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Lava

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 LAVA

Von Peter Zingler

Lava

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Es war vor einigen Jahren, als ich dachte, unsere Ehe sei nun so abgeschliffen und stabil, dass uns eine zeitweilige Trennung nichts ausmachen würde. Doch als ich mit meinem Plan rausrückte, erwies sie sich doch als nicht belastbar. Meine Frau legte ihr Veto ein. Dabei war sie im letzten Winter noch Feuer und Flamme gewesen, als wir das Haus auf Sizilien gekauft hatten. So war sie eben: Ihre romantische Veranlagung hatte das Haus sofort in ihr Herz geschlossen, aber dass ich alleine dorthin fuhr, lehnte sie ab.

Das Haus war ein Traum. Ein preiswerter Traum. Nur vierzigtausend Mark kostete das dunkle Lavasteingebilde inmitten eines Kaktusfeldes am Fuße des Ätna. Es war ein großes Haus, gebaut in Karreeform mit einem 4 x 4 Meter messenden Innenhof, in den es hineinregnete, weil das aufgesetzte Glasdach seit dem Krieg kaputt war. Inmitten dieses Innenhofes lag der alte Brunnen, einen Meter hoch aufgemauert, mit Holzwinde und Hanfseil. Er war aber seit 40 Jahren, nach einem kleinen Erdstoß im Inneren des Berges, völlig trocken. Unsere Vorgänger, Bauern, ließen vor dem Außentor einen neuen Brunnen graben, der täglich nur 3 Eimer Wasser hergab. Auf der linken Seite des Innenhofes befand sich auf jeder der beiden Etagen eine Veranda mit zwei’ Treppen aus Holz. Es war die einzige Verbindung zwischen den Stockwerken, die auf jeder Seite ein Zimmer gleicher Größe aufwiesen, durch Türen miteinander verbunden. Der Boden des Innenhofes und der Tordurchfahrt bestand aus festgestampfter Erde, ebenso das Erdgeschoss, während der erste Stock einen Dielenboden besaß. Das Zimmer links vom Eingang diente früher als Küche und hatte einen steinernen Herd, über dem ein Rauchfang zum einzigen Schornstein des Hauses führte, der eine Etage höher den offenen Kamin bildete. Weil die Küche als gewöhnlicher Aufenthaltsort im Winter immer geheizt wurde, benutzte man das darüberliegende Zimmer als Schlafkammer und profitierte von der Wärme des Raumes darunter. Denn obwohl Sizilien auch im Winter ein mildes Klima aufweist, gibt es bitterkalte Nächte.

Durch den Kauf des Hauses wurden wir gleichzeitig Besitzer von 1200 qm Kaktusfeld. Die Pflanzen gehörten dem Bauer und wurden von ihm gepflegt und beerntet. Uns stand als Miete ein Eimer Kaktusmarmelade zu, den wir uns auch prompt im ersten Jahr per Post kommen ließen, wobei die Versandgebühr teurer war als ein Eimer vergleichbarer Marmelade im Feinkostladen. Aber wer kann in Deutschland schon mit eigener Kaktusmarmelade aufwarten?

Das Haus besaß weder Strom noch Telefonanschluss. Außerdem stand kein einziges Möbelstück darin. Die Dachziegel fehlten teilweise seit Jahrzehnten, und zusätzlich zu den Fliegengittern gedachten wir Fenster mit Glasscheiben einsetzen zu lassen.

Unsere Kneipe in Deutschland warf allerhand ab, und wir hatten viele gute Stammgäste. So entstand der Gedanke, alle Freunde nach Sizilien einzuladen. Bei freier Fahrt und Aufenthalt — Kochen wollten wir gemeinsam —, sollte jeder mithelfen, das alte Gemäuer in Schuss zu bringen. Und da fingen die Probleme an.

»Ich glaube, du spinnst«, meinte meine Frau entgegen allen früheren Absichtserklärungen. »Ich arbeite in der Kneipe, und du liegst in unserem tollen Haus. Ich schufte für die Kohlen, die ich runterschicken soll, und du bumst dich durch Sizilien!«

Ich machte ihr den umgekehrten Vorschlag, doch sie erwiderte nur: »Das könnte dir so passen. Ich wühle da unten mit all den idiotischen Stammgästen, und du machst hier Hully Gully. « Von ihren eigenen Ambitionen und Möglichkeiten sprach sie verständlicherweise nicht. Trotzdem kam’s zu einem Kompromiss.

Vier Wochen sollte ich es versuchen, aber unter einer Bedingung: Nicht eine der vielen weiblichen Stammgäste, die sich für die Tour angesagt hatten, sollte mitfahren. Die Sizilianerinnen, glaubte meine Frau, seien aufgrund ihrer Familientraditionen vor mir sicher.

Die Ahnungslose! Wären Frauen mitgefahren, wäre mehr gearbeitet worden. Denn das entwickelte sich zum wunden Punkt. Als wir in zwei Autos mit sieben Männern in Sizilien ankamen, interessierten sich alle nur für drei Dinge: 1. Frauen, 2. Frauen, 3. Frauen!

Ablenkung boten zunächst das Meer, dann 20 Liter Wein. Aber auch das konnte deutsche Männlichkeit nicht bremsen. Alleine stand ich am frühen Morgen mit einem Bauingenieur aus dem nahen Giarre am Brunnen vor dem Tore und erwog das Tieferbohren samt Dieselmotor und Pumpe, weil es billiger werden würde als eine Wasserleitung vom 2000 Meter entfernten nächsten Ort. Meine Trabanten waren alle nicht im Haus und trafen erst im Laufe des Vormittags aus dem 30 km entfernten Taormina ein, mehr oder weniger zerschlissen und, bis auf einen, ohne Erfolg gehabt zu haben.

Mit Mühe brachte ich sie nachmittags dazu, mir beim Dachdecken mit einer herangekarrten Ladung Ziegel zur Hand zu gehen. Wir schafften es tatsächlich, das Dach in Ordnung zu bringen, doch dann kam’s zur offenen Meuterei. An Arbeitsurlaub hatte ernsthaft keiner gedacht, und ich musste zugeben: Mit den von meiner Frau gestrichenen Mädchen wär’s lustiger gewesen, und ich hätte alle bei der Stange halten können.

Da auch das Schlafen unter Decken auf warmem, aber bloßem, hartem Fußboden nicht jedermanns Sache ist, beschlossen sie, in ein kleines Hotel nach

Naxos zu ziehen, um von dort aus Jagd auf Touristinnen zu machen. Morgen wollten sie umziehen, doch für diesen Tag bestürmten sie mich, ihnen den versprochenen Puff in Catania zu zeigen. Enttäuscht von der Bande, aber auch froh, sie loszuwerden, fuhr ich mit ihnen nach Catania und führte sie in die Altstadt, nahe der Universität, wo sich ein mir bekanntes Bordell befand.

Ein Freudenhaus sieht in südlichen Ländern anders aus als in Deutschland. Hier in Sizilien ist es noch nicht aus der Mode gekommen, für einen mit Deutschland verglichen lachhaften Betrag Erhebliches zu leisten.

Das alte Haus hatte den Krieg überstanden, war aber seitdem auch von allen Handwerkern verschont geblieben. Im weiträumigen Treppenhaus führte die kunstvoll gedrechselte Wendeltreppe in großzügigem Schwung nach oben und bildete in der Mitte ein großes Karree, das der im 4. Stock über die Balustrade spähenden Puffmutter Gelegenheit gab festzustellen, ob da Kundschaft oder Polizei im Anmarsch war.

An diesem Nachmittag waren wir die einzigen Gäste. Kein Einheimischer käme auf die blöde Idee, bei einer solchen Hitze am hellen Tag auch noch schweißtreibende Arbeit zu verrichten. Meine Freunde staunten, als die >Chefin< beide Flügel der kunstvoll verglasten Holztür öffnete und uns einen Blick auf die Schätze der Insel gestattete. Die Wohnung und deren Aufmachung erinnerten an Bilder von Bordellen auf braunen Pariser Postkarten der Jahrhundertwende. Auf verfilzten afghanischen Teppichen standen plüschige Sofas und aufgepolsterte Ohrensessel, in denen verstreut die Schönheiten Siziliens saßen oder lagen, als warteten sie auf den Auftritt in der nächsten Cancan-Show. Strapse, Miederkombis und einfache, billige, aber durchaus reizvolle Nylonunterhemdchen bekleideten die zierlichen Gestalten. Es waren nur fünf, doch das ergab kein Problem. Schnatternd und lachend, den einen oder anderen zärtlich am Arm fassend, trafen die Mädchen ihrerseits erste Wahl, wozu ich zu meiner Enttäuschung nicht gehörte.

Es dauerte lange, bis der erste meiner Freunde wieder auftauchte, jedoch nur in der Absicht, Sofort zu wechseln.

»Zwanzig Mark für so ‘ne schöne halbe Stunde«, lachte er übers ganze Gesicht. »Das würd’ mich im >Sudfass< hundertfünfzig kosten. Also kann ich noch sechsmal.« Da auch alle anderen so dachten, beschloss ich, mich zu verabschieden.

»Ihr wisst, wo ich wohne, irgendwie kommt ihr auch mit nur einem Auto dorthin«, meinte ich, verschwand, fuhr zurück ins Haus und überlegte, wie es weitergehen sollte. Schließlich entschloss ich mich zu einer strapaziösen Tour. Ich packte das Nötigste in einen kleinen Rucksack und machte mich, immerhin war es schon später Nachmittag, auf, den rauchenden, von Schnee bedeckten Gipfel des Ätna zu erklimmen. Eine Übernachtungsmöglichkeit würde ich schon finden.

Der Gipfel des Ätna befand sich in Luftlinie etwa 10 km vom Haus entfernt. Benutzte man die Straßen, mussten fast 60 km zurückgelegt werden, um die untere Seilbahnstation zu erreichen. Ich rechnete mit höchstens 20 km Fußweg, vergaß dabei aber die abgesperrten Weinhänge, die fast unüberwindbaren Lavaschluchten und dass es ständig bergauf ging. So zog ich es schließlich vor, die Wege zu benutzen, solange sie nur möglichst direkt auf den Gipfel zuführten.

Drei Stunden war ich bereits unterwegs, und der schneebedeckte Gipfel, umhüllt von weißen Dampfwolken, schien so fern wie zu Anfang. Bereits im letzten Dorf hatte ich gezögert, es zu verlassen. Ich folgte dem Wasser eines der vielen Bäche, die dem Berg entspringen, und wanderte einen kleinen Olivenhain entlang, als ich ein flaches, weißgekalktes Haus sah. Erst beim Näherkommen erkannte ich, dass es keineswegs an den Felsen gebaut war, wie es von weitem ausgesehen hatte, sondern dass der Felsen das größte Stück des ehemals weitläufigen Gebäudes in seinen steinernen Krallen hielt. Irgendwann war der Lavastrom über das Haus geflossen und genau in dessen Mitte stehen geblieben, um dann zu erkalten.

Ein Hund bellte, ich sah etwas kleines Graues auf mich zulaufen und vor mir wenden. Ein Knurren, ein nochmaliges Bellen, und der kleine Bursche rannte wieder aufs Haus zu, aus dem in diesem Moment das Mädchen trat. Ich weiß nicht genau zu sagen, was bei ihrem Anblick in mir vorging. Sie erinnerte mich … An wen …? An was? An eine Zigeunerin? Ja, das auch. Aber doch viel mehr an eine Italienerin. Nein, keine bestimmte, aber vielleicht an die Italienerin der früheren Filme aus diesem Land, Filme wie >Rom, offene Stadt<, >Das Wunder von Mailand<, die vielen alten De-Sica-Filma, oder an die Mädchen aus >La Strada<. Ich meine die arme, zerlumpte Italienerin, die nach Meer, verbrannter Erde und Oliven riecht und die selbst in Fetzen fraulicher wirkt als jede Dame von Welt in Nerz und Chinchilla.

Mein Mädchen hatte schwarze, widerspenstige, strubbelige Haare, so dick wie Schweinsborsten. Ihr braun verbranntes, ovales Gesicht wies eine zu lange Nase auf, ohne die das Gesicht aber nicht das Gesicht gewesen wäre, schmollende Lippen und große, schwarze Augen, die auf den ersten Blick von den Wangen bis zum Haaransatz zu reichen schienen. Unter ihrem ärmellosen Pulli zeigten sich die Konturen eines altmodischen verstärkten Büstenhalters. Ihr schwarzer, enger Rock endete ein kleines Stück oberhalb der flachen Knie und entblößte samtweiche, goldfarbene Haut und schmutzige Füße. Sie lief barfuß, hob, als ich näher kam, den Arm, um ihre Augen zu beschatten, da die Sonne tief hinter mir stand, und enthüllte dabei unter ihrer Achsel ein Büschel langer, schwarzer Haare.

»Buona sera!« grüßte ich.

»Buona sera, Signore.« Sie stand immer noch so da. Die Linke schattete die Augen ab, und nichts an ihr bewegte sich, bis auf die zwei, drei Fliegen, die

über ihre Hand, ihre Schulter krochen. Der Hund setzte sich neben sie und leckte an ihren Füßen. Mir schoss das Blut in den Kopf und dann spürte ich ein Kribbeln, das den Rücken abwärts bis in meine Lenden zog.

Die Situation wurde durch eine weitere Frau entschärft, die aus dem Haus trat. Sie war unverkennbar die Mutter des Mädchens, und die Vorstellung, dass sie einmal so schön wie ihre Tochter gewesen sein mochte, ernüchterte mich. Zwar trug auch sie einen schwarzen ärmellosen Pulli, einen schwarzen Rock und hatte schwarze strähnige Haare, doch ihr Gesicht war ausgemergelt, ihre Augen lagen in Höhlen, und unter der braunen Haut ihrer Beine und Arme zeichneten sich dicke Stränge von Adern und Sehnen ab. Ihr Rücken war krumm, als habe sie ein Leben lang in den Weingärten nur die niedrig hängenden Reben pflücken müssen, und ihre Brüste, durch keinen Halter eingezwängt, hingen wie von Vampiren ausgesaugte Schläuche bis in die Tiefe ihres Bauchnabels. Ihre Stimme jedoch klang dunkel und weich, sie passte nicht zu dem abgearbeiteten Gesamtbild, so als habe sie sie ihr Leben lang geschont und nie etwas gesagt.

»Chi?« fragte sie ihre Tochter, die nur die Schultern zuckte, und ich beeilte mich zu antworten, Italienisch konnte ich ja.

»Ich heiße Paul, bin Deutscher und will zu Fuß auf den Ätna. Ich suche Unterkunft und Verpflegung für heute nacht. Gibt es bei Ihnen eine Möglichkeit zu übernachten?«

»No, no, no«, sagte die Alte, wendete sich ab und rief, bevor sie das Haus betrat, über ihre Schulter: »Gehen Sie zurück. Sie müssen durch das Dorf gekommen sein. Dort gibt’s einen Gasthof. Wir haben weder Platz, noch können wir es uns leisten, andere zum Essen einzuladen. «

Ich blieb einen Moment stumm. Zurück wollte ich nicht, weitergehen wollte ich auch nicht. Ich sprach das Mädchen an.

»Ich glaube, deine Mutter hat mich falsch verstanden. Hier«, ich zog eine Zehntausendlirenote und noch eine zweite hervor, »ich will für alles bezahlen. Ja, ich will euch zum Essen einladen. Und ein Platz zum Schlafen wird sich doch finden lassen. Ich bin es gewohnt, auf der Erde zu liegen.«