Inhalt:

Die soziale Logik der Korruption

Korruptive Gesellschaftsformationen

AutorInnenverzeichnis

Die Reihe Verwaltungssoziologie wird von der Fachgruppe Verwaltung des Berufsverbandes Deutscher Soziologinnen und Soziologen e.V. (BDS) herausgegeben.

Bisher sind erschienen:

Band 1:

Carsten Stark und Uwe Marquardt (Hrsg.): Soziologie in der öffentlichen Verwaltung. Ausbildung, Beratung, Anwendung. Norderstedt 2008

Band 2:

Carsten Stark und Christian Lahusen (Hrsg.) Korruption und neue Staatlichkeit. Perspektiven sozialwissenschaftlicher Korruptionsforschung. Norderstedt 2010

Korruption und neue Staatlichkeit – alter Wein in neuen Schläuchen?

Christian Lahusen und Carsten Stark

Einleitung

Korruption hat sich zu einem zentralen Thema öffentlicher Debatten entwickelt. Dies ist beachtlich, hatte man doch lange geglaubt, dass es sich bei korruptivem Verhalten primär um ein Randphänomen eines ansonsten rechtsstaatlich orientierten und organisierten Gemeinwesens handelt. Wiederkehrende Skandale über Korruption in Ämtern, Parteien, Stiftungen oder Unternehmen haben diese lang gehegte Gewissheit jedoch als Wunschdenken enttarnt (hier z.B. Graeff u a. 2009). Korruption gehört scheinbar zu unserer modernen Gesellschaft dazu, und dies nicht rein zufälligerweise, sondern auch aus strukturellen Gründen. Diese Einsicht hat verschiedene Erklärungsversuche auf den Plan gerufen (vgl. hierzu von Alemann 2005), weshalb wir in den letzten Jahren nicht nur ein gesteigertes Interesse der Sozialwissenschaften an diesem Gegenstand ausmachen können, sondern auch ein wachsendes öffentliches Interesse an eben diesen Erkenntnissen (hierzu Bannenberg / Schaupensteiner 2004). Zusätzlich setzt sich auch die Verwaltungswissenschaft immer stärker mit dem Phänomen auseinander (Völkel u.a. 2007), und fokussiert dabei die öffentliche, meist kommunale Verwaltung (Bekemann 2007, Haas 2005, Stierle 2006). Im Zusammenhang mit diesen Diskursen sind drei wesentliche Erkenntnisse vorzubringen.

Erstens wird der Sonderstatus moderner Gesellschaften in Frage gestellt. Korruption stellt womöglich eine gesellschaftliche, gar eine anthropologische Konstante dar, die auch in entwickelten, modernen Gesellschaften fortbesteht. Neu wären hier womöglich nur die Formen, das Ausmaß und die Stellung der Korruption im gesellschaftlichen Gefüge. Zweitens wird angenommen, dass Korruption von aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen strukturell profitiert, zu denen beispielsweise ein verschärfter Wettbewerb auf den Märkten, ein sinkendes Unrechtsbewusstsein bei Eliten und Bürgern oder neue Steuerungsmodelle in der öffentlichen Verwaltung zählen. Im Vergleich zur scheinbar ruhigen Zeiten der Bonner Republik mit seinem beschaulichen Ordnungs- und Rechtstaats erwacht die Korruption nun offensichtlich aus einem Winterschlaf, um in Ausmaß und Formen zu einem grassierenden strukturellen Problem unserer Zeit zu werden. Dieser Position wird jedoch, drittens, entgegen gehalten, dass Korruption womöglich selbst gar wesentlich an Bedeutung zunähme. Denkbar sei nämlich, dass sich die öffentliche Erwartungshaltung verändert und zugespitzt habe. Von Ämtern, Unternehmen, Parteien oder Vereinen erwarten wir heutzutage mehr als nur gesetzeskonformes Verhalten. Diese Organisationen haben sich zusehends gegenüber einer kritischen und anspruchsvollen Öffentlichkeit zu legitimieren, und zwar gleich in mehreren Handlungsbereichen: so etwa in Bezug auf die Transparenz ihrer Strukturen und Geschäftsprozesse, im Hinblick auf Gerechtigkeit, soziale Verantwortung oder Nachhaltigkeit. Aus diesem Grund kann es sein, dass sich korruptives Verhalten gar keiner wachsenden Beliebtheit erfreut. Vielmehr wird entsprechendes Handeln heute schneller und unnachgiebiger offen gelegt, skandalisiert und/oder geahndet. Eine steigende Anzahl von Korruptionsfällen und –skandalen stehen dann womöglich nicht für ein objektiv wachsendes Problem, sondern für ein höheres Problembewusstsein, das durchaus mit sinkenden objektiven Korruptionswerten einhergehen kann (vgl. hierzu Marcinkowski/Pfetsch 2005).

Diese Annahmen müssen nicht alle empirisch richtig sein, und es ist zu hoffen, dass die soziologische Korruptionsforschung hier anregende Erkenntnisse liefern wird. Was genau ist unter Korruption und korruptivem Verhalten zu verstehen? Welche Formen und Strukturen lassen sich hier im Zeit- oder Gesellschaftsvergleich ausmachen? Lässt sich etwas über Ausmaß und Entwicklung sagen? Welche strukturellen Bedingungen, gesellschaftlichen Begleiterscheinungen und Folgen lassen sich ermitteln? Und lässt sich etwas über gesellschaftliche Lösungen oder Lösungsszenarien sagen? Erschöpfende Antworten auf diese Fragen hat die soziologische Korruptionsforschung noch nicht geliefert, wenngleich wichtige empirische und analytische Erkenntnisse vorliegen. Das vorliegende Buch soll diese Einsichten dokumentieren und fortentwickeln. Zu diesem Zweck greifen wir die genannten Annahmen auf, da sie für die soziologische Diskussion gleichermaßen anregend und plausibel sind. Wir möchten diese Annahmen aber darüber hinaus zu einer analytischen Fragestellung verbinden und zuspitzen, die den Beiträgen dieses Sammelbandes als Rahmen und Orientierungsmarke dienen wird.

Dem Titel dieses Buches folgend soll deshalb gefragt werden, ob aktuelle gesellschaftliche Wandlungsprozesse Korruption zusehends als sozialen ‚Tatbestand‘ etablieren und festigen – und dies in einem durchaus paradoxen Verhältnis. Zum einen ist nämlich anzunehmen, dass die oben genannten gesellschaftlichen Veränderungen korruptives Verhalten begünstigen; zum anderen erhöhen sie aber auch die öffentliche Sensibilität für dieses Thema, womit sie verschiendeste Formen von Fehlverhalten zusehends als Korruptionsproblem konstruieren und institutionalisieren. Dieser wechselseitige Prozess lässt sich eindrücklich an den Veränderungen von Staatlichkeit festmachen, die in der sozialwissenschaftlichen Forschung mit Begriffen des ‚New Public Managements‘ und des ‚Neuen Steuerungsmodells‘, der kooperativen Verwaltung, dem Gewährleistungsstaat oder ähnlichem umschrieben worden sind. Politik und Verwaltung werden mit Ansprüchen konfrontiert, die über Rechtsstaatlichkeit hinausgehen, da sie nun auch Effizienz oder Bürgernähe einfordern (vgl. Maravic 2007). Entsprechende aufbau- und ablauforganisatorische Veränderungen begünstigen korruptives Verhalten, fördern aber auch deren Skandalisierung, angesichts von Beteiligungs- und Transparenzimperativen, denen die Umstrukturierungen ebenfalls verpflichtet sind. Komplementäre Argumente lassen sich auch für den Bereich der Stiftungen und Non-Profit-Organisationen, wie auch für den Bereich privatwirtschaftlicher Unternehmen formulieren. Beim Staat allerdings ist diese Entwicklung besonders deutlich zu erkennen, da diese Organisationen ganz besonders mit rechtsstaatlichen Erwartungshaltungen konfrontiert werden, die durch korruptives Verhalten eklatant enttäuscht werden. Wir möchten diese Argumentationsfigur deshalb am Beispiel der Diskussionen über ‚neue Staatlichkeit‘ verdeutlichen.

Korruption und Verwaltungsmodernisierung

Die Frage, ob die Veränderung von Staatlichkeit korruptiven Handlungen und Strukturen Vorschub leistet, ist in der aktuellen Verwaltungssoziologie bereits aufgegriffen und diskutiert worden. So zeigt Faust (2003), dass der Staat in den letzten 20 Jahren unterschiedlichen Organisationsleitbildern gefolgt ist, die eine je spezifische Form der Definition und Bewältigung von Korruption etablierten haben. Ihm zufolge ist der ‚aktive Staat‘ bis Ende der 1980er Jahre einem ordnungsrechtlichen Steuerungsmodell verpflichtet gewesen, dem zufolge Korruption als Verletzung geltenden Rechts verstanden wurde. Diesem Problem wurde dann mithilfe des Strafgesetzbuches, der Rechnungsprüfung, der Aktenmäßigkeit guter bürokratischer Amtsführung und des Beamtenethos begegnet. Allerdings waren der Korruptionsbekämpfung keine bahnbrechenden Erfolge beschieden, da sie sich auf einzelne „schwarze Schafe“ konzentrierten, die kriminalisierbar und justiziabel waren. Mit dem ‚New Public Management‘ übernahm der ‚schlanke Staat‘ seit Ende der 1990er Jahre ein ziel- und leistungsorientiertes Steuerungsmodell. Der Staat orientierte sich nun an privatwirtschaftlichen Organisationen, setzte auf Dezentralisierung von Leistungen und den Abbau von Hierarchien. Die Führungsetagen streiften das Amtsleiterimage ab und eigneten sich den Managerhabitus an. Dieses ‚New Public Management‘ begriff Korruption als effizienzhemmende Beziehung von Prinzipalen, Agenten und Klienten und bekämpfte sie mithilfe des Controlling und durch Anreize zu normkonformem Verhalten – eine Strategie, die ebenfalls ihre blinden Flecken hatte. Seit 2000 gelten das Leitbild des ‚aktivierenden Staates‘ und das Modell der ‚Public Governance‘. Gegenüber dem ‚New Public Management‘ geht dieses Modell einen Schritt weiter, da es nun explizit auf Gewährleistungsverantwortung, Partizipation und Outcomes ausgerichtet ist. Vor diesem Hintergrund geraten nun vermehrt Netzwerkkonstellationen und das organisierte Verbrechen in den Vordergrund der Korruptionsdiskussion. Die Korruptionsbekämpfung konzentriert sich in diesem Zusammenhang stärker auf Allianzen, Kooperationen und Vereinbarungen, wobei diese Strategien durch das rent-seeking einzelner Akteure und die freiwillige Selbstbeschränkung des Staates durch ‚Public-Private Partnerships‘ beschränkt bleibt (Wieland 2005, Priddat 2005).

In dieser Perspektive schafft jedes Steuerungsmodell einen je spezifischen ‚korruptiven Tatbestand‘ und eine darauf ausgerichtet Bewältigungsstrategie, die mit eigenen Grenzen und Problemen behaftet ist. Unklar bleibt allerdings, ob sich Korruption im Laufe der Zeit damit auch in Form und Ausmaß verändert hat. Eine solche These favorisiert Stark (2008). Ihm zufolge stehen Politik und Verwaltung vor dem Problem einer erhöhten Steuerungskontingenz und -komplexität, einer deutlicheren Abhängigkeit von außerstaatlicher Expertise, höheren Beteiligungs- und Mitspracheerwartungen und einer stärkeren Ökonomisierung des Verwaltungshandelns. Diese Veränderungen führen u.a. zu einer stärkeren Beteiligung betroffener oder interessierter Kreise, mit dem Zweck einer Abwägung der Verhältnismäßigkeit behördlicher Entscheidungen und Praktiken. Damit wächst auch die Bedeutung des Kooperationsprinzips, da es das Feld korruptiver Chancen und Handlungsweisen antizipierend legitimieren kann. Die neue Staatlichkeit macht damit Korruption wahrscheinlicher, da es zu einer Erosion legal-bürokratischer Herrschaftsstrukturen, zu einer Steigerung der Flexibilität und zu einer Relativierung des etablierten Beamtenhabitus führt (Stark 2009).

Einen solchen Zusammenhang sieht Maravic (2007) nicht. Auch er geht nämlich der Frage nach, ob die vom Neuen Steuerungsmodell angestrebte Verwaltungsmodernisierung mit einer höheren Korruptionsanfälligkeit einhergeht. Die Ergebnisse seiner empirischen Feldforschungen aber legen nahe, dass die viel beschworene Zunahme von Korruption nicht nachzuweisen sei. Demgegenüber aber verändern sich die Orte der Korruption, wodurch Korruptionsrisiken auf den Bereich öffentlich-privater Kooperationen verlagert werden. Er unterscheidet zwischen zwei begünstigenden Variablen. Auf der motivationalen Ebene relativiert die neue Ergebnisorientierung die bisherig dominante Regelorientierung, wobei es in Public-Private-Kooperationen zu diffusen Rollenerwartungen und zu einem geringeren Unrechtsbewusstsein kommt. Zugleich bieten sich im NSM neue Möglichkeiten für korruptives Handeln und deren Kaschierung. Hier ist vor allem auf die Dezentralisierung von Finanz- und Humanressourcen zu verweisen, auf das Contracting an den Nahtstellen zwischen öffentlichem und privatem Bereich und auf die schwindende personelle und finanzielle Ausstattung von Rechnungsprüfern.

Korruption ist damit ein allgegenwärtiges Phänomen, das aber von den Strukturen des Staates und seiner Steuerungsmodelle direkt abhängt: einerseits in Bezug auf die Rahmenbedingungen und Chancen für korruptive Handlungen und Strukturen, die mit den unterschiedlichen Modelle des Verwaltungshandelns einhergehen; andererseits im Hinblick auf die Bewältigungsstrategien, die eigene Problemdefinitionen und Maßnahmen bevorzugten, zugleich aber auch je spezifischen ‚blinden Flecken‘ gehorchten. Formen und Orte der Korruption verändern sich, ohne dass notwendigerweise das Ausmaß korruptiver Tatbestände verändert wird. Unklar ist aber damit, ob dieser Veränderung womöglich ein Funktionswandel der Korruption zugrunde liegt. Ebenfalls unklar ist, welche Folgen die verschiedenen Korruptionsformen und –orte haben – Folgen sowohl für die beteiligten Individuen, die betroffenen Organisationen oder die gesamte Gesellschaft.

Die soziale Eigenlogik der Korruption

Diese Erkenntnisse verdeutlichen, dass man Korruption als ‚sozialen Tatbestand‘ im Durkheimschen Sinne notwendigerweise vorsichtig und differenziert diskutieren muss. Dies liegt nicht nur daran, dass korruptive Handlungen und Strukturen an und für sich schon schwer definitorisch einzugrenzen – und von normkonformen Formen der Kooperation, hier insbesondere des Austausches – abzugrenzen sind. Hinzu kommt, dass sich Korruption in Form, Orten und Folgen über die Zeit verändert, je nach bedingenden Strukturen und Funktionen. Für die heutige Zeit scheint die soziologische Forschung darin übereinzustimmen, dass Korruption zunehmend in Netzwerken oder Interaktionssystemen organisiert ist. Der Blick wendet sich damit von einzelnen korruptiven Handlungen ab, und rückt nun korruptive Strukturen in den Mittelpunkt. Unklar bleibt aber, welche gesellschaftlichen Bedingungen solche Interaktionsstrukturen begünstigend vorausgehen, wie solche Korruptionsbeziehungen oder -netze funktionieren und wo präventive Maßnahmen ansetzen können.

Die Beiträge dieses Buches bieten Antworten auf diese Fragen. Die Beiträge von Aderhold und Döring nehmen eine gesellschaftstheoretische Perspektive ein, und versuchen die Formen und Funktionen der Korruption aus den Strukturen moderner Gesellschaften selbst zu entschlüsseln und zu erklären. Graeff und Steßl sowie Steinhäuser nehmen eine handlungstheoretische Perspektive ein, und versuchen korruptive Handlungen und Interaktionsbeziehungen aus den Opportunitätsstrukturen, Norm- und Sanktionssystemen ihrer organisationalen Umwelt heraus zu erklären. Ihnen geht es damit um die soziale Logik korruptiver Strukturen oder Systeme. Schließlich widmet sich Hundhammer-Schrögel einer handlungspraktischen, auf die Prävention ausgerichtet Strategie der Korruptionsbekämpfung.

Aderhold und Döring betten ihre Analyse in ein differenzierungstheoretisches Paradigma ein, um zu erörtern, warum Korruption in modernen Gesellschaften auftritt, die sich doch auf Rationalität institutionell verpflichtet haben und formaler Organisation eine besondere Bedeutung zuschreiben. Die Autoren argumentieren, dass Korruption zunächst eine sehr wahrscheinliche Begleiterscheinung von Interaktionssystemen ist, denn Formen des reziproken Tausches bleiben für korruptive Handlungen und Strukturen immer anfällig. Auf der Ebene des zwischenmenschlichen Handelns also unterscheidet sich die Moderne nicht von traditionalen Gesellschaften. Neu ist allerdings der gesellschaftliche Kontext korruptivem Handelns, denn gesellschaftliche Teilbereiche wie die Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Recht etc. werden institutionell deutlich voneinander geschieden und auf je eigene Funktionsweisen verpflichtet. Dies schließt aber die Interaktion zwischen Einzelnen nicht aus, und damit auch nicht die Chancen für korruptive Beziehungen über ‚Systemgrenzen‘ (bspw. zwischen Wirtschaft und Politik oder Wissenschaft) hinaus. Die Autoren argumentieren, dass gerade die Komplexität unserer Gesellschaften das Zusammenwirken verschiedenster Akteure über unterschiedlichste Teilbereiche der Gesellschaft hinweg notwendig machen, was sie am Beispiel der Policy-Netzwerke verdeutlichen. Sie wenden damit das systemtheoretische Phänomen der ‚Kopplung‘ oder ‚Interpenetration‘ zwischen Gesellschaftsbereichen akteurstheoretisch, indem sie auf Netzwerke als Vermittlungs- und Koordinierungsinstrumente verweisen, in denen sich korruptive Handlungen und Strukturen entwickeln und sogar organisationell festigen können.

Bereits dieser Beitrag verdeutlicht die korruptive Anfälligkeit von Interaktionsbeziehungen. Damit sind wir bei der Frage nach der mikrosozialen Logik der Korruption. Dieser Frage stellt sich der Beitrag von Graeff und Steßl, die sie aus institutionenökonomischer Perspektive zu beantworten suchen. Sie stellen vor allem die Vertrauensdimension innerhalb korruptiver Netzwerkstrukturen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Sie deuten Korruption als Vertrauensbeziehung in netzwerkförmigen Arrangements zwischen Prinzipalen, Agenten und Klienten, bei denen die letztgenannten Akteure auf Kosten des erstgenannten konspirieren. Korruptive Netzwerke erhalten ihre Stabilität dadurch, dass sie Reziprozitätsnormen und Vertrauensbeziehungen mit hoher Verpflichtungsfähigkeit entwickeln. Sie verändern Anreize und Opportunitätsstrukturen, da sie Kosten sozialisieren, Gewinne privatisieren und mögliche Sanktionen durch eine offensive Anwerbung von möglichen Kontrolleuren absenken.

In diesem Sinne haben korruptive Verhaltensweisen und Netzwerkstrukturen eine eigene Art der Rationalität – oder anders gesagt: unter bestimmten Umständen kann es für Akteure durchaus rational sein, Korruption zu betreiben. Und korruptiven Akteuren geht es dann auch gerade darum, solche begünstigenden (Organisations-) Strukturen zu schaffen, die sie selbst schützen und ihrer persönlichen Gewinnerzielungsabsicht eine expansive ‚Geschäftsgrundlage‘ geben. Korruption hängt dann von Gelegenheiten ab, die von korruptiven Personen genutzt und geschaffen werden. Allerdings sind diese ‚korruptiven Gelegenheiten‘ nicht immer objektiv darstellbar oder eindeutig definierbar. Steinhäuser argumentiert, dass das persönliche Arbeitsfeld in Verwaltungen vielmehr durch Ambivalenzen und Rollenkonflikte geprägt ist. Diese determinieren zwar kein korruptives Handeln, aber befördern doch die Entwicklung von Spielräumen für Korruption – das heißt: die aktive Aneingnung –. Sie konzentriert sich dabei auf die Rollenkonflikte, die sich im Rahmen der Reformen des Verwaltungshandelns (‚New Public Management‘ und ‚Public Governance‘) verstärken. Diese Reformen etablieren das Leitbild des ‚homo oeconomicus’, das die Beamten stärker auf Effizienz, Folgenabschätzung und Beteiligung verpflichten, und dadurch die Grenzen zwischen Kooperation und Korruption verschwimmen lassen.

Die Grauzone der ‚kleinen Gefallen und Bestechlichkeiten’ bieten damit eine Nährboden für die Entwicklung von Korruption und Korruptionsnetzwerken im großen Stil. Diese folgen dann aber einer eigenen Dynamik, die im Sinne von Graeff und Steßl eigene sanktionsfähige Rollenerwartungen und Reziprozitätsnormen, gar eine eigene Form des sozialen Kapitals zur eigenen Stabilisierung entwickelt. Diese Einsichten haben direkte Folgen für die Korruptionsbekämpfung und –prävention, mit der sich der Beitrag von Hundhammer-Schrögel befasst. Diese Strategie zielt zwar letztlich auf den einzelnen Mitarbeiter, der ja in korruptive Handlungen und Strukturne involviert ist und diese auch am Leben hält. Es gelte hier persönliche Integrität (wieder) herzustellen. Allerdings richten sich die Maßnahmen auch auf strukturelle Veränderungen des Arbeitsumfeldes. Angesichts scheinbar unvereinbarer Zieldimensionen Rollenerwartungen, die an den Mitarbeiter zusehends gestellt werden, gelte es, verbindliche Zielsetzungen und Prioritäten, Regeln und Anreizstrukturen sowie Maßnahmen der Organisations- und Personalentwicklung einzusetzen, welche ‚Integrität‘ wieder als einer mögliche und wahrscheinliche ‚Norm‘ etabliert.

Korruptive Gesellschaftsformationen

Die bisherigen Einblicke verdeutlichen, dass Korruption kein ‚Irrläufer‘ in unserer modernen Gesellschaft darstellt, sondern strukturell in ihr verankert ist. Auf der Interaktionsebene gehört sie zu dem Graubereich zwischenmenschlicher Tauschbeziehungen, auf der Organisationsebene verfestigt sie sich innerhalb korruptiver Netzwerke mit einer eigenen ‚Sozialordnung‘. Diese Beobachtung wirft die Frage auf, ob Korruption nicht auch zum gesellschaftlichen Normalfall werden kann. Wie sehen aber solche korruptiven Gesellschaftsformationen aus? Von welchen Bedingungen werden sie begünstigt, und welche Folgen zeigen sie? Diese Fragen sind für die soziologische Korruptionsforschung von besonderer, erkenntnisfördernder Bedeutung. Aus diesem Grund ist eine vergleichende Perspektive auf unterschiedliche Länder für eine ertragreiche Diskussion ohne Alternative. In diesem Buch widmen sich deshalb zwei Beiträge mit der Korruptionssituation in Ländern, die in ihrem jeweiligen regionalen Umfeld als besonders korruptionsbelastet gelten: Rumänien und Bangladesch.

Sterbling wendet sich der Situation in Rumänien zu, die er als eine Gesellschaft des ‚öffentlichen Misstrauens‘ beschreibt. In ihr fehl ein Vertrauen der Bürger in Staat, Öffentlichkeit und Gemeinwesen, weshalb es zu einer Bündelung von Vertrauen in persönliche Beziehungen oder personalisierte Netzwerke kommt. Diese Bündelung schafft für Korruption einen idealen Nährboden. Der Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union hat hier zwei parallele Entwicklungen forciert. Einerseits steigt die Selbstverpflichtung des Landes, in Sachen Korruption und Korruptionsbekämpfung substanzielle Fortschritte zu erzielen und entsprechende Maßnahmen und Organe zu schaffen. Andererseits aber führt der Transformationsprozess und der damit einhergehende Institutionenwandel auch zur „Transformationskriminalität“, die sich in der Entwicklung der Schattenwirtschaft unter Beteiligung der Aufsichts-, Finanz- und statistischen Behörden festmachen lässt. Korruptive Gesellschaftsformationen zeigen sich hier als anpassungsfähig, denn sie können sich im Laufe des Erweiterungsprozesses scheinbar recht erfolgreich unter den veränderten institutionellen Gegebenheiten erneuern und reproduzieren.

Noch deutlicher sind korruptive Gesellschaftsstrukturen am Beispiel Bangladeschs zu erkennen. Vogt und Bishawjit Mallick untersuchen dieses Phänomen am Beispiel der kommunalen Steuererhebung. Die Ausführungen verdeutlichten die Allgegenwart der Korruption innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Bangladesh auch den schlechtesten Platz auf der Weltrangliste von Transparency International eingehandelt hat. Aus der Sicht sozialer Ungleichheit und mit Bezug auf ein normatives Konzept guter Governance ist diese Situation als defizitär zu verstehen, da sich nur diejenigen von der Steuerpflichtigkeit und von Steuererhöhungen auf Wohneigentum befreien können, die über die Mittel zur Bestechungen der Finanz- und Steuerbehörden verfügen. Dies trifft vor allem die unterprivilegierten Bevölkerungsschichten, denn diese haben mit Blick auf korruptive Zahlungen geringere Dispositionsspielräume, zugleich sind sie von verminderten Steuereinnahmen und der dadurch verringerten Leistungsfähigkeit der Kommune am deutlichsten betroffen. Korruption bei der Steuererhebung (bzw. deren Vermeidung) ist damit vor allem Belastungskorruption, und nicht wie in Deutschland primär Entlastungskorruption.

Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene zeigt sich, dass korruptives Handeln politische Herrschaftsverhältnisse und soziale Ungleichheiten stabilisiert und perpetuiert. Welche Position der Einzelne in der Macht- und Statushierarchie der Gesellschaft einnimmt, und welche Positionen sozialen (Verwandschafts-, Berufs- oder Milieu-) Gruppen sichern können, hängt ganz wesentlich von korruptiven Zahlungen ab, die die Einzelnen zahlen und/oder erhalten, und die sie innerhalb der Status- und Machtgruppen horizontal wie auch vertikal zu entrichten oder weiterzuleiten haben. In diesem Sinne zeigt der Fall Bangladeschs die ‚Normalität‘ bzw. Funktionalität‘ der Korruption für die bestehenden Gesellschaftsstrukturen. Unklar ist dabei, wie Bangladesch auf die internationale Entwicklung von Antikorruptions-programmen und –organisationen reagieren wird, die zusehends Erwartungen und Forderungen an dieses Land stellen. Mit Rückblick auf den rumänischen Fall ist zu vermuten, dass hier durchaus doppelbödige Prozesse mit nicht-intendierten Folgewirkungen in Gang gesetzt werden, die nach Außen Legitimität zu sichern helfen, nach Innen aber möglicherweise Formen der korruptiven Transformation annehmen könnten, wenn in der Tat Korruption ein konstitutives Element gesellschaftlicher Ordnungen vor Ort ist.

Dass der Druck auf die Korruptionsbekämpfung wächst, ist jedoch nicht strittig, wie der Beitrag von Wolf verdeutlicht. Er befasst sich mit der Entwicklung internationaler Antikorruptionsregime in zeithistorischer Perspektive. Ihm zufolge gab es bis 1975 weder internationale Strategien, noch nationale Gesetzgebungen zur Korruptionsbekämpfung mit internationalem Bezug. Erst 1977 wurde mit dem “Foreign Corrupt Practices Act” eine erste gesetzliche Regelung in den Vereinigten Staaten geschaffen, der aber erst nach 1995 eine Reihe von internationalen Regimen zur Bekämpfung der Korruption folgte. In den 1990er Jahren sind im Rahmen der OECD, der Europäischen Union und der Vereinten Nationen Abkommen geschlossen worden, die auch Eingang in nationale Gesetzgebungen fanden. Seit 2003 ist das internationale organisierte Verbrechen stärker berücksichtigt worden, und die Nationalstaaten sind einander zunehmend beim Aufdecken von Korruptionsfallen behilflich, indem sie zwischenstaatliches Monitoring betreiben. Damit zeigt sich eine Entwicklung hin zur Etablierung und Expansion internationaler Regime zur Korruptionsbekämpfung, die den rechtlichen und politischen Rahmen vor Ort indirekt verändern. Unklar ist aber, ob und in welchem Maße diese Entwicklung die Situation auf der nationalen und lokalen Ebene prägen wird. Es bleibt somit der künftigen Forschung überlassen, die konkreten gesellschaftlichen Wirkungen dieser internationalen Regime nachzuweisen und zu diskutieren.

Fazit

Die Beiträge dieses Sammelbandes verdeutlichten, dass Korruption ein eminent wichtiges und spannendes soziologisches Thema darstellt. Dies gilt nicht nur deshalb, weil wir es mit einem tagespolitisch aktuellen und gesellschaftlich relevanten Phänomen zu tun haben. Die Beiträge haben darüber hinaus deutlich gemacht, dass Korruption eben auch ein strukturelles Element unserer Gesellschaften ist, das bislang vernachlässig wurde. Wenn Korruption ein Strukturelement unserer Gesellschaften ist, so werden wir durch ein Studium dieses Phänomens neue Einblicke in unsere Gesellschaften erhalten – wenn man so will: Einblicke in deren ‚dunklen Seiten‘.

Diese Aufgabe ist aber keinesfalls einfach, denn die soziologische Forschung steht vor besonderen Problemen und Herausforderungen. Zum einen bestehen Grauzonen in der empirischen und analytischen Erfassung von Korruption. Verlässliche Angaben über die Bedeutung korruptiven Handelns und ihrer Entwicklung sind nicht leicht zu ermitteln, da die Zahl und Art der ‚gemessenen‘ Korruptionsfalle immer auch direkt von der erhöhten Sensibilität des Staates, der Unternehmen und der Medienöffentlichkeit abhängen. Anzunehmen ist fernerhin, dass korruptive Handlungen und Strukturen in jeweils unterschiedlichen politisch-institutionellen Kontexten durchaus eigene Muster und Logiken entfalten, wie dies auch für unterschiedliche Aggregationsebenen und – formen der Korruption gilt (z.B. individuelle Korruptionstaten, persönliche Klientelbeziehungen, komplexe Korruptionsnetzwerke und Formen organisierter Kriminalität). Auf der Ebene der Akteure und der Gesellschaft muss geklärt werden, ob Korruption invariate Elemente oder Mechanismen an den Tag legt. Oder ist Korruption von konkreten Rahmenbedingungen geprägt, weshalb es sich über die Zeit und im Ländervergleich stets variabel zeigt?

In diesem Zusammenhang stellte sich auch die Frage, inwiefern Korruption ein primär oder ausschließlich modernes Phänomen ist, das nur unzureichend auf die Situation von außereuropäischen Gesellschaften angewandt werden kann. In diesem Sinne wären zwar außereuropäische Gesellschaften korruptiv – und werden von internationalen Anti-Korruptionsregimen auch so angegangen (vgl. Maroff 2005) –, aber womöglich wird dies weder der Selbstwahrnehmung noch den strukturellen Gegebenheiten dieser Länder gerecht. Damit stellt sich schließlich die Frage, inwiefern Korruption ein analytisches oder doch rein normatives Konzept ist. Gilt letzteres, so wäre Korruption zwar ein Begriff, den wir in der politischen und moralischen Bewertung sicherlich zu diskutieren haben, der sich aber dann wenig als analytisches Instrumentarium für die wissenschaftliche Untersuchung eignen würde.

Nicht alle Fragen und Aspekte der Thematik konnten wir mit den Beiträgen dieses Buches beantworten. Gleichwohl liefern sie wichtige Einblicke in die empirische Realität der Korruption in ihrer ganzen Spannbreite, eröffnen Wege einer Erklärung und Bewertung. Es bleibt zu hoffen, dass sie damit Impulse für die weitere soziologische Erforschung dieses Themenfeldes setzen.

Literatur:

Alemann, Ulrich von, (Hrsg.) (2005): Dimensionen politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Forschung. PVS Sonderheft 35.

Bannenberg, Britta / Schaupensteiner, Wolfgang (2004): Korruption in Deutschland. Portrait einer Wachstumsbranche, München.

Bekemann, Uwe (2007): Kommunale Korruptionsbekämpfung, Stuttgart.

Faust, Thomas (2003): Organisationskultur und Ethik. Perspektiven für öffentliche Verwaltungen, Stuttgart.

Graeff, Peter / Schröder, Karenina / Wolf, Sebastian (2009): Der Korruptionsfall Siemens, Baden-Baden.

Haas, Jan (2005): Korruption. Einflussfaktoren, Auswirkungen, Prävention, Berin.

Maravics, Patrick von (2007): Verwaltungsmodernisierung und dezentrale Korruption; Bern.

Marcinkowski, Frank / Pfetsch, Barbara (2005): Die Öffentlichkeit der Korruption. Zur Rolle der Massenmedien zwischen Wächteramt, Skandalierung und Instrumentalisierbarkeit. S. 287-310 in: Ulrich von Alemann (Hrsg.), Dimensionen politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Forschung. PVS Sonderheft 35.

Maroff, Holger (2005): Internationalisierung von Anti-Korruptionsregimen. S. 444-476 in: Ulrich von Alemann (Hrsg.), Dimensionen politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Forschung. PVS Sonderheft 35.

Priddat, Birger P. (2005): Schwarze Löcher der Verantwortung: Korruption, die negative Variante von Public-Private Partnership. S. 85-102 in: Stephan A. Jansen / Birger P. Priddat (Hrsg.), Korruption. Unaufgeklärter Kapitalismus – Multidisziplinäre Perspektiven zu Funktionen und Folgen der Korruption, Wiesbaden.

Stark, Carsten (2009): Strategien der Korruptionsprävention zu Zeiten des Neuen Steuerungsmodells. Buttom-up, statt top-down. S. 325-334 in: Thomas Bönders (Hrg.), Kompetenz und Verantwortung in der Bundesverwaltung, München.

Stark, Carsten (2008): Soziologische Schwachstellenanalyse als Korruptionsprävention. S. 129-138 in: Carsten Stark, Uwe Marquardt, Soziologie in der öffentlichen Verwaltung. Ausbildung, Beratung, Anwendung. Norderstedt.

Stierle, Jürgen (2006): Korruptionscontrolling in öffentlichen und privaten Unternehmen, München.

Völkel, Klaus / Stark, Carsten / Chwoyka, Rainer (2007): Korruption im öffentlichen Dienst. Delikte, Prävention, Strafverfolgung, Norderstedt.

Wieland, Josef (2005): Die Governance der Korruption. S. 43-62 in: Stephan A. Jansen / Birger P. Priddat (Hrsg.), Korruption. Unaufgeklärter Kapitalismus – Multidisziplinäre Perspektiven zu Funktionen und Folgen der Korruption, Wiesbaden.

Wolf, Sebastian (2007): Der Beitrag internationaler und supranationaler Organisationen zur Korruptionsbekämpfung in den Mitgliedstaaten, Speyer.

Soziale und gesellschaftliche ‚Kultivierung‘ von Korruption

Jens Aderhold und Florian Döring

1. Einleitung

Das ‚Besorgen‘ fremder Interessen, Bestechung, Vetternwirtschaft, Klientelismus1, Patronage oder Formen organisierter Kriminalität sind Erscheinungen, die sich fast durch die gesamt Menschheitsgeschichte ziehen (siehe u.a. Callies 1989, Nolte 1989: 15). Bei diesen von der Öffentlichkeit wie von weiten Teilen der Wissenschaft als negativ oder dysfunktional bewerteten korrupten oder auf Patronage2 setzenden Beziehungs- und Austauschmustern handelt es sich aber zugleich um ein sehr aktuelles Phänomen, das die Erwartungen an die Rationalisierungsstandards der modernen Gesellschaft auf besondere Weise durchkreuzt. Dieser Befund ist insofern irritierend, als mit der gesellschaftlichen Modernisierung erwartet werden konnte und interessanter Weise immer wieder neu erwartet wird, dass durch die Verbreitung der Institutionen Organisation, Recht und Verwaltung „soziale und andere Unterschiede unter ähnlichen Bedingungen“ keine Relevanz mehr für politisches Entscheiden und staatliches Handeln haben (Treml 1998: 254). Vor allem in der Kultur vergleichenden Korruptionsforschung ist eine solche modernisierungstheoretisch argumentierende Position weit verbreitet. Demnach können die unter dem Titel Korruption subsumierten Erscheinungsformen als ein oder gar das zentrale Merkmal unterentwickelter Gesellschaften angesehen werden, welche im Prozess der Modernisierung und aktuell der politischen Transformation eigentlich verschwinden müssten (Bestler 1997: 142f.). Nicht ganz ins Bild passt dabei, dass korrumpierenden Eingriffen, das heißt der Wiedereinführung der Reziprozitätsnorm in unpersönliche Beziehungen und formalisierten Strukturen auch und gerade in modernen Ländern eine enorme, wenn auch erklärungsbedürftige strukturelle Bedeutung beizumessen ist (so schon Nolte 1989: 1). Nahezu alle Funktionssysteme sind in der einen oder anderen Form von korruptiven Strukturen durchzogen. Bemerkenswert ist zudem, dass Korruption – trotz erheblicher Niveauunterschiede – über alle Länder hinweg verbreitet ist (Delhey 2002).

Der wissenschaftliche Diskurs, der sich diesem komplexen Phänomen angenommen hat, ist ausgesprochen umfassend und heterogen. Die Heterogenität ergibt sich wohl nicht nur aufgrund der vielen wissenschaftlichen Perspektiven, sondern sie hat etwas mit dem Gegenstand selbst zu tun. Auch wenn prinzipiell alle sozialwissenschaftlichen Forschungsgegenstände interdisziplinäre Herangehensweisen erfordern, so trifft dies für Korruption besonders zu, ist diese Thematik doch im Schnittpunkt von Vormoderne und Moderne, im Kontext unterschiedlicher Teilrationalitäten (Recht, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Kultur) sowie zwischen den sich zuweilen miteinander intransparent verwebenden Ebenen Gesellschaft, Netzwerk, Organisation und mikrosozialen Interaktionen angesiedelt. Es ist daher alles andere als erstaunlich, dass dieses Thema neben einer philosophischen oder theologischen Behandlung vor allem von der Wirtschafts-, Politik-, Rechts- und der Verwaltungswissenschaft sowie der Kriminologie angenommen und bearbeitet wird (Alemann 2005). Bis auf einige Ausnahmen beginnt hingegen die Soziologie erst allmählich, aktuell aber in größerem Maß, sich mit diesem gesellschaftlichen Problem zu beschäftigen (z.B. Stark 2008, Tänzler 2008 und Graeff 2004).

Diese schon angesprochene Vielschichtigkeit bisher vorgelegter Beiträge spiegelt sich bereits in einem umfangreichen und fortdauernden Diskurs, der sich noch immer auf der Suche nach einer angemessenen Korruptionsdefinition befindet (vgl. u.a. Alemann 2005, 2007, Johnston 2005, Morlok 2005, Gabl 2007, Reiter 2003, Rosa/Oberthür 2008)34