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Peter Fleischer

Adrica

und ein Wunder


Danke an meine Testleser.


BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Die alte und die neue Fassung der Fantasygeschichte Adrica / Adrica & Daria

 

Die Originalfassung der Fantasygeschichte

 

Adrica und ein Wunder

 

Buch 1

 

Diese Geschichte ist frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Handlungsorte sind teils fiktiv.

 

Adricas Traum


Santa Maria - (Santa Barbara Countys - Kalifornien)


Adrica saß am Küchentisch, nervös schlug sie zeitweise die Beine übereinander. Mutter Ricarda beendete ihr Telefongespräch mit den üblichen Worten, die ihre Tochter ständig hörte, und legte den Hörer auf.

Adrica schleckte Erdnussbutter von ihrem Zeigefinger, sah aus dem Küchenfenster, dann zum Kalender, der neben dem Kühlschrank hing.

Ricarda war stolz auf ihre Tochter, die schon seit der ersten Klasse besonderes Interesse für Lesen und Schreiben zeigte.

Adricas Blick zum Kalender blieb nicht unbemerkt, der Wochenbeginn läutete die Adventszeit ein.

Sie spülte die Bissen in ihrem Mund mit einem Schluck Milch nach, dabei drehte sie die Augen in die Richtung, in der sich ihre Mutter befand.

Die Hefte für den Unterricht lagen auf dem Sideboard, gut sichtbar, wenn man über die Treppe aus der oberen Etage des Häuschens hinunter in den Flur gelangte.

Vor drei Uhr nachmittags endete kaum ein Schultag. Nicht immer schmeckte das Schulessen, nicht immer waren die Hausaufgaben nach dem, was man sich selbst wünschte. Adrica achtete peinlich genau auf die Leihfristen in der Schulbücherei.

Ricarda hob das Küchentuch von einer Schale, in der sich Kuchenteig befand, vorbereitete Äpfel lagen auf einem Holzbrett daneben.

„Mach dir keine Gedanken über das C in Mathematik. Ich weiß, du gibst dir große Mühe“, die grünen Ziffern der Backofenanzeige hielten die Zeit nicht auf, die von ihnen zu lesen waren. „Ich war nicht anders, aber sicher hast du das schon von deinen Großeltern erfahren.“

Adrica lächelte, ob das eine Bestätigung war oder etwas anderes, darüber sprach sie nie.

„Das mit dem C, daran arbeite ich schon“, sie kaute auf einem Mandarinenstück. „Habe ich die Aufgabe richtig gelöst? Du hast sie dir doch gestern Abend angesehen.“

„Ja das habe ich. Und weißt du was?“

Adrica schüttelte den Kopf, der Blick lag auf ihrem Sandwich.

„Meine Eltern ließen mich im Ungewissen, deine Großmutter blinzelte mir zu, als wir den Schulweg antraten. Für mich ein Grund, eine Extraportion Zuneigung zu geben, denn ich verstand den Hinweis.“

Vom Tisch kam ein „Aha“ das Ricarda in: Habe ich verstanden, einordnete.

„Ich hatte einen tollen Traum“, damit zog Adrica die Aufmerksamkeit auf sich. „Das war so nahe, so wirklich. Das war unglaublich.“

„Darauf bin ich gespannt, ich hoffe, dass du nach dem Unterricht Zeit hast, in mir zu erzählen. Ich weiß, dass du dir Ereignisse sehr gut merken kannst. Besser als ich es in deinem Alter konnte und noch heute. Einverstanden?“

„Ja, ich freue mich und kann dir sagen, dass du das auch für unglaublich halten wirst“, in den Worten ihrer Tochter hörte Ricarda etwas, das sich versteckte, etwas, das sie selbst weit in die Vergangenheit zurückführte.


Adrica hatte das Haus verlassen und befand sich auf dem Schulweg, außer den Pausenbroten befand sich eine orangefarbene Plastikbox mit Obststücken in ihrem „Gepäck“. Wie jeden Tag traf sie auf Schulfreundinnen, gut für den gemeinsamen Weg und für Gespräche, auch über die Hausaufgaben und das, was sie für diesen Tag erwarteten.


Ricarda knetete den Teig in eine Form und belegte ihn mit den Apfelstücken, noch wenige Augenblicke, dann platzierte sie die Form im vorgeheizten Backofen.

Sehr oft drängten sich Ereignisse aus der Vergangenheit in ihre Gedanken, nahmen Teil an dem, was tägliche Hausarbeit und dem Umfeld waren. In den nächsten fünfzig Minuten hatte sie Zeit für die Wäsche, es gab keine Chance, dass ihr der Kuchen verbrennen würde, dafür sorgte die Automatik des Ofens.

Ricarda hielt viele Ereignisse fest, die sich ihrer Gedanken bemächtigten. Gerade jetzt in der Adventszeit; Adrica wäre ein Christkind geworden, aber sie wählte einen früheren Zeitpunkt, um das Licht der Welt zu erblicken. Der Wendepunkt in ihrem Leben war das Kennenlernen von Carlos, häufig versuchte sie, zu klären, ob das zu den Höhen oder Tiefen in ihrem Leben zählte. Carlos war Verkäufer in einem Imbisswagen, er arbeitete für einen kleinen Familienbetrieb und verdiente sich sein erstes Geld. Es war kein schnelles Kennenlernen, an einem verregneten Frühlingstag ging ihr flüchtiges „Hallo“ in mehr als nur eine Begrüßung über.

In ihrem kleinen Büro setzte sie sich an den Schreibtisch, schaltete ihr Notebook ein, sah nach den Verbindungskabeln von DSL, dem externen Datenspeicher und dem Multifunktionsdrucker. Sie hatte noch Zeit, bis Bill ihr Akten aus der Kanzlei zur Bearbeitung brachte. Wieder dachte sie an die Studienzeit und Carlos zurück, sie zog eine Schublade auf, sah auf den Flur und drehte sich für einen Blick aus dem Fenster. Das Notebook stand für seine Aufgaben bereit, musste aber noch warten, sein Benutzer legte zunächst ein Fotoalbum auf den Tisch. Langsam schoben ihre Finger die Folie zur Seite und berührten zart die Bilder, Erinnerungen an schöne Augenblicke in ihrem Leben, wie diesen, der gute neun Jahre alt war.


Im Licht der untergehenden Sonne sah Ricarda Carlos, sie waren vor dem Steakhaus verabredet, einer der wenigen Tage, da sie sich mit Rock, Bluse und Weste bekleidete; so trat sie nur als Beisitzerin von Rechtsanwalt Walker, ihrem Chef und sehr gutem Freund ihrer Familie, im Gerichtssaal auf.

Sie blieb stehen, die Sonne zog sich langsam hinter den Horizont und Carlos zog gleichermaßen langsam eine junge Frau, die sich in seiner Begleitung befand, an sich heran.

Ricarda wusste nicht, wie sie in diesem Augenblick handeln sollte, die wichtige Nachricht, die sie für Carlos hatte, hinderte sie nicht daran, den Heimweg anzutreten. Hatte sie das wirklich richtig gemacht? Vielleicht war alles nur … nein, weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht.

Als das Telefon klingelte, wusste sie nichts zu sagen, sie nahm sich zusammen, es war nicht einfach, mit tränen erstickter Stimme zu sprechen. Ihre Entschuldigung war formlos, vor Gericht hätte sie keine glaubhafte Haltung gehabt – warum dachte sie gerade jetzt an ihr Studium? Vom anderen Ende der Leitung hörte sie nur die Frage nach einem neuen Treffen.

Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, legte Ricarda schluchzend das Telefon auf die Station. Ihre Nachricht war zu wichtig, sie entschloss sich, das nächste Treffen einzuhalten. Noch wusste sie nicht, ob sie Carlos wegen der anderen ansprechen sollte.

Ricarda sah auf das Display des Notebooks.

Carlos war zum nächsten Treffen nicht erschienen, das glaubte Ricarda, sie wollte es wissen und sprach mit dem Steakhausbesitzer. Wieder war diese Frau im Spiel und von ausgetauschten Zärtlichkeiten die Rede. Sie bestellte ein extra großes Steak mit Bratkartoffeln und ein großes Glas Cola.

Carlos meldete sich nicht mehr; die Nachricht, die für ihn bestimmt war, erfüllte sich in Ricardas Mutterglück und das in jeder Hinsicht.


Kurzes dreimaliges Klingeln zogen Ricarda in die Gegenwart zurück, auf ihrem Antlitz waren Lächeln und Tränen im Wechsel.

„Es ist früh, komm rein“, entgegnete sie dem Mann an der Tür. „Entschuldige bitte, ich muss nach dem Kuchen sehen, er sollte längst fertig sein. Wie geht es im Büro voran?“

„Danke der Nachfrage, aber es gibt Tage, die sind echt … hm, der Kuchen riecht gut. Was wollte ich sagen? Ach ja. Die neue Verteidigung, ein echt schwerer Brocken. Ben war sich sicher, aber jetzt kommen ihm Zweifel. Zunächst gab es eindeutige Beweise, aber das kannst du selbst aus den Akten entnehmen. Wie macht sich Adrica in der Schule?“

Nachdem Ricarda den Kuchen auf ein Holzbrett gestellt hatte, zog sie sich die Handschuhe aus, dann füllte sie zwei Gläser mit Cola ein.

„Ich habe noch zwei Sandwichs, wenn du möchtest?“

„Danke gern, ich hatte noch keine Gelegenheit“, Bill griff nach dem Brot. „Ich habe Ben noch nie so ratlos gesehen“, mit dem Cola Glas in der Hand, stellte er sich vor die Terrassentür. Ricarda drückte eine Taste an der Spülmaschine, wenige Augenblicke später stand sie neben ihrem Besucher.

„Ich sehe es mir an“, sie nahm einen Blick zu den Akten, die auf dem Tisch lagen. „Habt ihr Fotos?“

Bill nickte und nahm einen Schluck aus dem Glas.

„Viel mehr; Videoaufzeichnungen, Kopien von Überwachungskameras.“

„Ich sehe es mir an und bestell Conrad einen Gruß von mir. Kopf hoch das wird schon, du weißt, gemeinsam sind wir ein gutes Team. Auf deine Frage, Adrica macht sich gut in der Schule, bisher hat sie in Mathematik und Sport ein C aber das wird noch. Möchtest du mal was sehen?“

Sie bat Bill, der einen Blick auf seine Armbanduhr nahm, in ihr kleines Büro.

„Wenn es nicht zu lange dauert.“

„Nein, bestimmt nicht“, sie nahm einen Schnellhefter vom Wandregal. „Das ist von ihr. Sie bat mich, dass was sie geschrieben hatte, im Computer zu speichern. Du hättest ihre leuchtenden Augen sehen sollen, als sie zum ersten Mal ihre kleine Geschichte auf dem Bildschirm las. Ich weiß nicht, sollte ich ihr…“

„Sie ist acht und in wenigen Tagen wird sie neun. Unter deiner Aufsicht kann ich es mir vorstellen. Sicher, zu viel Zeit darf es nicht sein, Hausaufgaben müssen selbstverständlich gemacht sein.“

„Du sprichst verständnisvoll, als Vater von drei Kindern.“

„Erwachsenen Kindern“, berichtigte Bill. „Meine älteste Enkelin wird auch neun Jahre.“

„Wie die Zeit vergeht, ich habe es vergessen, wie ich in letzter Zeit einiges vergesse. Nein, so kann ich es nicht sagen, wäre verdrängen das richtige Wort?“

Bill zuckte mit den Schultern und las die letzten Sätze im Hefter.

„Das hier ist gut, sie hat viel Fantasie, aber sie denkt viel an dich. Die Beschreibung der Haushälterin ist witzig, den Namen hat sie wohl dir zuliebe gewählt.“

„Ich weiß es nicht, kann es mir aber denken. Die Antwort auf diese Frage gab sie mit einem unsicheren Lächeln. Sie weiß ja, wie ihre Mutter ist. Ich will dich nicht aufhalten Bill, dein Bruder erwarte dich in der Kanzlei.“

„Du hast recht, wenn was Wichtiges ist“, er deutete auf das Telefon und legte den Hefter neben das Notebook auf dem Tisch.

„Will ich machen, richte unsere Grüße aus.“

Bill blieb nach ein paar Schritten stehen.

„Die Geschichte ist gut, schon auf der ersten Seite, lasse sie weiter schreiben, ohne sie zu drängen. Ich spreche mit dem alten Muff, du weißt, der Verleger der auch unsere Formblätter druckt. Er ist besessen von Fantasy Geschichten.“

„Danke Bill.“

Ricarda schloss die Haustür, nach dem sie wieder in ihrem Büro war, nahm sie den Hefter vom Tisch, schlug ihn auf und las Adricas Geschichte.


Shirahs Erzählungen – Shirah & Pedro

Kapitel 1 - Pedro und das weiße Kristall

Mexiko – 1881


Der Tag neigte sich seinem Ende entgegen. Mit dem Sombrero über dem Gesicht saß Pedro auf der Herrenhausterrasse. Hinter den, die Terrasse umsäumenden Hecken, konnte er nicht gesehen werden.

Die Pedro hob seinen Kopf, als die schwere Tür des Hauses wurde geöffnet.

„Pedro! Das Abendessen ist fertig. Ich rufe dich schon zum zweiten Mal. Deine Eltern verlassen sich darauf, dass du in ihrer Abwesenheit meine Aufforderungen befolgst. Zumindest das, was im Tagesablauf für alle gemeinschaftlich ist.“

Die Signora an der Tür wohnte, seit Pedro denken konnte, mit ihrer Familie auf der Hacienda. Es gab kein Personal, vier Familien waren befreundet und halfen untereinander, wo sie nur konnten, dennoch waren Pedros Eltern die Pächter des Anwesens.

Pedro beobachtete die korpulente Frau gern, wenn sie mit rauchender Zigarre an der Begrenzungsmauer des Anwesens stand und vom Hügel hinab auf die Stadt sah; rauchte sie wirklich?


Die Stadt. Von ihrem höchsten Punkt ließ sich das Ende dieses Häusermeeres nicht erahnen. Die Grenze setzte nicht der Horizont. Sie hatte bessere Tage gesehen. Dort, wo nicht der Putz von den Wänden bröckelte, war es eine andere Wunde, welche die Armut ihrer Bewohner auf die Fassaden schrieb.

Widerwillig erhob sich Pedro von seinem Platz, der Sombrero fiel ihm ins Gesicht.

Durch das Haupttor raste eine Kutsche auf die Hacienda. Er trank Wasser aus dem Becher, der noch vom Mittag auf dem kleinen Tisch stand, und sah der sich nähernden Kutsche entgegen. Er wusste, wem sie gehörte. Lucia, die Tochter des Don, von dem dieses Anwesen gepachtet wurde, stieg aus und ging langsam auf ihn zu.

„Der Alcalde ist am Wochenende bei uns zu Gast. Später will er mit deinen Eltern sprechen. Sind sie im Haus? Sie werden sich über meinen Besuch freuen.“

„Nein, es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen“, bemerkte Pedro und war froh, dass Lucia nicht seine wahren Gedanken lesen konnte. Bei ihren Besuchen verbarg sie, dass sie sich ihrer Herkunft bewusst war. Pedro wäre froh gewesen, diese vornehme, aber auch überhebliche, junge Frau den Hof verlassen zu sehen.

„Bitte, gehen wir ins Haus“, dienerte Pedro mit übertriebener Höflichkeit.

„Warte, Pedro“, Lucia nahm vom Kutscher etwas entgegen. „Vater hat mir diesen Umschlag übergeben. Ich soll ihn hinterlassen, falls deine Eltern nicht zugegen sind.“

Pedro antwortete nicht.

„Was ist los? Sprichst du nicht mit mir? Du bist nicht schüchtern.“

„Entschuldige, meine Gedanken waren bei meinen Eltern. Ich werde den Brief meinen Eltern geben“, dienerte er weiter.

Lucia senkte ihren Kopf.

„Ich habe meinen Eltern gesagt, dass ich hier übernachten werde, nur wenn deine Eltern einverstanden sind.“

„Wir können sie nicht fragen, sie sind nicht hier.“

‚Zum Gefallen des Don‘, dachte Pedro, er wollte nicht unhöflich sein.

„Ich bedauere es. Was willst du tun? Bis zu eurer Hacienda ist es weit.“

„Ich war den ganzen Tag beim Alcalde, ich fahre zurück und werde dort bis zum Morgen bleiben. Nichts gegen dich …“

„Sie haben eine Tochter, ich weiß, was du sagen möchtest.“

Er war unwesentlich jünger als Lucia. Beide absolvierten sie das letzte Jahr ihrer Schulausbildung.

Lucia stieg in die Kutsche und verabschiedete sich. Sie nickte Pedro huldvoll zu, was er mit einer Verbeugung quittierte. Langsam trat er zurück und sah der Kutsche hinterher. Er wandte sich ab und blies die Luft hörbar aus.


„Recht so“, bemerkte die Ricarda mit herber Stimme. Im gleichen Tonfall rief sie durch das Haus, um für Ordnung zu sorgen.

„Ich weiß, was deine Familie von ihr hält. Beim Alcalde hat sie besseren Anschluss.“

Sie sah Pedro freundlich an.

„Na, was ist jetzt? Willst du vor der Tür stehen bleiben oder können wir endlich zu Abend essen?“

„Ich komme“, antwortete Pedro, der erleichtert sah, wie die Kutsche verschwand.

Während er ins Haus trat, dachte Pedro noch an die Tochter des Don. Er hatte gemerkt, dass Lucia ständig auf seine Sachen starrte. Was hatte sie erwartet? Dass er in der feinen Kleidung von Herrschaftssöhnchen herumlief?

„Das fehlte mir noch bei der Wärme, mit geschlossenem Hemdkragen. Nein, ich bin mit den Kindern dieses Anwesens aufgewachsen. Das sind meine Freunde“, sprach Pedro wie öfter mit sich selbst.

Nach dem gemeinsamen Essen aller Bewohner der Hacienda nahmen die Jugendlichen und ihre jüngeren Geschwister ein erfrischendes Bad. Auf dem Anwesen befanden sich zwei Teiche, von keiner besonderen Größe, beide umringt von Schilf, das am oberen Ende kleine braune Kolben trug. Auf dem Wasser schwammen Seerosen, die von den Fröschen besetzt wurden, die jetzt das Wasser mit den Menschen teilen mussten. Nach dem Bad warteten noch reife Äpfel an den Bäumen.

Pedro liebte diese Abende. Seine Freunde und er hatten Ferien, und es würde bis Mitternacht dauern, bis das letzte Licht hinter den Fenstern der jungen Leute erloschen war.

„Raus aus dem Bett“, störte eine kräftige Stimme Pedros Halbschlaf.

„Es ist Nacht, wer weckt mich?“

„Es ist Nacht, weil du deine Augen verschlossen hast. Öffne sie und du weißt, wie dein Tag beginnt.“

„Ricarda, ein paar Minuten noch“, kam es unter der Decke hervor.

„In ein paar Minuten sitzt du am Tisch in der Küche. En nombre de el buen Pastor.“

Unter der Decke kam ein: La Señora de la casa – die Dame des Hauses, hervor.

Ricarda sah zum Bett und lächelte.

„Warum weckt sie mich in der Nacht“, flüsterte Pedro und sah aus dem Fenster, unter dem das Bett stand. „Sagte ich: Nachts. Es ist nicht einmal zehn Uhr. Oh Mann, dann muss der Tag beginnen.“


Im Erdgeschoss herrschte reges Treiben. Seine Freunde saßen in der Küche und erfüllten den Raum mit Gesprächen.

„Ich bin erstaunt, dass du Zeit für den Tagesablauf gefunden hast, Hombre de la casa – Herr des Hauses. Du kannst gleich das Obst und das Salz mit in die Küche nehmen“, ohne Zögern drückte Ricarda ihm die große Schale in die Hände.

„Santa Madre, heilige Mutter, wer reißt da die Glocke von der Tür“, fluchte Ricarda und walzte zur Tür. Pedro steckte den Kopf aus der Küchentür.


„Ein Brief für Señor Alejandro.“

„Und deshalb reißt du das Haus ab“, der Junge von der Poststation kannte die Art von Ricarda, die jetzt leiser sprach.

„Dem Alten? Oder den jungen Herren des Hauses?“

„Muchacho Pedro.“

„Hier hast du zwei Peso. Welche meiner Töchter möchte zur Poststation?“, bemerkte sie lautstark an der Tür. Das Mädchen kam.


Adricas Mutter legte den Hefter neben das Notebook, sie reckte sich, dann stützte sie die Hände auf den Tisch; das Telefon unterbrach die Spannung die in Ricarda und Adricas Aufzeichnungsdoppel entstanden war.

„Ich komme sofort“, bestätigte sie mit beunruhigter Stimme dem Anrufer, der das Gespräch führte.

Signaltöne aus dem Keller, das Waschprogramm der Maschine war beendet; das Notebook fuhr das System herunter und schaltete den externen Datenspeicher aus, nur ein kurzer Blick in die Küche und Ricarda verließ das Haus.


Im Krankenhaus


„Es ist wirklich nichts Ernstes, gehen Sie zu ihr“, die Ärztin sah durch die Glasscheibe der Tür, dann wurde sie nachdenklich. „Ich habe eine Bitte, eine ungewöhnliche Bitte. Eigentlich dürfte ich nicht“, sie sah erneut durch das Fenster.

„Gibt es Schwierigkeiten?“, wollte Ricarda wissen.

Die Ärztin schüttelte den Kopf.

„Mit ihr nicht. Kann ich Sie sprechen? Sagen wir in meinem Zimmer.“

„Ja natürlich. Wir kennen uns seit Adricas Geburt, Sie scheinen mir besorgt zu sein.“

„Danke, dass Sie sich bereit erklären. Wir sprechen darüber.“


Im Arztzimmer


„Das ist im Großen und Ganzen alles, was ich sagen kann“, die Ärztin klappe die Krankenkarte zu. Sie stellte sich Rücklings an den Tisch, sah durch das Fenster auf den Flur. Ihre Gedanken führten sie mehr als neun Jahre in die Vergangenheit zurück. „So lange ist das her?“, flüsterte sie und wandte sich zu Ricarda. „So eine Entscheidung muss überlegt sein, das braucht Bedenkzeit, zumal es sich nicht einmal um Sie selbst handelt. Ich kann nur eins … Nein, falsch. Ich weiß nur, der Patient kann mit Glück das Weihnachtsfest erleben – hier in der Klinik. Wenn er besonderes Glück hat, erlebt er noch ein paar Tage im neuen Jahr – das ist aber schon viel“, die Ärztin drehte die Krankenakte auf dem Tisch, sie zögerte einen Augenblick. „Wenn Sie jetzt zu Adrica wollen kann ich sie nicht aufhalten. Sie war lange genug hier, wir haben sie gründlich untersucht, sie können beide nach Hause.“

„Danke für alles. Eine Frage kann ich den Patienten sehen?“, Ricarda nahm einen Blick zur Krankenakte, ihr überkam ein Gefühl das zwischen Kälte und Wärme in einem schnellen Wechsel zu sein schien. Kribbeln, das man als kleine Stiche unter der Haut spüren konnte.


Auf der Station


Das Kribbeln ließ sie vor der großen Scheibe des Krankenzimmers erstarren. Dort stand sie, noch neun Jahre später erkannte sie die Frau an seiner Seite. Ihre Blicke erfasste auch das Mädchen, das auf dem Bettrand saß und Adricas Alter hatte. Was sollte sie jetzt machen? Ihr waren alle Umstände bekannt, die Stimmen, die sich ihrer bemächtigten, überlagerten Bilder aus der Vergangenheit, schoben sich wie ein Traum in die Gegenwart. Ricarda bemerkte die Laborantin nicht, die sich neben die Ärztin stellte.

„Auch aus Phoenix ist nichts Verwendbares dabei“, sie atmete tief durch. „Wenn wir nicht…“

„Ich weiß es und du weißt es“, dann wandte sich die Ärztin an Ricarda. „Das ist meine Schwester, sie wollte in den medizinischen Bereich, schon als Kind hat sie unseren Eltern und mir ihre Experimente mit dem Chemiebaukasten vorgeführt. Noch ist die Wissenschaft nicht so weit, um dieser Krankheit entgegentreten zu können.“

„Wenn wir nicht bald einen Spender finden … du weißt, welchen zeitlichen Spielraum wir haben.“

Ricarda vernahm das Gespräch der Schwestern, wie sollte sie sich entscheiden? Es ist eine Verantwortung, nicht nur ihrer Tochter gegenüber. Sie sah auf das Mädchen. Ist es wirklich das, was sie dachte? Die nächsten Worte legten sich wie packende Hände um Ricardas Hals.

„Daria liebt ihren Onkel über alles. Er verbringt sehr viel Zeit mit ihr“, die Laborantin wischte sich Tränen aus den Augen. „Carlos wünscht sich ein Familienleben. Als er von seiner Krankheit erfuhr, war das wie ein Schlag für ihn.“

Die Ärztin übernahm das Gespräch.

„Das muss jetzt fast neun Jahre her sein. Er gab seinen Job auf, zog mit seiner Schwester und seinem Schwager zu den hilfebedürftigen Großeltern. Als die Großmutter in diesem Jahr verstarb, kehrten sie nach Santa Maria zurück. Dann trat plötzlich die Krankheit auf, wenn immer es eine Möglichkeit gab, war seine Schwester bereit ihm zu helfen. Ich kann die Städte nicht mehr aufzählen in denen sie … Entschuldigen Sie bitte“, nahm sich die Ärztin Ricarda an. „Carlos Familie ist mit unserer sehr eng befreundet. Einmal erzählte er, damals verkaufte er noch im Imbisswagen, er habe den Traum seines Lebens kennengelernt, doch bevor … Davon wollen Sie sicher nichts wissen“, die Ärztin sah auf Ricarda. „Ich könnte sie mit dieser Frau vergleichen, seinen Traum hatte er genau beschrieben, er wollte die junge Frau nicht mit seinen Sorgen belasten. Er ist glücklich bei seiner Schwester, Schwager und Nichte leben zu können.“


Ricarda fühlte sich von Tausenden Nadeln gestochen. Schwester, daran hatte sie nie gedacht, aber sie forderte ihr Schicksal nicht heraus. Viele Gedanken trieben durch ihren Kopf, blieben für eine Sekunde als Bild einer Erinnerung stehen, flogen weiter und endeten am Tor der Gemeindekirche.

Langsam lief sie den Flur entlang, Adricas Stimme drang in ihre Ohren; nicht hier aus dem Raum, nein, das, was sie am Morgen beiläufig erwähnte.

„Ich hatte einen tollen Traum. Das war so nahe, so wirklich. Das war unglaublich.“

Sie atmete tief durch, öffnete die Zimmertür und lächelte ihrer Tochter entgegen.

Adrica reagierte nicht wie üblich, sie sah auf ihr Bein, Schuldgefühle? Warum? Ihre Mutter schloss die Tür, noch immer wurde sie von Gedanken überflutet, die nun bei Carlos und der jungen Frau, die wie sich jetzt herausstellte, seine Schwester war, endeten.

„Ist es schlimm? Wie es passierte, kannst du mir später erzählen. Ich will nur wissen, ob es dir gut geht.“

Adrica drückte auf den Verband.

„Ja es geht schon.“

„Adrica“, flüsterte Ricarda und suchte nach der Möglichkeit, das Gespräch auf ihren Traum zu legen. Etwas in ihrem Inneren hämmerte auf sie ein, das gerade dieses jetzt wichtig war. „Dein Traum. Du wolltest mir heute Morgen deinen Traum erzählen. Du ich bin jetzt ganz wild, darauf eine unglaubliche Geschichte zu hören, ich denke mal, das lenkt auch dich etwas ab“, Ricarda drehte ihre Uhr am Handgelenk.

„Wann können wir gehen?“, lenkte Adrica mit leiser Stimme ab.

„Die Ärztin wollte nur nach einem Patienten sehen, ich möchte noch einmal mit ihr sprechen. Und was ist? Willst du mir etwas über deinen unbeschreiblichen Traum erzählen. Na bitte, du lächelst ja wieder.“

„Viel gibt es nicht zu erzählen, nur eigenartig, das ich heute tatsächlich hier im Krankenhaus bin. Daher wollte ich dich eigentlich nicht beunruhigen“, Adrica schwieg einen Augenblick. „Das Unglaubliche war aber, dass ich einem Fremden begegnete, hier auf dem Flur. Er sah unheimlich aus und bat mich, ihm zu helfen.“

„Unheimlich? Was meinst du mit Unheimlich?“

„Weiß nicht. Na ja, ein weißes Nachthemd und dunkel umrandete Augen. Dann sprach mich eine Ärztin an, weiter weiß ich nichts, ich bin aufgewacht.“

Ricarda wusste, wie nah der Traum ihrer Tochter der Realität war.

„Träume sind nicht immer so etwas wie unerfüllte Wünsche, Träume sind nicht immer schön, es gibt Träume, die wie ein Märchen wahr werden können. Wir träumen oft von Dingen, die wir gern besitzen möchten, wir träumen von Menschen, mit denen wir Freunde oder darüber hinaus sein möchten. Es gibt vieles, was wir uns erfüllen möchten, oder es uns durch andere erfüllt wird.“

Sie sah beiläufig zur Tür, ihre Gedanken erinnerten sie daran, das Adrica ihr Kinderwunsch war, der ihr nur mit Hilfe von Carlos erfüllt worden war. Jetzt lag er hier, niemand konnte sagen, ob er das Weihnachtsfest erleben würde oder ihn die Zeit bis ins neue Jahr begleiten würde. Ein weiterer Dreh begann an Ricardas Gedanken zu spielen; ein Karussell von Liebe, Leid, Verantwortung und vielen anderen Gefühlen, nahmen alle verfügbaren Plätze ein.

„Willst du einen Kakao? Im Besucherraum stehen Automaten.“

„Auch für Schokoringel?“

Das Lächeln ihrer Mutter war für Adrica ein eindeutiges Ja, aber nur für diesen Teil ihrer Frage.

„Übrigens, mit den Hausaufgaben hattest du recht. Okay, einen Kakao und einen Schokoriegel. Ich möchte eh mein Bein bewegen.“

„Was meinst du mit den Hausaufgaben?“

Adrica sah auf ihren Fuß, der den Boden berührte.

„Hast du es vergessen? Denke an Großmutter.“

Ricarda suchte in ihrem Portemonnaie nach Münzen für die Automaten.


Im Besucherraum


Im Besucherraum sammelten sich diverse Düfte, unter anderem die von Kaffee und Kakao. Auf einem Tisch lagen Zeitschriften und eine Tageszeitung, Adrica stellte ihre Getränkebecher dazu. Ihre Augen wanderten über die bunten Titelblätter, sie nahm eine Zeitschrift und blätterte darin. Bei den historischen Fotos ihrer Stadt verweilte sie länger und sah zeitweilig zur Decke.

„Jetzt kann ich mir vorstellen, wie Pedro und Shirah hier lebten“, flüsterte sie leise.“

„Pedro, Shirah?“

„Ja. Du weißt doch, die Hauptfiguren meiner Geschichte. Da fällt mir ein, wann darf ich mal an dein Notebook? Ich habe einiges aufgeschrieben.“

„Am Samstag. Du kannst auch an den PC, der Bildschirm ist größer. Ich habe Bill deine Geschichte zum Lesen gegeben. Du bist doch nicht böse darüber?“

„Nein. Bill Walker? Der Bruder von deinem Chef?“

„Ja. Die Familien kommen am Wochenende zum Kaffee, freust du dich? Auf jeden Fall ist er erstaunt über dein Talent und er ist der Meinung, dass ich dich unterstützen, soll, wie ich es nur kann.“

„Dann gibt es wieder deinen berühmten Apfelkuchen.“

Adrica hatte die nächste Seite aufgeblättert, sie bewegte die Beine, ihre Blicke erfassten den beinahe leeren Besucherraum. Ein sehnsuchtsvoller Ausdruck erfasste Adricas Antlitz das von ihrer Mutter nicht unbemerkt blieb. Diese Blicke sollten nicht sehnsuchtsvoll bleiben, Ricarda erinnerte sich an Bill, an seiner hinsichtlichen Meinung.

„Bist du traurig?“, Adrica legte die Zeitschrift auf ihre Beine. „Ich merke es. Seit wir über meinen Traum sprachen, was ist mit dir?“

„Es gibt etwas, das könnte auf deinen Traum deuten.“

„Das macht dich traurig?“

„Nicht direkt, ich möchte es dir erklären und weiß, nicht wo ich beginnen soll.“

„Du kannst damit auch bis zu Hause warten.“

„Nein, ich möchte es dir hier erklären. Es geht um den Mann in deinem Traum“, Ricarda atmete tief durch. „Die Ärztin sprach mit mir über einen Patienten, der stationär aufgenommen wurde, das schien mir zunächst nicht wichtig. Sie bat mich um Vertraulichkeit, aber aus den Krankenakten geht hervor, dass der Mann und du … wie soll ich es erklären?“

„Du meinst bestimmt, dass der Mann und ich etwas gemeinsam haben?“

„Ja, so kann man es sagen“, höherer Blutdruck, ein am Hals spürbares Herzschlagen und der Wechsel der Körpertemperaturen standen dem gegenüber, was Ricarda ihrer Tochter erklären könnte. Sie war auf sich gestellt; ihr bisheriges Leben als Alleinerziehende weiter leben, oder eine unglaubliche Chance nutzen. War Adricas Traum ein Hinweis? Eine Tür, die geöffnet werden sollte, die vor Jahren zugeschlagen wurde und jetzt einen Spalt groß offen stand?

„Der Mann in meinem Traum bat mich um Hilfe“, Adrica schob die Oberlippe über die Unterlippe, klappe die Zeitschrift zu, legte sie auf den Tisch, nahm ihren Getränkebecher und tat einige Schlucke daraus. „Ich könnte dem Mann helfen? Wie?“

„Ich habe meine eigenen Vorstellungen davon; glaube mir, dass deine Ärztin dir das besser erklären kann, sodass du es auch verstehst.“

Adrica fuhr mit dem rechten Zeigefinger unter Nase entlang und presste erneut die Oberlippe auf die Unterlippe.

„Wenn du einverstanden bist, spreche ich mit der Ärztin, sicher musst du einverstanden sein, für das, wie ich dem Mann helfen kann. Als hätte mich etwas ergriffen, seit wir darüber sprechen habe ich ein merkwürdiges Gefühl, dass ich nicht beschreiben kann.“

„Ich freue mich, eine verständnisvolle Tochter zu haben. Deine Ärztin bekommt jede Unterstützung, die sie benötigt und du auch.“


Im Arztzimmer


„Danke, dass Sie sich noch Zeit nehmen. Mit Adrica ist soweit alles in Ordnung, ich würde jedoch vorschlagen, sie bis zum Wochenende von der Schule zu entschuldigen.“

„Sie haben mir die Antwort einer Frage vorweggenommen. Ich habe mit Adrica gesprochen. Sie werden sich jetzt fragen, was Adricas Traum der letzten Nacht mit allem zu tun hat. Nun ja, ihr Traum war so unglaublich, beinahe ein Hinweis. Und daher sprachen wir darüber, sie möchte, wenn es möglich ist helfen. Es gibt noch etwas“, Ricarda hatte keine Schwierigkeiten mit Augensprache, der Ärztin eine Nachricht zu übermitteln.

„Ich weiß, was Sie meinen“, der ärztliche Blick über die Lesebrille sollte eine Antwort signalisieren. „Sie können dem Gespräch beiwohnen, wie es meist üblich ist, es ist Ihre Entscheidung. Aber in diesem Fall. Bestimmt dauert es nicht länger als zwanzig Minuten. Glauben Sie, Adrica versteht es?“

„Ich habe das große Glück mit ihr. Sie lernt schnell, wenn sie es muss; sie findet schnell heraus, was ständig gebraucht wird, vielleicht gebraucht werden könnte, aber auch für sie unwichtig Erscheinendes. Alles findet in ihren Gedanken den richtigen Platz.“


Im Besucherraum


Ricarda fütterte den Getränkeautomaten mit Münzen, drückte die Auswahltaste, der Becher rasselte in die Halterung, aus dem Automaten drang das Geräusch einer Kaffeemühle. Sie sah zum Tisch, auf die Zeitschrift, in der Adrica geblättert hatte. Im Besucherraum war gähnende Leere. Hinweistafeln an der Flur Wand ließen Besucher und Patienten den richtigen Weg finden, unter anderem zur Cafeteria. Sollte sie, mit dem Getränkebecher in der Hand; sie schüttelte abwertend den Kopf, blicke dann schnell in die Runde, Gott sei Dank, es hatte sie niemand gesehen.

In sich vertieft blätterte sie in der Zeitschrift, die sie sich vom Tisch genommen hatte. Die historischen Stadtfotos ließen sie einen Augenblick verweilen. Was vom damaligen Central City, das um 1885 in Santa Maria benannt worden war, wäre heute noch erkennbar? Selbst die Flagge vor dem Rathaus zeigte weniger Sterne also heute. Woher hatte Adrica die Ideen für ihre Geschichte? Ricarda erinnerte sich an Randnotizen, die Adrica über den Verlauf der Geschichte aufgeschrieben hatte. Ein roter Faden in den Gedanken eines fast neunjährigen Mädchens.

Ricardas Gedanken überflogen zunächst das, was sich im Augenblick im Krankenhaus ereignete, sie war weiter in die Zukunft gegangen und blieb am ersten Weihnachtsfeiertag stehen. Die Zeit flog Jahre zurück, die damaligen und heutigen Ereignisse zeichneten zusammen ein Bild von Wahrheit.

Ricarda erinnerte sich an ein Zitat, irgendeiner hatte es mal im Büro erwähnt: Ich glaube nichts, was ich höre, und die Hälfte von dem, was ich sehe, bevor ich mich nicht selbst überzeugt habe. Hatte sie sich von dem, was sie sah, überzeugt? Nein.

Ein unsichtbares ‚Ich‘ setzte sich neben Ricarda, starrte wie sie auf die Seite der Zeitschrift. In den Stuhl zurückgelehnt überlegte sie, welches abgebildete Angebot für ihre Tochter geeigneter wäre. Ja, Adrica sollte ihren Weihnachtscomputer haben. Bill, gegenüber wäre das ein Zugeständnis auf seinen Vorschlag, die ständige Geschenknachfrage im Büro wäre vom Tisch.

‚Du machst das richtig‘, redete ihr eine Stimme ein. Soweit ist es schon, sie schob nur ein Lächeln über die Wangen, trotzig kam ihre stille Antwort. ‚Natürlich mache ich es richtig‘, ein nicht herausgelassener Seufzer hätte nur zwei Worte: Oh man.

PC oder Notebook? Bill musste behilflich sein.


Der Schlaf hatte sich Ricarda bemächtigt.

Auf dem Flur beschrieb eine Krankenschwester einem suchenden Mädchen den Weg zum Besucherraum.

„Mutti möchte einen Becher Kaffee und ich Kakao“, sie bedankte sich bei der Krankenschwester.

Ricardas linke Hand ließ die umklammerte Zeitschrift über die Oberschenkel rutschen, sie öffnete die Augen. Durch das fallende Geräusch einer Münze sah sie zum Getränkeautomaten und unterdrückte ein aufkommendes Gefühl. Das Mädchen vor dem Automaten war, bei richtiger Betrachtung, ihre Nichte.

„So ein Mist. Warum geht das nicht“, leise fluchend nahm das Mädchen die durchgefallene Münze aus dem Rückgabefach.

Ricarda legte die aufgeschlagene Zeitung auf den Tisch.

„Warte ich helfe dir“, sie griff in die Jackentasche, Kleingeld benötigte sie oft. „Das passiert schon, überhaupt bei abgegriffenen oder ganz neuen Münzen.“

Ricarda stecke den Vierteldollar in den Automaten, das Mädchen betätigte die Auswahltaste und stellte anschließend den Becher auf den Tisch, noch einmal wiederholte sich der Vorgang für den Kakao.

„Danke für Ihre Hilfe.“

„Wenn ich helfen kann, mache ich das.“

„Hier der Vierteldollar, ich kann an ihm nichts Besonderes finden“, mehr als auf die Münze, legte das Mädchen ihr Interesse auf die Werbung in der Zeitschrift. „Die Notebooks sind nicht schlecht. PCs sind ausbaufähig. Ich kann mir schon denken, warum meine Eltern mich fragten. Ich muss dann, sonst wird der Kaffee kalt. Und danke nochmals.“

„Schon gut.“


„Misses Alejandro!“

Ricarda nahm die Münze vom Tisch, lächelte dem Mädchen zu.

„Ich muss dann, war nett dich kennengelernt zu haben. Meine Tochter ist in deinem Alter. Adrica hatte sich heute verletzt, nichts Ernstes.“

„Da bin ich aber zufrieden“, bemerke das Mädchen in einen erleichternden Ton. „Vor Beginn des Schuljahres zog meine Familie wieder nach Santa Maria. Adrica ist Schülerin in der Nebenklasse. Es tut mir leid, ich war unaufmerksam. Jedenfalls bin ich heute mit ihr zusammengestoßen, so dass sie unglücklich gefallen ist. Wenn Sie erlauben, möchte ich kurz zu ihr und mich entschuldigen. Ich bringe den Kaffee zu meiner Mutter. Darf ich?“

„Ja sicher, wenn die Ärztin und deine Eltern es erlauben.“

Das ist mehr als ein Zufall, Schweißperlen rannen Ricarda über die Stirn. Das aufkommende Herzklopfen galt dem, wie sich Adrica entschieden hatte. In diese Spannung hinein rief eine Stimme durch den Flur.

„Daria, ich heiße Daria.“