Porsches aus, die empört hupten und riss das Lenkrad hoch, um auf dem Bürgersteig weiterzufahren. War eh kaum einer unterwegs um die Zeit. Schwächliche Morgensonnenstrahlen brachten die vereisten Straßenlaternen zum Glitzern. Bunte Banner flatterten über ihm.

»Ebernau-Cup« stand darauf geschrieben. So ein Glück, dass der erste wichtige Wettbewerb in diesem Jahr in seiner Heimat stattfand. Nur die Qualifikation würde in Greilbergen sein, warum auch immer. Egal. Bald. Bald würde er ein Profi sein. Sein Trainer meinte, wenn er hier gewann, würden die großen Sponsoren nicht auf sich warten lassen.

Er wich drei Mülleimern aus und raste um die Ecke. Fast wäre er gegen einen gigantischen Blumenkübel gestoßen, der um diese Jahreszeit nur mit Plastiklilien gefüllt war. »Skibekleidung Hohenheim« stand in goldenen Buchstaben darauf. Er war im Touristengebiet angekommen. Abgase und teures Parfüm verpesteten die Luft. Edle Sonnenbrillen funkelten auf den Nasen der Frühaufsteher, die jetzt schon zum Lift schlenderten. Er fuhr ein wenig vorsichtiger. Jeder, den er hier umnietete, würde ihn verklagen. Hundertprozentig.

Über ihm erhob sich die schneebedeckte Bergkette. Winzige Punkte rasten herunter: Skifahrer und Snowboarder. Der gigantische Skilift sah von hier aus wie ein Spielzeug. Später würde er auch da hoch fahren. Sein Herz schlug schneller, sobald er daran dachte. Wenn er nur jetzt schon … Aber er hatte etwas zu erledigen.

Schwungvoll bog er in die Gasse neben dem Rathaus ein. Er pfefferte sein Rad in den Fahrradständer, schloss es ab, obwohl niemand das Schrottding klauen würde, und öffnete die messingverzierte Tür des Nebeneingangs. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die rot ausgelegte Treppe hoch. Er roch altes Holz, staubigen Teppich und frischgedruckte Plakate.

»Du bist zu spät!«, begrüßte Bianca ihn, als er durch die Tür kam. Aber sie lächelte. Natürlich. Frauen lächelten immer, wenn sie ihn sahen. »Der Meirle wird ganz schön sauer auf dich sein.«

»Wegen fünf Minuten?«, fragte er und marschierte zum Spind der Schande. »Wenn ich meinen Charme spielen lasse, kann ich demnächst ’ne Viertelstunde zu spät kommen.«

»Probier’s mal.« Sie lachte glockenhell. Mary fiel ein.

Sie waren zu dritt in dem fensterlosen Raum, der mit »Ebernau-Cup«-Wimpeln, Postern und Fähnchen vollgestopft war. Die beiden würden heute die letzten Plakate anbringen. Ein Job, den Marc auch gemacht hätte, wenn er nicht einen besser bezahlten gehabt hätte.

Er spürte ihre Blicke, als er sich die Klamotten vom Leib riss. Als er nur noch im Slip dastand, drehte er sich zu ihnen um. Lächelnd spannte er den Bizeps an.

»Das gefällt euch, was?« Er grinste.

Mary lief rot an, aber Bianca nickte kichernd. Die beiden waren nur ein Jahr älter als er, oder? Würden sie heute Abend auf der Party sein? Vielleicht hatte eine von denen eine eigene Bude. Einen Ort, den er nicht mit Josh teilen musste. Seine letzte Freundin hatte ihn immer in ihr Zimmer schmuggeln müssen und das war mehr als einmal schiefgelaufen.

Marc atmete tief ein und öffnete den Spind. Sofort sank seine Laune ins Bodenlose.

»Na dann«, knurrte er leise. Er vernahm schon wieder Kichern und diesmal nervte es gewaltig.

»Viel Erfolg, Hamsterbäckchen«, sagte Bianca.

 

Zehn Minuten später hätte er die ganze Welt erwürgen können. Schwitzend stand er in der Fußgängerzone, und versuchte, reichen Touristen Flyer anzudrehen. Flyer, die den Ebernau-Cup ankündigten. Der Cup, der ihn zum Star machen würde. Warum zur Hölle musste er dafür Flyer verteilen? Und warum musste er dieses idiotische Kostüm tragen, wenn er über ein ausgesprochen attraktives Gesicht verfügte, das bestimmt viel mehr Touris angelockt hätte? Na, zumindest Touristinnen.

»Schau mal, Annabelle«, sagte eine blondgesträhnte, braungebrannte Dame zu ihrer rosagekleideten Tochter. »Ein Biber.«

»Hamster«, brummte Marc durch das winzige Loch im Hals des Kostüms.

»Hässlicher Hamster«, sagte Annabelle und beäugte ihn misstrauisch. »Dicker Hamster.«

Selber dick, du Zwergmoppel, wollte Marc sagen. Aber er brauchte den Job. Also hielt er den beiden einen knallbunten Flyer hin. Die Frau schüttelte den Kopf, als wäre der dumme Zettel ein unanständiges Angebot und zog Annabelle weiter.

Marc schwankte weiter. In dem Kostüm bewegte er sich so schwerfällig, als wäre er morbid übergewichtig. Immer wieder drückte er Leuten Flyer in die Hand, nur, um zu sehen, wie sie sie wenige Meter weiter achtlos fallen ließen. Das Kopfsteinpflaster um ihn herum war übersät mit den Dingern.

»Ah!« Ein graumelierter Mann schrak zusammen, als Marcs pelzig-dicker Hamsterarm plötzlich in seinem Blickfeld auftauchte. »Was … Oh.«

Der Typ lachte beschämt und nahm ihm den Flyer aus der Hand. Das war das einzig Lustige an dem Job. Wenn sich jemand vor dem Horrorhamster erschreckte. Die Designer, die das mistige Maskottchen entworfen hatten, hätten die Prügelstrafe verdient gehabt. Stattdessen hatten sie einen fünfstelligen Betrag kassiert, wenn man seinem Chef glauben durfte. Super.

Marc sah seine Spiegelung im Schaufenster der Parfümerie gegenüber und unterdrückte ein Stöhnen. Ein Scheusal sah ihm entgegen: ein kugelförmiges, flauschiges Vieh mit irren Augen, einem wahnsinnigen, einzahnigen Grinsen, einem »Ebernau-Cup«-Shirt und selbstverständlich ohne Hosen. Sein Bruder Josh hatte alle Hamster-Poster, die in ihrem Viertel aushingen, mit Penissen verziert. Immerhin einmal hatte er Marc so zum Lachen gebracht.

So ein Scheiß.

»He! Hamster!«, rief eine bebrillte Frau, die ihn an seine Grundschullehrerin erinnerte. Sie winkte ihn zu ihren Freundinnen hinüber, die ihr glichen wie ein Ei dem anderen. Kurze, praktische Frisuren, Jack Wolfskin-Jacken und »fesche« bunte Riesenohrringe. Marc hätte sich am liebsten geweigert. Ging aber nicht. Er trottete zu ihnen und fand sich sofort in einer Umarmung wieder, die ihn fast zu Fall gebracht hätte.

»Los, mach ein Foto, Mechthild!«, rief die Bebrillte. Kreischen und Kichern gellten in Marcs Ohren. Zwei Frauen umarmten ihn, während die andere ein Foto machte, obwohl sie sich vor Gackern kaum halten konnte.

»Mensch, ist der aber behaart«, kreischte Mechthild und die anderen beiden knickten ein vor Lachen. Endlich ließen sie ihn los, um sich das dämliche Foto anzusehen.

»Bitte, gern geschehen«, murmelte Marc und wandte sich ab. Wie lange noch? Ach ja: dreieinhalb Stunden. Von vier. Die Zeit schlich, wenn man als Icy Joe, der lustige Snowboard-Hamster, verkleidet war.

»Netter Arsch, Hamster!«, brüllte ihm eine der Frauen hinterher. Lautes Kichern ertönte.

»Das Kompliment kann ich nicht zurückgeben«, rief er und sie waren endlich still. Hoffentlich beschwerten sie sich nicht bei Herrn Meirle.

Warum musste er diesen erniedrigenden Job machen? Warum er und nicht … Flo zum Beispiel? Der hätte sich bestimmt gefreut, wenn er sich in dem viel zu heißen Kostüm hätte verstecken können. Flo wirkte immer, als wollte er sich verstecken. Vor was auch immer. Der hatte doch alles, was er brauchte, warum schaute der trotzdem immer, als würde er gleich in Tränen ausbrechen? Na, außer, wenn er mit Marc stritt. Allerdings … Seit einem Jahr hatte Flo sich verändert. Ein wenig. Er ging aufrechter und gewann Rennen. Leider. Ob das an diesem Paul lag? Mit dem hatte Marc ihn damals gesehen. Ob …

Marc schreckte hoch. Oh! Als hätten seine Gedanken ihn herbeigerufen, schritt Flo über das Kopfsteinpflaster auf ihn zu. Wie immer hatte er den Kopf bis zur Nase in dem Schal vergraben, den er über seinem grauen Kaschmirmantel trug. Seine Wangen waren gerötet und er sah die anderen Passanten an, als befürchtete er, dass sie sich ihm böswillig in den Weg werfen würden. Aber seine Schritte waren zielstrebig. Ja, der hatte sich verändert. Die schwarzen Haare flatterten hinter ihm her, so schnell marschierte er. Dabei war die wellige Milchbubifrisur, die er trug, eigentlich zu kurz zum Flattern. Über der Schulter trug er einen dunkelblauen Rucksack.

Das war ja klar. Während Marc in seinem miesen Nebenjob litt, fuhr der feine Herr Flo in den Urlaub. Dabei war die Quali in ein paar Tagen! Ärger brodelte in Marc hoch.

»Hast du’s eilig, Muttersöhnchen?«, rief er.

Flo stolperte und konnte sich gerade noch fangen. Knapp vor Marc blieb er stehen und riss die Augen auf.

»Marc?«, fragte er ungläubig. »Warum bist du ein Hamster?«

3. Vorfreude

 

Noch zwei Stunden und zwölf Minuten, dachte Flo und legte ein ordentlich gefaltetes weißes Hemd auf den dunklen Anzug. Eigentlich würde er nur Unterwäsche zum Wechseln brauchen. Es war ja nur eine Übernachtung. Aber was, wenn Paul mit ihm essen gehen wollte? Fein essen? In Augsburg gab es gute Restaurants, oder? Und selbst wenn sie nur in ihrem Hotelzimmer bleiben sollten, schadete es bestimmt nicht, gut angezogen zu sein.

Wilde Bienenschwärme brummten in Flos Magen. Als er den Rucksack zumachte, merkte er, dass seine Hände zitterten. Er atmete tief ein, aber das half auch nicht. Nichts würde helfen, bis er Paul endlich wiedersah. Bis er endlich wieder in seinen Armen lag und ihm der Geruch von Amouage Honour Man in die Nase stieg. Bis er den warmen Körper an seinem spürte. Allein der Gedanke ließ Flos Herz rasen und seinen Unterleib kribbeln.

Nicht zuviel an Paul denken, sagte er sich. An Paul … nackt.

Er schüttelte den Kopf. Schließlich musste er noch an seiner Mutter vorbei und die durfte ihm nichts anmerken. Das war Paul wichtig. Dass niemand etwas merkte. Nicht ihre Eltern, nicht ihre Freunde und überhaupt niemand aus Ebernau.

Du weißt nicht, wie meine Eltern sind, hatte Paul gesagt. Damals, in einer der magischen Frühlingsnächte, in denen sie engumschlungen in einem der leeren Chalets gelegen hatten. Zu ängstlich, um das Licht anzumachen und zu verliebt, um aufzustehen. Wann immer einer von ihnen versucht hatte, sich anzuziehen, hatte der andere ihn zurück auf den Holzboden gezogen.

Deine Eltern wirken doch ganz nett, hatte Flo erwidert und über Pauls kratzige Wange gestrichen. Die Stoppeln dort waren so hell wie Pauls weißblonde Haare. Wenn du es ihnen erklärst, verstehen sie es bestimmt. Wenn du ihnen ein wenig Zeit lässt.

Nein! Pauls Blick war hart geworden. Nein, tun sie nicht. Echt, du kennst sie nicht. Die würden mich sofort rausschmeißen und enterben. Und … Na, ich bin doch ihr einziger Sohn. Das kann ich ihnen nicht antun.

Flo hatte das fiese Gefühl heruntergeschluckt, das gedroht hatte, seinen Hals hochzukriechen. Er hätte Paul gern seinen Eltern vorgestellt, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie sie reagieren würden. Nun, er hatte keine Ahnung, wie seine Mutter reagieren würde. Dass sein Vater einen schwulen Sohn, gelinde gesagt, schlecht aufnehmen würde, war klar. So oft, wie er von seinem »Stammhalter« sprach. Und doch … Am liebsten hätte er Paul der ganzen Welt vorgestellt. Aber wenn der das nicht wollte, musste er es akzeptieren.

Aber wir sind zusammen?, hatte er gefragt. Fest?

Das sind wir. Natürlich sind wir das, mein Flöhchen, hatte Paul geflüstert. Er hatte Flos Finger von seiner Wange genommen und jeden einzelnen davon geküsst. Ich liebe dich, hatte er gesagt.

Ich liebe dich auch, hatte Flo gesagt und dann hatte er nicht weiterreden können, weil Paul sich auf ihn gewälzt und ihn geküsst hatte.

Mist, er sollte echt aufhören, daran zu denken. Er straffte sich, atmete tief ein und ließ den Blick durch sein geräumiges Zimmer wandern. Alles wie immer, von den hohen Fenstern bis zu den Stofftapeten mit den hellblauen Streifen. Schwere Gardinen, ein geschnitztes Eichenbett und ein mächtiger Sekretär ergänzten das Bild.

Das Einzige, das darauf hindeutete, dass in diesem Raum jemand unter sechzig wohnte, waren die Snowboard-Poster an den Wänden. Linus Hachl mitten im Flug, glitzernden Schnee hinter sich herziehend wie einen weißen Schleier. John Maltinger, gegen die Sonne lachend. Und natürlich Stefan Schwarzmanns legendärer dreifacher Salto. Auf dem Poster hatte er nichts als Himmel unter sich und es sah aus, als würde er fliegen. Das Bild war bestimmt fünfzehn Jahre alt. Die Drei waren Flos große Vorbilder. Morgen würde er doppelt so hart trainieren müssen, um die Quali zu schaffen. Aber der heutige Tag gehörte Paul. Paul und ihm.

Er hüpfte die Treppenstufen hinunter und hätte am liebsten laut gesungen. Nur die bedrückende Dunkelheit der Wandtäfelung hielt ihn davon ab. Das traurige Schweigen der weitläufigen Wohnung, die er mit seinen Eltern bewohnte. Theoretisch zumindest. Seinen Vater hatte er schon seit Monaten nicht mehr gesehen.

Der Duft des gigantischen Frühstücksbüfetts begrüßte ihn unten. Er kam kaum durch die Gästescharen. Trotz seiner Nervosität regte sein Magen sich, sobald er das frische Rührei und den knusprigen Speck roch. Sollte er etwas mitnehmen? Er hatte ja noch Zeit. Wie immer war er viel zu früh dran. Also stellte er sich in die Schlange vor dem Büfett. Er war fast dran, als eine alte Frau sich vor ihn schob. Ein weißhaariger Mann folgte. Flo musste zurückweichen und stieß gegen den Mann hinter ihm.

»Entschuldigung«, murmelte er. Der Kerl sah ihn an, als wäre er nicht ganz dicht.

»Kleiner, die beiden haben sich vorgedrängelt. Lässt du dir das einfach gefallen?«

»Aber …« Flo spürte, wie die Hitze in seine Wangen kroch. »Die beiden sind so alt. Da kann ich doch nicht …«

»Benehmen können die sich trotzdem«, knurrte der Mann. Vielleicht hatte er recht. Aber jetzt waren die beiden schon dabei, sich Rührei auf die Teller zu schaufeln, da konnte er sie eh nicht mehr zurückpfeifen, oder? Wenn er überhaupt gewusst hätte, wie das ging. Er hatte noch nie jemanden zurückgepfiffen. Außerdem war er eh gleich dran.

»Sag mal, bist du nicht der Sohn von Marie?«, fragte der Mann und musterte ihn ungläubig. »Warum stehst du hier an, wenn der Laden euch gehört?«

»I-ich hab’s nicht eilig«, sagte Flo. »Ist doch nicht nett, sich vorzudrängeln.«

»Sag das mal den beiden Alten«, brummte der Mann. Flo zog den Kopf ein und schnappte sich ein frisches Croissant und ein hartgekochtes Ei.

Seine Mutter schenkte gerade einem älteren Paar Tee nach. Sie bewegte sich wie eine Ballerina. Elegant und unterkühlt. Als wäre sie sich der Wirkung selbst nicht bewusst, die sie immer noch auf Männer hatte. Ihr dunkler Zopf hing ordentlich geflochten über ihrem Rücken und das perfekt gebügelte weiße Hemd und der Bleistiftrock betonten ihre schlanke Figur. Eigentlich sahen sie sich sehr ähnlich. Auch Flo hatte schwarze Haare und helle Augen. Aber im Gegensatz zu seiner Mutter war er ein unsicherer Trampel.

Sie sah auf, als er an sie herantrat.

»Ich fahre jetzt«, sagte er und versuchte, so schnell wie möglich davonzukommen.

»Florian, ist …« Sie unterbrach sich. Vor den Gästen sprach man nicht über Privates. Unauffällig sah sie sich um, trat näher und senkte die Stimme. »Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Ja. Ja, klar.« Er schluckte. »Natürlich, was soll denn sein?«

Sie wirkte, als wollte sie etwas sagen, nickte aber nur.

»Nichts. Viel Erfolg«, sagte sie. »Pass auf dich auf, ja?«

Er hatte ihr erzählt, dass er ein Sponsorengespräch in Augsburg hätte. Anders hätte er nicht erklären können, warum er so kurz vor der Quali einen ganzen Trainingstag verpasste. Das schlechte Gewissen biss ihn. Aber für Paul hielt er es aus.

 

Erwartung summte in seiner Brust, als er durch die Fußgängerzone zum Bahnhof lief. Seine Schritte waren leicht und er fühlte sich so verdammt glücklich, dass er hätte schreien können. Wenn er ehrlich war, war er außerdem ziemlich erregt. Beim Gedanken an Pauls Nähe, an den Geruch nach Schweiß und den hektischen Klang seines Atems zog sich sein Inneres genussvoll zusammen. Ja, er hielt es kaum noch aus.

Noch zwei Stunden und eine Minute.

Nach Augsburg würden sie beide nach Ebernau fahren. Paul zu seinen Eltern, Flo zu seinen. Hier würden sie sich nicht sehen. Paul fand das zu gefährlich. Dabei waren sie so gut darin gewesen, sich zu verstecken. Nur einmal hatten sie nicht aufgepasst.

Und sofort war alles schiefgelaufen.

Vor drei Monaten hatte er Paul zum Ebernauer Bahnhof gebracht. Frühmorgens, zum allerersten Zug. Paul hatte damals bereits sein Studium in München begonnen und sie waren viel zu oft getrennt gewesen. Es hatte sich so furchtbar angefühlt, dass Flo ihn in eine enge Gasse gezogen und ein letztes Mal geküsst hatte. Ein menschenleerer Durchgang, an dem niemand vorbeikam, schon gar nicht knapp vor Morgengrauen …

Aber es war jemand vorbeigekommen. Ein Vollidiot. Sie hatten ein erschrockenes Husten gehört und waren herumgefahren. Da hatte er gestanden. Marc, der Trottel. Der Idiot, der immer alles kaputtmachen musste. Der hatte sie angestarrt, als seien sie Aliens und nicht einfach zwei Kerle, die sich küssten. Die Augen waren ihm fast aus den Höhlen gesprungen.

»Ihr … äh …«, hatte Marc angefangen. Doch dann hatte er sich umgedreht und war weggerannt.

Vielleicht hatte er gefürchtet, sie seien ansteckend. Oder, dass sie ihn umbringen und verscharren würden, damit niemand von ihrem Geheimnis erfuhr. Paul hatte ausgesehen, als wäre er dazu imstande. Bleich, zittrig und vollkommen entsetzt.

»Das ist deine Schuld!«, hatte er gerufen. »Warum hast du das getan?«

Flo hatte sich nur heulend entschuldigen können. Hatte nichts genützt. Paul war wutschnaubend weggefahren und hatte ihn zurückgelassen. Erst nach einer Woche hatte er sich auf Flos verzweifelte Anrufe gemeldet und sie hatten sich versöhnt. Seitdem trafen sie sich nur noch außerhalb. Auf halbem Weg zwischen München und Ebernau. Ein paar gestohlene Stunden in Hotelzimmern waren alles, was Flo von seinem Freund hatte. Na, noch. Nächsten Sommer würde er auch in München studieren und dann würden sie endlich wieder zusammen sein. Richtig zusammen sein …

»Hast du’s eilig, Muttersöhnchen?«, rief jemand. Flo wirbelte herum. Die Stimme kannte er doch. Aber er sah den dazugehörigen Körper nicht. In der Fußgängerzone erblickte er nur drei ältere Frauen, zwei bierbäuchige Geschäftsmänner und einen abscheulichen Hamster. Das Vieh war pelzig, kugelrund und über zwei Meter groß. Aus dem viereckigen Loch unter seinem Kinn schauten lindgrüne Augen heraus. Oh.

»Marc?«, fragte Flo ungläubig. »Warum bist du ein Hamster?«

»Na, weil ich Geld verdienen muss«, raunzte der Idiot. »Im Gegensatz zu dir.«

Die abartig langen Wimpern des Maskottchens klimperten bei jeder Bewegung, was ihn unangenehm lasziv aussehen ließ. Also das Vieh. Nicht Marc. Der sah nervig aus, wie immer.

»Wo willst du hin? Hast du vergessen, dass in zwei Wochen die Quali ist?«

»Nein«, sagte Flo und versuchte vergeblich, sein schlechtes Gewissen herunterzuschlucken. »Ich soll einen Tag Pause machen, hat mein Trainer gesagt.«

»Und wo geht's hin?«, fragte der Trottel.

»Das ist meine Sache«, brummte Flo. Er sah das Grinsen in Marcs Augen und hätte sich am liebten geohrfeigt. Noch lieber hätte er Marc geohrfeigt, aber der war hinter mehreren Kilos Fell verborgen und würde nichts spüren.

»Oho, triffst du etwa jemanden, Florimori?«, säuselte er. »Ich wette, ich weiß auch, wen.«

»Sei ruhig«, zischte Flo. Seine Wangen wurden heiß.

»Ist es …« Der Hamster wankte näher an ihn heran. So nah, dass er in Flos Ohr raunen konnte. »Ist es dein Lover? Paul?«

»Sei ruhig«, wiederholte Flo. »D-du hast gesagt, dass du nichts weitererzählst.«

»Tu ich doch nicht.« Das Grinsen wurde immer unerträglicher. »Ich erzähle es nur dir. Eigentlich interessiert mich eh nicht, was ihr Langweiler so treibt.« Marc gähnte vernehmlich.

Was stimmte mit dem Kerl nicht? Warum spielte der sich so auf, obwohl er im hässlichsten Hamster der Welt steckte? Na ja, dem zweithässlichsten. Aus irgendeinem Grund sah der gigantische Plastikhamster, den sie gerade auf dem Dach der Parfümerie aufbauten, noch schlimmer aus. Dessen halb geschlossene Augen schauten noch perverser und sein Grinsen war noch debiler. Drei Männer waren damit beschäftigt, ihn über ihren Köpfen anzuschrauben. Kein Wunder, das Ding war bestimmt sieben Meter hoch.

»Gut, dann kann ich ja jetzt gehen«, brummte Flo. »Schönen Tag noch, Hamsterbacke.«

»Schönen Tag noch, Muttersöhnchen«, säuselte Marc. »Grüß deinen Spießgesellen.«

Er lachte dämlich. Flo wollte sich umdrehen und abhauen. Wirklich. In zehn Minuten kam sein Zug. Stattdessen ballte er die Fäuste, dass die dunklen Lederhandschuhe knarzten.

»Du hast doch keine Ahnung, was das Wort bedeutet«, sagte er.

»Klar.« Alles, was er von Marcs Gesicht sah, war hämisch verzogen. »Es heißt, dass ihr euch gegenseitig aufspießt. Oder spießt nur er dich auf?«

»Das interessiert dich, was?« Flo legte den Kopf schief und lächelte. »Es interessiert dich sehr, glaube ich. Probier’s doch mal aus, wenn du es unbedingt wissen willst.«

Marc sah ihn entsetzt an und das Gefühl tiefer Befriedigung, das Flo empfand, war fast unanständig. Beinahe so stark wie seine Vorfreude auf Paul. Was hatte dieser Hamstertrottel an sich, das ihn seine Schüchternheit vergessen ließ? Er, der sich nicht mal traute, Büfettdränglern die Meinung zu geigen, stand hier und lieferte sich ein Wortgefecht mit dem dümmsten Großmaul der Stadt.

»Ne, das … will ich gar nicht wissen«, sagte Marc lahm. Eindeutig ein Punkt für Flo. »Macht euren Scheiß mal schön alleine. Was immer das ist.«

»Wahrscheinlich dasselbe, was dein Bruder mit seinem Freund macht«, sagte Flo liebenswürdig.

»Lass Nils aus dem Spiel!«, zischte Marc. »Und vergleich den nicht mit euch, ihr Schisser. Nils ist wenigstens ehrlich und versteckt sich nicht. Nicht wie ihr beiden Feiglinge.«

Mist. Das tat mehr weh, als Flo zugeben wollte.

»Das ist nicht so leicht«, knurrte er. Er kam so nah an Marc heran, dass er das Kunsthaar-Hamsterfell riechen konnte. »Du hast ja keine Ahnung.«

»Ach, hast du Angst davor, was alle sagen?« Marc hob eine Braue. Sie verschwand in dem Kostüm. »Kannst mir glauben, das hatte mein Bruder auch. Aber der hat sich getraut. Der ist halt ein Mann und nicht so ein verweichlichtes Muttersöhnchen wie du …«

»Ich bin kein Muttersöhnchen!«, schnappte Flo. Verdammt, der Idiot hatte es wieder geschafft. »Ich … Ach, egal. Dir muss ich nichts erklären.«

»Kannst du auch nicht.« Marc schnaubte verächtlich. Flo kannte das Geräusch seit fünf Jahren. Er hasste es. So sehr.

»Könnte ich, wenn ich …« Er stoppte sich. Er hatte keine Zeit. Trotzdem drängten Worte aus seinem Mund, die er nicht aufhalten konnte. »Weißt du, ich wollte dich schon immer fragen, warum … warum du geschwiegen hast. Ich meine, ich hab dir sogar Geld angeboten und du hast nichts angenommen. Warum?«

Der blöde Hamster vor ihm zuckte mit den Achseln. Zumindest glaubte Flo das. War schwer zu erkennen, in dem unförmigen Kostüm.

»Meine Sache«, sagte Marc. »Und ich hab’s nicht nötig, Geld von einer Bonzenfamilie wie euch anzunehmen.«

»Hättest du es genommen, müsstest du dich nicht als Hamster verkleiden.«

»Das macht mir gar nichts aus«, behauptete Marc und versuchte, die Arme zu verschränken. Aber der Pelz daran war zu dick.

Flo wollte gerade etwas sagen, als er den Schrei hörte.

»Achtung!«, brüllte eine panische Stimme über ihnen. Ein Reißen ertönte, dann ein Krachen. Flos Kopf ruckte hoch.

Es war der Plastikhamster. Das riesige Ding schwankte, drehte sich fast gemächlich … und fiel über die Kante des Dachs. Nach unten. Genau auf ihn und Marc zu.

4. Unerwartet

 

Flos Augen wurden kugelrund. Sein Mund sprang auf.

»Vorsicht!«, brüllte er und rammte Marc. Was? Es kam so unerwartet, dass Marc nicht ausweichen konnte. Hätte er eh nicht, in dem blöden Hamsterkostüm. Hilflos stürzte er nach hinten, umgerissen von diesem Muttersöhnchen, das soviel Schwung drauf hatte, dass sie über das Kopfsteinpflaster in den nächsten Schneehaufen rollten. Alles drehte sich. Bunte Flyer wirbelten durch die Luft wie ein Schmetterlingsschwarm. Durch das mickrige Guckloch konnte Marc nicht erkennen, was passierte. Schmerz fuhr in seinen Rücken und den linken Ellenbogen, trotz des dicken Pelzes.

»Was soll das, du Idiot?«, brüllte er.

Flos ganzes Gewicht lag auf ihm und er konnte sich nicht rühren. Helle Augen blickten ihn an, vollkommen entgeistert. Ein markerschütterndes Krachen ertönte. Etwas schlug auf das Pflaster auf und zersplitterte. Etwas Großes. Marc wandte den Kopf, so weit er konnte, und spürte einen eiskalten Schauer durch seinen Körper rinnen. Da, wo sie gerade noch gestanden hatten, lag ein gigantischer Plastikhamster, halb zersprungen. Die Scherben um ihn herum waren daumendick und scharfkantig. Die scheußlich bewimperten Augen sahen Marc an, als wollten sie ihn verhöhnen. Er vernahm entsetzte Stimmen, Rufe von oben, ob jemandem etwas passiert sei. Flyer regneten auf sie nieder wie riesige, bunte Schneeflocken.

»Scheiße …«, murmelte er und drehte den Kopf.

»Alles in Ordnung?« Flo starrte ihn an, keuchend und blass und … wunderschön.

Was?

Zum ersten Mal bemerkte Marc, wie fesselnd Flos hellbraune Augen waren. Nein, sie waren fast golden. Leuchtende Sterne, von deren Mitte strahlenförmig glitzernde Bernsteinsplitter ausgingen. Das Licht der Morgensonne brachte die schwarzen Haare zum Glänzen und … Verdammt, warum …

Eine Konfettibombe explodierte in seiner Brust.

»Mist, ich bin zu spät!«, rief Flo. Er fuhr sich durch die wunderbar chaotischen Haare. Panisch sah er sich um. Sein Profil war atemberaubend. Eine gerade, zarte Nase, schmale, aber schwungvolle Lippen … Marc wimmerte leise. Was geschah hier?

Flo rappelte sich auf. Sein Knie erwischte Marcs Magen.

»Das ist alles deine Schuld!«, rief er. »Wenn ich wegen dir den Zug verpasse, dann … dann komme ich zurück u-und trete dir in deinen Hamsterarsch!«

»Okay«, murmelte Marc. Aber Flo hörte ihn nicht mehr. Der hatte schon seinen Rucksack gepackt und rannte die Fußgängerzone entlang zum Bahnhof.

Marc starrte in den wolkenlosen Himmel. Sein Puls hämmerte. Ja, es fühlte sich an, als würde sein ganzer Körper pochen und kribbeln und rasen und …

»Geht es Ihnen gut?«, fragte eine Frau. Lange, braune Haare hingen aus ihrer weißen Pelzmütze. Marc glotzte sie an.

»Ich … ich glaub, ich bin …« Was war er? »In Ordnung. In … Ordnung.«

Nicht verknallt. Wie hatte er das denken können? Als wären die Worte plötzlich in seinem Hirn aufgeblitzt und wieder verschwunden, wie ein Gewitterleuchten. Nein, natürlich nicht.