Blatter, Silvio Zunehmendes Heimweh

PIPER

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ISBN 978-3-492-95309-2

Januar 2017

© Piper Edition, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Piper Verlag GmbH, München 2017

erstmals erschienen 1980 beim Suhrkamp Verlag

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

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FÜR

MONA UND LISA

Erster Tag

1

Es war Winter und kalt, es war an einem Sonntagmorgen mit allen Hoffnungen, die Sonne schien, auf dem Weg, der dem Fluss folgte, ging eine junge Frau, und über ihrem Bauch spannte der Mantel, denn sie war schwanger.

Margrit Fischer zählte fünfundzwanzig Jahre, sie erwartete ihr erstes Kind.

Über Nacht hatte ein Schneefall die Straßen und Häuser der Stadt, den Wald und die umliegenden Felder in seinen weißen Besitz genommen. Nur die Reuss zog unverändert dahin, spiegelte Licht und führte nur wenig Wasser wie immer im Januar. Margrit ging behutsam; in den Taschen des Mantels versteckt, legte sie die Hände auf den Bauch und spürte die Bewegungen ihres Kindes; in zwei Wochen sollte es zur Welt kommen.

Die Reuss bildete einen weiten Bogen und zog eine Schlaufe, in deren schmalster Stelle die Stadt Bremgarten gebaut war. Geteilt in zwei Terrassen, gesäumt von den flach ansteigenden Höhenzügen des Wagenrains und den schrofferen Hängen des Hasenbergs, lag sie größtenteils in der breiten und kiesigen Talsohle der Reuss. Die enge Oberstadt besetzte einen Sporn, die weitläufigere Unterstadt erstreckte sich mit ihrem Vorgelände in die Au hinaus.

Die Helligkeit schmerzte in den Augen, doch Margrit ging fühllos gegen das Licht. Sie hatte sich ein Kind gewünscht und war doch ein wenig irritiert gewesen, als der Arzt ihre Vermutung bestätigt und ihr gesagt hatte, dass sie schwanger sei: da hatte in ihrem Bauch etwas zu wachsen begonnen und war von Monat zu Monat leibhafter geworden, und dennoch war es anfänglich ein Vorgang gewesen, dem sie nicht mit dem Verstand allein hatte beikommen können, und erst ein Gefühl, das sie allmählich für dieses Wachsen hatte aufbringen können, hatte daraus ein Kind gemacht, ihr Kind.

Margrit blieb an einer Stelle stehen, wo das Ufergelände freien Blick auf die Reuss gab, Kies und Sandbänke lagerten im Flussbett, das gegenüberliegende Ufer wurde von Bäumen abgeschlossen, dahinter stand Wald.

In den ersten drei Monaten der Schwangerschaft war es ihr manchmal übel geworden, sie hatte erbrechen müssen, aber sie war auch froh, während dieser Zeit im Gesicht keine Pickel bekommen zu haben, auch die Beine hatte sie nie einbinden müssen; nur ihr rundgeschnittenes, braunes Haar war stark nachgedunkelt, nun glänzte es im Sonnenlicht.

Eigentlich hatte Margrit die Messe besuchen wollen, und während die Kirchenglocken den hellen Tag mit ihrem Geläute metallisch durchwirkten, war sie an der Kirche vorbeigegangen und hatte, ohne nach Gründen zu fragen, den Weg an die Reuss genommen; es war eine plötzliche Laune gewesen, der sie nachgegeben hatte.

Margrit war in Bremgarten aufgewachsen; schon als Kind war sie, an schulfreien Nachmittagen, zum Fluss gelaufen, damals mit Zeichenblock und Malkasten, und hatte verschwiegene Plätze am Ufer aufgesucht. Sie hatte einen granitenen Findling als ihren liebsten Platz gewählt, der sich wie der Rücken eines Elefanten aus dem Flussbett erhob und den sie durch das knietiefe Wasser watend erreichen konnte. Im Sommer saß sie auf dem warmen Stein; mit den Füßen im Wasser planschend, malte sie ganze Nachmittage. Sie hatte die Stunden vergessen. Das Alter des Steins, den der Gletscher vor Jahrtausenden gebracht und bei seinem Rückzug liegen gelassen hatte, hob die Zeit gänzlich auf. Sie malte Aquarelle in den klaren Farben von Himmel, Wasser und Stein. Flussbilder, die Struktur der Kiesel, und den Vogelzügen gab sie das Treibgut ihrer Träume mit. Wenn es eindunkelte und der Stein seine Wärme verlor, die Sonne nur noch die Wipfel der Bäume am anderen Ufer streifte, ging sie schweigend nach Hause, verwahrte Blätter in der Mappe, die niemand zu Gesicht bekam, denn in ihren Zeichnungen hätte man sie selbst erkannt, und das wollte sie nicht.

Margrit wandte sich wieder dem Weg zu, der schon nach ein paar Schritten von Bäumen und Sträuchern gesäumt wurde. Sie war eher schmal gebaut, mittelgroß, sie benötigte Kraft, den schweren Bauch zu tragen, und die Spur, die sie hinter sich zurückließ, war etwas zu breit. Doch Margrit war auch zäh, ging Schritt für Schritt durch unberührten Schnee und atmete die kalte Luft ein. Sie kam an einem vereinzelt stehenden Haus vorbei, dessen Scheiben das Sonnenlicht sammelten und gleißten. Ein paar Hunde, die in einem groß angelegten Zwinger gehalten wurden, liefen ans Gitter ihres Geheges und verbellten sie, doch sie hatte keine Angst vor den Tieren. Nach dem Zeltplatz erreichte sie das Holzlager der Genietruppen, auf den Stämmen lag Schnee. Von Weitem sah sie, dass ihr ein Läufer entgegenkam, sein roter Trainingsanzug leuchtete im Weiß. Der Läufer trabte mit tierischer Ruhe seinen Weg. Als er an Margrit vorbeigelaufen war, versuchte sie, seiner verlassenen Spur zu folgen, doch seine Schritte waren länger als die ihren, und es wäre ein anstrengendes Spiel gewesen, in seinen Stapfen zu gehen.

Die Bretterstapel und die aufeinandergeschichteten Stämme des Holzlagers grenzten einen weiten Platz von der Reuss ab, das Ufer war flach und setzte seinen sanften Abfall auch ins Wasser hinaus fort, sodass ein Teil des Flussbettes unter dem Wasserspiegel sichtbar blieb.

Margrit verweilte und schaute aufs Wasser hinaus. Im Juli hatte sie hier an einem sommerheißen Samstagnachmittag Anita, mit der zusammen sie drei halbe Tage jede Woche in der Mohrenkopffabrik arbeitete, anvertraut, dass sie schwanger sei. Sie war auf einem Badetuch gelegen, über Bauch und Badehose hinweg hatte sie Anita betrachtet, die in einem orangefarbenen Bikini vor ihr stand und in jeder Hand eine Orange hielt.

Dann kommt das Kind im Winter zur Welt, hatte Anita sofort nachgerechnet. Es ist auch angenehmer, nicht gerade während der ärgsten Hitze hochschwanger zu sein.

Am Tag vorher hatte Margrit dieselbe Mitteilung auch ihrer Tante Anna Villiger gemacht, mit der sie seit dem Tod ihrer Mutter sehr vertraut war. Anna Villiger hatte sich über die Mitteilung gefreut und Margrit umarmt. Und an dieser Uferstelle war sie auch mit Herbert gestanden, in jenem Sommer, als sie einander kennengelernt hatten, er hatte zu den Sternen hochgeschaut und gesagt: Wenn du an die Distanzen zwischen den einzelnen Sternen denkst, verlieren alle Maßstäbe ihre Bedeutung und Lichtjahre werden zu Katzensprüngen, dann ist der Weg von Zürich nach Bern nichts mehr, gar nichts.

Und trotzdem brauchst du zwei Tage und Nächte, um ihn zu gehen, hatte sie lachend geantwortet, oder ein schnelles Auto, das die Strecke in einer guten Stunde schafft.

Dann waren sie weitergegangen, sie hatte sich bei ihm untergehakt und gesagt: Sterne, das sind auch Wünsche und Hoffnungen, aber wenn sie verraten werden, fallen sie vom Himmel, darum hat es hier so viele Steine. Damals war sie achtzehn Jahre alt.

Von dieser Uferstelle waren es nur noch wenige Schritte bis zur Militärbrücke, zu der Margrit über schmale Stufen hochstieg. Auf dem Rückweg zur Unterstadt begegneten ihr langsam fahrende Autos. Einzelne, sonntäglich gekleidete Kirchgänger, das Messbuch in der Hand, Nachdenklichkeit im Gesicht, dehnten den Heimweg zu einem Spaziergang aus. Kinder ereiferten sich bei einer Schneeballschlacht und versuchten, den pulvrigen Schnee zu Bällen zu formen, doch im Wurf fielen die Geschosse meist auseinander. Ein Mann zog einen Schlitten hinter sich her, auf dem zwei in dicke Kleider vermummte Mädchen mit unbewegten Gesichtern saßen und auch nicht lachten, als Margrit ihnen zuwinkte. In einem Garten, von dessen Zaun Margrit die weichen Schneekappen streifte, wühlte ein Hund im Schnee, scharrte ihn mit Sätzen und Sprüngen auf und rannte kläffend hinter einem blauen Gummiball her, den ihm eine Frau immer wieder abnahm, um ihn erneut in den Schnee zu werfen. Ein alter Mann, dem Margrit ausweichen musste, schlurfte, den Weg mit dem Stock ertastend, dem Friedhof zu und fror in sich hinein.

Nach ein paar Minuten langte Margrit bei der Kirchentreppe an, die Unterstadt und Oberstadt über breite Steinstufen miteinander verband, an deren Fuß ein altes, von der Kirchgemeinde renoviertes Fachwerkhaus stand, in dem Anita wohnte. Auf halber Höhe der Treppe, die immer nach einer Stufenfolge eine Plattform hatte, blieb Margrit ein Weilchen stehen, bevor sie weiterstieg und am oberen Ende der Treppe zur »Alten Apotheke« kam, wo sie links abbog, um auf dem Trottoir zur Sternengasse hinaufzugehen. Dabei beobachtete sie eine fette Taube, die vor einem Auto flüchtete und sich erst im letzten Augenblick darauf zu besinnen schien, dass sie ein Vogel war und fliegen konnte.

Die Häuser der Sternengasse bildeten eine Grenze, die Frontseiten richteten sich gegen die Oberstadt, die rückwärtigen Fenster aber schauten über Terrassengärten und Mauern auf die Unterstadt hinunter, in deren Zentrum die katholische Kirche stand. Das Haus, das Margrit betrat, war etwas schäbig, der Verputz bröckelte ab, die Tür war um die Klinke herum stark abgegriffen.

In diesem Haus war sie geboren worden, aus diesem Haus hatten ihre Eltern ausziehen müssen, nachdem sich ihr Vater mit dem Eigentümer überworfen hatte. Noch für die Zeit eines Jahres würde Margrit in diesem Haus wohnen können, dann beabsichtigte der Besitzer eine Renovierung, die mit der Aushöhlung des Hauses gleichbedeutend sein würde, und bei deren Durchführung nur die Fassade stehen bleiben konnte.

Seit Margrit verheiratet war, wohnte sie wieder in ihrem Geburtshaus, doch ihrem Mann käme ein Umzug nicht ungelegen, da ihn nichts an die alten Zimmer band und er den Geruch von im Ofenrohr bratenden Äpfeln, der die Räume dieses Hauses früher im Winter durchzogen hatte, nicht kannte.

Von hier aus kannst du jedem Auto aufs Dach spucken, hatte er spottend gesagt. Doch Margrit liebte die Gärten hinter dem Haus, den Platz der Stachelbeersträucher und die sonnenwarmen Mauern, an denen die Spalierbirnen hochwuchsen und zu süßer Reife gelangten, die Spielorte ihrer Kindheit.

Als Margrit im Hausflur stand, hörte sie Geräusche aus dem Wohnzimmer, aus denen sie schließen konnte, dass Herbert vor dem Fernseher saß und der Übertragung eines Skirennens folgte. Sie erinnerte sich daran, dass er dieses Rennen schon beim Frühstück erwähnt hatte, es war der zweite Lauf eines Riesenslaloms für Herren.

Anlässlich eines Fasnachtsballs, den der Fußballclub jedes Jahr veranstaltete, hatte sie Herbert kennengelernt und den ganzen Abend und bis spät in die Nacht hinein ausschließlich mit ihm getanzt, wobei sie gleich eine starke Zärtlichkeit für ihn empfunden hatte. Sie war mit einer Freundin als Zigeunerin verkleidet zu dem Ball gegangen. Als er sie am frühen Morgen nach Hause begleitet hatte, hatte sie ihm vor der Haustür ihr rotes Halstuch geschenkt. Er war ihr mit den Händen über die Haare gefahren und hatte nicht versucht, sie zu küssen, obwohl sie sich das gewünscht hätte und gleichwohl erleichtert war, dass er es nicht tat.

In der Folge hatten sie einander regelmäßig getroffen. Ihr Vater, dem sie seit zwei Jahren den Haushalt führte, hatte zu ihrer Bekanntschaft nichts gesagt, er legte ihr weiterhin regelmäßig seinen Zahltag auf den Tisch, wie er das früher auch bei der Mutter gehalten hatte, und sie verwaltete ihn gut.

Herbert war Bankangestellter und drei Jahre älter als Margrit. Nach einigen Wochen hatte ihn Margrit auch Anna Villiger vorgestellt, an diesen fröhlichen Abend erinnerte sie sich gern. Anna hatte ihnen selbst gebackenen Apfelkuchen vorgesetzt, den sie zu einem heißen Milchkaffee aßen. Später hatten sie eine Flasche guten Rotwein getrunken, Anna kannte sich da aus. Sie verstanden einander sofort, sonst hätte sie Herbert ihre Fotoalben nicht gezeigt, ihre Fotografien, die sie vielleicht eine Stunde betrachteten, während Anna erzählte. Ihr ganzes Alleinsein war da Erzählen geworden, als ob in ihr die Erinnerungswut ausgebrochen wäre, wie Herbert das später nannte. Drei Jahre blieb Herbert Margrits Freund, dann hatten sie geheiratet.

Du machst eine gute Partie, hatte Anna gesagt, der Mann gefällt mir.

Und jetzt? Manchmal begriff Margrit den Ehrgeiz ihres Mannes nicht, der noch vor seinem dreißigsten Geburtstag Prokurist sein wollte. Ihr war dies als Ziel gar nicht so wichtig.

Sie malte ihre Bilder, las, hörte Vorträge und war mit dem Leben nicht unzufrieden. Jedenfalls, dachte sie, hängt mehr Glück bestimmt nicht von ehrgeizigen Plänen ab. Am Beispiel Anna Villigers, deren Leben ein amputiertes war, seit ihre Kinder erwachsen waren und sie nicht mehr benötigten, ein einsames dazu, seit ihr Mann verstorben war, hatte Margrit erkannt, dass es darauf ankam, sich einen eigenen, einen inneren Bezirk zu schaffen.

Vor der Wohnungstür zog sie Schuhe und Mantel aus, sie trat leise in die Stube und legte Herbert die Hände auf die Augen. Nachdem er ihre Hände in seine genommen hatte, die ganz warm waren, beugte sie sich zu ihm hinunter, küsste ihn und teilte ihm mit, dass sie noch auf ihr Zimmer gehe, denn für gewöhnlich ließ er sich vor dem Fernseher nicht stören, schon gar nicht, wenn eine Sportveranstaltung ausgestrahlt wurde.

Sie zog ihre Hausschuhe an und stieg die Treppen in den Dachboden hinauf, wo sie eine Kammer ausgebaut und als Arbeitszimmer eingerichtet hatte, in der sie sich häufig aufhielt, um allein zu sein und ungestört arbeiten oder lesen zu können. Sie hatte sich einen Rahmen aufgebaut, um Teppiche zu knüpfen. In ihrem Zimmer malte sie Aquarelle, legte Farbschicht über Farbschicht. Hellfarbige Bilder entstanden: Aussichten aus dem Fenster, mit einem fernblauen Streifen Horizont als Zeichen einer Sehnsucht; immer gehörte zu jedem Bild ein Stück ihrer selbst.

Sie betrat das Zimmer und schloss die Tür. Sie ging zum Fenster und betrachtete die mit Wohnblöcken überbaute Au, wobei sie dem Weg, den sie gegangen war, nochmals folgte. Es war ein Blick auch auf die verschneiten Dächer der Unterstadt, über denen die vergoldeten Zeiger der Kirchenuhr auf ihrem im Kern blauen und am Rand schwarzen Zifferblatt ruhten.

An diesem frostklaren Morgen reichte die Aussicht weit über den Fluss hinaus bis zu den im blauen Dunst daliegenden, fernen Hügelzügen des Schwarzwaldes. Obwohl sie wusste, dass dies nur eine Träumerei war, wünschte sich Margrit manchmal, die Welt möge hinter diesen Wäldern ein Ende finden. Eine überschaubare, fassbare, sinnliche Welt, das wäre ein Wunsch. Doch sie hatte nur drei Wünsche frei, und zwei schon verspielt, und der dritte galt ihrem Kind. Dies dachte sie, während sie sich an den Tisch setzte.

Sie spürte die Bewegungen ihres Kindes, als sie eine Zeitlang in Gedanken verloren am Tisch saß und ein Buch in den Händen hielt, ohne ans Lesen zu denken. Ihr Blick aus dem Fenster suchte keinen Halt und verlief absichtslos ins Weite. Aus dem Radio, das sie eingeschaltet hatte, spielte eine Mandoline, zu der ein Mann mit rauer Stimme mehr sprach als sang, ein bekanntes Hitparadenlied, das sie verlockte mitzusummen.

In letzter Zeit hatte Margrit viel gelesen, dabei war in ihr etwas aufgebrochen. Auch hatte sie mit dem für das Kind aufgebrachten Vertrauen ein Vertrauen zu sich selbst gewonnen, das wachsende Gefühl für das Kind war ein ebenso starkes Gefühl für sie selbst geworden. Es galt, dem Kind eine Welt zu schaffen, aber in dieser Welt musste sie ihre eigene behaupten. Zu Herbert hatte sie am Anfang der Schwangerschaft, als er sie übertrieben nachsichtig behandelt hatte, etwas spitz gesagt: Ein Kind bekommen ist keine Krankheit. Sie hatte ihn damit verletzt, das wusste sie genau. Ich brauche keinen Beschützer, hatte sie weiter gesagt, ich brauche einen Mann, der mir Mut macht, ich selber zu sein.

Sie hatte über ihre Empfindungen mit Herbert gesprochen und ihm ihre Vorstellungen klargemacht. Sie war auch mehrmals nach Kallern gefahren, um mit Hans Villiger, mit dem sie einen Teil ihrer Kindheit verlebt hatte und der auch der Pate ihres Kindes werden sollte, über ihre Ansichten und Probleme zu reden.

Manchmal hatte sie einen Hang zur Melancholie.

Margrit legte das Buch ungeöffnet beiseite und wärmte die Hände zwischen den Schenkeln.

Manchmal wurde ihr klar, dass ihr Denken bloß ein Wünschen war.

2

Die breite, fruchtbare und torfreiche Ebene der Bünz erstreckte sich zwischen Wagenrain und Lindenberg. Der Wagenrain war ein gegen Süden auslaufender, bewaldeter Hügelzug, der behäbig mitten im Freiamt hockte; an seinem Westhang lag Wohlen, über seinen Rücken führte die Straße nach Bremgarten. Am Lindenberg, wo auch das Quellgebiet der Bünz auszumachen war, befand sich die weitläufige Gelegenheit der Gemeinde Kallern, die sich aus den Höfen Unterhöll, Oberhöll, Kallern, Oberniesenberg und Unterniesenberg zusammensetzte.

Hier wohnte Hans Villiger.

Ein Bauer hatte etwas abseits der Straße auf freiem Feld, nicht ganz auf der Kuppe des Hanges, eingebettet in einer Senkung, einen neuen, aus Wohnhaus, Stall und Scheune bestehenden Hof gebaut. Als Wohnhaus diente ein geduckter, einstöckiger Steinbau mit ziegelbedecktem Dach, breitverglasten Fenstern und einem holzgezimmerten, sich längs der ganzen Hausfront erstreckenden Balkon.

Im Erdgeschoss lagen auf der Rückseite die Kellerräume, auf die Straße hinaus die auch als Werkstatt benutzte Garage und ein geräumiges Zimmer, das über einen vom Balkon teilweise überdachten Vorplatz durch eine Glastür, die beidseitig von einem Fenster flankiert wurde, zu betreten war.

Die Aussicht dieses Zimmers reichte über Wiesland, die entferntere, kaum befahrene Straße und verlor sich am Waldrand.

Der Eingang zur Wohnung des Bauern befand sich auf der Rückseite des Hauses und führte, weil die Baute in den Hang eingepasst war, auf der Höhe des ersten Stockwerkes ebenerdig in den Flur. Neben der Tür, geschützt im Windfang des Kamins, mümmelten die den Kindern gehörenden Kaninchen in ihren Verschlägen, am flacher auslaufenden Rand der Mulde hatte die Bäuerin den Gemüsegarten angelegt.

Vom Wohnhaus her war der Viehstall über einen weiten und ebenfalls abschüssigen Schotterplatz zu erreichen, eine beträchtliche Stallung, backsteingemauert, mit eternitgedecktem Giebeldach und lukenartig eingeschachteten Fenstern. Im Innern des Stalles, der das Wohnhaus ein wenig überragte, bot eine Futterstraße bequem Platz zum Abladen, sodass der Bauer mit dem Graswagen hineinfahren konnte. An diese Futterstraße stießen die Krippen an. Die Kühe standen sich in zwei Reihen gegenüber. Der Stall, mit einem Anbau für Rinder und Mastkälber, hielt fünfunddreißig Kühen Platz, war beheizbar und verfügte über eine Melkanlage.

Seit zwei Jahren wohnte Hans Villiger in Kallern, er hatte das Zimmer im Erdgeschoss des Wohnhauses zur Miete bekommen. Manchmal stieg er den hinter dem Haus ansetzenden Weg zur Bergkuppe hinauf, wo sich ein großes, steinernes Kreuz befand, und schaute in die Ebene der Bünz hinunter, blickte über Weidland und Äcker auf die Straße, die Wohlen und Muri verband, und auf den geraden Strang der Bahnlinie. Er hörte den über weite Distanz verwehten Pfiff der Lokomotiven, wenn sich im Tal zwei Züge kreuzten. Bäume setzten Merkpunkte in die absinkende Schräge. Vereinzelt standen sie in seichten Gräben oder in kleineren Gruppen auf tellerartigen Höckern: häufig Kernobst, wenig Steinfrüchte.

Die Sicht von der buckelartigen Höhe, auf deren Höcker das steinerne Kreuz thronte, fiel auf die dunklen Waldungen des Wagenrains, dessen wulstig ausgestreckter Sattel die frei überblickbare Ebene der Bünz vom verdeckten Tal der Reuss schied, und reichte über die mächtigeren, fleckenweise bewaldeten, von Straßen zerschnittenen Hänge des Hasenbergs bis zu dem ihn überragenden Uetliberg, der mit seiner Silhouette, aus der sich ein Sendeturm wie ein Zeigefinger in den hellen Himmel erhob, den Horizont abschloss.

Im Süden schimmerten bei günstiger Wetterlage die Alpenzüge firnweiß, wasserblau, kalt. Jetzt, im Winter, fielen Krähen schwarmweise in verschneite Felder und punktierten sie schwarz. Schneestille.

Die Abgeschiedenheit, in der Hans Villiger lebte, brachte es mit sich, dass er nur wenig Besuch bekam; häufig saß er allein in seinem Zimmer, was ihm nicht unlieb war, schrieb Briefe, hin und wieder an Maria Cohen in Amsterdam, der er von sich und seinen Gedanken erzählte, manchmal in einer Sprache, die erst die Stille möglich machte.

Dreimal jede Woche fuhr Hans Villiger nach Muri, wo er an der Bezirksschule als Hilfslehrer unterrichtete. Eine Anstellung als Hauptlehrer fiel zurzeit außer Betracht; immerhin sicherten ihm die Stunden, die er unterrichten konnte, ein wenn auch nicht großes, so doch genügendes Einkommen, das es ihm erlaubte, ein nach seinem Ermessen angenehmes Leben zu führen.

Ein klarer Nachmittag. Hans Villiger saß an seinem Schreibtisch. Das Fenster bildete ein lichtes Rechteck; ins Gegenlicht ragte der ausgefranste Wipfelkamm des Waldes. Darüber hingeworfen und grenzenlos verteilt, baute ein helles Blau den Himmel auf. Kalte Mittagsluft.

Das Zimmer wurde durch eine Tür, die sich zu den Kellerräumen öffnete, in zwei Hälften geteilt. Auf der einen Seite war eine Kochnische eingebaut, in der Ecke, auf der anderen Seite, stand Hans Villigers Bett, die Wand zwischen Bett und Tür unterbrach ein Schrank, die Zimmerbreite füllte ein Büchergestell. Wenn Hans Villiger an seinem Schreibtisch arbeitete, hatte er seine Bücher im Rücken, der Schreibtisch mit Lampe, Schreibmaschine und einem mit verschiedenen Tabakspfeifen bestückten Ständer, stand quer zum Fenster. In der anderen Zimmerhälfte nahmen ein Esstisch und vier Stühle den Fensterplatz ein, an der Seitenwand hingen Bilder, dabei war auch ein von Margrit gemaltes Aquarell. Zur weiteren Ausstattung gehörten zwei lederne Hocker und ein Lesestuhl.

Hans Villiger schrieb an einer Arbeit über einen Aufstand der Freiämter Bauern im Jahre 1841, er saß seit dem Mittagessen über seinem Manuskript. Den Auftrag, über dieses Geschehen zu schreiben, hatte er von der Redaktion des »Freiämter Kalender« erhalten. Auf den kommenden Samstag war die Arbeit dem verantwortlichen Redaktor versprochen, und den Termin wollte Hans Villiger halten.

Er rauchte und trank Tee. In Schreibpausen schaute er über die Weite der schneebedeckten Felder zwischen Waldrand und Haus. Die Zäune schafften Distanzen. Die schmale, die Landschaft durchquerende Straße war ein grauer, trockener Strich, der das Schneefeld stumpf zerschnitt.

Die eindringenden Geräusche störten nicht, Hans Villiger hatte sie längst als etwas Vertrautes angenommen.

Vor dem Haus zerteilte das glucksend aus der Brunnenröhre laufende Wasser die nachmittägliche Ruhe. Vom Stall her war ein Scharren zu hören, dumpf schlugen Hörner an die Futtermulde, manchmal ein Muhen. Er kannte diese Geräusche. Auch das Gerassel der Ketten, mit denen die Kühe an ihren Plätzen festgebunden waren, und das gelegentliche Anschlagen des Hundes, der Spaziergänger verbellte, gehörten dazu wie das Gegacker der von der Bäuerin aufs freie Feld gescheuchten Hühner. Die Hennen schwärmten aus, flügelten ihr schmutziggelbes Federweiß über blankes Schneeweiß, im Schnee vor dem Stall leuchteten rot Bart und Kamm des Gockels. Die Einsamkeit sammelte die Kälte. Der Brunnen war mit einer dicken Eisschicht überzogen; gleißende, teilweise abgebrochene Eiszapfen behingen die Röhre, nur unter dem Wasserstrahl war eine offene Stelle, in der Eisklumpen schwammen. Die Stille des Zimmers sperrte alles aus. Hans Villiger versuchte, in seiner Arbeit die Stimmung, die den Bauernaufstand von 1841 begünstigt hatte, zu beschreiben, und er wollte auch seinen Verlauf darstellen. In einem Land, das so sehr auf seine politische Ruhe stolz und bedacht war, schien ihm die Beschreibung von Aufruhr und Unruhe nicht unwichtig zu sein. In der Pfeife gloste rundum ein gleichmäßiger Brand, sie zog wunderbar durch.

Man war früher gewohnt, das Freiamt als den verlorenen Sohn des Kantons Aargau zu bezeichnen.

Einst wohnten in diesem Amt nur freie Leute, daher der Name Freiamt. Doch diese Bezeichnung wurde zur eigentlichen Ironie. Die Landesbewohner verloren ihre Freiheit. Als Gemeinfreie des großen deutschen Reiches hatten sie dem Heerbann zu folgen und auf vielen Kriegszügen selbst für ihre Verpflegung und Bewaffnung zu sorgen. Sie gaben darum eine mit solchen Opfern verbundene Freiheit lieber auf und traten in den Schutz der Adeligen und Klöster. Nach der Eroberung durch die Eidgenossen brachten diese dem Land keine Freiheit. Dienstbarkeit blieb nach wie vor das Los des Landvolkes dieser Gegenden. Das Freiamt wurde gemeine Herrschaft, in deren Regierung die eidgenössischen Orte durch Landvögte abwechselten. Die gemeinen Herrschaften waren die Stiefkinder der alten Eidgenossen, denen kaum ein Schatten bürgerlicher Rechte zugestanden wurde. Die Landvögte glichen den ausgejagten habsburgischen Vögten der Waldstätte. Viele von ihnen verstanden nichts so gut, als ihre Einnahmen durch Kniffe und Erpressungen zu steigern.

Gerade durch das Regiment der Landvögte, unter denen das Freiamt fast vier Jahrhunderte litt, wurde seinen Bewohnern Misstrauen und Hass gegen jede Regierung eingeimpft. Männern, sobald sie nur Front gegen die Regierung machten, von der man sich traditionell unterdrückt glaubte, lieh das Freiamt immer ein geneigtes Ohr.

Da besonders das Kloster Muri der übermächtige Gläubiger vieler Bauern war, woraus eine nicht zu unterschätzende Abhängigkeit entstand, und da die bäuerliche Bevölkerung jeder Aufklärung konsequent den Rücken kehrte, weil die Kirche davor als vor einer Ausgeburt der Hölle warnte, fiel es den Freiämter Klöstern leicht, jenes frömmlerische Wesen und jenen Glauben an die geistliche Autorität großzuziehen, die schließlich des Freiämters zweite Natur geworden sind. Das Freiamt, vor allem der Bezirk Muri, wurde durch die Reuss vom Fortschrittskanton Zürich getrennt, aber, vom Lindenberg abgesehen, durch das offene Land der Kantone Zug und Luzern umschlossen. Während der Verkehr mit Zürich spärlich war und mit dem eigenen Kanton sozusagen nicht stattfand, holten die Freiämter von jeher Geld und guten Rat in den Kantonen Zug und Luzern. Sie und die Urkantone standen im Rücken des Freiamtes und machten es zum Vorposten gegen jede fortschrittliche Bestrebung.

Mit dem Jahre 1830 begannen in der Schweiz die Verfassungsänderungen und wurden fast überall unter Stürmen durchgeführt.

Rechtsgleichheit der Bürger, Beseitigung der Wahlbeschränkungen, kurze Amtsdauer, Trennung der vollziehenden und der richterlichen Gewalten, Pressefreiheit und Öffentlichkeit der Großratsitzungen wurden eingeführt.

Und mitten in diesen politischen Auseinandersetzungen kam ein neuer und wichtiger Gedanke auf: Die Revision des Bundesvertrages.

Doch die Urkantone, Feinde aller Reformen, brachten schließlich das Projekt eines neuen Bundesvertrages zum Scheitern. Diese Verwerfung war ein harter Schlag gegen die liberale Schweiz. Da in der Folge Schwyz von den Bundesgenossen militärisch besetzt worden war, blieben die Urkantone einer Bundesverfassung immer feindlich gesinnt.

Zu dieser Zeit waren die Vertreter der liberalen Ideen vornehmlich reformiert und die Bewahrer des konservativen Denkens mehrheitlich katholisch.

Auf katholischer Seite nahmen die Vereine zum Schutz der Religion ihren Anfang.

Es begannen die Kämpfe des Staates mit der Kirche. Am 20. Januar 1834 versammelten sich die Abgeordneten von acht Kantonen, um die Verhältnisse zwischen Staat und Kirche zu ordnen.

Während die vaterländisch gesinnte Geistlichkeit gegen die gefassten Konferenzbeschlüsse keine Bedenken hatte, wurden diese vom päpstlichen Stuhl förmlich verdammt, als strebten sie die Kirche zu unterwerfen und die katholische Schweiz von Rom zu lösen. Erheblicher Widerstand erwuchs auch durch die Klostergeistlichkeit, weil die klösterliche Selbstherrlichkeit aufgehoben und die Besteuerung eingeführt wurde.

Die Bevölkerung des Freiamtes wurde umso rascher zur Überzeugung gebracht, die Religion sei in Gefahr, als hier der Fanatisierung schon längst und umfassend durch den in Luzern gestifteten »Katholischen Verein« vorgearbeitet war, der große Aktivitäten entwickelte und die gemischten Schulen und alle fortschrittlichen Bestrebungen mit Wort und Schrift leidenschaftlich bekämpfte. Dieser Verein, der nur aus Geistlichen bestand, übte einen wesentlichen Einfluss auf die religiöse Verängstigung der Bevölkerung aus. Angelehnt an ihn wurde im Freiamt der »Verteidigungsverein« gegründet, der in seine Statuten aufnahm … unter Verteidigung der Religion sei einzig und ausschließlich nur die römisch-katholische Religion zu verstehen.

Dieser »Verteidigungsverein« lehnte sich gegen die Beschlüsse des Großen Rates auf, der unter anderem verlangte, die Geistlichkeit müsse der Staatsbehörde den Eid der Treue leisten. Der verlangte Eid der Treue wurde als etwas Ungeheuerliches und dem katholischen Glauben zuwider, als Tatsache höchster Religionsgefahr erklärt und dazu benutzt, um gegen etwas ganz Materielles, gegen das erlassene Verwaltungsdekret der Klöster anzukämpfen.

Jedenfalls wurde die Bevölkerung des Freiamtes durch Predigten, Flugblätter und Klostergeld so weit gebracht, dass sie aufrührerische Bewegung rüstete.

Die Bundesverfassung der Eidgenossenschaft verlangte nach der Zeit von zehn Jahren die Verfassungsrevision der Kantone, und als der Große Rat sich im Dezember 1839 für die obligatorische Revision entschied, war er weit davon entfernt, die Folgen zu ahnen, die sich an den Beschluss knüpfen sollten.

Ein im Freiamt gegründeter Ausschuss hatte es sich zur Aufgabe gemacht, durch Beunruhigung der katholischen Bevölkerung – eine Verfassungsrevision beeinträchtige ihre Religionsfreiheit und Religionsinteressen – den Gang der Revisionsarbeiten zu trüben und sich durch Ausbreitung der geschaffenen Unruhe und Verunsicherung zu einer Macht im Staate emporzuarbeiten, stark genug, der rechtmäßigen Staatsgewalt und der sie anerkennenden Bevölkerung durch drohende Stellung zu imponieren und gewissermaßen Bedingungen vorzuschreiben.

Als die Forderungen der von diesem Ausschuss einberufenen katholischen Volksversammlung bekannt wurden, äußerten sich darüber im ganzen übrigen Kanton nur Stimmen der Entrüstung und des Unwillens. Nicht nur das Festhalten an der sogenannten Parität in der Volksvertretung wurde ausdrücklich als ein unantastbares Recht der katholischen Bevölkerung gefordert, was durch die reformierte Bevölkerung als freiwillige Gabe, mit Verzicht auf das volle Verfassungsrecht, stillschweigend gutgeheißen worden wäre. Nein, weiter wurden verlangt:

Eine konfessionelle Trennung, verwirklicht durch zwei abgesonderte Großratskollegien mit eigener Administration für Kirche und Schule.

Wiedereinsetzung der Klöster in ihre vorherige Unbeschränktheit.

Erklärung ihrer Besitztümer als ausschließlich katholisches Gut.

In verschiedenen Versammlungen im ganzen Kanton fanden die katholischen Forderungen heftigen Widerspruch. Die Losung zu energischen Gegenerklärungen war gegeben. Der Trennungsgedanke wurde als verderblich an sich bezeichnet und einmütig abgelehnt. Man sagte, er trage für alle Folgezeit den Keim des Verderbens, des Zwiespalts und der Auflösung des Gemeinwesens in sich.

Doch der Ausschuss verdoppelte nur seine Tätigkeit. Kein Mittel blieb ungenutzt, das katholische Volk ganz zu gewinnen und kirchlich zu fanatisieren.

Nach verschiedensten Umtrieben auf beiden Seiten kam es dazu, dass der dem Volk vorgelegte, neue Verfassungsentwurf in allen Landesteilen und aus den entgegengesetztesten Motiven mit großer Mehrheit verworfen wurde.

Eine neue Kommission wurde eingesetzt und beauftragt, einen zweiten Verfassungsentwurf zu erarbeiten. Eine im Freiamt verteilte Broschüre »Bestrebungen der Katholiken, ihre Kirche durch konfessionelle Trennung zu sichern« bereitete eine neue Auseinandersetzung vor.

Zudem ließen die Führer des Ausschusses verlauten, sie würden, wenn auch die zweite Verfassung nicht befriedige und verworfen werde, selbst einen Entwurf ausarbeiten und ihn einer katholischen Volksversammlung vorlegen. Wenn die reformierten Bezirke sich damit nicht zufriedengeben würden, werde die Trennung vom Kanton Aargau mit allen Mitteln durchgesetzt.

Für den 29. November bereitete der Ausschuss eine zweite katholische Volksversammlung vor. Ein gedruckter Aufruf, von einflussreichen Männern aus allen katholischen Gegenden unterzeichnet, fand in großer Auflage Verbreitung. Die Kirche erteilte dieser Versammlung ihre Weihe und ermahnte zum Besuch. Sogar Geldentschädigungen wurden dafür ausgesetzt. Unter lärmendem Gedränge fand die Zusammenkunft statt.

Die bereits früher aufgesetzten Forderungen wurden nochmals lautstark erhoben.

Nachdem der Große Rat am 17. Dezember 1840 die Beratung des zweiten Verfassungsentwurfes beendigt hatte, steigerte sich die Aufregung im Freiamt.

»Es verlauteten dumpfe Gerüchte von einem nahe bevorstehenden Volksausbruch, es fielen Drohungen gegen regierungstreue Bürger.

Alles schien gerüstet, wie am Vorabend ernster, wichtiger Dinge.«

Die letzte Aussage hatte Hans Villiger einem Protokoll entnommen. Er wusste in seiner Arbeit Sätze, die konnte er nicht nur auswendig hersagen, sie liefen ihm nach durch die Tage und verfolgten ihn nachts und zogen verknotete Schnüre durch Träume und Schlaf. Davon hatte er auch Maria Cohen berichtet und ihr aus einem Buch den Satz zitiert:»Muri und Bremgarten boten am 10. und 11. Januar 1841 das betrübende Bild ungebundener Roheit und gegen Personen und Eigentum ausschweifender Anarchie.« Die Pfeife war Hans Villiger ausgegangen, er zündete sie erneut an, sie sürfelte ein wenig, weil er zu hastig geraucht hatte, doch als er ruhig und langsam sog, gab sich das wieder. Bevor er nach Kallern gezogen war, hatte er in einem anderen Kantonsteil unterrichtet und, zusammen mit Maria, auch ein Jahr in Amsterdam gelebt. Er hatte Maria eingeladen, ihn zu besuchen und für längere Zeit zu bleiben, und wartete schon seit einigen Tagen auf ihre Antwort.

Vor zwei Jahren war er aus Amsterdam zurückgekehrt. Seither hatte er die Abgeschiedenheit besonders schätzen gelernt. Ganze Nachmittage konnte er durch die Umgebung streifen, durch die Wälder, wo versteckte Teiche lagen und Gräben voller Torf. Doch er liebte es ebenso, allein in seinem Zimmer zu schreiben, oder zu lesen, ganz aufgehoben in einem Buch. In Amsterdam hatte er ein zunehmendes Heimweh verspürt und war darum auch zurückgekehrt, obschon ihm der Abschied von Maria und der Stadt zu schaffen gemacht hatte.

Vor dem Haus rannten Leute vorbei. Sie fuchtelten mit Knüppeln und Stecken und verteilten sich in einer Kette über das Feld. Auch vom Oberen Niesenberg kamen mit Heugabeln und Spaten bewaffnete Leute gerannt. Zurufe stießen wie Messerstiche in die Stille. Wenn die Männer Kommandoworte schrien, formten sie mit den Händen Trichter vor dem Mund, aus denen Sprechblasen wuchsen. So kalt war der Nachmittag.

Dann sah Hans Villiger das Tier. Ein rotbraunes, langgestrecktes Tier hetzte übers Feld. Ein fliehendes Bündel Angst und Verstörung. Seine Lage war aussichtslos. Einer der Männer, der Jagdaufseher in grünbrauner Kleidung, trug eine Flinte bei sich. Er legte sie an und schoss. Ein Aufschrei der Männer und Buben folgte dem Knall. Alle liefen zum Fuchs, der sich überschlagen hatte und tot liegen blieb. Die Bauern umringten den Kadaver. Von weiter her kamen Frauen und kleinere Kinder heran. Die Männer stützten sich auf die Knüppel und Schaufeln. Einer zeigte mit dem Spaten auf das ausgestreckte Tier; langsam versickerte das frische Blut im Schnee. Der Jagdaufseher schob den erschossenen Fuchs mit dem Stiefel in einen Sack und zündete sich einen Stumpen an.

Unterniesenberg, Kallern, Oberniesenberg: Tollwut – Sperrgebiet.

Hans Villiger stand von seinem Schreibtisch auf.

Die Pfeife im Mund, trat er vor das Haus.

Sofort die Kälte, die Stimmen.

Er ging langsam, die Hände in den Hosentaschen vergraben, auf das Feld hinaus. Der Schnee, der durch die Treibjagd aufgewühlt worden war, knirschte unter seinen Schuhen.

3

Seit Anna Villiger verwitwet war, wohnte sie allein in Wohlen, einem eigentlichen Bachzeilendorf, das sich mit ausgedehnten Überbauungen bis weit in die Ebene der Bünz erstreckte, und arbeitete in der Mohrenkopffabrik in Waltenschwil, wo sie trotz ihres Alters als zuverlässige Hilfe galt. Meist war sie an der Verpackungsmaschine beschäftigt, sah Greifarme süß duftende Schokoladenmohrenköpfe fassen und in firmenbeschriftetes Stanniolpapier wickeln, und legte sie dann eigenhändig in Kartons zu fünfzig Stück.

Am Morgen kam sie pünktlich zur Arbeit, band eine blaue und stets saubere Schürze um, stempelte ihre Zeitkarte ab, und um sieben Uhr, wenn die Arbeit begann, langte sie nach dem ersten Mohrenkopf und war bei der Sache.

Drei Halbtage jede Woche, wenn sie mit Margrit arbeiten konnte, ging Anna Villiger gerne zur Fabrik. Die einfachen Handgriffe erlaubten den Frauen Gespräche, das half gegen die Monotonie. Doch oft kam es vor, dass sie wortlos nebeneinander standen, jede in Gedanken versponnen, aber mit stets fleißigen Händen. Manchmal ein Blick, ein Wort, das Margrit an Anna richtete, hoben den Tag schon von der endlosen Reihe der anderen ab, an denen sie allein war mit ihren Tätigkeiten.

Anna und Margrit, auch die junge Anita, die als Bürogehilfin angestellt war und den Frauen manchmal aushalf, wenn dringende Lieferungen vorbereitet und Bestellungen erledigt werden mussten, saßen über Mittag gemeinsam in einer nahe gelegenen Wirtschaft an einem für sie reservierten Tisch. Hier ergaben sich Unterhaltungen, die Anna lieb waren. Sie konnte sich nur schwerlich vorstellen, bald darauf verzichten zu müssen, doch Margrit würde nach der Geburt nicht mehr zur Arbeit kommen, vorläufig wenigstens nicht. In der alten und warmen Wirtsstube, während aus dem Radio leise Musik spielte und der Kanarienvogel, dessen Käfig auf einem Fenstersims stand, an seinem Kalkstein knabberte und die Chauffeure, die häufig hier zu Mittag aßen, bei schwarzem Kaffee saßen und sich über einem Kartenspiel ereiferten, erzählte Margrit von den Bildern, die sie malte, oder von Herbert, ihrem Mann, und gut gemeinte, das Kind betreffende Ratschläge nahm sie so entgegen, dass Anna nie das Gefühl haben musste, sie würden als Einmischungen empfunden. Anita, die am Morgen oft wortfaul und mürrisch war, gab sich beim Essen stets gut gelaunt, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, hatte ein Lachen im Gesicht, spaßte, spielte mit einem Bierdeckel und sprach von Pep, ihrem Freund. Anna Villiger vermochte so ihre Einsamkeit zu vergessen, die Einsamkeit einer älteren, alleinstehenden Frau: denn die Abende, wenn sie ihren kleinen und anspruchslosen Haushalt besorgt hatte, verbrachte sie meist allein in der Stube, wusste mit dem Feierabend nicht viel anzufangen, fühlte sich müde, aber nicht müde genug, und war auch zu unruhig, um schon schlafen zu können, und fürchtete, was sie ebenso hinderte, bereits zu Bett zu gehen, einen Traum, der in letzter Zeit wiederholt aufgetreten war.

Sie sah sich darin als einen zu einem Punkt geschrumpelten Menschen bewegungsunfähig in einer Wüste und wurde von einem erscheinenden Riesenfisch, dessen Lippen sich lautlos öffneten und schlossen, bedroht. Aufgeschreckt aus dem Schlaf, klopfenden Herzens, schweißnass und außer Atem gekommen, blieb sie nach diesem Traum wach, musste aufstehen und das Herz beruhigende Medikamente einnehmen. Sie lag danach lange schlaflos im Bett und fühlte sich am anderen Morgen weder ausgeschlafen noch ausgeruht, sondern war niedergeschlagen und kraftlos. Oft plagte sie ein Angstgefühl vor diesem Traum und war ein weiterer Grund, der es ihr vorteilhaft erscheinen ließ, abends lange wach und in der Stube zu bleiben. Doch der Fernseher, den sie sich zu ihrem sechzigsten Geburtstag gekauft hatte und in dessen Blauschimmer getaucht sie abends oft stundenlang saß, war weder ein Ersatz für ein Gespräch noch dazu geeignet, die aufkommende Angst vor dem Traum zu zerstreuen und dem Abend einen beruhigenden Sinn zu verleihen. Meist hatte sie gar keine andere Wahl, als allein zu bleiben, fern zu sehen, dabei, das lenkte ab, für sich und für Margrit zu stricken. Margrit, das wusste sie, würde sich über die Kindersachen freuen, auch für Anita hatte sie einmal einen modischen langen Wollschal gestrickt.

Das war vor Weihnachten gewesen: zusammen saßen sie beim Mittagessen. Anita zeigte ihren Arbeitskameradinnen in einem Modejournal einen vierfarbigen Wollschal. Das Mädchen war so begeistert gewesen, dass Anna abends nach der Arbeit zum Kiosk gegangen war, um dasselbe Journal zu kaufen.

Auf dem Heimweg war sie an einer Strickwaren- und Wollhandlung vorbeigekommen und hatte sich gleich die notwendige Wolle besorgt und zu Hause noch am selben Abend mit der Arbeit begonnen. Beim Stricken hatte sie ein Gefühl des Glücks und der Vorfreude empfunden. Als sie den Wollschal Anita als Weihnachtsgeschenk mit einem Kärtchen versehen auf ihr Schreibpult gelegt, hatte sich das Mädchen darüber gefreut und Anna die Freude auch gezeigt.

Wenn Anna Villiger das Haus am Abend noch verließ, um bei schönem Wetter einen Spaziergang zu machen, und sie dann nicht in ein ruhiges Restaurant einkehrte, um einen Zweier Magdalener zu trinken, endeten diese recht ausgedehnten Spaziergänge immer auf dem Friedhof beim Grab ihres Mannes.

Doch da sie nach einem Arbeitstag meist müde und ausgelaugt war, kam es eigentlich selten vor, dass sie sich, nachdem sie gegessen hatte, nochmals aufraffte, um die Wohnung zu verlassen.

Oft blieb sie müde sitzen, und obwohl sie in der Fabrik eine größtenteils sitzend zu verrichtende Arbeit ausübte, brannten ihr die Fußsohlen, hatte sie angeschwollene Beine und Schmerzen im Kreuz. Im Kopf fühlte sie sich jedoch frisch und angeregt, es hatten sich tagsüber Gedanken versammelt, die sich nicht einfach beruhigen und nur durch Überlistung wegschieben ließen.

Am heutigen Sonntag hatte sie einen weiten Spaziergang unternommen, nach der Neun-Uhr-Messe hatte sie den Friedhof besucht und war dann losgezogen über die verschneiten Felder des Wagenrains bis nach Bremgarten hinunter. Durch den Wald hatte sie den Weg genommen, später der Reuss entlang ins Städtchen hinein. Im »Engel« war sie eingekehrt, hatte sich vom Wirt zur Begrüßung die Hand geben lassen und bei der Serviertochter einen Zweier Magdalener und ein Restbrot bestellt. Eine Stunde war sie vielleicht in der Gaststube sitzen geblieben. Betrieb war nicht viel. An einem Tisch saßen ein paar ältere Männer und spielten Karten. Der Hund des Wirtes lag hinter der Theke und ließ sich nicht stören. Von Zeit zu Zeit ging die Serviertochter zur Musicbox und drückte eine Platte. Das Mädchen summte die Melodie mit, wenn sie hinter dem Büffet stand, Gläser wusch und trocken rieb. Die Männer hänselten sie aus, weil sie immer dieselbe Platte spielte.

Mit der Bahn war Anna zurückgefahren. Vorbei am Spittelturm, über die Reussbrücke, durch den Wohlerwald: die Bäume prangten mit verschneitem Astwerk, und die Kälte stand eisklar über dem verwehten Schnee, ein paar Spaziergänger winkten zum Zuge hin, Rehe sah sie nicht.