GRETEL

 

 

GRETEL

 

Teil 3: Pfefferkuchenhaus

 

 

C. R. Schmidt

 

 

Buch & Autor

 

Die Besatzung der Gretel befindet sich in den Klauen der grausamen Zud-Zudur. Deren Gefängnis ist an schwindelerregender Grausamkeit kaum zu übertreffen. Die Hoffnung scheint verloren, aber Draper bewahrt noch ein letztes Geheimnis. Doch selbst, wenn der Crew die Flucht gelingen sollte, würde sie sich in einem uralten und erschreckenden Teil des Alls wiederfinden ... (Teil 3 von 3)

 

Der 1991 geborene C. R. Schmidt würde gern behaupten, dass er seit seiner Kindheit schreibt, ist als damaliger Teenager aber eher spät in das Autorentum eingestiegen. Er behauptet der Einfachheit halber, aus Hamburg zu stammen, da wirklich niemand das Kaff im Speckgürtel um die Hansestadt kennt, aus dem er damals geflohen ist. Nach einem abgeschlossenen Anglistik- und Philosophiestudium in Kiel wartet er nun sehnsüchtig darauf, als Lehrer auf Kinder losgelassen zu werden. Sein erster Roman »Sherman’s End« erschien 2015 und gehört immer noch zu den beliebtesten Büchern des Verlags in Farbe und Bunt.

C. R. Schmidt gedeiht prächtig dank einer ausgewogenen Diät aus Weird Fiction, Super Smash Bros., alten Sci-Fi-Paperbacks und Dungeons and Dragons 3.5e. Seine Liebe zu der bunten und verrückteren Seite der Phantastik drückt er in seinen Geschichten aus.

 

Impressum

 

Originalausgabe | © 2019

In Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100 | 45145 Essen

www.ifub-verlag.de

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Herausgeber: Mike Hillenbrand

verantwortlicher Redakteur: Björn Sülter

Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Gestaltung: Grit Richter & Thomas Rabenstein

E-Book-Erstellung: E. M. Cedes

 

ISBN: 978-3-95936-181-1 (Ebook)

ISBN: 978-3-95936-182-8 (Print)

Widmung

 

»Ein Blick durchs Schlüsselloch kann leicht ins Auge gehen.«

Gerd W. Heyse

 

»Magie ist Physik durch Wollen!«

Dr. Axel Stoll, promovierter Naturwissenschaftler

Kapitel 26 – Touchdown IV

 

Lange Reisen mit großen Schiffen führten zu einem gewissen logistischen Problem. Ein Schiff der Größe der Gretel verbrauchte bei einem Hyperraumsprung so viel Energie, dass es nach einem Sprung mehrere Tage ruhen musste, ehe es wieder würde springen können. Die besten Kriegsschiffe konnten während solcher Warteperioden noch immer sehr hohe Geschwindigkeiten erreichen – doch das half bei den Distanzen zwischen Sternen meist überhaupt nichts. Überlieferte Erzählungen und Berichte in der Allianz kursierten noch immer als Horrorgeschichten in den Reihen verschiedenster Lebewesen. Es gab Aufzeichnungen über ausgefallene Antriebe, die Crews auf Ewigkeiten dazu zwangen, durch die Leere des Alls zu irren, über den Wahnsinn, der die Reisenden über kurz oder lang befällt, oder über die grausamen Dinge, zu denen Lebewesen in Isolation manchmal gezwungen sind. Ein Bericht aus dem Jahre 3600 n.e.K. erzählte von einem völlig autonomen Kolonisationsschiff der Menschen, dessen Sprung durch einen kleinen Kommafehler in den eingegebenen Koordinaten eine zwangzigtausendköpfige Besatzung in die endlose, unerforschte Leere warf. Vierhundert Jahre später kam eine völlig verwahrloste Hülle eines Schiffes wieder an ihrem Heimatplaneten an. Die ursprünglichen Siedler im Schiff waren selbstverständlich verstorben, und ihre dreitausend Nachkommen betraten zum ersten Mal nach einer viele Generationen dauernden Reise planetaren Boden.

Um solche Unfälle zu vermeiden, wurden Primärschiffe entwickelt. Diese Raumkreuzer von unfassbarer Größe waren schon beinahe fliegende Städte, die nach ihren Sprüngen meist Monate an ihrem Sprungort verweilen mussten, ehe sie zurückkehren konnten. An Bord solcher Primärschiffe befanden sich kleinere Schiffe mit eigenen Antrieben, die vom Sprungort aus weiterspringen konnten – sei es, um sofort Hilfe zu holen, größere Frachten zu transportieren oder eine fernere Reise zu ermöglichen.

Schiffe dieses Typs kamen auch in Raumschlachten zum Einsatz. Die Zud-Zudur hatten für die Gretel eines der feinsten in Sprungreichweite stationierten Primärschiffe eingesetzt. Der Name des Schiffes konnte zwar nicht in menschlichen Sprachen wiedergegeben werden, bedeutete aber in der Zud-Zudur-Zunge so viel wie ‚Einfänger verlorener Kinder‘. Die in furchteinflößende Kriegsexos gehüllten Drohnen brachten ihre Gefangenen auf ein kleines Tochterschiff. Die bunte Ansammlung verschiedenster Rassen wurde von allen Zud-Zudur, die sie passierten, mit Zorn und Hass beäugt. Viele der rangniedrigen Zud-Zudur-Männchen wurden an Bord nur selten mit Nahrung versorgt, weshalb sie oft unter schlimmem Hunger litten. Dieser Hunger spornte die Drohnen nur noch mehr zum grauenhaften Massaker auf dem Schlachtfeld an, da ein Zud-Zudur immer das Recht darauf hatte, zu bestimmen, was mit seiner erlegten Beute geschehen sollte. Schwache Zud-Zudur blieben meist hungrig. Daher sahen manche von ihnen die Gefangenen als einen Leckerbissen, den sie durch Vorschriften nicht kosten durften, und schnappten nach ihnen, als die Fremden an ihnen vorbeigingen.

Innerhalb der Gruppe wurden ebenfalls finstere Blicke ausgetauscht. Die letzten Überlebenden aus Abteil 8 wurden noch an Bord der Gretel mit den drei Gefangenen aus dem Cockpit zusammengebracht. Schon im gleichen Moment, als Jahn General Halan Draper aus der Entfernung sah, mussten zwei Drohnen den unerfahrenen Menschen festhalten und ihm Stromstöße verpassen, da er schreiend und tobend auf seinen Artgenossen losgerannt war. Danach lernten sie alle, still zu sein, und versuchten, lieber mit Blicken als mit Worten ihre Botschaften zu verschicken. Keiner von ihnen war besonders froh, endlich persönlich auf Draper zu treffen. Mekkekk und Srim Tollop wussten lediglich, dass Draper fest davon überzeugt war, aus den Klauen der Zud-Zudur zu entkommen, und hielten ihn deshalb für vollkommen irre. Abteil 8 sah mit purer Verachtung auf den einäugigen Admiral, der in seinem länger anhaltenden Suff noch immer still vor sich hinkicherte. Merkwürdige Blicke wurden auf Srim Tollop geworfen, die in bunte, zerrissene Gewände gehüllt war. Srim Hillot, der ohne Handschellen neben dem Kreis der Gefangenen lief, wurde jedoch tiefe Verachtung geschenkt, und zwar von allen gemeinsam. Jedes Mal, wenn der Srim seinen Mund öffnete, während die Truppe durch endlose Korridore marschierte, konnte man die überkochenden negativen Gefühle der Gruppe beinahe riechen.

Steve wurde währenddessen von einer Drohne mühelos getragen. Man hatte seine Flügel trotzdem in speziell für Phlant angefertigte Handschellen gelegt. Als er nach zwei Stunden Bewusstlosigkeit endlich erwachte, tat er dies in einer Gefängniszelle an Bord eines Transportschiffes, das sie zu ihrem nächsten Aufenthaltsort bringen würde. Steve lag auf einem harten, dreckigen Feldbett. Er fuhr hoch und öffnete seine Augen. Sein Geist war noch immer ein wenig schummrig. Er murmelte ein paar Geräusche vor sich hin und schaute umher.

Er sah noch immer doppelt und dreifach, als er eine erste Stimme vernahm. »Er ist wach«, hörte er S. Meslop sagen. Vor seinem Blickfeld tauchten einige Gestalten auf. Er erkannte einzelne, wie zum Beispiel Quof, an ihrer bloßen Gestalt.

»Wo bin ich?«, fragte er.

»Die Antwort wird dir nicht gefallen«, antwortete Demm.

Steve dachte noch einmal genau nach. Er erinnerte sich daran, dass Draper von einem Spion gesprochen hatte. Er erinnerte sich schemenhaft an ein Verhör, doch er hatte schnell das Bewusstsein verloren. Fieber und kurze, heftige Krämpfe waren die Realität seiner letzten Tage gewesen, und er freute sich umso mehr, endlich wieder bei Kräften zu sein. Er verspürte weder ein Verlangen nach Silverspoon noch die typischen Entzugserscheinungen. Man musste ihn geheilt haben. »Wir sind nicht zurück im Allianzgebiet, oder? Denn das wäre zu schön.«

»Leider knapp daneben«, hörte er die Stimme von General Draper lallen. »Wir sind auf einem Zud-Zudur-Transportschiff. Man bringt uns wohl nun dorthin … nun, wohin auch immer diese Schweine ihre Gefangenen bringen. Wir haben noch nie einen zurückbekommen.«

»Mach ihm die Sache nur noch angenehmer, Draper«, schnauzte Jahn.

»Die … Die Zud haben uns bekommen?«, murmelte Steve.

»Jap. Du wurdest verarztet. Deine Entzugserscheinungen sollten verschwunden sein. Der örtliche Sanitäter hat etwas von Muskelrelaxantien erzählt, also wirst du noch ein wenig benebelt sein.«

»Ga… gab es Verluste? Wer hat … überlebt?«

»Fast niemand«, berichtete Draper. »Alle Abteile bis auf Abteil 8 sind den Zud zum Opfer gefallen. Heplis und Floss sind tot. Tinnit wurde verschleppt. Wer weiß schon, wo er hingebracht wurde. Und, naja … Kleiner, S. Hillot war der Spion.«

Steves Augen weiteten sich. Er fiel zurück auf die Matratze. »Er w… w…« Und schnell wurde es wieder dunkel.

 

Steve fühlte sich, als würde er in einem tiefen, dunklen See umhertauchen. Vage Bilder tauchten vor ihm auf, als wären sie auf die Innenseite seiner Augen projiziert. S. Hillot, der sich ab und zu entschuldigt hatte und unerklärt für zehn Minuten verschwunden war. Seine merkwürdigen Reaktionen, wenn man ihn fragte, wo er gesteckt hatte. Doch da waren auch die schönen Momente, die Witze, die sie sich gegenseitig erzählten, die vielen Filme, die sie während des langen Trips gesehen hatten, wie rührend sich S. Hillot um seinen Freund gekümmert hatte, sobald er bemerkte, dass sich Steve auf einem Entzug befand.

Und da war auch noch etwas anderes. Etwas, das sich tief in seinem Unterbewusstsein versteckt hatte. Dinge, die das Silverspoon in seine Ohren geflüstert hatte. Bizarre Visionen materialisierten vor seinem inneren Auge, Visionen von Symmetrie und Perfektion, zahllose Stimmen, die wie ein Orchester durcheinander flüsterten, Gegenstimmen bildeten, miteinander diskutierten, die Geheimnisse des Lebens ausplauderten. Tief in diesen Stimmen entdeckte er eine Dominante, eine dröhnende, alles andere übertrumpfende Stimme, die ihn zu sich rief, eine Stimme, die ihn mit dunklen Verheißungen einlullen wollte. Steve schwamm und schwamm umher, ehe er ein Licht sah. Ein unangenehmer Geruch stach in seine Nase, ein Geruch von Fäkalien, von Schweiß, von Fäulnis. Und die Stimme rief ihn zu sich, sie rief alle zu sich, sie drängte alle anderen Geräusche mit ihrer schier endlosen Lautstärke beiseite. Steve erkannte ein Licht, einen kleinen Schimmer, der immer greller wurde, je näher er diesem kam. Er vernahm nun andere Laute, Laute aus der echten Welt, ein Schmatzen, ein Grunzen, ein Getümmel, ein Trappeln von zahllosen Füßen. Die Stimme hinter Steve erzürnte und schimpfte und donnerte, doch Steve war überzeugt, dass er die andere Seite heil erreichen, der Stimme nicht nachgeben würde.

Er wünschte sich, er hätte es getan.

Die grauenvollen Gerüche, die ihn umgaben, waren real gewesen. Das Schmatzen und Grunzen ebenfalls. Er konnte sehen, ja, ganz klar sogar, er konnte sich aufrichten, aufstehen, doch er wollte es nicht mehr. Was er sah, ließ ihn erschaudern.

Nackte, menschliche Körper wanden sich vor ihm. Ein ganzes Meer von ihnen, so viele, dass er einen Kilometer vor sich noch immer Menschen sah, ehe sich eine gigantische, eiserne Mauer erhob. Manche der Menschen hüpften umher, manche stolzierten in einer Hockposition über den Boden, manche kämpften und rauften untereinander. Steve beobachtete einige Meter von sich entfernt zwei der Menschen bei einem Paarungsversuch. Der Gestank hier war beinahe unerträglich. Steve sah, dass der gesamte Boden mit Fäkalien geradezu übersät war. Die Menschen wateten durch ihren eigenen Mist, so sehr, dass ihre Beine bis zu den Knöcheln braun gefärbt waren. Sie waren allesamt stark behaart, insbesondere die Männchen, was ihnen eine gewisse Ähnlichkeit mit großen Affen verlieh, einer ausgestorbenen Spezies, von der der Mensch genetisch abstammte. Steve hatte einige Bilder von ihnen gesehen.

»Steve ist wach!«, hörte er S. Meslop sagen. Sie erschien urplötzlich direkt vor Steves Blickfeld und füllte es beinahe komplett aus. Der Phlant erkannte nun, dass auch sie komplett nackt war. Steve war so erschrocken, dass er wie wild herumzukrähen begann. Phlant hatten extrem kraftvolle Stimmorgane, weshalb ihr unkontrolliertes Geschrei in der Lage war, empfindliche Hörorgane aus nächster Nähe dauerhaft zu beschädigen.

S. Meslop hielt sich augenblicklich ihre Ohren zu, die sich knapp unter ihren Hornansätzen befanden. Sie wich zurück, und er erblickte so viele altbekannte Gesichter – Jahn, Quof, Draper, sogar Zip, allesamt nackt – die ebenfalls ihre Ohren schützten. Einige der nackten Menschen im Hintergrund verloren wegen des Geräuschs den Verstand. Einer von ihnen rannte auf und ab springend auf den liegenden Steve zu. Quof erkannte das schnell und brachte den Menschen mit einem kräftigen Hieb zu Fall.

Steve beruhigte sich, als er sich erinnerte, von Freunden umgeben zu sein, und stellte sein Geschrei ein. Die anderen senkten erleichtert ihre Arme. Steve gab ein paar erschrockene Laute in der Phlant-Sprache von sich und versuchte, sich zusammenzureißen. »Wo bin ich? Wo zum Teufel bin ich?!«, schrie er erschrocken.

Draper näherte sich ihm. Der riesige, muskulöse Koloss von einem Menschen mit seiner dunklen Haut schüchterte Steve ein wenig ein. Man hatte ihm die Augenklappe abgenommen. In Drapers Augenhöhle befand sich ein rot leuchtendes Licht, vermutlich der Ausgang eines Implantats. »Ruhig, kleiner Trooper, ruhig. Wir haben am Anfang auch fast den Verstand verloren, aber alles ist gut. Wolltest du wissen, wie die Zud-Zudur sich hier draußen ernähren können, vor allem, wenn sie nur Fleisch fressen? Ich sage es dir: Ein Schlachthof.«

»Ein Schlachthof?«, fragte Steve völlig außer Atem. Seine Blicke schweiften von Gesicht zu Gesicht. Alle seine Freunde starrten ihn finster an. Es war ihr Ernst.

»Ein Zucht- und Schlachtbetrieb. Und zwar auf sehr, sehr großer Ebene. Srim Tollop hier«, Draper zeigte auf eine Steve unbekannte Srim, »die wir in der Hänsel aufgelesen haben, ist auch Linguistin. Sie hat die Zud-Zudur gefragt, was das hier ist. Es ist eine gigantische Schlachterei, ein kompletter Planet, der nur von Zuchtvieh bewohnt wird. Über eintausend Jahre alt, Steve. Stark bleiben, Kumpel, denn jetzt wird es erst richtig ekelhaft.«

Steve schluckte.

»Die lebenden Spezimina, die die Zud immer entführen – die sind kein Reiseproviant. Sie sind Zuchtmaterial. Neue Zusätze in den Genpool. Das hilft ihnen aber kaum. Seit etlichen Generationen findet hier Inzucht statt. Diese Menschen sind quasi auf dem Entwicklungslevel von Lebewesen mit Tierstatus. Völlig degeneriert. Sie werden gemästet und irgendwann abgeholt, getötet, zubereitet, abgepackt, verschifft. Vollautomatisiert. Menschen scheinen ihnen besonders zu schmecken, wie du sehen kannst.«

Steve warf einen weiteren Blick über die nackte Menschenmenge. Die Art, wie sie sich bewegten, wie sie herumtollten, sich vor den Augen der anderen paarten – all das gab Steve den Eindruck, dass es sich hier nicht mehr um Lebewesen mit Personenstatus handelte. Es waren Tiere, eng zusammengepfercht und für die Massenproduktion gezüchtet. Steve erkannte dunkle, eitrige Flecken auf der Haut vieler dieser Menschen, kleine krustige Stellen, die auf Verletzungen oder Infektionen hindeuteten. Ein älterer Mann lag offenbar mit einer Beinverletzung am Boden. Die anderen liefen unachtsam über ihn hinüber, trampelten teilweise auf ihm herum.

»Nun, Steve, das hier sind mehrere zehntausend Menschen. Das hier ist aber nur eine einzelne von zahllosen möglichen Zuchtstationen. Bedenke: Der gesamte Planet ist dafür da, Nahrung zu züchten. Hier könnten Millionen, wenn nicht Milliarden von ihnen sein. Und wenn du dir diesen Fakt vorgenommen hast, dann stell dir bitte die Menge von Lebewesen vor, die dadurch gefüttert wird.«

Steve stieß auf, beugte sich nach vorn und erbrach sich auf den Boden.

»Genau meine Reaktion. Zeigt, dass du noch Sinn für Anstand hast, mein Bester.« Draper klopfte den Phlant sanft auf den Rücken.

Steve wischte sich seinen Schnabel ab. »Wie lange sind wir schon hier?«

»Drei, vier Stunden«, sagte Demm. »Quof hat ein wenig das Alphaweibchen aus sich herausgeholt und uns diese Ecke hier erkämpft. Die Menschen wagen es nicht, auch nur in unsere Nähe zu kommen. Die haben Angst.«

»Und … und was jetzt? Was sollen wir tun?«

»Ganz einfach«, sagte Draper. »Wir werden fliehen.«

»Moment mal«, mischte sich Jahn von der Seite ein. Er sah Draper herabwürdigend an. Jahn kämpfte noch immer mit dem Drang, dem Admiral für seine Taten den Schädel einzuschlagen. Doch der Einäugige war der einzige andere Vertreter seiner Spezies, der nicht den Verstand verloren hatte. Auf eine gewisse Art gab es ihm Trost. Außerdem würde Gewalt solch eine Situation nicht sonderlich verbessern. »Von Fluchtversuchen hast du uns noch nichts gesagt, Draper.«

»Ich weiß, dass es besonders dir schwer fällt, Jahn, aber du musst mir vertrauen. Ich bin mir mehr als sicher, dass man mich bald abholen wird. Für ein kleines Gespräch.«

»Um dich zu fressen?«, fragte Jahn.

»Nein, um noch einmal zu verdeutlichen, wie sehr man mich fressen wird. Ist eine längere Geschichte. Doch so sicher wie das Amen in der Kirche.«

»Wie sieht dein meisterhafter Plan aus, Draper?«, fragte Jahn sarkastisch. »Denn es muss der Plan des Jahrtausends sein, wenn er uns hier rausholen soll.«

Draper drehte sich nun zu Jahn um und starrte ihn eindringlich ein. »Ich kann verstehen, dass du mich nicht für den besten Vorgesetzten der Allianz hältst. Und ich kann dir verzeihen, wenn du meine Methoden anzweifelst. Doch du solltest wissen, dass ich all das hier getan habe, um uns alle zu retten, nicht nur uns, sondern die komplette Allianz. Lass das alles meine Sorge sein.«

»Warte, was war das?« Steve hatte die Augen nicht von dem Schauspiel vor seinen Augen abwenden können. Der Zweikampf, den Jahn und Draper sich lieferten, war dem Phlant sehr egal. Er glaubte nicht mehr daran, diesen Ort lebendig zu verlassen. Was ihn beschäftigte, war die Figur, die sich gerade im Schutze der Dunkelheit ihrem vorübergehend erkämpften Camp näherte.

»Was ist, Steve?«, fragte S. Meslop. Sie wich noch immer nicht von Steves Seite. Es war mittlerweile mehr als offensichtlich für Steve, dass S. Meslop nur hart und einschüchternd wirken wollte, aber in Wirklichkeit eine sehr aufmerksame und hilfsbereite Dame war. Sie kümmerte sich jedes Mal um die Kranken, ob sie sie nun mochte oder nicht.

»Irgendjemand ist da hinter der Wand«, sagte Steve. Seine scharfen Augen registrierten selbst in diesem Chaos, das sich vor ihm abspielte, die kleinsten unregelmäßigen Bewegungen. Irgendetwas hatte sich anders bewegt als die schon tierähnlichen Menschen hier im Schlachthaus. »Irgendjemand kommt hierher.«

»Ich komme in Frieden, meine werten Allianzfreunde«, ertönte es in einer rauen, kratzigen Stimme. Alle sahen erstaunt zu, wie ein weiterer Mensch hinter der Ecke hervorkam, ebenfalls nackt und behaart. Es war ein kleiner, leicht gebeugt stehender Mann, dessen beste Jahre bereits vorüber waren. Seine Augen waren mit dicken Tränensäcken umrandet. Ein Blick reichte, um zu sehen, dass dieser Mensch einiges durchlebt hatte. Er hob seine Hände, um nicht den Anschein zu erwecken, dass er feindlich gesinnt war, vor allem, da er einen selbstgebauten, schäbigen Speer in seiner einen Hand hielt. Er ging ein Paar Schritte auf die Truppe zu. Seine Haltung ähnelte so sehr der der anderen Menschen, dass einige von ihnen beim Anblick des Menschen erschraken. »Bitte, bitte, ich bin euch nicht feindlich gesinnt. Ich will einfach nur reden.«

Draper beugte sich nach vorne und starrte den Mann ungläubig an. »Schieß mir den Schwanz ab«, fuhr es aus ihm heraus. »Brigham Sweeps?«

»Grundgütiger, man erkennt mich noch?« Der Mann legte vorsichtig seinen Speer nieder und kam langsam und zittrig einige Schritte näher. »Hat man die Geschichte also nicht vergessen?«

»Das ist doch wohl ein schlechter Scherz«, lachte Demm. »Sie sind Brigham Sweeps?«

»Wie er leibt und lebt«, lachte der alte, dürre Mann.

»Bin ich wieder der einzige, der über nichts Bescheid weiß?«, fragte Jahn.

»Ganz offensichtlich, junger Mann«, sagte Brigham. »Aber wir haben viel Zeit, um einander davon zu erzählen.«

 

Die nächsten zwei Stunden verbrachten die Mitglieder der Gruppe im Kreis sitzend damit, sich gegenseitig von ihren Reisen zu erzählen. Der Ekel, der alle von ihnen zu Beginn beinahe übermannt hatte, war nun mittlerweile auch bei Steve ein wenig zurückgegangen. Die Misere, in denen die Gefangenen sich befanden, wurde ihnen aber immer bewusster, je mehr der alte Mensch ihnen von seiner Zeit an diesem Ort berichtete.

Brigham Sweeps war ein in der Allianz berühmter Abenteurer gewesen. Er war eine bekannte, exzentrische Persönlichkeit, die darauf bedacht war, exotische Orte zu entdecken, insbesondere auf neuen Planeten, ob sie bewohnt oder unbewohnt waren. Man durfte nie vergessen, dass selbst viele der am weitesten fortgeschrittenen Kulturen oft nicht jede Ecke ihres eigenen Planeten erforschten, teilweise aus kulturellen und religiösen Gründen, teils aus Mangel an notwendiger Technologie, um abgeschiedene Orte zu erreichen. Sweeps war immer vom Menschen Gustavo Jiraque inspiriert gewesen, dem es im Jahre 2097 nach Christus gelungen war, in einem frühen Vorreiter der heutigen Exos als erster Mensch auf den Boden des Marianengrabens zu gelangen, und somit den letzten von Menschen unberührten Ort des Planeten Erde zu bereisen. Sweeps nutzte Exos, Schiffe und beinahe törichten Mut, um auf den Meeresboden des Planeten Huor vorzudringen, wo er von einem mehrere hundert Meter langen Seemonster verschlungen worden war, aus dessen Magen er sich eigenhändig mit einem Hotknife herausgeschnitten hatte. Sweeps hatte die Saphirfälle des dritten Mondes von Excelsus gefunden, die gigantischen, frei fliegenden Steine von Garuon bereist, die goldenen Gebirgsketten vor Lup-Pooppul erklommen. Vor acht Standardjahren hatte er sich als erstes Lebewesen mit Personenstatus aufgemacht, die Grenze des beobachtbaren Universums zu finden. Er war nie zurückgekehrt. Nun stellte sich auch heraus, warum. Seine Reiseroute führte rein zufällig durch genau dieses Gebiet, durch diesen dunklen Teil des Alls, in dem die Zud-Zudur im Exil ihr neues Imperium errichtet hatten. Man hatte ihn hierhergebracht, um ihn zu mästen und zu fressen. Als typischer Überlebenskünstler war es ihm aber gelungen, dieses Schicksal bisher zu umgehen.

Sweeps gab seine Geschichte in ausschweifender Ausführung wieder, dramatisierte hier und da einige Details über, und die Crew der Gretel hing an seinen Lippen. Sweeps galt als begnadeter Geschichtenerzähler, und nun absorbierten alle von ihnen jedes Wort des Abenteurers. »Ich hatte die Hoffnung mittlerweile aufgegeben, irgendeine arme Seele zu treffen, die sich mit mir unterhalten würde. Diese bemitleidenswerten Kreaturen hier haben alles verloren, was ihnen ihren Personenstatus verliehen hatte. Jedwede Form von Kontakt, die ich anfangs mit ihnen aufnehmen wollte, war vergebens. Sie sind aggressiv, impuls- und triebgesteuert, gefährlich. Ich musste lernen, mich gegen sie zu verteidigen. Und ich musste lernen, hier zu überleben. Das war einfacher, als ich anfangs für möglich hielt. Höchst unangenehm, gar grässlich, aber nicht schwierig.«

»Warum bist du dann so dürr?«, fragte Jahn.

»Oh, das ist ein essentieller Teil des Überlebens an diesem Ort. In dieser prekären Situation ist es besonders schwierig, aber eine absolute Notwendigkeit, nur so viel zu essen, wie man braucht. Die Raubtierfütterung dürfte in zwei Stunden wieder beginnen. Es wird regelrecht Essen regnen, ein wahrhaftes Schlaraffenland. Proteinblocks mit der perfekten Zusammensetzung an Nährstoffen und Fett für uns Menschen. Diese armen Kreaturen stürzen sich wie wilde Tiere auf diese braunen Klötze, fischen sie notwendigerweise aus ihren eigenen Exkrementen, nur um sie gierig herunterzuschlingen. Und sie werden fett. Denn, seien wir ehrlich: Wer wird nicht gern fett?« Sweeps gab ein großvaterhaftes, ehrliches Gelächter von sich. »Oh, wie ich meine Plauze vermisse. Doch dieses Maß an Selbstdisziplin gehört dazu. Irgendwo hier befinden sich Scanner. Sie untersuchen die Fettleibigkeit dieser Wesen, und wenn einige dieser Kreaturen reif sind, öffnen sich die Türen, und diese vermaledeiten Biester treten in ihren Exos ein, nutzen Tranq-Waffen, schnappen sich die Fettesten unter ihnen und bereiten sie zu. Auch das geschieht mehrmals täglich. Und glaubt ja nicht, dass das hier die einzige dieser Todesfarmen ist. Der gesamte Planet ist eine solche Farm. Ich habe mich mit einzelnen Wachen unterhalten.« Sweeps hob seine langen, in fettigen Strähnen hängenden Haare und präsentierte ein Implantat. »Das hier ist ein Schlachthof, der einen kompletten Planeten überdeckt. Nahrung für einhundert Milliarden Zud-Zudur.«

»Einhundert Milliarden?!«, brüllte Draper perplex.