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DIE GEISTERSEHER


Humoristischer Roman


von


Fritz Mauthner


 

DIE GEISTERSEHER wurde zuerst veröffentlicht vom Verlag des Vereins der Bücherfreunde, Berlin 1894.

 

Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von: apebook

© apebook Verlag, Essen (Germany)

 

www.apebook.de

 

1. Auflage 2020

 

  

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

  

 

Zeichensetzung und Rechtschreibung wurden der heutigen Schreibweise angepasst.

 

ISBN 978-3-96130-204-8

 

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

Alle verwendeten Bilder und Illustrationen sind – sofern nicht anders ausgewiesen – nach bestem Wissen und Gewissen frei von Rechten Dritter, bearbeitet von SKRIPTART.

 

Alle Rechte vorbehalten.

© apebook 2020

 

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

DIE GEISTERSEHER

Impressum

I Ein Pferdebahnverhältnis

II Der Geist der Mutter

III Ein Hilferuf

IV Mamas letzter Brief

V Die Entlarvung

VI Die Leiche des Mediums

VII Karline

Eine kleine Bitte

A p e B o o k C l a s s i c s

N e w s l e t t e r

F l a t r a t e

F o l l o w

A p e C l u b

L i n k s

Zu guter Letzt

I Ein Pferdebahnverhältnis

Der Assessor Otto Cremmen war unzufrieden mit sich selbst. Denn er ertappte sich darauf, verliebt zu sein.

Seit neun Jahren, seit seinem zwanzigsten Geburtstag also, hatte er Vater und Mutterstelle an sich vertreten und sich jedes Mal, wenn ein hübsches Gesicht ihm gefiel, vor den Spiegel gestellt und mit väterlicher Weisheit und zugleich mit mütterlicher Sorge zu sich gesagt: ›Otto, verplempere dich nicht.‹

Und sollte er jetzt wirklich so weit sein?

Wieder stellte er sich vor den Spiegel seiner möblierten Stube und schnitt ein verlegenes Gesicht. Denn ihm war, als ob sein Spiegelbild selbst verlegen wäre und ihm sagen wollte: ›So rede doch nicht, Otto, du verplemperst dich ja doch.‹

Auch mit seinem Äußeren war der Assessor unzufrieden. Einen guten Nickelkneifer hatte er auf der Nase sitzen; weil er aber eigentlich sehr scharfe Augen hatte, störte ihn das Ding immer noch, nach jahrelangem Gebrauch. Einen tiefen Hieb hatte er als Student über die linke Wange gekriegt und hatte die Wunde absichtlich nicht heilen lassen, sie vielmehr ganz gemein misshandelt. Umsonst, sie war doch beinahe unsichtbar. Den Scheitel hatte er sich durchgezogen, wie alle seine kahlköpfigen Freunde, durch deren Haarreste sich das breite Weglein hinzog wie eine märkische Landstraße zwischen winterdürren Ebereschen. Aber sein üppiger Haarwuchs ließ keinen richtigen Assessorscheitel aufkommen. Wie ein Maler sah er aus oder wie ein Schriftsteller. Der Präsident sah ihn auch immer ganz misstrauisch an. Es war zum Haarausraufen.

Und nun erst die Geschichte mit Fräulein von Vehsen.

Ernesta! Er war doch nicht im Ernst ein Maler oder Schriftsteller, er hatte doch Streben in sich. Wütend zwirbelte er seinen richtigen braunen Assessorschnurrbart und drehte sich heftig auf dem Absatz herum, als sein Spiegelbild ihm das ganz genau nachmachte. Als ob der gegenüber ein ganz gewöhnlicher Wald- und Wiesenassessor gewesen wäre.

Dabei hatte ihn ein höchst respektables Mitglied seiner eigenen Familie in die Geschichte hineingebracht. Die gute grässliche Tante Jettchen.

Fast ein Jahr war es her, im April. Jawohl, am 23. April hatte er Ernesta kennengelernt.

Tante Jettchen, eine unansehnliche, grau in grau geratene Wittib, war nach Berlin gekommen, um in der Klinik eines berühmten Chirurgen Rettung zu suchen.

Das sagte sie ihrem Neffen, dem Lieblingsneffen, freilich fürs Erste noch nicht. Sie sei hergereist, um einen Arzt zu konsultieren und sich bei dieser Gelegenheit zu amüsieren.

Otto müsste doch sein Berlin kennen! Er sollte sie überall hinführen, überall, wo es amüsant war. Nebenbei sollten alle Leute besucht werden, mit denen Tante Jettchen verwandt zu sein behauptete. Am liebsten wäre sie zu allen Ostpreußen gegangen. Tante Jettchen war sechsundfünfzig Jahre alt und zum ersten Male in Berlin.

Otto Cremmen musste beweisen, dass er wirklich wusste, wo es amüsant war. Die Tante war schwächlich, aber ausdauernd im Genießen. Alle Museen besichtigte sie, auch das landwirtschaftliche und das Postmuseum; auf den Rathausturm stieg sie langsam und noch langsamer auf die Siegessäule. Das Aquarium und den Kreuzberg, Castans Panoptikum und alle Panoramen sah sie sich an.

Immer war sie guter Dinge, und nur des Abends, wenn Otto ihr mit einem Handkuss gute Nacht sagte, schossen Tränen in ihre Augen. Königsberg war so Provinz.

Das Leben und Berlin waren so schön. Sie hätte die Operation so gern überstanden.

Otto Cremmen hielt sich brav. Die Tante hatte ihm schon dreimal aus dem Sumpf geholfen; von der konnte man sich schon einmal vierzehn Tage lang öden lassen. Wozu die Frau aber auch Zeit fand! Den Plan von Berlin hatte sie zu Hause in Königsberg studiert und jedes Mal, wenn die Wohnung so eines entfernten Vetters gerade in der Nähe einer Sehenswürdigkeit lag, musste Otto mit ihr Verwandtenbesuche machen. Jeden Tag mindestens zwei. Er kannte keinen der Menschen.

Die Verwandtschaftsverhältnisse allein machten ihm Kopfschmerzen. Die Tante war eigentlich nur eine Cousine seiner seligen Mutter. Und sämtliche Familien, zu denen sie ihn schleppte, hatten für ihn und die Tante die gleiche verlegene oder selbst misstrauische Freundlichkeit. Als ob man etwas von den Berlinern gewollt hätte. Die gute Tante!

Man lächelte auch über ihre Aussprache. Sie nahm aber unbeirrt immer ein »Kuchchen«, wenn man ihr eins anbot und sagte zu den Großen »Siechen«, zu den Kindern »Duchen«, dass es eine Art hatte.

Am 28. April vorigen Jahres also war Otto Cremmen so auch zu dem alten Major von Vehsen geschleift worden. Erst botanischer Garten mit dem botanischen Museum, dann Vehsens in der Kurfürstenstraße — das Haus sollte leicht zu finden sein, ein altes Landhäuschen in einem verwilderten großen Garten — nach her in den Zoologischen.

Otto hatte sich gegen Vehsens zur Wehre zu setzen gesucht. Es seien ja doch keine nahen…

Tante Jettchen wurde fast ärgerlich.

»Sie würden es mir ja übel nehmen müssen, mein trautster Junge.«

Die verstorbene Majorin hatte einen Bruder gehabt, einen bildschönen Artilleriehauptmann, der war der angeheiratete Neffe von — grässlich. Otto Cremmen hatte bisher geglaubt, solche geistige Anstrengungen würden jungen Juristen höchstens bei schwierigen Erbschaftsprozessen zugemutet.

Der Besuch verlief auch danach. Sie wurden angenommen, aber der Major hatte eine gewisse Höflichkeit, kurz: keiner wusste etwas vom andern. Wenn die Tante von ihrer Familie sprach, erwiderte der Major musterhaft: »ach richtig, gewiss, ich erinnere mich«. Die Tante aber hatte den Taufnamen der verstorbenen Majorin vergessen; sie verwechselte alles, sie wusste nicht, ob der Major Kinder hatte. Erst fragte sie gar nicht, und dann wollte sie die lieben Kinderchen sehen, alle. Ja, und dann kam das einzige Kind herein, Fräulein Ernesta von Vehsen, etwa zwanzig Jahre alt, so groß wie Otto, steif wie eine Gouvernante, dunkel gekleidet, wortkarg, freundlich, aber mit dem deutlichen Wunsche, den Besuch wieder auf der Straße zu sehen. Sie schien die Gespräche des Vaters genau zu verfolgen. Als ob er unberechenbar heftig wäre oder so. Zweimal unterbrach sie ihn geschickt und schonend.

Na, endlich verstand es die Tante doch und ging.

Otto Cremmen hatte außer den Antritts- und Abschiedsformeln nur zweimal den Mund aufgetan. Einmal hatte er gesagt, so ein Löwe sei doch ein schneidiges Tier.

Dann als Fräulein von Vehsen von der letzten Walkürenaufführung sprach, hatte er dazwischen geworfen: Richard Wagner war doch ein sehr bedeutender Musiker.

Dann waren sie in den Zoologischen Garten gefahren.

Otto Cremmen war heute fast unliebenswürdig gegen die Tante. Denn schön war das Fräulein ja doch, seine entfernte Cousine, die dumme Gans, Fräulein Ernesta von Vehsen. Ganz deutlich war ein Lächeln über ihre ernsten Züge gehuscht bei seiner Weisheit über Richard Wagner. So ein Kaffer zu sein.

Genau acht Tage später, als Otto nach einer lustigen Operette in der Friedrich-Wilhelmstadt und nach einem famosen kleinen Souper bei Hiller der Tante vor ihrem Hotel die Hand küsste und gute Nacht sagen wollte, lud sie ihn noch auf ihr Zimmer. Mit einem unsicheren Lächeln und vielen Tränen, übergab sie ihm ein versiegeltes Couvert und teilte ihm endlich mit, sie würde sich morgen einer kleinen Operation unterziehen müssen.

»Da«, fügte sie schnell hinzu, um jede Frage abzuschneiden, und fuhr sich mit den zuckenden Fingern vom Hals die Brust herunter. Dann jagte sie ihn förmlich zur Tür hinaus.

Nach vierundzwanzig Stunden erhielt er die Mitteilung, die Operation wäre glänzend geglückt. Wieder nach achtundvierzig Stunden war Tante Jettchen tot.

Er öffnete den Brief und hatte als ihr nächster Verwandter und als ihr Testamentsvollstrecker allerlei lästige Geschäfte. Zu all den Leuten, denen sie Verwandtenbesuche gemacht hatte, musste er nach ihrem Willen persönlich gehen und zur Beerdigung einladen.

Grässlich.

Auch seine entfernte Cousine, die dumme Gans, musste er aufsuchen. Er traf sie allein und blieb eine Viertelstunde. Traurig lächelnd sprachen sie sich darüber aus, dass sie beide die Verstorbene kaum gekannt hätten. Otto gab ehrlich zu, er hätte der guten Tante früher und jetzt manches zu danken, und Fräulein Ernesta musste wohl einsehen, dass der Assessor Cremmen mehr und vernünftiger reden konnte als bei seinem ersten Besuch.

Man trennte sich mit einem freundlichen Händedruck.

An der Verwandtschaft war leider nicht so viel, wie die Tante sich das einbildete. War man aber nicht gerade Vetter und Cousine, so freute man sich doch, die Bekanntschaft gemacht zu haben. Auch bei der Beerdigung wurden noch einige Worte gewechselt. Die arme, gute, tote Frau. Otto wollte etwas Treffendes über die Mängel des menschlichen Lebens beifügen, aber da huschte es schon um ihre Augen, und er verbeugte sich stumm.

Aus war’s.

Nur dass er oft an die arme, schöne Verwandte denken musste, die mit dem brummigen Vater einsam in dem kleinen Häuschen wohnte und in ihrem dunkelgrauen Kleide berufen schien, den alten pensionierten Herrn zu Tode zu pflegen, und dann irgendwo als Erzieherin oder Gesellschafterin zu erfahren, dass er mit seiner angefangenen Bemerkung über die Mängel des Lebens doch Recht gehabt hätte. Öfter als sonst stellte sich Otto Cremmen jetzt vor seinen Spiegel und sagte sich mit ausgehobenem Zeigefinger: ›Mensch, verplempere dich nicht.‹

Er hatte damals in der Rathausgegend gewohnt, weil er beim Amtsgericht beschäftigt war. Im September wurde er der Staatsanwaltschaft zugeteilt und suchte eine möblierte Stube in Moabit. Dass er trotzdem jetzt in der Kurfürstenstraße wohnte, und nach seinem Büro täglich eine gute Stunde zu laufen oder zu fahren hatte, das hatte er schließlich getan, um schlanker zu werden. Mit Fräulein von Vehsen hatte die Wohnungsfrage so gut wie gar nichts zu schaffen. Freilich, im August hatte er sie auf der Pferdebahn getroffen. Um vier Uhr nachmittags war sie in der Mauerstraße eingestiegen und war bis zur Kurfürstenstraße gefahren.

Man erkannte einander, er fand neben ihr Platz und man plauderte. Der heiße Tag, die Sommerreise, die Schweiz, die Ausstellung. Nicht sehr intim. Fräulein von Vehsen verließ Berlin nie.

»Das können wir nicht.«

›Otto, verplempere dich nicht.‹

Tags darauf wartete der unweise Otto dennoch in der Mauerstraße auf die Pferdebahn und wurde sehr grimmig, als Ernesta nicht kam.

»O, ich benutze diese Strecke zur selben Zeit regelmäßig.«

So hatte sie doch gesagt.

Regelmäßig heißt täglich. So ’ne dumme Gans.

Am zweiten Tage stieg sie aber richtig zur selben Zeit an derselben Haltestelle wieder ein. Und dann wieder zwei Tage später: Also montags, mittwochs und freitags um vier Uhr. Man konnte auch das regelmäßig nennen. Als er am Freitag — er hatte sie von weitem erlauert und sprang geschickt, wie zufällig, während der Fahrt ein — wieder neben ihr Platz nahm und sie so ganz selbstverständlich begrüßte, machte sie ein Gesicht. Da log er ihr was vor. Ein so merkwürdiges Zusammentreffen. Pünktlich um diese Zeit musste er diese Pferdebahn täglich benutzen, um nach seiner Wohnung zu fahren. Denn dort erwartete ihn täglich um ein Viertel auf Fünf — es fiel ihm absolut nichts ein — Berufspflicht, Kollege, er murmelte etwas Unbestimmtes, und nicht sehr freundlich. Aber Fräulein von Vehsen war vollkommen beruhigt und erklärte ihrerseits, dass sie dreimal wöchentlich hierher zu einer Gesangsstunde müsste.

Wie klein die Welt doch sei. Fräulein von Vehsen hatte von dem ersten Tantenbesuch die dunkle Erinnerung, der Herr Assessor wohne im Zentrum.

Das war damals gewesen. Er sei versetzt worden und in seiner neuen Tätigkeit müsse er irgendwo im Westen wohnen.

Fräulein von Vehsen stieg an der Kurfürstenstraße aus. Otto Cremmen sprang hundert Schritte weiter ab, folgte ihr langsam und suchte eine möblierte Stube im Westen. Schräg gegenüber der kleinen Vehsen’schen Villa fand er bald, was er suchte. Eine fürchterlich möblierte Stube mit einem Schlafkabinett. Für ihn allein gerade groß genug; wenn er aber nur einen Kater mitbrachte, so pressten ihn schon die Wände ein. Und gar das »Möblierte« an der Stube. Auf dem Zylinderbüro die zurückgelassenen fettigen Bücher und verwegenen Photographien seiner Vorgänger. Über dem Sofa eine Orientalin mit falschen Zöpfen und zinnoberroten Wangen, stark ausgeschnitten. Schauerlich über einem Schränkchen zwei Öldruckbilder: ein Liebespaar in Rokokokleidern und bei Sonnenschein, daneben ein altdeutsches Liebespaar bei Mondschein. Alles in dicken goldenen Rahmen. Zwischen den beiden Fenstern, deren Vorhänge einen modrigen Staubgeruch verbreiteten, wenn er nur in die Nähe kam und die Dielen erschütterte, hing der Spiegel. Wieder in einem fürchterlichen Goldrahmen.

Er hatte doch Recht mit seinen väterlichen Warnungen. Sollte er zeitlebens dieses Wollhündchen zwischen ostindischen Muscheln betrachten oder die zerbrochenen Alabastervasen auf dem Schränkchen, die kleine Marmorvenus oder die zinnoberrote Orientalin? Oder sollte er gar ein armes Mädchen heiraten und schon in der Kirche sich den Kopf zerbrechen, wovon das Hochzeitsdiner bezahlen, und auf seine alten Tage selbst solche möblierte Stuben vermieten? Otto! Otto!

Sein aufgehobener Zeigefinger verhinderte ihn aber nicht, jeden Montag, Mittwoch und Freitag bis an die Französische Straße zu laufen, in die Pferdebahn zu springen, bescheiden lächelnd Fräulein von Vehsen zu begrüßen, wenn sie in denselben Wagen stieg, und wütend herauszuspringen, und zur letzten Haltestelle zurückzugehen, wenn sie diesen Wagen nicht benutzte. Am Dienstag, Donnerstag und Sonnabend kamen ihm die Pferdebahnen einfach dumm vor.

Sie lernten einander im Laufe der Zeit recht gut kennen, der Assessor und die schöne Cousine, die Gesangstunden gab. Freilich mussten Berlin und das schöne Wetter vielfach die Kosten der Unterhaltung tragen, mindestens bis an die Potsdamerbrücke. Dann während der letzten fünf Minuten kamen allgemeine Wahrheiten an die Reihe. Pferdebahngespräche, die nur leise die Weltanschauung streiften, niemals persönlich wurden, aber trotzdem allgemach zu einer gewissen Vertraulichkeit zusammenschossen. Der andere Teil musste nun ein gutes Gedächtnis haben und einzelne Bemerkungen miteinander verknüpfen. Otto war der Mitteilsamere, aber er wusste nicht, ob Fräulein Ernesta aufmerksam genug zuhörte. Er selbst holte sich aus den Gesprächen heraus, was er konnte. Einmal das und einmal jenes. Zwischen Weihnachten hatte er schon ein kleines Mosaikbildchen beisammen, und im März glaubte er ihr ganzes Leben genau zu kennen. Es war kein Zweifel, er war verrückt verliebt. Was hatte er aber auch für Glück. Dreimal wöchentlich je zwanzig Minuten ganz allein mit ihr.

Denn wo konnte man ungestörter sein als in der rotweißen Pferdebahn.

Heute, an einem der letzten Tage des März, beim herrlichsten Frühlingswetter, fuhr Otto Cremmen doch wieder von der Ecke der Französischen Straße an mit.

Wer an ihrer Haltestelle nicht aufstieg, war Fräulein von Vehsen. Der Assessor kehrte zur Französischen Straße zurück, sprang auf den nächsten Wagen, wieder umsonst. So vertrieb er sich die Zeit über eine halbe Stunde lang, nervös und ingrimmig, bis es ihm schien, dass die Schaffner ihn höhnisch betrachteten. Jetzt stieg er aus und patrouillierte ganz keck vor »ihrem Hause« auf und ab. Sie musste doch kommen, es war ihre Pflicht. Sie war doch so weit ein ganz logisches Frauenzimmer. Wieder verbrachte er über eine halbe Stunde, sie verließ das Haus nicht. In alle rotweißen Pferdebahnwagen schaute er hinein und betrachtete in den Pausen den Ritzenschieber, der dort seine Strecke hatte. Gewiss ahnte dieser schmutzige, graue Mistfeger gar nicht, wie wichtig dieses Haus der Mauerstraße im Leben des Assessors Otto Cremmen geworden war. Wieder rollte ein Wagen heran. Otto reckte sich und blickte hinein. Da wandte sich der Ritzenschieber zu ihm und sagte:

»Sie, Herr, Sie stehen sich umsonst die Beene in den Leib. Was die heilige Cäcilie is, die is heute früher abgerutscht als Sie.«

Der Assessor hatte ein unklares Gefühl von Ohrfeigengeben, Fordern, beleidigt Abschwenken oder so was.

Dann plötzlich überkam ihn die Rührung. Er schenkte dem Ritzenschieber eine Papiertüte mit fünf Groschenzigarren und trollte sich. Irgendwas in seiner Seele fühlte sich geschmeichelt, aber dabei hatte er den Wunsch, vor seinem Spiegel zu stehen, und sich feierlicher als je zu warnen. Wenn schon die Ritzenschieber um sein Geheimnis wussten, dann hörte einfach alles auf.

Er wollte gehen, nahm aber denn doch die Pferdebahn. Er wollte einen Versuch machen. Richtig, ohne zu fragen, gab ihm der Schaffner sein Billet bis zur Kurfürstenstraße, und schaute ihn so eigentümlich an.

Otto gab seine fünf Pfennige Trinkgeld und fing ein Gespräch an, indem er ›Ja, ja‹ sagte.

»Danke sehr«, erwiderte der alte wohlbekannte Schaffner. »Sie fahren ja heute ganz verkehrt, Herr Baumeister.«

»Ja, ja.«

»Die heilige … das gnädige Fräulein ist heute sehr früh gefahren.«

Der Schaffner hatte zu tun, und der Assessor wusste genug. Ritzenschieber, das war gleichgültig. Aber die Schaffner auch! Sollte er sich wirklich schon verplempert haben?

Am Dienstag verbrachte der Assessor den Abend beim Münchener Bockbier in schweren Seelenkämpfen. Er musste der Sache ein Ende machen. Er wird ausziehen und die Pferdebahn nicht wieder benutzen. Das ist er der Ehre des Fräulein von Vehsen schuldig.

Aber was für guten Geschmack und was für einen feinen Geist doch diese Schaffner haben. Die heilige Cäcilie. Wer ihr wohl den Spitznamen zuerst gegeben hat? Ein Fahrgast vielleicht. Ihrer Musikmappe wegen. Vielleicht. Aber nein, es war mehr. Diese hoheitsvolle, große Gestalt, diese Augen, die dreinschauten, als wollten sie die Schönheit der Welt in sich saugen, dieser festgeschlossene Mund, dessen Lippen eine eingekerkerte Heiterkeit zu bewachen schienen. Es war jammerschade, aber Otto Cremmen musste der Sache ein Ende machen.

Am Mittwoch stellte er sich um drei Uhr vor seinen dreigeteilten Spiegel, ballte die Faust wie ein zorniger Vater und sagte nur drohend: ›Otto!‹ Hierauf, weil ihn eine unendliche Wehmut beschlich, hob er flehend die Hände und sagte mit mütterlicher Rührung: ›Es geht wirklich nicht, Otto.‹

Er warf sich auf das Sofa unter die zinnoberrote Orientalin und wollte die Stunde der Pferdebahn verschlafen, verrauchen, einerlei.

Er schlief nicht ein, und die Zigarre schmeckte nicht.

Eine Sehnsucht wie noch nie in seinem Leben überkam ihn. Man konnte doch den alten Major nicht so verkommen lassen. Es war offenbar eine edlere Natur.

Und wenn es auch knapp hergehen sollte, ohne sie war das Leben ja doch nur Kommiss.

Von Zeit zu Zeit blickte er auf seine Taschenuhr und fieberte beinahe, als die letzten Minuten erreicht waren, in denen er noch zur Haltestelle der Mauerstraße hätte eilen können. Jetzt war es endlich zu spät.

Gott sei Dank! Und Otto hätte beinahe geweint. Natürlich als Vater und Mutter konnte er mit sich zufrieden sein, aber als Mensch nicht. Was wussten die Eltern, wie schwer es den Kindern manchmal wurde, ihnen zu gehorchen. Aber Gott sei Dank, es war vorbei. Hatte er es erst einmal überwunden, so konnte er sich auch weiter bezwingen. Und gekündigt wurde heute noch. Seine Wirtin war ja doch ein Schauerbock.

Es war vier Uhr vorüber, die heilige Cäcilie war wohl schon eingestiegen, hatte ihn hoffentlich vermisst, nein, hatte ihn gewiss nicht vermisst, der Schaffner hatte gelächelt, weil der Baumeister fehlte. Freilich, er war der Baumeister. Jetzt fuhr sie die Leipzigerstraße herunter, stumm und in sich gekehrt. Plötzlich setzte der Assessor seinen Hut auf und rannte wie besessen die Treppe herunter.

Unsinn!

Fast unschicklich schnell ging er die Kurfürstenstraße hinauf und dann die Potsdamerstraße entlang den Weg, den sie kommen musste. Wenige hundert Schritte nur von der Ecke erblickte er sie in einem Wagen. Atemlos lief er zurück und sprang auf die Plattform in demselben Augenblick, da Fräulein von Vehsen schon aufstand, um auszusteigen. Ärgerlich riss er den Hut herunter und sprang hinter ihr wieder auf die Straße. Dem Schaffner wagte er gar nicht ins Gesicht zu sehen.

Ernesta ging ihres Wegs. Der Assessor sprach sie an.

»Verzeihung, mein gnädiges Fräulein, aber ich konnte nicht anders. Es war mir heute nicht möglich, und um Sie wenigstens grüßen zu können…«

Fräulein von Vehsen hatte offenbar keine Lust, sich begleiten zu lassen. Ganz ruhig blieb sie stehen, bat den Herrn Assessor, sich in seiner Fahrt nicht stören zu lassen, und weg war sie mit einem leisen fremden Neigen des Kopfes.

Der Assessor ging wirklich bis zur Haltestelle zurück, so gehorsam war er. Dann fluchte er etwas und stieg langsam in seine Stube hinauf.

Vor dem dreigeteilten Spiegel blieb er mit dem Hute auf dem Kopfe stehen. Eine Zigarre zündete er sich an und blies seinem Spiegelbild den Rauch ins Gesicht. ›Verplempert hast du dich, trotz aller Warnungen; ein Esel bist du, nichts wird aus dir werden, deine Karriere verdorben, Dummkopf!‹

Dazu lachte er sich freundlich an. Die Schimpfworte hatte er ja vom Standpunkte seiner Eltern verdient, aber doch nur um eines dummen Streiches willen, den man einem so grünen Jungen vergibt.

Er war mit sich unzufrieden und war vergnügt zu gleicher Zeit.

Seine Wirtin kam herein, um ihn zu bitten, ihr die Miete und die übrige kleine Rechnung vielleicht schon morgen zu zahlen. Sie sei es immer besser gewöhnt gewesen, und der Hauswirt solle sehen, dass es ihr nicht darauf ankäme.

Frau Buschhardt war nicht gerade ein Liebling des Assessors. Wenn sie ihm des Morgens seinen Kaffee brachte und die beiden Schrippen, wenn sie ihn dann während des Frühstücks von ihren unheilbaren inneren Krankheiten unterhielt, so war beides für seine Esslust nicht günstig. Ihren Besuch zu anderer Tageszeit hatte er sich sogar einmal ernstlich verbeten. Aber heute! Seid umschlungen Millionen! Er versprach, das Geld zu schaffen und machte ihr noch eine Extrafreude. Er lobte die Muscheln neben dem Wollhündchen.

»Ja, ja, die hat der zurückgelassen.« Und sie zeigte auf eine Matrosenuniform unter den Photographien.

»Allens habe ich schon hier jehabt. Und allens kenne ich. Allens habe ich schon jekocht. Der da, hat Tee getrunken und hat mir ein halbes Pfund erster Jüte zurückjelassen. Der da hat zwei Monate Milch getrunken, von Volle, allens kenne ich. Sie haben mir anfangs weniger jefallen. Der bleibt nich, habe ich immer zu meine Mächens jesagt, bis ich dann jesehen habe, dass Sie wegen der da drüben da sind.«

»Sie scheinen aber wirklich alles zu wissen.«

»Wo werd’ ich nich. Ich weiß allens, kümmere mich aber um jarnischt. Wissen Se, Herr Assessor, das bin ich so von meine Mieter gewohnt. Der da, der Jardekürassier, es war ein feiner Einjähriger, immer nur Wein und sogar Sekt manchmal. Der war doch noch janz anders. Aber ich kümmere mich um jarnischt. Und der und seine Freunde, die schönen Fauteuils, die hat er mir dagelassen. Blaue Flecken habe ich manchmal gekriegt, wenn sie aus der Weinstube gekommen sind. Mit dem Rohrstock bin ich dazwischen gefahren Aber wie so ne Mutter haben sie mir behandelt. Ollsche, hat der Kürassier oft jesagt, lassen Sie mir. Poussieren hat er wollen. Aber das Haus muss rein bleiben, ist immer meine Rede. Und ist es auch jeblieben. Sonst kümmere ich mir um jarnischt. Und über die Straße immer man feste druff.«

»Was wissen Sie denn von mir und jemand über der Straße?«

»Na, wissen Sie, Herr Assessor, schweigen kann ich Jott sei Dank, aber dumm machen, da koofen Sie sich eine andere vor. Alle Tage mit die Pferdebahn und dann, so ein Gesicht. Sie sind einer mit Ärmel. Die hübsche Person aus der Destille drüben meint auch, det wäre ’ne Partie. Warum soll der Olle nicht verrückt sind? Irgendwas haben die Ollen immer weg. Und meinswegen hätten meine Mächens ruhig die beiden da heiraten können und hätten nu Wagen und Lakaien, anstatt sich die Haut von den Fingern zu schinden mit Nähen wo sie für das Dutzend Blusen 3 Mark 50 kriegen. Jestern war wieder so eine Versammlung. Aber ich sage immer, es nützt nichts. In die alten Zeiten, det können Sie mir globen, ich bin eine alte Frau, in die alten Zeiten sind Jänsemächens wirklich Jräfinnen geworden. Dat können Sie mir glauben, ich hab’s oft gelesen. Aber jetzt! Ich kenne allens. Jeld vorn, und Jeld hinten, und wo nichts ist wollen sie bloß poussieren.«

Der Assessor bedauerte schon, die Wirtin durch ein freundliches Wort gereizt zu haben. Eben wollte er sie durch sein bewährtes Mittel entfernen. Er brauchte bloß Fenster und Balkontüren aufzumachen. Luft konnte sie nicht vertragen. Da fing sie eben wieder an.

»So lange der Major lebt, tut er ja nichts verkaufen. Aber dann kann sein Schwiegersohn sich als Millionär einschätzen lassen, und sich ein Badezimmer mit ’nen Austernkeller einrichten lassen. ‘Ne Champagnerbrause darüber und ’nen Spucknapf mit Goldsand. Ich weiß allens. Und vom Major hab’ ich besondere Quellen.«

»Was quatschen Sie da?«

»Quatschen? Nehmen Sie’s nicht übel, Herr Assessor, aber von Ihnen muss ich det übel nehmen, weil Sie ein jebildeter Mann sind. Fragen Sie die janze Kurfürstenstraße vom Zoologischen bis an die Zwölf-Apostelkirche, ob der Major nicht so hoch im Golde sticht.«

»Unsinn, Frau Buschhardt, er ist ein armer, alter Offizier, der von seiner Pension lebt.«

»Natürlich tut er das. Er ist ja eben verrückt. Aber Grundstücke hat er geerbt, fast so breit wie sie hoch sind. Dort wo seine Villa steht, det is jar nichts, obwohl er jetzt auch schon ein klotziges Geld dafür kriegen könnte. Aber dahinter werden die Grundstücke immer breiter und gehören alle zur Erbschaft bis an die Schöneberger Wiesen. Millionen sind ihm schon dafür geboten worden, aber er tut’s nicht. Verrückt! Aber gut für den Schwiegersohn. Meine Mächens kriegen keine solche Mitgift. Die zweite hätte ihn ja heiraten können, den da, den Jardeschützen. Sieben Jahre waren sie verlobt oder so, und nun, Kladderadatsch heiratet er auf Jeld, und sie weint zwei Nächte lang, dass ich das Bett habe frisch überziehen müssen. Na ja, ist es nich so?«

Der Assessor machte Tür und Fenster auf, er musste allein sein. Heftig erregt ging er auf und nieder. An dieser Geschichte schien etwas wahr zu sein. Die Kurfürstenstraße log nicht. Dass er aber, Otto Cremmen, beinahe reingefallen war, und nun so schön rauskam, dass sein armes Ideal sich als Millionärin entpuppte, das war einzig. Klug und anständig zugleich und doch nicht dumm … ho, ho.

Am Freitag lauerte er in der Mauerstraße ohne Rücksicht auf den Ritzenschieber. Die Würfel waren gefallen; er wollte sein Glück nicht aus den Händen lassen.

Als Fräulein von Vehsen endlich erschien, grüßte er ganz vertraut und schickte sich an, ihr in den heranrollenden Wagen zu helfen. Das Mädchen lehnte ab und behandelte ihn mit recht absichtlicher Kälte. Einsilbig beantwortete sie seine Fragen und verließ ihn an der Kurfürstenstraße ohne Gruß. Das sollte sehr wohlerzogen aussehen, sehr abweisend, sehr Geheimeratsviertel. Aber Otto Cremmen war jetzt seines Entschlusses viel zu gewiss, um nicht überzeugt zu sein, dass Ernesta diese zweite Zudringlichkeit ebenso wenig übel genommen hatte, wie die erste von vorgestern.

Er brachte wieder Ordnung ins Pferdebahnverhältnis.

Einige Schritte machte er zurück, war wieder der bescheidene Nachbar, um schon nach vierzehn Tagen wieder auf dem alten Fuße zu stehen. Natürlich auf einem viel vertrauteren. Denn das ist ja der Lohn der Kühnheit, sagte er sich als eine schneidige Lebenserfahrung, dass sie erobern hilft, wenn auch mit Verlust.

Sie sprachen jetzt nicht immer über das Wetter und über Musik. An jedem der Tage gab es immer irgendeinen vertraulichen Bericht aus dem Vorleben des Assessors und des Fräuleins. Vetter und Cousine mussten einander doch endlich kennenlernen. Was er zu erzählen hatte, war freilich nicht immer erzählenswert. In Berlin, in Leipzig und Heidelberg hatte er studiert, in Berlin seinen Doktor gemacht, in Leipzig am meisten geochst, in Heidelberg den Schmiss davongetragen. Seine militärischen Vettern standen in Straßburg, in Kiel und in Potsdam, von Verwandten in der Verwaltung hatte er mächtige Fürsprache zu hoffen. Da war besonders ein Onkel Regierungspräsident, der heute oder morgen Exzellenz werden musste. Otto Cremmen war nur zufällig ein Bürgerlicher, weil nämlich seine Mutter einen Bürgerlichen geheiratet hatte. Aber so weit er auch blickte, es gab keinen Bürgerlichen in seiner Verwandtschaft, wenigstens nicht in seinem Gesichtskreis. Er schwärmte für alles Ideale, besonders für die Kolonien und für Richard Wagner, und hatte als Student einmal ein Lied komponiert und die Worte gleich selbst dazu gedichtet. In einer ernsten Nacht, gegen sechs Uhr morgens, unmittelbar am Klavier, in einer schlichten Kneipe freilich. Aufgeschrieben hatte er sich die Sache nicht. Cremmen war eine künstlerische Natur durch und durch und himmelte im Mondschein, aber der Tag wollte sein Recht und zwang ihn, mit Selbstüberwindung prosaisch aufwärts zu streben.

Ernesta kam nicht so leicht ins Erzählen. Mitte April war es und wieder recht unfreundliches Wetter.

Kalt und nass. Otto Cremmen fror in der Mauerstraße und konnte die Bemerkung nicht unterdrücken, dass sie bei solchem Wetter ihre Stunde wohl hätte absagen können.

»Das kann ich nie«, erwiderte sie und errötete.

»Ich will mich nicht in Ihr Vertrauen drängen, mein gnädiges Fräulein Cousine, aber die Tochter des Majors von Vehsen hat es wirklich nicht nötig, an einem solchen Jammertage, wo es nur aus Höflichkeit nicht schneit, Stunden zu geben.«

»Zu geben?« fragte Ernesta, und ihre Mundwinkel zuckten, als ob das eingekerkerte Lachen entfliehen wollte. »Ich wäre eine schöne Lehrerin! Die Gesangstunde wird mir erteilt, und ich mache gar keine Fortschritte. Seitdem wir uns kennen, studiere ich die Arie der Agathe, wissen Sie, und würden Sie mich hören, ich sähe Sie nie wieder in der Mauerstraße.«

Otto lehnte sich behaglich zurück. Wie käme Ernesta dazu, Stunden zu geben! Sie nahm Stunden.

Nach einer Pause fragte er gedankenlos, warum sie denn solche Gesangstunden nicht absagen könne, wenn so wie heute, flüssiges Eis vom Himmel falle.

Ernesta hatte sich gleichfalls zurückgelehnt. Bisher hatte sie geschwankt. Gefiel ihr der Assessor oder gefiel er ihr nicht? Sollte sie ihn als Vetter anerkennen oder nicht? Sollte sie das Pferdebahnverhältnis fortsetzen oder nicht? Dass er sie aber für eine arme Musiklehrerin gehalten hatte, das war nett von ihm. Ein Stück Vetter war er ja nun einmal doch, und herzlicher als je zuvor gab sie Antwort.

Die Gesanglehrerin stammte aus Bonn, war einst eine gefeierte Opernsängerin gewesen und lebte jetzt in kümmerlichen Verhältnissen. Sie hatte sich an Ernesta um Unterstützung gewandt, ganz ohne Scheu, wie jemand, der nicht zum ersten Mal einen solchen Brief schreibt. Aber Ernesta hatte aus einer Beilage ersehen dass die Sängerin vor Jahren in der Tat mit ihrer Mutter verkehrt hatte. Da wollte Ernesta einmal gründlich helfen und meldete sich als Schülerin.

»Wissen Sie, lieber Herr Assessor, nun kann ich mich der Sache nicht mehr entziehen. Ich bin die einzige, die Unterricht nimmt, und die arme Frau lebt von dem kleinen Stundengeld. Weniger als drei Stunden wöchentlich würden nicht langen. Sie wäre ja imstande, die Hilfe auch so anzunehmen. Aber ich weiß nicht, mich selbst würde es verletzen. Ich glaube, man müsste den Leuten immer so helfen, dass sie wenigstens zu arbeiten glauben.«

Otto Cremmen nahm sich vor, dem Schaffner das nächste Mal ein heftiges Trinkgeld zu geben. Um den Hals fallen konnte er dem Fräulein von Vehsen doch nicht, so sagte er wenigstens:

»Könnten Sie nicht jeden Tag eine Stunde nehmen?«

Seit dieser Unterhaltung gewann Frau Buschhardt in Ottos Augen, nun war ihre Auffassung und die der Kurfürstenstraße bestätigt. Ernesta war keine arme Lehrerin.

Schon am nächsten Morgen schloss der Assessor die beiden Fenster recht fest und lobte den Kaffee, den seine Wirtin ihm brachte. Vorsichtshalber lobte er ihn vor dem ersten Schluck. Er wusste, nun würde sie ins Erzählen geraten, und die Konversation zu lenken war seine Sache.

Sie berichtete also über den Raubmord, der seit drei Tagen die Zeitungen füllte, äußerte ihre ehrliche Entrüstung über die schlechten Menschen und leistete ihm auch sonst in ihrer Weise Gesellschaft. Sie schob ihm die beiden Weißbrote handgerecht zu, warf ihm mit ihren eigenen Fingern zwei Stücke Zucker in die Kaffeetasse und erfreute ihn sonst noch durch solche kleine Dienste, die ihn wohl an einem anderen Tage zur Verzweiflung gebracht hätten.

Jetzt aber wollte er wissen, worin ihre geheimen Beziehungen zu der Vehsen’schen Villa bestanden. Er machte also die treffende Bemerkung, eigentlich hätte der Major von Vehsen doch Recht, seine Grundstücke nicht zu verkaufen. So wäre er den Raubmördern wenigstens kein lohnender Fang.

Frau Buschhardt ging ganz harmlos in die Falle.

»Der wird sein Geld doch los, sage ich Ihnen. Wie er damals pensioniert wurde, wissen Sie, er war ein ausländischer Offizier, einer von die Deposierten, da hätten ihn keine zehn Pferde nach Berlin gebracht. Jeschumpfen hat er schrecklich auf Bismarck und selbst auf’n guten ollen Wilhelm, alle Tage hätte er sich gut ein Jahr Gefängnis erschimpfen können. Da muss gerade er den Berliner Grundstückkram erben und verrückt, wie er ist, verkauft er nicht, bleibt hier sitzen, schimpft nicht mehr und redet sich Schwachheiten ein. Die arme selige Frau, eine edle Dulderin hat die Karline immer gesagt.«

»Durch die Karline also wissen Sie so gut Bescheid? Wissen Sie was, Frau Buschhardt, setzen Sie sich zu mir und schauen Sie mir zu, das ist viel gemütlicher.«

»Wenn Sie erlauben Herr Assessor. Mit meinem linken Bein will es ja immer nicht werden und wie der Doktor hier gewohnt hat, hat er immer gesagt: Ollsche, hat er gesagt, Ihr linkes Bein…«

»Darf ich Sie auch Ollsche nennen Frau Buschhardt? Na, was war das mit der Karoline?«

»Mädchen für alles wird sie wohl gewesen sind. Aber eine feine Person. Fein gebildet. Aus sehr guter Familie. Ihre Mutter hat ’ne Weißbierstube gehabt in der Koblankstraße. Klavierspielen hat Karline können und was weiß ich. Sie war sehr gut mit meine Mächens. Das heißt sonntags durften die nicht mit nach Schöneberg in den Schwarzen Adler, aber jeden Donnerstag. Da war Kavalierabend. Wissen Sie, mit Herren von der Börse und Assessoren und Offizieren in Zivil. Der da, der Kürassier, war auch immer mang. Na und die Karline, die hat dann viel von der Herrschaft erzählt, eine unverschämte Person, aber lustig. Wenn ich reden wollte. Die Kuntzen, Sie wissen doch, die Köchin von Vehsens, wie ein Rabe sag’ ich Ihnen. Und der Diener vom Herrn Major, der Fahlke, dumm sag’ ich Ihnen, die Wände einzurennen. Die Kuntzen…«

»Die Kuntzen interessiert mich auch, Frau Buschhardt, aber der Major noch mehr. Ist der Major nun eigentlich krank, oder was ist mit ihm?«

»Na, Sie müssen ihn ja kennen und wie er die letzten sechs Monate geworden ist, das weiß ich nu nicht. Die Karline ist ja Knall und Fall aus dem Hause gegangen, und seitdem frage ich den Vehsen’schen nicht mehr nach. Aber bis dahin jeden Tag, was sie gekocht haben. Mein Gott, das Fräulein hat leicht einen Mann kriegen. Bei so viel unverschuldete Grundstücke fragt keiner, ob beim Alten eine Schraube los ist. Bei meine Mächens, sogar an mein böses Bein stoßen sich die Männer, weil die Mächen kein Geld haben. So sind die Zeiten jetzt. Der Major gehört zu die, die nicht alle werden. Immer in die neueste Erfindungen. Wenn er, und er liest in die Zeitungen Anzeigen, was von einer neuen Einrichtung liest, immer wird es angeschafft. Zwei Paar Messer und Gabeln brauchen sie und haben vier Maschinen zum Messerputzen. Für seine Hosen, mit Respekt zu sagen, hat er drei Maschinen. Eine zum Spannen, eine zum Klopfen und eine zum Knopfannähen. An seinem Schreibtisch ist alles Magnetismus, wissen Sie, so wie bei die elektrischen Klingeln. Zum Eierkochen, weil er jeden Morgen zwei Eier haben will, hat er eine ganze Anstalt gebaut. Erst wird durchs Licht gesehen, als ob er ins Ei hineinkriechen wollte, ob kein Wurm drin ist, dann gibt’s ein Klingelzeichen, wenn das Wasser kocht, und dann klingelt’s wieder, wenn sie pflaumenweich sind. Es ist nicht auszuerzählen, alle Spucknäpfe haben ein Aweck. Das dauert einen halben Tag, bevor er mit einmal ausspucken fertig werden kann. Gegen Diebe ist er versichert, dass ein ehrlicher Mensch Angst kriegen kann. Die Ofen haben auch so ’ne neumodische Sache inwendig. Erst gehen sie nicht an, und dann gehen sie nicht aus. Das arme Fräulein sagt immer ja, ja, und stellt die Maschinen in die Rumpelkammer und kocht die Eier auf die alte Art, und er besorgt sich immer was Neues. Fotografieren tut er auch, im Finstern Schreiben tut er nie, aber eine Schreibmaschine wie ein Klavier. Die tollste Zucht soll mit die Hosenträger gewesen sein. Davon hat er ’ne Sammlung. Damals wenigstens wollte er einen neuen erfinden, einen, der beim Gehen den Weg ausmisst, dabei hin und her bammelt und Luftzug unter die Kleider macht. Zum Anzünden von seine Zigarren hat er vier Maschinen gehabt. Auch so wie bei die elektrischen Klingeln. Überhaupt auf den Magnetismus war er versessen. Das war das letzte, bevor die Karline ging, dass er Tischrücken spielte und Jeisterklopfen. Wissen Sie, Herr Assessor, daran ist ja was. Tischrücken habe ich selber mitgemacht, und Jeister gibt es natürlich. Aber so een gebildeter Mann wie der Herr Major, sollte doch nich daran glauben.«

»So, so, und seitdem Karline fort ist, haben Sie Ihre Beziehungen zur Villa Vehsen abgebrochen?«

»Jawoll, janz und jar habe ich die Villa abgebrochen. Eine gebildete Frau ist die Kuntzen nicht. Mein Gott, mal erfährt man noch was in der Markthalle und so. Denn die Kuntzen fragt mich oft um Rat. Schmumachen versteht sie, aber einkaufen nicht. Das letzte Jahr hat er’s mehr mit dem Magnetismus und den Doktoren. Seine letzte Schraube ist, wissen Sie, so Spinat ohne Ei, Sie werden ja wissen wie’s heißt. Die Leute essen kein Fleisch, tragen schmutzige Wäsche und haben den Rock bis an die Nase zugeknöpft. Das arme Fräulein. Und die ist nicht so. Für zugeknöpft freilich, aber darunter fein.«

Der Assessor hielt es für angezeigt, ein Fenster zu öffnen, und Frau Buschhardt zog sich zurück.

Als zukünftiger Schwiegersohn hielt sich Otto Cremmen für berechtigt und für verpflichtet, solche Nachforschungen nach dem Major anzustellen. Er führte Fräulein Ernesta auf ihren Pferdebahnfahrten langsam dazu, von ihrem häuslichen Leben zu sprechen. Und wenn sie auch nichts über ihren Vater und dessen seltsame Neigungen äußerte, so kam doch hie und da eine versteckte Klage, eine ernste Trauer zum Worte. Sie verschwieg es nicht, dass sie im ganzen großen Berlin keine Kameradin besitze, kein befreundetes Haus, und dass die Besucher ihres Vaters ihr nichts böten. Otto Cremmen ging einmal gerade auf sein Ziel los. Er hätte gehört, der Major sei ein eifriger Spiritist. Ob das ihr nicht manchen Kummer mache. Ganz verwundert erwiderte Fräulein Ernesta, das sei doch gegenwärtig eine sehr weit verbreitete und beachtenswerte Bewegung, und sie sehe ihren Vater ganz gern wissenschaftlich tätig.

»Nein das ist es nicht«, fügte sie so traurig hinzu, dass Otto Cremmen auf der Stelle um ihre Hand gebeten hätte, wenn das Fräulein nicht eben hätte aussteigen müssen.

Wenige Tage nach diesem Gespräch brachte Frau Buschhardt den Kaffee mit besonders feierlicher Miene herein. Da die Fenster aber geöffnet waren, sagte sie nur, die Kuntzen ist doch ’ne ganz verständige Frau, und wollte wieder gehen. Der Assessor schloss das Fenster, und forderte sie auf, sich einen Gilka zu nehmen

»Wissen Sie, Herr Assessor, uzen lass’ ich mir nich. Ich habe es gern getan, und wenn Sie heiraten werden und wollen mir Ihren Schaukelstuhl in meine Wirtschaft stiften, so bin ich nicht diejenige, welche nein sagt. Die schöne Petroleumhängelampe habe ich noch von dem da. Angeredet habe ich sie und habe ihr Schmeicheleien gesagt, dass ich mir fast geschämt habe, denn die Mohrrüben waren welk, das kann ich Ihnen sagen. Nachher hat sie doch was gesagt. Herr im Hause ist er beinahe schon, der Magnetismusdoktor, so ein ausländischer Engländer. Und in die Tasche stecken wird er ihn, meint die Kuntzen. Ihn und die Grundstücke und das Fräulein dazu. Wissen Sie, Herr Assessor, so sind die Engländer. Ich habe einmal einen gehabt, der hat, wie er ausgezogen ist, das alte Zeitungspapier mitgenommen, womit er sich die Kommode sauber austapeziert gehabt hat. Als ob das bei mir nötig wäre. Mitgenommen, sag’ ich Ihnen, ich hab ihm aber noch auf die Treppe nachgerufen, ob er die Asche vielleicht auch noch haben will von die Kohlen, wo ich vorigen Winter mit geheizt habe. Nich mal deutsch verstanden hat er, berlinsch schon jarnich. So sind die Engländer, wahrhaftigen Jott. Den Kaffee habe ich ihm immer von meine Zweite reintragen lassen, weil die gebildeter ist als ich. Französisch hat sie auch gelernt. Der hat immer Tee getrunken. Ich sag’ Ihnen Herr Assessor, ich kenne allens. Der Kürassier, der wollte Kakao…«

Der Assessor musste die Balkontür öffnen.

Er hätte nach der Mitteilung über Frau Kuntzen auch einen geringeren Redeschwall nicht mehr ertragen. Wenn wirklich Gefahr vorhanden war für das Vermögen und für Ernesta, so musste rasch gehandelt werden. Otto war ein moderner Mensch und fand jede Sentimentalität verächtlich. Dass er die Zeit anders einteilte als früher, dass er schon seit Wochen nur noch nach Pferdebahntagen rechnete, dass er die Minuten, die er auf Ernesta warten musste, in jünglingshafter Stimmung durchlebte, das war eine erfreuliche Zugabe zu seinem festen Willen, Ernesta von Vehsen zu heiraten. Heute war ein Mittwoch, und heute wollte er das entscheidende Wort sprechen.

Es war Mitte Mai und ein kühler, windiger Tag.

Otto Cremmen hüllte sich gegen ein Uhr in seinen neuen hellen Sommerüberzieher, setzte den schwarzen Hut keck auf seinen unglücklichen Schriftstellerkopf und nickte sich in den Spiegel hinein zu.

›Viel Glück, mein Junge!‹

An der Ecke der Kurfürstenstraße pflanzte er sich auf. Er wollte Ernesta gleich auf dem Hinwege begleiten. Schüchternheit war nicht seine Sache.