Fritz Mauthner

Beiträge zu einer
Kritik der Sprache


 

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Inhaltsübersicht

I. Zur Sprache und Psychologie

1. Wesen der Sprache

2. Zur Psychologie

II. Zur Sprachwissenschaft

III. Zur Grammatik und Logik

1. Sprache und Grammatik

2. Sprache und Logik

 

ERSTER BAND

ZUR SPRACHE UND PSYCHOLOGIE

(1906)

 

Erster Teil

WESEN DER SPRACHE





 

So schwer fällt es, den verschiedenen Sinn und die Unvollkommenheiten der Worte darzulegen, wenn es nur mit Worten geschehen kann.

Locke III, 6, § 19.

Homo non intelligendo fit omnia.

Vico, Nuova scienza II, Kap. 7.

Verstehst du nun mein Sprachprinzipium der Vernunft, und daß ich mit Luther die ganze Philosophie zu einer Grammatik mache?

Hamann an Jacobi.

Werde ich es sagen, endlich laut sagen dürfen, daß sich mir die Geschichte der Philosophie, je länger desto mehr als ein Drama entwickelte, worin Vernunft und Sprache die Menächmen spielen?

Dieses sonderbare Drama, hat es eine Katastrophe, einen Ausgang; oder reihen sich nur immer neue Episoden an?

Ein Mann (Kant), den nun alles, was Augen hat, groß nennt, und der in seiner Größe fünfundzwanzig Jahre früher schon da stand, aber in einem Tale, wo die Menge über ihn weg sah, nach Höhen und geschmückten Bühnen — dieser Mann schien den Gang der Verwicklungen dieses Stücks erforscht zu haben, und ihm ein Ende abzusehen. Mehrere behaupten, es sei nun dies Ende schon gefunden und bekannt. Vielleicht mit Recht … Und es fehlte nur noch an einer Kritik der Sprache, die eine Metakritik der Vernunft sein würde, um uns alle über Metaphysik eines Sinnes werden zu lassen.

F. Jacobi, Allwills Briefsammlung 316.

L’idée vient en parlant.

H. v. Kleist.

Einleitung. Der Pope

»Im Anfang war das Wort.« Mit dem Worte stehen die Menschen am Anfang der Welterkenntnis und sie bleiben stehen, wenn sie beim Worte bleiben. Wer weiter schreiten will, auch nur um den kleinwinzigen Schritt, um welchen die Denkarbeit eines ganzen Lebens weiter bringen kann, der muß sich vom Worte befreien und vom Wortaberglauben, der muß seine Welt von der Tyrannei der Sprache zu erlösen versuchen.

Da hilft aber keine Einsicht, da hilft kein sprachkritischer Atheismus. In der Luft ist kein Halt. Auf Stufen muß man emporsteigen und jede Stufe ist ein neuer Trug, weil sie nicht frei schwebt. Auf jeder Stufe, und wäre sie noch so niedrig, und hielte sich der Emporstrebende noch so flüchtig bei ihr auf, berührte er sie auch nur mit seinen Zehenspitzen: im Augenblicke der Berührung schwebt auch er nicht frei, ist auch er gefesselt an die Sprache dieses Augenblicks, dieser Stufe. Und hätte er sich auch Stufe und Sprache für diesen Augenblick selbst gebaut.

Es war also in der jahrelangen Arbeit jedesmal Selbsttäuschung, wenn er, der die Erlösung von der Sprache auf sich nehmen wollte, das Werk in einem regelrechten, stufengerechten Werke zu vollbringen hoffte. Der ist kein freier Mann, der sich noch einen Atheisten nennt, einen Gegner dessen, den er leugnet. Der kann das Werk der Befreiung von der Sprache nicht vollbringen, der mit Worthunger, mit Wortliebe und mit Worteitelkeit ein Buch zu schreiben ausgeht in der Sprache von gestern oder von heute oder von morgen, in der erstarrten Sprache einer bestimmten festen Stufe. Will ich emporklimmen in der Sprachkritik, die das wichtigste Geschäft der denkenden Menschheit ist, so muß ich die Sprache hinter mir und vor mir und in mir vernichten von Schritt zu Schritt, so muß ich jede Sprosse der Leiter zertrümmern, indem ich sie betrete. Wer folgen will, der zimmere die Sprossen wieder, um sie abermamals zu zertrümmern. In dieser Einsicht liegt der Verzicht auf die Selbsttäuschung, ein Buch zu schreiben gegen die Sprache in einer starren Sprache. Weil die Sprache lebendig ist, so bleibt sie nicht unverändert vom Anfang eines Satzes bis zu seinem Ende. »Im Anfang war das Wort«; da, beim Aussprechen des fünften Wortes, verwandelt schon das erste Wort »im Anfang« seinen Sinn.

So mußte der Entschluß reifen, diese Bruchstücke entweder als Bruchstücke zu veröffentlichen öder das Ganze dem radikalsten Erlöser zu überantworten, dem Feuer. Das Feuer hätte die Euhe gebracht. Der Mensch jedoch, solange er lebt, ist wie die lebendige Sprache und glaubt, er habe etwas zu sagen, weil er spricht.

Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen.

Es war einmal ein Pope, der war Pope genug, um Wanzen in seinem Bette zu haben, und Freigeist genug, um seine Wanzen als etwas Häßliches oder doch Fremdes zu empfinden. Umsonst wandte er nacheinander hundert Mittel an, seine Wanzen zu vernichten. Eines Tages aber brachte er aus der großen Stadt, wo die Universität ist, ein. Pulver mit, welches ihn untrüglich befreien sollte. Er streute es aus und legte sich hin. Am anderen Morgen waren alle Wanzen tot, aber auch der Pope war tot. Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen.

Mehr als einmal bin ich daran gegangen, diese alte und wahre Geschichte zu einer Satire gegen die Poperei aller Völker umzugestalten. Jedesmal schreckte mich der Gedanke zurück, daß die Satire nicht nur die Kirchen, sondern auch die Philosophien treffen könnte, keine Philosophie so traurig wie eine, die sich vermißt, die Welt von der Sprache zu erlösen und das mit armen Worten.

In dieser lachenden Stunde des Entschlusses und des Endes, die eben zertrümmerte Sprosse berührend, auf welcher ich befreit bin von Worthunger, von Wortliebe und von Worteitelkeit, richte ich die Spitze ruhig gegen mich selbst und sage bereit: was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen.

I. Wesen der Sprache

Indem ich mich also anschicke, eine Kritik der menschlichen Sprache zu geben, muß ich — eben weil der Gegenstand meiner Untersuchung mit dem Mittel der Untersuchung gleich bezeichnet wird, durch das Wort »Sprache« nämlich — noch viel genauer, als das anderswo geschieht, die Begriffe prüfen. Mit dem Begriff »Kritik« freilich brauche ich mich nicht lange aufzuhalten. Kritik heißt von altersher die scheidende oder unterscheidende Tätigkeit des menschlichen Verstands; das aufmerksame Beobachten zweier ähnlichen Tatsachen muß notwendig zur Beachtung ihrer unterscheidenden Merkmale führen, wenn der Unterschied für unsere Organe groß genug ist; denn es gibt keine identischen Tatsachen. Wer also die Kritik einer Erscheinung verspricht, verspricht nicht mehr und nicht weniger als eine gewissenhafte Beobachtung oder Untersuchung dieser Erscheinung. Das kann jedermann mit gutem Gewissen tun, und das Ergebnis seiner Untersuchung hängt nachher nicht von seinem Willen ab, sondern von der beobachteten Wirklichkeit und von der Schärfe seiner Sinnesorgane.

»Die« Sprache

Was aber ist die Sprache, die aufmerksam zu beobachten ich mir vorgenommen und den Lesern versprochen habe? Ich will ja nicht wie der Verfasser eines Wörterbuchs auf die ein/einen Worte einer bestimmten Sprache achten; ich will nicht wie ein Grammatiker die verschiedenen Formen einer einzelnen Sprache gruppenweise zusammenstellen. Aber auch die Geschichte einer einzelnen Sprache will ich nicht schreiben, ebensowenig die Geschichte einer Sprachfamilie, wie sich das die vergleichende Sprachwissenschaft, zuerst für unsere eigene »Sprachfamilie« und dann für alle Sprachen der Erde, zur unlösbaren Aufgabe gestellt hat. Ich will doch offenbar dasjenige untersuchen, was den Sprachen der Menschen gemeinsam ist, was man hübsch abstrakt etwa das Wesen der Sprache nennen kann. Da fällt es zuerst auf , daß »die Sprache« in diesem Sinne etwas ganz anderes bedeutet als »eine Sprache« oder »die Sprachen«, wobei man schließlich zur Not an etwas Wirkliches denken kann, wenn dieses Wirkliche auch nur, weil es ein flüchtiger Schall ist, kaum zu den materiellen Dingen gerechnet werden darf. Doch welches Wirkliche wäre am Ende mehr als flüchtige Form? Ich lasse mich dabei auf gar keine Spitzfindigkeiten ein. Wenn man die architektonischen Denkmäler und die versteinerten Überreste der Urwelt eine Sprache genannt hat, in welcher die Vorzeit der Kultur oder der Natur zu uns spricht, so ist das ein bildlicher Ausdruck. Wenn man an die Hieroglyphen und an die Keilschrift erinnert. wo irgend ein altes Volk nur noch durch Schriftzeichen, also nur durch sichtbare Zeichen zu uns zu reden sucht, so würde doch jeder solchen Sprache, falls sie wirklich enträtselt wäre, eine gesprochene Sprache zu Grunde liegen. Selbst die sichtbare Fingersprache unserer Taubstummen ist ja doch nur eine den Verhältnissen angepaßte sichtbare Fixierung einer Volkssprache und weist auf eine gesprochene Sprache ebenso zurück wie unsere gewöhnliche Schrift. Es gehört in einen anderen Gedankengang — was freilich die Zusammengehörigkeit der Tatsachen nicht ausschließt — daß wir Büchermenschen durch unaufhörliche Übung des Lesens es so weit bringen können, die gesprochene Sprache in unserem Bewußtsein auszuschalten; unbewußt arbeitet jedoch das sogenannte Zentrum der hörbaren Sprache auch beim Lesen des Büchermenschen mit.

Die einzelnen Sprachen sind also die außerordentlich komplizierten Lautgruppen, durch welche sich Menschengruppen miteinander verständigen. Was aber ist »die Sprache«, mit der ich es zu tun habe? Was ist das Wesen der Sprache? In welcher Beziehung steht »die Sprache« zu den Sprachen.

Die einfachste Antwort wäre: »die Sprache« gibt es nicht; das Wort ist ein so blasses Abstraktum, daß ihm kaum mehr etwas Wirkliches entspricht. Und wenn die menschliche Sprache als »Werkzeug« der Erkenntnis, wenn insbesondere meine Muttersprache als Werkzeug auch zuverlässig wäre, so müßte ich den Versuch dieser Kritik von vornherein aufgeben, weil dann der Gegenstand der Untersuchung ein Abstraktum, ein unwirklicher und unfaßbarer Begriff ist. Damit stehe ich vor dem ersten betrübenden Dilemma. Nur wenn die menschliche Sprache und insbesondere meine Muttersprache nicht zuverlässig und nicht logisch ist, nur dann werde ich hinter dem äußersten Abstraktum »die Sprache« noch etwas Wirkliches entdecken; dann aber werde ich wegen der Unzuverlässigkeit des Werkzeugs die Untersuchung nicht so gründlich vornehmen können, wie ich möchte. Da ich aber diese Eingangssätze nicht tatsächlich am Anfang meiner Beobachtungen abfasse, sondern nach jahrelangen Mühen, so weiß ich schon, daß dieses betrübende Dilemma mich von Schritt zu Schritt verfolgen wird.

Welchen Sinn das Abstraktum »die Sprache« habe, das wird etwas deutlicher werden, wenn wir vorerst erfahren haben, wie abstrakt und unwirklich eigentlich dasjenige ist, was wir eben vorläufig mit gutem Glauben als etwas Wirkliches hingenommen haben: die Einzelsprachen. Was sind diese Einzelsprachen, die das Objekt der Sprachwissenschaft abgeben, der blutjungen Wissenschaft, die in diesem Jahre (1896) 80 Jahre alt geworden ist? Wenn man bedenkt, daß diese Wissenschaft es sich zur Aufgabe gestellt hat, die verschiedenen Sprachen der Menschen nach Stämmen, Völkern und dann wieder nach Mundarten u. s. w. zu sondern, so muß man anerkennen, daß die Sprachwissenschaft nur vorläufig und mit Vorbehalt von den Einzelsprachen ausgehen darf. Ihr Gegenstand ist vielmehr die ungeheure Masse aller menschlichen Laute, die jemals irgendwo auf der Erde von Menschen zum Zwecke der Verständigung gesprochen oder geschrieben worden sind. Die Sprachwissenschaft hat sich die Aufgabe gestellt, diesen ungeheuren Vorrat nach Worten und nach Bildungsformen, sodann oder vorher nach näherer und weiterer »Verwandtschaft« zu ordnen. Die volkstümliche Abgrenzung nach Volkssprachen und nach Mundarten dient, wie gesagt, nur zur vorläufigen Orientierung. Es kann eines Tages entdeckt werden, daß die Sprache der alten Inder der unseren nahe »verwandt« ist; es kann wieder einmal entdeckt werden, daß die niederdeutsche Mundart der hochdeutschen Sprache ferner steht, als der plattdeutsch redende Mecklenburger wohl glaubt. Auf dem Gebiete der ostasiatischen Sprachen gehören solche Überraschungen zu den alltäglichen Ereignissen.

Individualsprachen

Aus dieser Lage der Sprachwissenschaft wird klar, daß ihre einzelnen Sprachen nicht so sicher definierbare Einheiten sind, wie man wohl glauben möchte. In Wirklichkeit ist auch der Begriff der Einzelsprache nur ein Abstraktum für die Fülle von Ähnlichkeiten, von allerdings sehr großen Ähnlichkeiten, welche die Individualsprachen einer Menschengruppe bieten, eines sogenannten Volkes. Natura sane nationes non creat sed individua. (Spinoza, Tract. theol.-pol. XVII.) Das gilt für Recht, Gesetz und Sitte wie für die Sprache. Wir müssen hier gleich festhalten, was sich später übersichtlicher ergeben wird, daß die Individualsprache eines Menschen niemals der irgend eines anderen Menschen vollkommen gleich ist, und daß ein und derselbe Mensch in verschiedenen Lebensaltern nicht die gleiche Sprache redet, auch wenn man von den Besonderheiten seiner Kindersprache absieht. Die Ungleichheit der Individualsprachen ist bei einiger Aufmerksamkeit gar nicht zu übersehen. Jeder charaktervolle Schriftsteller ist an seiner charakteristischen Individualsprache zu erkennen. Auf hundert Schritte. Wie das Bild eines charaktervollen Malers. Wer seinen eigenen Stil nicht hat, ist kein geborener Schriftsteller. Nur Gott hat (in der Bibel) keinen eigenen Stil. Spinoza hat uns das lachend gesagt (Tract. theol.-pol. II.): »Deum nullum habere stylum peculiarem dicendi, sed tantum pro eruditione et capacitate Prophetae eatenus esse elegantem, compendiosum, severum, rüdem, prolixum et obscurum.« Wie ein Journalist also, gefällig gegen sein Publikum. Beim großen Schriftsteller ist nur die Erscheinung der Individualsprache besonders augenfällig. Aber auch die Ungleichheit einer Individualsprache in verschiedenen Lebensperioden ist größer, als man wohl glauben möchte. Man kann allgemein annehmen, daß der einzelne Mensch im ganzen und großen die Sprachentwicklung der durchlebten Zeit mitmacht, wenn auch viele Gewohnheiten seiner Jugend ebenso haften bleiben werden, wie in der Fremde die Gewohnheiten seiner heimatlichen Mundart. Stelle man sich einen deutschen Mann vor, der im selben Jahre mit Walther von der Vogelweide geboren worden wäre und nun noch, etwas mehr als 700 Jahre alt, in voller Frische des Geistes und Körpers leben würde. Manche nüchtern wissenschaftliche Hypothese unserer Sprachforscher setzt mehr Phantasie voraus. Wie wir nun heute die Gedichte Walthers erst mit Hilfe eines mittelhochdeutschen Lexikons verstehen, wie Walther selbst unsere Romane und Zeitungsartikel erst nach viel anstrengenderen Studien (weil er viel mehr Tatsächliches hinzuzulernen hätte) verstehen könnte, so behaupte ich: mein Siebenhundertjähriger würde im ganzen und großen die Sprache unserer Tage reden, würde bei der Lektüre von Lessing z. B. freundlich angemutet werden von den Gewohnheiten des 18. Jahrhunderts, seinen Jugendgenossen Walther aber würde er ebensowenig ohne wissenschaftliche Hilfe lesen können wie wir. Begegnete er sich mit Walther, sie würden einander nicht mehr verstehen.

Strombett der Sprache

Wir können also sagen, daß die Einzelsprachen, mit welchen die Sprachwissenschaft sich wie mit wirklichen Dingen abzugeben gewohnt ist, Strömen gleichen, in welchen an jedem einzelnen Punkte der Wassertropfen zeitlich unaufhörlich von anderen Wassertropfen abgelöst wird, räumlich in der Mitte von anderen Wassertropfen dahinfließt. Der alte griechische Satz »man kann nicht zweimal in denselben Fluß hinabsteigen« gilt auch für die Sprache. Ihre Worte und Formen haben sich unaufhörlich verändert. Wenn unser »Helm« wirklich von dem alten indischen 9arman herkommt (gotisch hilms), so ist die Veränderung in unscheinbaren Abschattierungen der Laute ganz allmählich vor sich gegangen; aber je unbedeutender die Lautveränderungen von Geschlecht zu Geschlecht vor sich gehen, je sicherer jedes Geschlecht glaubt und hofft, das ererbte Wort unverfälscht weiter zu geben, desto unaufhörlicher muß der Fluß dieser Veränderungen sein, damit aus carman Helm werde. Hundert Jahre bedeuten da so wenig, daß »Helm« z. B. noch ganz mundgerecht war, als die preußischen Heeresorganisatoren zu Anfang des 19. Jahrhunderts das Wort (mit der Sache) wieder einführten, nachdem es gegen zweihundert Jahre lang in bloß poetisch-historischem Gebrauche geruht hatte. Auch die Mühlen der Sprache mahlen langsam, aber sicher. So ist — um beim Bilde vom Strome zu bleiben — jeder folgende Tropfen dem vorangegangenen so ähnlich, daß kein Mikroskop einen Unterschied herausfinden könnte; und doch ist es nicht ausgeschlossen, daß das Wasser eines Stromes im Laufe der Jahrhunderte die in ihm aufgelösten Bestandteile ändert, weil durchflossene Minerallager erschöpft worden sind oder weil irgend ein Gebirge durch Abholzung rascher überflutet wird oder weil Bodenveränderungen stattgefunden haben u. s. w. Was beim Strome eine wenig beachtete Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit ist, das ist in der Sprache zuverlässig Wirklichkeit. Unablässig wandeln die Sprachen die Bedeutung ihrer Worte und bei dem unübersehbaren Verkehr des letzten Jahrhunderts, bei dem starken Aufwand an neuen Begriffen kann die Sprache dem Bedürfnis an Bedeutungswandel kaum nachkommen. So hat sich z. B. der Bedeutungswandel der Worte innerhalb der großen Gruppe der Eisenbahnbegriffe bis heute nicht vollständig vollzogen. Man denke an »Platz« in »Platzkarte«. Oder an den Begriff »Stunde« beim Berliner (»Nach Hamburg sind es vier Stunden«) und beim Gebirgsbewohner (»Gute vier Stund’ bis hinauf«). Unablässig geht auf der anderen Seite der Lautwandel vor sich, der sich in der Hauptsache auf das einzige Bedürfnis der physiologischen Bequemlichkeit zurückführen läßt. Denn wenn einerseits allgemein anerkannt wird, daß der Lautwandel zum großen Teile vorgenommen wird, um den Sprachorganen Arbeit zu ersparen, so ist doch auch derjenige Wandel in den Bildungsformen, der auf Erweiterung und neuerungssüchtige Ausdehnung der Analogien hinausläuft (z. B. im Deutschen das Ersetzen der starken Konjugation durch die schwache, wie backte statt buk, ähnlich wie in der Kindersprache trinkte statt trank), eine Bequemlichkeit für die Nervenbahnen. Beispiele sind beinahe überflüssig. Im Deutschen ist aus dem spätlateinischen merkwürdigen Worte paraveredus schließlich »Pferd« geworden, das überdies vielfach »Ferd« ausgesprochen wird, so daß eine künftige Orthographie das p vielleicht weglassen wird. Aus dem griechischen Worte eléémosyne (deutsch Almosen) ist das englische alms geworden, das ams ausgesprochen wird. Wir können diese heimliche Tätigkeit zu Gunsten einer bequemeren Aussprache mitunter bei der Arbeit beobachten. So schreibt heute noch jeder Schulmeister und jeder Dorfschüler »sehen« und »gehen«. Schauspieler, Kanzelredner und ihresgleichen bemühen sich, das stumme e deutlich auszusprechen. In der Umgangssprache wird aber dieses stumme e, welches im Gotischen ein a (saihwan), nicht mehr gesprochen, und die Sprachmeister sind in Verlegenheit, welche Regel sie aufstellen sollen. Noch vor wenigen Jahren schrieb ein Sprachforscher, die Weglassung des e in der Endsilbe en (gesehn) sei vulgär. Seitdem habe ich diese Weglassung sehr häufig gesehn.

Ist nun die zeitliche Veränderung der Worte schon vielseitiger und feiner, als wie die Verschiedenheit der aufeinanderfolgenden Wassertropfen bisher gekennzeichnet worden ist, so ist offenbar die Verschiedenheit der Wassertropfen, die im Strombett nebeneinander fließen, auch nicht so groß wie die Verschiedenheit der Individualsprachen unter Volksgenossen. Habe ich also die Einzelsprache mit dem ewig veränderlichen Flusse verglichen, so ist die Strömung der Sprache zwar eine langsamere, aber, worauf es ankommt, die Unfaßbarkeit und Flüchtigkeit des einzelnen Moments scheint mir bei der Sprache noch größer zu sein. Wir kämen weiter, wenn wir zur Vergleichung an regelmäßige Luftströme und Luftstrombette denken dürften. Will man also die Einzelsprache nicht als ein unwirkliches Abstraktum anerkennen, so wird nichts Übrig bleiben, als das Strombett selbst, die sich gleichbleibende Form mit der Einzelsprache zu vergleichen, weil das Strombett sich denn doch langsam genug verändert.

Habe ich es mir nun zur Aufgabe gestellt, nicht die Form und die Geschichte der Einzelsprachen zu verfolgen, sondern dasjenige zu beobachten, was den Einzelsprachen gemeinsam ist, so werde ich Ähnlichkeiten zwischen ihnen auffinden müssen. Ist zwischen den Einzelsprachen keine andere Ähnlichkeit vorhanden als die in der Definition liegende, daß sie nämlich zur Verständigung zwischen den Menschen dienen, so wird meine Untersuchung bald zu Ende sein oder doch kein positives Ergebnis liefern. Doch auch dann wäre es nützlich, manchen Aberglauben zu zerstören, den Grammatik und Logik an die Sprache geknüpft haben. Ich hoffe aber, noch um einen kleinen Schritt weiter kommen zu können. Vergleicht man die einzelnen Sprachen miteinander etwa so, wie die Erdbeschreibung die einzelnen Strombette miteinander vergleicht, nach ihrer Lage, ihren Linien und dergleichen, so scheint mir dabei nur eine überflüssige Wissenschaft herauszukommen. Es wäre aber auch möglich, bei sehr genauer Beachtung und vollständiger Kenntnis aller Begleitumstände, jedes einzelne Strombett als die Wirkung seiner eigenen Wassermassen bis ins kleinste zu erklären. Die bekannten physikalischen und chemischen Eigenschaften des Wassers sind die alleinige Ursache der gegenwärtigen Strombette, die dann freilich wieder den neuen Wassermassen ihren Weg weisen. Diese Weisheiten sind so wohlfeil wie Brombeeren. Jeder Schafhirt versteht sie und kennt sie auch ungefragt. Dennoch gab es eine Zeit, in welcher die Menschheit unter dem Zwang eines lebhafteren mythologischen Bedürfnisses sich irgend einen Gott, ein Mannsbild oder ein Frauenzimmer, am Ursprung eines Flusses sitzend dachte, welcher Gott nach geheimnisvollen Absichten viel oder weniger Wasser, warmes oder kaltes Wasser, gutes oder schlechtes Wasser in das Strombett oder aus der Quelle fließen ließ. Eine Nachwirkung dieser Mythologie finden wir heute noch in Ausdrücken wie Vater Rhein oder auch in den lächerlichen Frauenzimmern, welche auf lächerlichen Denkmälern mit unpraktischen griechischen Krügen in der Hand deutsche Flüsse darstellen. Wir dachten uns nichts dabei, sagen die Leute zur Entschuldigung.

Mythologie in der Sprache

In den Geisteswissenschaften, namentlich in den Anschauungen von der menschlichen Sprache, ist aber dieses mythologische Bedürfnis noch ungescbwächt vorhanden. Was nicht allein Pfaffe und Pöbel von der Sprache behauptet, was fast alle Sprachforscher — einer dem anderen — nachschreiben, daß nämlich die Sprache ein Werkzeug unseres Denkens sei (ein bewunderungswürdiges Werkzeug noch dazu), das erscheint mir als eine Mythologie. Nach dieser Vorstellung, welche heute noch von allen Köpfen geteilt wird, sitzt irgendwo am Strombett der Sprache eine Gottheit, Mannsbild oder Frauenzimmer, das sogenannte Denken, und herrscht unter den Einflüsterungen einer ähnlichen Gottheit, der Logik, über die menschliche Sprache mit Hilfe einer dritten dienenden Gottheit, der Grammatik. Ich würde es für das stolzeste Ergebnis meiner Untersuchung halten, wenn ich die Menschen von der Unwirklichkeit, von der Wertlosigkeit dieser dreieinigen Göttinnen überzeugen könnte, denn der Dienst unwirklicher Götter ist immer opfervoll, also immer schädlich.

Ich vermute, daß »die Sprache«, die Sprache im allgemeinen oder das Wesen der Sprache, bei genauer Betrachtung nichts mehr von der Herrschaft des Denkens, der Logik und der Grammatik wird wissen wollen. »Die Sprache« wird sich größtenteils als ein leeres Abstraktum herausstellen; wo wir aber dennoch zwischen den Einzelsprachen, die freilich selbst Abstraktionen sind, tatsächliche Ähnlichkeit wahrnehmen werden, wo »die Sprache« uns eine Bezeichnung werden wird für eine wirkliche Art des menschlichen Handelns, da werden wir niemals nötig haben, auf Denken, auf Logik oder Grammatik als den Ursprung zurückzugehen. Vielmehr werden wir wohl finden, daß Denken, Logik und Grammatik Merkmale der Sprache sind, gewissermaßen in der Sprache drinstecken und nur von müßigen Ordnungsfanatikern herausgezogen worden sind. So gibt es in der Natur kein anderes Blau als an blauen Erscheinungen. Es wäre auch da, wenn die Sprache das Adjektivum blau zu abstrahieren sich nicht die Mühe genommen hatte. Wie die Elektrizität da war, bevor man sie entdeckte, d. h. ihre Wirkungen unseren Sinnen wahrnehmbar machte. Wie in der Natur alle die Elemente schon da sind, die wir noch nicht kennen.

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Entstehung der Sprache

Am Ende wird aber auch diese Kritik nur wollen, was alle Sprachwissenschaft von jeher wollte: die Erscheinung der Sprache erklären.

Die Sprache erklären! Schon die naiven Griechen versuchten so etwas, als sie darüber stritten, ob die Sprache durch die Natur oder durch einen Gesetzgeber entstanden sei. Die Entstehung durch einen Gesetzgeber muß die älteste, die theologische Antwort gewesen sein. Diese Antwort wurde übrigens von den wenig dogmatischen Griechen noch etwas vernünftiger gegeben als von den Christen des Mittelalters; die Griechen dachten doch halbwegs an einen menschlichen Gesetzgeber, einen Heros, einen Erfinder, wie sie denn in ihren Göttern gern die Erfinder wichtiger Kulturarbeiten verehrten. Auch darin waren sie den Christen vorzuziehen, daß sie bei der Sprache an etwas Konkreteres dachten, nämlich an ihre eigene Landessprache, an Griechisch. Die Christen — um unter diesem Namen die Völker der neueren abendländischen Entwicklung zusammenzufassen — gelangten sehr früh zu dem Bewußtsein, daß es viele und gleichberechtigte Sprachen gebe, und faßten so zuerst »die Sprache« als ein Abstraktum, das ungefähr den Sinn von »Sprachvermögen« enthielt, wenn davon die Rede war, daß Gott den Menschen die Sprache verliehen habe. Dieser für uns fast monströse Gedanke findet sich noch ganz ungeschwächt und pfäffisch in einem sonst so vorzüglichen Überblick über die bisherigen Ergebnisse der Sprachwissenschaft, wie es die Vorlesungen von Whitney sind. Es heißt da (»Die Sprachwissenschaft«, bearbeitet von Jolly, 1874, Seite 555): »Der göttliche Ursprung der Sprache ist in dem Sinne aufrecht zu erhalten, in welchem die Menschennatur überhaupt mitsamt all ihren angeborenen und angenommenen Gaben Gottes Werk ist.« Solche Komplimente für den lieben Gott können bewußte Heuchelei sein (woran ich an ähnlichen Stellen aus M. Müllers »Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft« nicht gern glauben möchte); sie können aber auch unbewußte Höflichkeit sein, Anpassung an die Volksgemeinschaft; und dann gehören sie schon selbst dem Gebiete des Bedeutungswandels an.

Wir müssen uns aber natürlich davor hüten zu glauben, alle diese Sätze, Fragen und Antworten hätten zu allen Zeiten den gleichen Sinn gehabt. Zu der Entwicklung der Sprache gehört es als ein begleitender Nebenumstand, daß die Worte auch da einen Bedeutungswandel erfahren, wo wir es nicht wissen. Und wo wir es wissen, bleiben wir uns des Wandels nicht immer bewußt.

So verbanden die Griechen ganz gewiß mit dem Gedanken, daß ein Gesetzgeber die Sprache gemacht habe, die kindliche Vorstellung, daß dieser Gesetzgeber die einzig richtige Sprache gemacht habe, natürlich die griechische. Ein Pferd hieß nicht nur hippos, es war auch ein hippos. Darin nun waren ihnen die Christen wieder überlegen, daß in ihrer Lehre von dem göttlichen Ursprung der Sprache ebenso gewiß die Vorstellung von einer gewissen Willkür steckte. Gottes Wille ist eo ipso Zufall. Es war Gottes Wille, daß es mehrere Sprachen gab; aber es gab doch mehrere gleichberechtigte Sprachen. Nationaler Dünkel mußte der internationalen Christenheit ursprünglich fremd sein. Auf den närrischen Einfall, die Sprachen etymologisch vom Hebräischen abzuleiten, kam man erst später, auf philologischem Wege. Es war kein theologisches Dogma.

Als nun dem Satze, die Sprache sei thesei (durch einen Gesetzgeber) entstanden, die neue Lehre entgegengestellt wurde, sie sei physei (natürlich) entstanden, waren ebenso naive Vorstellungen mit dem richtigen Gedanken verbunden. Es wäre darum ganz falsch, die gegenwärtige Auffassung von einer natürlichen Entwicklung der Sprache schon den Nachfolgern des Herakleitos zuzutrauen. Wir können uns eben kaum mehr in das Gehirn von Leuten hineindenken, welche die künstliche Sprachschöpfung leugneten, aber das Unbewußte des Vorgangs nicht ahnten und noch dazu von Natur eine »richtige« Sprache entstehen ließen. Die die Entstehung physei lehrten, fragten dabei immer noch nach dem Ursprung der griechischen Sprache. Unsere Sprachforscher lehren ebenfalls die Entwicklung auf natürlichem Wege; aber sie kennen seit Leibniz das Unbewußte der menschlichen Tätigkeit, die solche Wirkung erzeugt, und sie nehmen die einzelnen Sprachen als Tatsachen hin. Ihre Frage geht darum nicht mehr nach dem Ursprung der einzig richtigen Sprache, auch nicht einmal mehr nach dem Ursprung der Sprache überhaupt. Ihre Frage lautet vielmehr ganz bescheiden etwa so: durch welche historische Entwicklung ist es gekommen, daß wir (z. B. die Einwohner eines Fleckens in der Altmark) so sprechen, wie wir sprechen, daß die heutigen Bantuneger wiederum so sprechen, wie sie sprechen.

Diese Frage läßt sich teilweise beantworten; bald auf zwei oder drei, bald auf fünfzig, ja bis auf hundert Generationen zurück. Wie es Familien gibt, welche höchstens noch wissen, wie der Großvater geheißen hat und was er trieb, wie es andere, stolzere Familien gibt, die noch Nachrichten von ihrem Urahn besitzen, so gibt es junge und alte Sprachgeschichten. Hinter diesen beglaubigten Entwicklungen liegt aber jedesmal die Paläontologie der Sprache. Und die Frage der modernen Sprachwissenschaft ist darum so bescheiden, weil sie sich mit so dürftigen Nachrichten begnügt, und die vagen Hypothesen, welche die Vorgeschichte aufhellen sollen, noch dankbar mit in Kauf nimmt.

Während also die Alten das Abstraktum »die Sprache« nicht so wie wir fassen konnten, weil sie über ihre eigene Landessprache (wozu die Römer noch Griechisch trieben) nicht hinausdachten, konnten sie doch wieder nicht das Konkrete an der Sprache so erfassen, wie unsere Forscher, die wirklich bis zum Konkretesten, den Schallwellen, beinahe vorgedrungen sind. Die Sprachlaute werden als bewegte Luft zwar nicht mathematisch bestimmt, aber wohl physikalisch begriffen. Doch die Götzendienerei ist dem Menschen angeboren. Immer wieder versucht er den Sprung von den drei bis hundert Generationen, die er kennt, zurück zu den unzähligen, die er nicht kennt; immer wieder fragt er nach dem Ursprung »der« Sprache. Da er nämlich, wenn er ein besonnener Sprachforscher ist, wirklich nicht nach dem Ursprung eines jetzt gesprochenen Sprachstamms fragen dürfte, da die Frage nach dem Ursprung z. B. der Sanskrit-Wurzeln, mit welchen unsere indo-europäischen Sprachen begonnen haben sollen, wirklich nur wie ein kindischer Scherz klingt, so ist jede Untersuchung über den Ursprung der Sprache nicht mehr eine Beschäftigung mit irgend etwas Konkretem, sondern — was nur noch nicht in die Köpfe eingegangen ist — eine Rückkehr zu dem Abstraktum: »die« Sprache. In diesem Sinne ist also »die Sprache« ungefähr dasselbe wie das, was die ältere Psychologie »das Sprachvermögen« genannt hat. Es würde demnach die Frage nach dem Ursprung der Sprache, das heißt doch nach der ersten Betätigung des Sprachvermögens, identisch sein mit der Frage nach dem Ursprung des Sprachvermögens. Was ein Unsinn zu sein scheint.

Sprachvermögen

Nur scheint. Wir müssen eben die Sprache unter die übrigen Tätigkeiten des Menschen rechnen alswie das Gehen, das Atmen. Da ist es für einen Biologen gar kein unsinniger Gedanke, daß der Mensch nicht geht, weil er Beine hat, sondern daß er Beine hat, weil er geht; daß der Mensch nicht atmet, weil er eine Lunge hat, sondern daß er eine Lunge hat, weil er atmet.

Richtiger: die Entwicklung des Werkzeugs und die Steigerung der Tätigkeit gehen parallel nebeneinander her. Nehmen wir nun das wirkliche Sprachwerkzeug (unter Sprachwerkzeug verstehe ich außer dem Tonapparat auch alle ihm dienenden oder befehlenden Muskeln und Nerven) als den tatsächlichen Ausdruck für ein geträumtes Sprachvermögen, so ist es allerdings möglich, daß die Entwicklung der menschlichen Sprache neben der Entwicklung der menschlichen Sprachorgane einhergegangen sei.

Fassen wir diesen Gedanken ganz scharf ins Auge, so sehen wir hoffentlich, daß – in wie unendliche Zeiträume wir auch den Ursprung der Sprache zurückverfolgen mögen – wir doch niemals an einen Moment gelangen, wo wir die Vorstellung konkreter Sprachlaute verlassen müßten, wo wir nach dem Ursprung des Abstraktums Sprache fragen müßten.

Der Wert dieses Gesichtspunktes scheint mir darin zu bestehen, daß wieder einige Abstrakta aus dem Wissenschaftlichen Gebrauche hinausgeworfen wurden. »Sprachvermögen « oder »die Gabe der Sprache« wird definitiv überflüssig, wenn klar erkannt wird, daß der Sprachgebrauch, d. h. hier die Ausübung der Sprachtätigkeit, sich erst das Sprachwerkzeug ausgebildet hat. Man wird dann den Begriff »Sprachvermögen« ebenso absurd finden, als etwa ein besonderes »Gehvermögen« oder ein besonderes »Atmungsvermögen«. Gewiß liegt im selbsttätigen Fortbewegen des Tieres gegenüber dem Abwarten der Pflanze die Möglichkeit höheren Komforts; doch hat sich das Bewegungswerkzeug durch Gehen erst entwickelt. Ebenso ist das Atmen der Luft durch Lungen wahrscheinlich komfortabler, als die Benützung der Luft im Wasser durch die Kiemenatmer; doch wird kein Mensch die allmähliche »Entwicklung« dieser »Gabe« übersehen können, da jeder Frosch ein Beispiel bietet.

Gehen und Sprechen

Die Ähnlichkeit zwischen Gehen u. s. w. und Sprechen würde heller werden, wenn wir schon hier mit klarer Einsicht das Abstraktum »Sprache« immer durch das Tätigkeitswort »Sprechen« ersetzen dürften.

Unser Gesichtspunkt ist weiter darin wertvoll, daß die Frage nach dem Ursprung »der« Sprache ihren alten Sinn verliert. Der Ursprung muß immer weiter und weiter zurückverlegt werden und die Untersuchung der Sanskritwurzeln sinkt zu einer Sprachgeschichte des gestrigen Tages herab. Wo ich selbst — dem unbesiegbaren Sprachgebrauche folgend — ebenfalls von einem Ursprung der Sprache rede, denke ich darum nicht an den wirklichen unnahbaren Ursprung, sondern an einen irgendwo weit zurückliegenden Punkt des Stromlaufs, an einen Ruhepunkt, der aber nur in meiner Vorstellung existiert.

Die zweckmäßigen Bewegungen, welche wir unter dem Namen Sprache zusammenfassen, oder besser unter dem Verbum »Sprechen« (jedes Verbum ein Ordnungsbegriff unter dem menschlichen Gesichtspunkte eines Zwecks), machen den allgemeinen Weg von der unbewußten Bewegung durch das bewußte Wollen zum Unbewußten zurück, und zwar sowohl in der allgemeinen Sprachentwicklung wie in der Sprache des Individuums. Die Äußerungen des Schmerzes und der Freude gehen noch aus keinem bewußten Willen hervor; sie kommen, um den Sprachgebrauch französischer Psychologen anzuwenden, aus Volitionen, nicht aus der volonté. Das Sprechenlernen des Kindes ist mit Bewußtsein verbunden wie das Gehenlernen; auch in der genetischen Entwicklung der Sprache müssen wir behaupten, daß jede Bereicherung, jede neue kühne Metapher, mit Bewußtsein verbunden war. Am Ende wird aber das gewöhnliche Sprechen so automatisch, daß es dem Laien zuerst schwer fällt, nur in den Bewegungen das Wirkliche der Sprache zu sehen. Denn er achtet zuletzt nur noch auf die Ergebnisse der Bewegungen, die Töne, und nicht auf die Bewegungen selbst. Mit dem bewußten oder unbewußten Wollen bleibt das Sprechen oder Denken, bleibt alles Erkennen immer verbunden, weil alles Erkennen zuletzt auf die durch das Individualinteresse erweckte Aufmerksamkeit und die durch das Vorfahreninteresse ererbte Aufmerksamkeit zurückgeht.

Hätten die Menschen nicht sprechen gelernt, und nur ein einzelner unter ihnen würde sprechen, so wäre es dem Beobachter natürlich, die Erscheinung als eine Reihe von Bewegungen aufzufassen, und es würde ihm kaum einfallen, diesen Bewegungen einen Gesamtnamen zu geben. So fällt dem Kinde an dem brüllenden Ochsen sehr deutlich die Anstrengung auf, die das Tier macht. Die Sprachbewegungen des unter sprachlosen Mitmenschen allein redenden Individuums wären aber gar nicht Sprache. Ein einzig sprechender Mensch unter sprachlosen Volksgenossen ist ebensowenig vorstellbar wie ein redender Gott, der den Menschen die Sprache erst schenkte. Oder er wäre wie der Teilnehmer an einem ausgedehnten Telephonnetze, das keinen zweiten Teilnehmer hatte. Seme Zweckbewegungen wären nicht Sprache. Sprache werden diese Bewegungen erst durch ihre über das Individuum und über die Wirklichkeit hinausgehende Eigentümlichkeit, daß sie bei einer Gruppe von Menschen die gleichen, daß sie dadurch verständlich, daß sie nützlich sind. Als sozialer Faktor erst wird die Sprache, die vor Erfindung der Buchdruckerkunst noch nicht einmal in einem Wörterbuch beisammen war, etwas Wirkliches. Eine soziale Wirklichkeit ist sie; abgesehen davon, ist sie nur eine Abstraktion von bestimmten Bewegungen.

Ich brauche nicht erst hinzuzufügen, daß die gebrauchten Begriffe Volitionen und Wollen selbst wieder Abstraktionen sind, denen nichts Wirkliches entspricht. So führt man die Sprachbewegungen zuletzt auf einen Mitteilungstrieb zurück, der neben dem Atmungstrieb, dem Ernährungstrieb (wovon der Atmungstrieb doch nur eine Unterart wäre), dem Geschlechtstrieb (wovon der Ernährungstrieb wieder nur ein Diener wäre), dem Spieltrieb und dem Wahrnehmungstricb sauber aufgezählt wird. Der Wahmehmungstrieb ließe sich ebensogut in einen Sehtrieb, einen Hörtrieb u. s. w. zerlegen. Aber alle diese Triebe sind doch nur entstanden durch den menschlichen Klassifikationstrieb, der ihrer würdig ist, d. h. durch die Ökonomie des menschlichen Gedächtnisses; in der psychologischen Wirklichkeit kann es auch keinen Trieb geben außer dem individuellen Willen zum Leben, für den sich dann natürlich die Bezeichnung Selbsterhaltungstrieb findet.

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Muttersprache nirgends

Es gibt; nicht zwei Menschen, die die gleiche Sprache reden. In Augenblicken tiefster Verstimmung wird Jedermann einmal das gedacht haben, daß nämlich kein Anderer seine besondere Sprache verstehe. Bildlich wird den Satz jedermann begreifen. Nicht leicht aber wird man zugeben, daß er eine nüchterne wissenschaftliche Wahrheit enthalte. Eine Wahrheit, die sich auch so ausdrücken ließe: daß ein jeder einen anderen Ausschnitt aus der gemeinsamen Muttersprache »beherrsche«. Dies letzte Wort zu wählen wird mir schwer. Denn der Fall ist doch alltäglich, daß wir einen anderen, größeren Ausschnitt aus unserer Muttersprache verstehen, einen anderen, kleineren aber sprechen können, wie wir doch auch gewöhnlich manche Nachbarmundart noch verstehen, nur die eigene aber reden.

Dieser Überlegung liegt der Begriff einer einem Volke gemeinsamen Sprache, der Muttersprache, zu Grunde. Wo ist diese Sprache Wirklichkeit? Wo in aller Welt? Nicht im einzelnen. Denn der versteht nur einen Teil des Wort- und Formenschatzes, gebraucht nur einen kleinen Bruchteil dessen, was er versteht. Nicht in Büchern. Denn sonst hätte es vor Erfindung der Schrift keine Sprache gegeben. Auch gibt es in Büchern überall nur höchstens Sammlungen von Worten und Regeln, sodann die zufällig entstandenen Literaturen, nirgends aber auch nur die Möglichkeit einer gesammelten Sprache. Wo ist also das Abstraktum »Sprache« Wirklichkeit? In der Luft. Im Volke, zwischen den Menschen.

Es kann sich also niemand rühmen, daß er auch nur seine Muttersprache kenne. Jakob Grimm hat seine eigenen Regeln nicht immer beobachtet. Ein Goethe gebraucht manche Worte unsicher, macht »Sprachfehler«. Kurz, so genau kennt niemand die deutsche Sprache, daß er jeder Gebrauchsform sicher wäre, daß er nicht von Zeit zu Zeit Worte fände, die er noch nie gebraucht und noch nie gehört oder gelesen hat. So oft drei Deutsche aus verschiedenen Landschaften, von nur wenig verschiedenen Bildungsgraden oder Bildungsgängen (man könnte auch solche von drei möglichst verschiedenen Alterstufen hinzurechnen) beisammen sind, wird der eine bald ein Wort oder eine Form aussprechen, die die anderen nicht verstehen, oder die der zweite versteht, aber nicht der dritte. Das kann so weit gehen, daß die Gemeinsamkeit des gesprochenen oder des verstandenen Sprachmaterials aufhört (oder beider); die Gleichheit oder Beschränktheit der drei Menschen kann aber auch so groß sein, daß ihre Sprachen nur m Nuancen auseinandergehen. Aber wir wissen, was das für eine Gemeinsamkeit ist, die doch das Kennzeichen der Sprache ausmachen soll. Gemeinsam ist die Muttersprache etwa, wie der Horizont gemeinsam ist; es gibt keine zwei Menschen mit gleichem Horizont, jeder ist der Mittelpunkt seines eigenen.

Wortgeschichte

Ganz abgesehen aber von dieser verzweifelten Erkenntnis: Wort daß nämlich niemand seine Sprache völlig kennt, daß also nirgends »die Sprache« existiert, ganz abgesehen davon fehlt uns noch mancherlei zur wirklichen Kenntnis auch nur unserer Muttersprache. In der Wissenschaft ist es einleuchtend, daß nur die Geschichte eines Begriffs volle Klarheit über den Begriff verleiht. Selbst so allgemein gebrauchte technische Ausdrücke wie »Oxygen« werden durch ihre Geschichte deutlicher; die ganze Fülle der Entdeckungen, welche die phlogistische Lehre umstießen und die Gewichtsvermehrung bei der Verbrennung zum Ausgange hatten, liegt in der Geschichte des Wortes Oxygen. Nun ist aber alle Sprache Kenntniserinnerung oder Wissen, jedes Wort hat seine Geschichte, und zu einer intimen Kenntnis einer Sprache würde also Kenntnis ihrer gesamten Geschichte gehören. Die ist aber den allermeisten Menschen völlig unbekannt. Und was etwa die Philologen davon wissen, das ist oberflächlich, etwa so viel, wie ein Regenwurm vom Erdinnern weiß. Oder meinetwegen: soviel ein Bergarbeiter davon weiß.

Man könnte mir einwenden, daß ja eine lebendige Sprache, so wie sie sich ohne jede Sprachvergleichung im heutigen Gebrauche darstellt, ein Ganzes sei und ihrer Geschichte nicht bedürfe; wie eben ihr Gebrauch zwischen den ungelehrten Volksgenossen beweise. Damit würde aber behauptet, daß der feinere und nüanciertere Gebrauch unter gebildeten oder gar gelehrten Leuten nicht mehr zu dieser Sprache gehöre. Wird doch oft genug die Sprache durch historische Kenntnis vorübergehend neu befruchtet, wie wir insbesondere im Deutschen an dem Einfluß von Grimm oder (für beschränktere Kreise) von Richard Wagner beobachten können; wobei dann freilich das gemeine Wort der alten Sprache nur äußerst selten mit der alten Bedeutung in die neue Gemeinsprache hineinwächst. Fast in jedem Archaismus steckt ein veränderter Sinn. »Halle« (seit Ramler mit Anlehnung an das englische »hall« wieder eingeführt) ist in »Turnhalle«, »Markthalle« etwas anderes als der alte Vorbau; »Weib«, »Magd« (seit Wieland etwa wieder in edlem Sinne üblich) hat einen sentimental-poetischen Nebenton.

Ist nun die Sprache eines Volkes etwas »in der Luft«, ist es unmöglich, irgend eine Sprache jemals wie etwa ein Gebäude in Raum und Zeit übersichtlich hinzustellen, ist es für den einzelnen Volksgenossen nicht möglich, auch nur seine eigene, ihm scheinbar so vertraute Mundart, die Muttersprache, einigermaßen vollständig zu kennen, so mag man daraus einen Schluß ziehen auf die Kenntnis, die wir etwa von fremden Sprachen besitzen. Die Vokabulare, welche gelehrte und un-gelehrte Reisende von wilden, d. h, fremdsprachigen Völkern mitbringen, wimmeln von den allergröbsten Mißverständnissen. Neuere Sprachforscher haben eine besondere Technik erfinden müssen, nach welcher so ein Reisender dem »Wilden« ein Wort abzufragen hat; und die Kreuzfragen des Inquisitionsprozesses zu stellen, war nicht schwieriger, als in fremder Sprache etwa die Vokabel für »Hand« abzufragen. Ob der vernommene Ausdruck Hand, rechte Hand, Finger, fünf Finger, fünf, ich schwöre, ich biete dir Frieden, ich will dich schlagen oder sonst etwas anderes bedeute, das kann nur durch die sorgsamste Fragestellung ausgemacht werden. Es liegt in der Natur der Sache, daß die Bedeutung der Bildungssilben oder ähnlicher Formen, daß die Funktion der syntaktischen Regeln noch viel schwieriger zu erraten ist als Vokabeln für konkrete Dinge, daß Abstrakta sehr oft gar nicht zu erraten sind, weil die Vorstellungen des einen Volkes nicht die des anderen sind. Bevor die christlichen Missionäre bei den Kaffern erschienen, hatten die Kaffern nicht unsere Gottesidee, wie wir kein Wort für »Gummi« hatten, bevor wir den Stoff kannten. Schon eine so nah verwandte und auf verwandten Vorstellungen beruhende Sprache wie das Französische ist für einen Deutschen nicht völlig erlernbar (d. h. nicht so weit, wie der Deutsche seine eigene Sprache kennt), trotzdem seit Jahrhunderten unzählige Menschen beide Sprachen reden, und so ein Mißverständnis bei Aufstellung der Vokabulare fast ausgeschlossen ist Um wieviel weniger genau wird unsere Kenntnis fremderer oder gar »wilder« Sprachen sein. Und dennoch beruht auf dieser für die eigene Muttersprache mangelhaften, für die entfernteren Sprachen armseligen und für die ganz entlegenen Sprachen lächerlichen Kenntnis alles, was die Sprachwissenschaft zu lehren sucht. Freilich wäre Sprachkenntnis, wenn sie möglich wäre, auch Welterkenntnis.

Selbstverständlich steht unsere Kenntnis der Grammatik einer fremden Sprache noch tief unter unserer Kenntnis ihres Wortvorrats. Ganz so schlimm ist es freilich nicht mehr wie noch vor fünfzig Jahren, als sich so eine arme indianische oder polynesische Sprache durchaus in die Kategorien der lateinischen Grammatik fügen mußte; es war, als ob man z. B. die Lilie zur Musterblume ernannt hätte und eine jede Pflanze, jeden Strauch und jeden Baum nach den Teilen der Lilie merken und benennen wollte. Als ob Rose, Farn und Palme sich mit einer Zwiebel hätte ausweisen müssen und mit einer dreikantigen Kapsel.

Noch ärger ist die Sünde gegen den heiligen Geist der Sprache, wenn sich der Pfaffe in die Sache mischt. Wenn (um beim Beispiel von der Lilie zu bleiben) die Lilie auf Bildern ohne die männlichen Geschlechtsteile, ohne Staubgefäße dargestellt wird, weil christliche Künstler und Herren sie zum Sinnbild der Unschuld erklärt haben. Die Wortbedeutung wird sich am Ende doch abfragen lassen (wenn nicht gar der wilde Stamm, wie es vorkommen soll, den Irrtum des geehrten Europäers höflich oder trottelhaft dadurch anerkennt, daß er den falschen Gebrauch annimmt). Die Grammatik mag durch die unpassenden lateinischen Ausdrücke schwieriger zu erlernen sein; sie wird aber den Weg zum Sprachgebrauch nicht für immer verrammeln. Wenn aber Missionäre töricht genug sind (wie es geschehen ist), das erste Kapitel des Evangeliums Johannis zur Grundlage einer Übersetzung zu nehmen oder gar (wie es ebenfalls geschehen ist) zum Urtext einer Polyglotte, so ist das wirklich ein frivoles Spiel. Denn wo wir alle den griechischen Text oft so wenig verstehen wie das Hexeneinmaleins, wo der Verfasser selbst nicht Wirklichkeiten, sondern nur Modebegriffe seines armseligen Neu-Platonismus mit dem Logos und den anderen Worten verband, da kann nur ein Kaffer entsprechende hottentottische Sätze bilden. Da aber das Christentum — wie es von solchen Missionären gelehrt wird — nur eine Reihe von Worten ist, da sie nicht anders als mit Worten Vorstellungen in die Gehirne ihrer Wilden hineinbringen können, so mag dieses Beispiel von Missionärpsychologie auch ungefähr erraten lassen, weß Geistes Kind das von ihnen verbreitete Christentum sein mag.

Grammatik