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Peter Borscheid,
David Gugerli,
Tobias Straumann

Swiss Re

und die Welt der Risikomärkte

Eine Geschichte

Herausgegeben
von Harold James

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Swiss Re wurde 1863 gegründet und ist der älteste noch existierende Rückversicherer der Welt. Am Beispiel des Traditionsunternehmens führt dieses Buch in die faszinierende Geschichte eines in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Zweigs der Versicherungsindustrie ein.

Berichte über Naturkatastrophen und von Menschen herbeigeführte Desaster nehmen in letzter Zeit einen immer größeren Platz in der Medienberichterstattung ein. Seitdem dies so ist, kommen vermehrt auch die Rückversicherer mit fachtechnischen Analysen zu Erdbeben, Wirbelstürmen, Tsunamis, Atomunfällen und der globalen Klimaveränderung zu Wort. Was aber steckt hinter dieser Industrie, die Milliarden zum Wiederaufbau von zerstörten Städten und Industrieanlagen beitragen kann, mit riesigen Beträgen die gesellschaftliche Überalterung versichert und auch noch dafür sorgt, dass die Hausratspolice jedes einzelnen nochmals gedeckt ist? Harold James, Peter Borscheid, David Gugerli und Tobias Straumann zeigen, wie sich das Prinzip der Rückversicherung seit dem 18. Jahrhundert herausbildete, wie globale Risikomärkte entstanden und wie sich in diesem Umfeld Swiss Re zu einem der führenden Rückversicherer der Welt entwickelte.

Über die Autoren

Harold James ist Professor für Geschichte an der Universität Princeton, USA.

Bei C.H.Beck sind von ihm u.a. lieferbar: Die Deutsche Bank im Dritten Reich (2003), Geschichte Europas im 20. Jahrhundert (2004), Krupp. Deutsche Legende und globales Unternehmen (2011).

Peter Borscheid ist Professor Emeritus für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Philipps-Universität in Marburg.

David Gugerli ist ordentlicher Professor für Technikgeschichte an der Eidgenössisch Technischen Hochschule Zürich (ETH).

Tobias Straumann ist Privatdozent an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich.

Inhalt

Vorwort (Walter Kielholz)

Einleitung: Der Versicherungsinstinkt (Harold James)

Globale Versicherungsnetze (Peter Borscheid)

1. Anfangsjahre

Die Anfänge – auf den Spuren des Zuckers

Aufgeklärt – mit vermehrter Risikobereitschaft

Nebeneinander – im Schlepptau des interkontinentalen Handels

Networking – die Anfänge der Rückversicherung

2. Expansion

Handelsgut – als Nachhut des Freihandelsimperialismus

Migration – mit der Versicherung im Reisegepäck

Wachstumsschub – die Zugkraft der Ersten Globalisierung

3. Rückschlag

Bruchstelle – der Erste Weltkrieg

Absturz – die Weltwirtschaftskrise

4. Teilung

Blockbildung – Rückschritt und Fortschritt

5. Krisenzeiten

Paradigmenwechsel – Deregulierung und Liberalisierung

Pendelschläge – Konjunkturen und Krisen

Expansion – Beschleunigung und Stillstand

Kooperation und Konkurrenz. Organisation und Risiken der Rückversicherungsbranche 1860–2010 (David Gugerli)

Die Krise

Die Risiken

Die Organisation

1. Rückversicherung als Handlungsraum 1860–1960

Industrialisierung und Wachstumsprobleme der Versicherungsbranche

Unabhängigkeit und Artikulationsversuche der Rückversicherer

Organisation des Versicherungsmarktes

Feuerprobe der Moderne und Internationalisierung

De-Globalisierung, Pools, Retrozessionen und Konzerne

Das excess-of-loss-Problem und der Weg nach Monte Carlo

2. Strukturelle Probleme und diagnostische Vielfalt 1960–1980

Massenkonsum und kritische Masse

Beurteilungskrise

Grenzen der Versicherbarkeit

Unternehmensstrategien und Branchenintegration

Infrastrukturen des Wissens

Akademisierung des Geschäfts

3. Weltmarkt und Liberalisierung 1980–2010

Die Ordnung globaler Versicherungshabitate

Liberalisierung der Direktversicherungsmärkte

Wettbewerb und Marktkonzentration

Rückversicherung als Finanzdienstleistung

Harmonisierung

4. Schluss

Der unsichtbare Riese: Die Geschichte von Swiss Re 1863–2013 (Tobias Straumann)

Ein schwieriges Geschäft

Erfolgsfaktoren

Vier Epochen

1. Die Gründung

Ein unerwarteter Besuch

Grossmanns Gutachten

Eine große Allianz

2. Absturz und Rettung

Früher Rücktritt und früher Tod

Hilfe aus Triest

Die Ohnmacht der Rückversicherer

Der Zwang zur Internationalisierung

Die zweite Gründung von Swiss Re

Erfolgreiche Konsolidierung

3. Sprung über den Atlantik

Ein neues Geschäftsmodell

Simons Herkunft

Der erste Anlauf misslingt

Der Schock von San Francisco

Allianz mit der Phoenix

4. Aufstieg zur Weltspitze

Geheime Mission in London

Der Ausbau des US-Geschäfts

Die erzwungene Konzernbildung

Die Aufwertung der Finanzpolitik

Wachstum und Strukturwandel

5. Am Abgrund

Der Rekordverlust von 1931

Swiss Re unterschätzt die Baisse

Rückkehr zur konservativen Anlagepolitik

Die Suche nach Kapital

6. Abneigung und Anpassung

Abneigung gegen die Nazis

Entlassung bei der Bayerischen Rück

Entlassungen beim Anker in Wien

Entschädigungen

Die Novemberpogrome von 1938

7. Der Zweite Weltkrieg

Angst vor der deutschen Invasion

Beblers Reise nach Berlin

Probleme in den USA

8. Wachstum und Kulturwandel

«Alarmierende Zustände»

Politik der kleinen Schritte

Eine neue Generation

Neuer Ton, alte Strategie

Der große Kulturwandel

Die gescheiterte Diversifikation

9. Der Große Umbau

Die neue Strategie

Warum so radikal?

Die Ära Kielholz

Gewinne und Verluste

Die schnelle Erholung

Anhang

Statistiken

Weltwirtschaftliche Entwicklung

Daten zur Swiss Re

Anmerkungen

Bibliographie

Bildnachweis

Register

Vorwort

Die Rückversicherung in ihrer modernen Form existiert seit über 150 Jahren. Lange Zeit wurde sie von einer breiteren Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, obwohl Naturkatastrophen wie etwa Wirbelstürme und Erdbeben ohne Rückversicherung nicht bewältigt werden könnten und große Investitionen in Infrastrukturprojekte wie zum Beispiel der Bau von Kraftwerken oder Brücken ohne entsprechende Absicherung nicht getätigt würden. In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich die Rückversicherer verstärkt eingebracht in die Debatten um Veränderungen in der Risikolandschaft und das Auftauchen neuer, systemischer Risiken. Das Schadenspotenzial von Großkatastrophen hat sich durch die dichtere Besiedlung und hohe Konzentration von Werten massiv erhöht; ein mehr denn je für Risikothemen sensibilisiertes Publikum wird immer schneller mit Nachrichten und Analysen konfrontiert. Die Rückversicherer der jetzigen Generation sind zu Experten zukünftiger Entwicklungen auf der Basis eines über Jahre angesammelten Wissens geworden. Dass dies nicht vor unerwarteten Ereignissen schützt, zeigt ein Blick in die Zeitungen, Risiko lässt sich nicht ausschalten.

Mehr als für irgendeine andere Finanzdienstleistungsindustrie liegt es in der Natur des Rückversicherungsgeschäfts, sich mit dem Risikodenken auseinanderzusetzen. Im Unterschied zum alltäglichen Gebrauch des Wortes «Risiko», zählt für die Rückversicherung vor allem das quantifizierbare Risiko, das aufgrund seiner Berechenbarkeit besser abgefedert werden kann. Gleichzeitig beschäftigen sich die Rückversicherer mit der Risikowahrnehmung, die weit weniger berechenbar ist und sich über die Jahre hinweg auch wandelt. Für die Frage, ob man Risiken eingehen will oder nicht und welche Chancen sich dabei ergeben, ist die Risikoperzeption zentral. Ihre Bedeutung nimmt in der heutigen Kommunikations- und Informationsgesellschaft weiter zu.

Was aber ist das Geschäft der Rückversicherung? Vereinfacht formuliert, versichern Rückversicherer Versicherungen. Die Dienstleistung für den Versicherer, die dabei anfällt, besteht aber nicht nur aus der Schadenszahlung. Durch die Streuung bzw. Diversifikation des Risikos über die Rückversicherung muss der Direktversicherer weniger Kapital binden und kann so seinen finanziellen Handlungsraum erweitern. Darin besteht der ökonomische Nutzen von Rückversicherung. Das gleiche Verhältnis besteht zwischen dem Versicherer und dem privaten Inhaber einer Versicherungspolice. Da die Prämienzahlungen über den Finanzmarkt in die Realwirtschaft investiert werden, trägt die Assekuranz zu deren Stärkung bei. Wirtschaft und Gesellschaft profitieren gemeinsam.

Seit jeher birgt auch der Finanzmarkt Risiken. Swiss Re hat dies schon in den 1930er Jahren deutlich gespürt und tut dies auch in der Finanzkrise, die 2008 begann. Was uns aber heute zusammen mit unseren Kunden vor allem beschäftigt, sind gesellschaftliche Probleme, für die Versicherungslösungen gefunden werden sollten. Überalterung, Naturkatastrophen und Pandemien sind nur einige davon. Solche Lösungen sind im traditionellen Rückversicherungsbereich ebenso möglich wie durch die Finanzierung solcher Risiken am Kapitalmarkt mit Hilfe von Securities.

Diese Herausforderungen sind nicht neu. Eine gewaltige Umweltkatastrophe zerstörte 1906 die Stadt San Francisco und zog auch die europäische Versicherungsindustrie und mit ihr Swiss Re arg in Mitleidenschaft. 1918 zahlten wir rund eine Million Franken für die verheerende Spanische Grippe, die erste Pandemie, die sich über mehrere Kontinente verbreitete. In der Lebensrückversicherung gab es schon vor dem Phänomen des Global Aging immer wieder versicherungsmathematische Herausforderungen sowie Zinsschwankungen und Währungsprobleme, auf die reagiert werden musste. Man kann sagen, dass das Rückversicherungsgeschäft und die grundlegende Art der Risiken über die letzten anderthalb Jahrhunderte im Prinzip gleich geblieben sind. Was sich aber verändert hat, sind die Komplexität der Risiken, ihre globale Verbreitung sowie die Interdependenz der Risiken.

Aus Anlass unseres 150-jährigen Jubiläums wollten wir solche Überlegungen in einen historischen Kontext stellen. Dabei war es uns ein Anliegen, unsere Firma und die Assekuranz nicht aus unserer Sicht darzustellen, sondern aufgrund einer historisch aufgearbeiteten Außensicht. Das unternehmen der Herausgeber und die Autoren dieses Buches.

Walter Kielholz

Harold James

Einleitung: Der Versicherungsinstinkt

Das Prinzip der Versicherung macht unser Leben berechenbarer. Es beinhaltet das Zusammenfassen (Pooling) von Risiken, wobei die Rückversicherung ein weiteres oder ergänztes Pooling bringt. Diese erhöhte Berechenbarkeit trägt entscheidend dazu bei, dass wir immer komplexere soziale Verbindungen knüpfen können, die mehr Menschen einbeziehen, weitere Entfernungen überbrücken und neue, innovative und naturgemäß in ihren Folgewirkungen unvorhersehbare Technologien nutzen. Auf dieser Grundlage entstand die moderne Welt – und die moderne Sicht auf die Welt. Einer der Gründe für die prekäre Existenz vormoderner Bauern und Handwerker – aber auch heutiger Bewohner armer Länder – ist die fehlende Möglichkeit, sich gegen Katastrophen wie Missernten zu versichern, die ihre Lebensgrundlage weiterhin bedrohen. Die experimentelle Psychologie findet immer mehr Belege dafür, dass sehr arme Menschen mit knappen Ressourcen schlechtere Entscheidungen treffen und dass Armut bei Intelligenzmessungen zu schwächeren Ergebnissen führt.[1] Das Wohlbefinden und die Fähigkeit zu rationalen Entscheidungen hängen nicht nur eng miteinander zusammen, sondern sind auch mit dem Gefühl verbunden, vorbereitet zu sein und in eine sichere Zukunft zu blicken. Der Instinkt, sich zu versichern, ist verwandt mit und beruht auf dem Instinkt, das Leben zu organisieren und immer komplexere und enger verflochtene Strukturen der gegenseitigen Unterstützung zu entwickeln.

Heute summieren sich die Versicherungsprämien auf 6,6 % des weltweiten BIP. Die Nicht-Leben-Prämien kommen auf 2,7 %. Die Nicht-Leben-Rückversicherungsprämien erreichen 0,24 %. Dabei sind die regionalen Unterschiede ausgeprägt: In Nordamerika liegen die Lebensversicherungsprämien bei 3,6 % des BIP, in Westeuropa bei 4,7 %, in Japan und den neuen asiatischen Industrieländern dagegen bei 8,5 %, da die Sparquoten dort generell sehr hoch sind.[2]

Die Revolution, die die Grundlage für bessere Entscheidungen und höhere Einkommen schafft, ist noch nicht abgeschlossen. Der moderne Weg, Versicherungsmöglichkeiten für immer mehr Risiken zu schaffen und auch zu nutzen, ist nicht zu Ende. Der amerikanische Ökonom Robert Shiller beispielsweise meint, das Konzept der Versicherung müsse noch immer zu «neuen Horizonten» getragen werden. Dies gelte vor allem auch für die Versicherung der Existenzgrundlage – der Investitionen des Einzelnen in Bildung oder Karriere, die durch Verkettungen zufälliger Umstände, die außerhalb seiner Kontrolle liegen, zunichtegemacht werden können.[3] Die Antwort auf jede erdenkliche Herausforderung, die sich durch die ungewisse Zukunft ergibt, lautet stets: versichern! Theoretisch ist der Bedarf an Versicherungen unendlich.

Doch reicht das Angebot überhaupt aus? In der Praxis ist es nicht leicht, Versicherungen zu organisieren. Hier kommen verschiedene bekannte Probleme zusammen. Zwei Schwierigkeiten, mit denen man schon in den Anfangstagen der Versicherung kämpfte, betreffen einzelne Policen: zum einen die Negativselektion (Beispiel: Wer weiß, dass er besonders anfällig für Krankheiten ist, wird eher eine Krankenversicherung abschließen, wobei der Versicherer das erhöhte Risiko oft nicht kennt) und zum anderen der Moral Hazard, also die Tendenz von Versicherten, weniger Sorgfalt walten zu lassen (wer gegen Feuer versichert ist, macht sich weniger Sorgen, dass sein Haus abbrennen könnte, und kümmert sich weniger um den Brandschutz). Gegen beide Probleme gehen die Versicherungsmärkte vor. Oft ersinnen sie raffinierte Möglichkeiten, bestehende Probleme zu erkennen, und führen Kompensationsmechanismen ein (zum Beispiel ärztliche Untersuchungen vor dem Abschluss einer Krankenversicherung oder die Auflage einer Feuerversicherung, Rauchmelder oder andere Alarmeinrichtungen zu installieren). Innovationen bei den Versicherern ermöglichen eine genauere Tarifierung von Risikoschutzprodukten.

Besondere Probleme stellen zudem Versicherer dar, deren Geschäftsmodell im Wesentlichen in der Aggregierung von Einzelrisiken besteht. Risiken sind oft nicht wirklich unabhängig voneinander, sondern können miteinander verknüpft sein (z.B. bei Erdbeben, Überschwemmungen oder Bränden, die ganze Städte zerstören) oder eine gemeinsame äußere Ursache haben (z.B. Krieg oder Klimawandel). Private Versicherer verfügen nicht immer über die Mittel, um Problemen dieser Größenordnung zu begegnen. Hier spielt oft die Rückversicherung eine entscheidende Rolle, denn sie fasst Risiken noch stärker zusammen, auch über Ländergrenzen hinweg.

Es gibt jedoch Unterschiede im Ausmaß der Versicherbarkeit. Gewaltsame Auseinandersetzungen oder Krieg zwischen Staaten gelten als klassisches unversicherbares Risiko. Risiken sehr großen Ausmaßes werden daher ex ante oder ex post von einer öffentlichen Versicherung übernommen, besonders wenn sie in erster Linie als politisches Problem betrachtet werden, dessen Lösung einer mächtigen organisierten Wählergruppe oder politischen Lobby am Herzen liegt. Im modernen Leben gilt der bekannte Grundsatz, dass Staaten bei Marktversagen eingreifen. Sie versuchen, Märkte zu regulieren, und moderne Staaten müssen Verluste auch in großen, aber oft als selbsttragend konzipierten Sozialversicherungen (z.B. Kranken- und Rentenversicherung) auffangen; zudem können sie gescheiterte Unternehmen – auch Finanzinstitute – übernehmen oder leiten. Nur ungern übernehmen Staaten in der Regel grenzüberschreitende Risiken, indem sie Garantien für Verbindlichkeiten anbieten, die ihre Bürger und Wähler nicht unmittelbar betreffen; ihre Verantwortung besteht allein gegenüber den eigenen Bürgern. Somit besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der internationalen und zunehmend globalen Bereitstellung von Versicherungsschutz durch Kombinationen von privatem Kapital einerseits und der Übernahme großer Risiken durch Staaten in national begrenzten Umgebungen andererseits.

Ex ante bieten moderne Staaten einen sehr umfangreichen Versicherungsschutz. Grundlage war der Dreiklang aus Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, der im 19. Jahrhundert in Deutschland von Otto von Bismarck und, wenn auch von der übrigen Welt weniger beachtet, in Dänemark eingeführt wurde. Später kamen noch die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe hinzu. So entstand die Grundlage für das Sozialstaatsmodell des 20. Jahrhunderts in den modernen Industrieländern. Die drei Bismarck’schen Versicherungen waren alle bereits von privaten Versicherern angeboten worden, doch der Reiz der staatlichen Versicherung lag in ihrer Universalität. Sie wirkte nicht nur dem klassischen Versicherungsproblem der Negativselektion entgegen, sondern erfüllte auch den kollektiven Bedarf der neu erstarkten und organisierten Arbeiterklasse. Die staatlichen Sozialversicherungen waren mit Kapital ausgestattet, das sich jedoch aufgrund des demografischen Wandels, des Alterns der Bevölkerung und des Anstiegs der Behandlungskosten durch die Verfügbarkeit immer besserer, aber auch teurer Technologien als unzureichend erweisen dürfte.

Ex post haben Staaten ebenfalls Risiken kollektiviert und damit eine grundlegende Versicherung geschaffen. Die augenfälligsten Beispiele des letzten Jahrhunderts betreffen Probleme im Finanzsektor, wo große Finanzinstitute als zu groß (oder zu systemrelevant) zum Scheitern gelten: von der Österreichischen Creditanstalt und der deutschen Darmstädter- und Nationalbank in der Weltwirtschaftskrise über die Continental Illinois in der lateinamerikanischen Schuldenkrise der 1980er Jahre bis zu AIG, HBOS, Commerzbank und UBS in der «Großen Rezession» zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Rettung großer Finanzinstitute bringt für einen Staatshaushalt hohe Kosten mit sich, die unter Umständen nicht zu bewältigen sind. Staaten haben nur sehr begrenzte Mittel, um die eigenen Verbindlichkeiten zu versichern: Der Internationale Währungsfonds wird manchmal als Versicherungsgenossenschaft betrachtet, die den Staaten gemeinsam gehört und kurzfristige Kredithilfe gewährt; seine Ressourcen sind jedoch zwangsläufig begrenzt, und seine großen Rettungsaktionen sind immer auch ein Politikum. Moral-Hazard-Probleme sind bei staatlichen Versicherungen oft weitaus größer als bei privaten; sie erklären auch, warum die Kosten hier so stark steigen und den öffentlichen Haushalt über Gebühr belasten.

Wie die privaten haben auch staatliche Versicherungen ihre Grenzen, nämlich die fiskalischen Grenzen des modernen Staates. Gegen eine Ausweitung des Versicherungskonzepts über Ländergrenzen hinweg haben Bürger oft Bedenken und Vorbehalte. So waren in der «Großen Rezession» zusammengebrochene grenzüberschreitende Institute wie Dexia oder Fortis viel schwerer abzuwickeln als Banken, die klar in einem (möglichst großen) einzelnen Staat angesiedelt sind.

Die Geschichte der modernen Versicherung kann als ständiger und wechselvoller Kampf verschiedener Institutionen um die Grenzen der Versicherbarkeit verstanden werden. Der Konflikt ist eine Folge der veränderten Risikowahrnehmungen, der gestiegenen organisatorischen Fähigkeiten und der Entwicklung von Unternehmensstrukturen, aber auch des veränderten Einflusses von staatlichem Handeln auf die Renditen und Risiken der Wertpapiermärkte. Diese Elemente werden in der folgenden Einleitung erörtert.

Wahrnehmung von Risiken

Risikowahrnehmungen und damit die Nachfrage nach Versicherungen haben sich im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung dramatisch verändert. Vor einigen Jahrhunderten war das Leben des Einzelnen sehr unsicher, und aus dieser Zerbrechlichkeit entstand ein Gefühl der Gefährdung. Prediger erinnerten ihre Gemeinde ständig daran: «Inmitten des Lebens sind wir vom Tode umfangen.» Krankheit, Krieg, aber auch willkürliche Ausbrüche von Gewalt waren an der Tagesordnung. Das Leben war eine ununterbrochene Geschichte der Angst. Die Furchtsamkeit unterdrückte die Bereitschaft, Risiken einzugehen oder Innovationen zu wagen, und dadurch verarmten die Menschen. Viele dieser Risiken waren jedoch messbar und entsprachen in diesem Sinne der berühmten Definition von Frank Knight, wonach sich Risiken berechnen lassen (wohingegen Ungewissheit nicht messbar ist).[4] Ende des 20. Jahrhunderts indessen erschien eine Existenz in den reichen Industrieländern sicher bis an den Rand der Langeweile. Viele Menschen gingen davon aus, dass sie ein Leben lang in einem bestimmten Beruf, ja sogar bei einem bestimmten Arbeitgeber arbeiten würden. Der unberechenbare Ausbruch von Seuchen schien unter Kontrolle zu sein, die Gesellschaft war friedlich, und Krieg zwischen den Großmächten war unmöglich. Die Kräfte, die Steven Pinker als «die besseren Engel unserer Natur» bezeichnet, hatten sich machtvoll durchgesetzt.[5] Es sind die Engel, die uns dazu bewegen, miteinander zu kooperieren und uns im Angesicht von Risiken zu organisieren. Doch in was für einer Organisation?

Nachfrage nach Versicherungen entsteht in bestimmten Momenten, oft als Reaktion auf dramatische Krisen, die dem Menschen seine gefährdete Existenz bewusst machen. Die Wendepunkte der Versicherungsgeschichte sind Momente, in denen sich neue Risiken so häufen und ballen, dass sie die Gesellschaft grundsätzlich in Frage stellen. Deutlich illustriert wird dies in den Ursprüngen der modernen Versicherungspraxis. Sie liegen in den Gefahren der dichten Besiedlung in den Städten, die sich wiederum durch die zunehmende Spezialisierung und Arbeitsteilung ergab. Der Große Brand von London im Jahr 1666 führte zur Entstehung englischer Feuerversicherungsanstalten, von denen sich einige als bemerkenswert langlebig erwiesen. Die Wirkung der Katastrophe – und vergleichbarer Unglücke vom Hamburger Brand (1842) über den Brand von Glarus in der Schweiz (1861) und die Zerstörung Christianias (des heutigen Oslo, 1858) bis zur Vernichtung von Chicago (1871) und Boston (1872) – bestand darin, dass sie die Zusammenhänge und Verbindungen zwischen verschiedenen Risiken aufzeigte. In dicht bevölkerten Stadtgebieten voller Holzgebäude war ein einzelnes Haus kein abgeschiedenes Schloss. Die frühen Feuerversicherungen engagierten sich auch in der Prävention, indem sie Feuerwehren organisierten, die im Brandfall ausrückten, um die Schäden zu begrenzen.

Das frühe 21. Jahrhundert hat eine grundsätzliche Neuorientierung in der Einstellung zum Risiko bewirkt und zu einem Umdenken in der Frage geführt, was für eine Organisation sich dazu eignet, Risiken zu quantifizieren und umzuverteilen. Es herrscht eine neue wirtschaftliche Unsicherheit, durch die der Lebensweg des Einzelnen in modernen Industrieländern weniger vorhersehbar wird. Doch es zeigt sich auch immer wieder, dass Risiken auf überraschende und ungewöhnliche Weise verbunden sein können. Der Klimawandel erhöht die Wahrscheinlichkeit von großflächigen Überschwemmungen tief liegender Gebiete, in denen viele dicht besiedelte Wirtschaftszentren liegen. Manche Bedrohungen haben natürliche und biologische Ursachen: Epidemien wie die Vogelgrippe könnten in einigen Aspekten den tödlichen Seuchen früherer Zeiten ähneln. Organisierte Gewalt von nichtstaatlichen Gruppen – Terroristen oder Piraten etwa – hat etwas vom Überraschungsmoment epidemischer Krankheiten: Einzelne Infektionen führen schnell zu einem allgemeinen Ausbruch. Albrecht Dürers plastische Darstellung der Schrecken vormoderner Zeiten zeigt die vier Reiter der Apokalypse als unheilbringende Schar: Tod, Hunger, Krieg und Pest. Zwischen den moderneren Ursachen der Unordnung bestehen Verbindungen, die man verstehen kann, die aber einer wissenschaftlichen Analyse möglicherweise nicht vollständig zugänglich sind.

Eine Katastrophe zu erleben ist schrecklich, kann aber auch zum Nachdenken darüber anregen, wo die Ursachen liegen und warum die Auswirkungen so schwerwiegend sind. Jede dieser Katastrophen führte letztlich dazu, dass ein neuer Ansatz zur Bewältigung der Kosten entwickelt wurde, die durch das kollektive Scheitern oder die Ohnmacht im Angesicht des Schicksals entstehen.

Organisation von Risiken

Die Möglichkeit, Versicherungen abzuschließen, erfordert ein Verfahren, mit dem sich große und komplexe Risiken berechnen lassen. Außerdem setzt sie eine Organisationsform voraus, die die finanziellen Mittel zur Zeichnung des errechneten Risikos mobilisieren kann. Das Verfahren zur Berechnung von Risiken entwickelte sich aufgrund der überraschenden Erkenntnis, dass Gruppen von Männern und Frauen einem statistischen Gesetz gehorchen, zunächst insbesondere hinsichtlich der Muster der menschlichen Sterblichkeit. Mitte des 17. Jahrhunderts, in einer von Wetten und Wahrscheinlichkeiten besessenen Zeit, hatte Johan de Witt, Ratspensionär von Holland, mit Hilfe der Statistik Preise für staatliche Renten ermittelt. Es erschien ihm grundsätzlich paradox – und eine Quelle falscher Anreize – zu sein, dass Leibrenten (lijfrenten) unabhängig vom Alter des Käufers stets zum selben Preis verkauft wurden.[6] In den 1660er Jahren erstellte der Londoner Kurzwarenhändler John Graunt Sterbeverzeichnisse (Bills of Mortality) für die Einwohner Londons, damals der größten Metropole der Welt, doch die Berechnungen zur Lebenserwartung wurden durch die hohe Migration und Mobilität erschwert. Der englische Astronom Edmond Halley erstellte eine Sterbetafel anhand der Todesfälle in Breslau und berechnete damit den Wert von Leibrenten für verschiedene Lebensalter. Diese Prinzipien wurden dann recht schnell wirtschaftlich genutzt, und die Innovation wurde vermarktet. In England entstand im späten 18. Jahrhundert ein bedeutendes Lebensversicherungsgeschäft, das auf versicherungsmathematischen Tabellen auf der Basis von Daten aus Northampton beruhte. In anderen Ländern gab es dagegen keine entsprechenden Entwicklungen. Obwohl ein bedeutendes Werk von Antoine Depercieux 1746 die detaillierte versicherungsmathematische Grundlage für die Berechnung der Kosten von Leibrenten darlegte, versuchte die französische Regierung von den 1750ern bis in die 1780er Jahre nicht, den Preis der Renten nach Altersklassen zu staffeln. Hierauf verwiesen die Reformer und Revolutionäre der 1790er Jahre, um die Inkompetenz und Ignoranz des Ancien Régime anzuprangern.[7] In den USA kam der Lebensversicherungsmarkt erst nach den Finanzkrisen der späten 1830er Jahre wirklich in Schwung.[8] Der genaue zeitliche Verlauf der Versicherungsrevolution in den einzelnen Ländern lässt sich nicht mit den zugrunde liegenden mathematischen Formeln erklären – die sich ja schließlich leicht über geografische und soziale Grenzen hinweg anpassen lassen –, sondern nur mit der Wechselwirkung zwischen Institutionen und Mentalitäten.

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«Die vier apokalyptischen Reiter», Holzschnitt von Albrecht Dürer, 1498.

Das große Problem bestand darin, dass die Mentalität hinter dem Versicherungsgeschäft gefährlich und unproduktiv erschien. In der Frühzeit der Versicherung ließ sich der Unterschied zum Glücksspiel nur schwer ausmachen. Im 17. und 18. Jahrhundert konnte man sich gegen einen viel weiteren Kreis von Ereignissen versichern, als ein moderner Versicherer je in Betracht ziehen würde. Ende des 17. Jahrhunderts erklärte Daniel Defoe in seinem Essay Upon Projects («Ein Essay über Projekte»): «Das jetzt nach festen Regeln und Kontrakten übliche Wetten ist zu einem Versicherungszweig geworden, während es früher richtigerweise einen Teil des Spielens bildete und verdienter maßen in nur sehr geringer Achtung stand. Aber durch diesen Wandel und den Krieg, der mit seinen Unwägbarkeiten wie Belagerungen, Schlachten, Verträgen und Feldzügen geeignete Wettgelegenheiten anbot, gelangte es zu außerordentlichem Ansehen, und eigene Gesellschaften wurden geschaffen, die es in teilweise kuriosem Ausmaß betrieben – zum großen Vorteil besonders der Inhaber der Gesellschaften.»[9] Von dem Historiker Geoffrey Clark wissen wir, dass die bizarren Schadensmöglichkeiten in frühen englischen Versicherungen nicht nur Verluste durch Straßenräuberei umfassten, sondern auch «Lügen im Gespräch, Ehebruch der Gattin oder Tod durch Gingenuss».[10] In diesem Umfeld erschien die Versicherung als Deckung für Unmoral und als Möglichkeit, die schicksalhaften schlimmen Folgen und die Kosten des eigenen Handelns auf andere abzuschieben. Der Gambling Act von 1774 versuchte, Versicherung und Glücksspiel zu trennen, indem er Lebensversicherungen auf Fälle beschränkte, in denen der Käufer ein gutgläubiges Interesse an dem zu versichernden Leben hatte. Davor war es üblich, Rentenversicherungen auf das Leben von Personen abzuschließen, die aufgrund einer möglichst guten Gesundheit ausgewählt wurden: Viele französische und englische Anleger wählten junge Schweizerinnen oder Genferinnen aus, die sich verpflichteten, ledig zu bleiben (und damit die Risiken einer Geburt zu vermeiden), und später im 18. Jahrhundert auch gegen Pocken geimpft wurden.[11] Die mathematischen oder statistischen Verfahren, die zur Zeichnung von Lebensversicherungen benötigt werden, waren also schon weit verbreitet, bevor sich Versicherungen allgemein durchsetzten. Die kommerzielle Anwendung erforderte eine kleine Kulturrevolution, bei der Versicherungen dann mit Vorsicht assoziiert wurden statt mit Glücksspiel und Spekulation.

Das Paradoxe am Wetten liegt in der Tatsache, dass es für den Einzelnen zwar hochriskant sein mag, aber zu einer recht genauen Abschätzung der Wahrscheinlichkeiten führt, sobald nur ausreichend große Zahlen im Spiel sind – selbst in Bereichen, in denen die konventionelle Beurteilung von Wahrscheinlichkeiten schwer oder unmöglich ist. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Schaffung von Mechanismen, über die große Zahlen von Menschen auf spontan koordinierte Weise miteinander Verträge schließen können. Es kommt also auf die richtige Organisationsform an. Eine Versicherung setzt voraus, dass das Risiko persönlich beurteilt wird und der Versicherer mit dem Versicherten vertraut ist. Allerdings wird diese Vertrautheit stark beansprucht, wenn hohe Geldbeträge benötigt werden. Allein durch den Prozess des Poolings entsteht die Notwendigkeit komplexer vertraglicher Regelungen.

Was für Fähigkeiten werden beim Aufbau eines Versicherungssystems benötigt? Abgesehen von dem ursprünglichen Impetus (und vielleicht dem modernen Vorstoß in Richtung Finanz-Engineering, siehe unten) war das Versicherungs- und insbesondere das Rückversicherungsgeschäft über weite Strecken der Geschichte nicht gerade eine ausgesprochen unternehmerische Aktivität. Zu den Eigenschaften, die Tobias Straumann als Erfolgsvoraussetzungen im Versicherungsgeschäft nennt, gehören zunächst einmal ein hohes Maß an Kontaktfreudigkeit und ein gutes Gespür für Menschen beim Aufbau von Kontaktnetzen – mit anderen Versicherern und Agenten. Später im 20. Jahrhundert erforderte das Geschäft vor allem die Anhäufung technischer und mathematischer Fähigkeiten. Ein Generaldirektor von Swiss Re, Max Eisenring, ein ausgebildeter Mathematiker, sprach sogar vom möglichst weitgehenden «Ausschluss menschlicher Faktoren» aus dem Versicherungsgeschäft. Bei den persönlichen Netzen des 19. Jahrhunderts ebenso wie bei den algorithmischen des späten 20. Jahrhunderts, in der Entwicklung der menschlichen Organisation und der Entwicklung der analytischen Kapazität, eignet sich das Geschäft gut für einen Institutionalisierungsprozess.

Die Struktur des Geschäfts kann also bemerkenswert stabil sein. Sie wird von wenigen großen Unternehmen beherrscht. Im Jahr 2010 entfielen mehr als 60 Prozent des weltweiten Geschäfts auf die zehn größten Rückversicherer und mehr als 50 Prozent allein auf die größten sechs.[12] Ende des 19. Jahrhunderts war die Münchener Rück der größte Rückversicherer der Welt, und an zweiter Stelle folgte Swiss Re. Ein Jahrhundert später, im neuen Zeitalter der Globalisierung, war die Platzierung der beiden Unternehmen dieselbe. In der Zwischenkriegszeit hatten sie die Plätze getauscht, weil die Münchener Rück unter der finanziellen und wirtschaftlichen Instabilität litt, die durch den Ersten Weltkrieg entstanden war. Doch natürlich blieb die Struktur der Branche nicht völlig unverändert: Einige frühe Rückversicherungspioniere wie die Kölnische Rück und American Re verschwanden, während Berkshire Hathaway – ein Produkt der Initiative Warren Buffetts, eines Entrepreneurs im Schumpeter’schen Sinne – als einer der neuen beherrschenden Akteure des späten 20. Jahrhunderts neu hinzukam. Dies ändert jedoch nichts daran, dass kein anderes Geschäft eine ähnlich stabile Struktur aufweist. Die größten Unternehmen von heute – Google, Microsoft, Amazon – sind vollkommene Neuschöpfungen. Es sind Unternehmen, die eine institutionelle Innovation vorangetrieben haben. Die Finanzbranche dagegen ist etwas konservativer. Einige der Großbanken des frühen 20. Jahrhunderts – J. P. Morgan, die Credit Suisse oder die Deutsche Bank – sind durch Fusionen gewachsen und haben als beherrschende Akteure im frühen 21. Jahrhundert überlebt, doch viele Banken sind auch verschwunden. Die Rückversicherungsbranche scheint die stabilste Struktur von allen zu haben.

Ein Grund für die Stabilität ist die gewählte Geschäftsstruktur, die Unabhängigkeit garantierte. Berkshire Hathaway ist so konzipiert, dass die stimmberechtigten Aktien Buffetts Kontrolle immer gewährleisten. Die Münchener Rück entwickelte eine verflochtene Aktionariatsstruktur mit der Allianz. In der gewählten Unternehmensstruktur von Swiss Re spiegelte sich lange Zeit ein typisch schweizerisches Verständnis von Corporate Governance wider. Bis 1995 gab es keine Einheitsaktie; stattdessen sorgten Aktien mit besonderen Stimmrechten sowie phasenweise ein Verbot von ausländischem Eigentum an Namensaktien dafür, dass es nicht zu einer feindlichen Übernahme oder zu einem Verlust der Kontrolle kam. Andererseits war das Prinzip der Aktiengesellschaft mit beschränkter Haftung eine wichtige Voraussetzung für die Fähigkeit, an den Finanzmärkten Geld zu beschaffen.

Das Prinzip der Aktiengesellschaft

Ein entscheidender Impuls für Versicherungsaktivitäten im großen Stil war die Schaffung geeigneter Gesellschaftsformen, die es ermöglichen, große Kapitalmengen aufzunehmen. Die Geschichte der Versicherung ist insofern auch die Geschichte der Aktiengesellschaft. Diese Geschäftsform war stabiler und eignete sich auch für eine Expansion und das damit anstehende Pooling immer größerer Risikokategorien und -arten. Adam Smith, der grundsätzlich nichts von der Idee der Aktiengesellschaft hielt, weil er darin häufig einen Missbrauch sah, nahm Banken und Versicherer aus: «Die einzigen Handelsgeschäfte, die eine Aktiengesellschaft offenbar mit Erfolg zu betreiben vermag, ohne ein ausschließliches Privileg zu besitzen, sind jene, in denen man alle Vorgänge so stark reduzieren kann, dass sie zur sogenannten Routine werden oder zu einem solch uniformen Verfahren, bei dem nur eine geringe oder überhaupt keine Veränderung auftritt. Hierzu gehört erstens das Bankgewerbe, zweitens die Versicherungen gegen Feuerrisiken, in der Schifffahrt und gegen Aufbringung in Kriegszeiten, drittens das Gewerbe zum Bau und zur Unterhaltung eines Durchstiches oder Kanals für Schiffe und schließlich viertens ein ihm ähnliches Gewerbe, nämlich die Wasserversorgung einer großen Stadt.»[13]

Die Versicherungs-Aktiengesellschaften stehen in scharfem Kontrast zur Geschichte einer scheinbar näherliegenden Versicherungsform, der Versicherungsgenossenschaft. Das Genossenschaftsprinzip begrenzte die Unternehmensgröße – und damit auch die Möglichkeit, wirklich große Risikopools aufzubauen –, weil es schwer war, neues Kapital für eine Expansion in neue Bereiche aufzunehmen oder das Kapital bei unerwartet hohen Schäden zu erhöhen. Die Aktiengesellschaften des 19. Jahrhunderts, bei denen das Kapital zunächst nur teilweise eingezahlt wurde, konnten ihre Ressourcen notfalls aufstocken – bei Versicherern im Fall eines Großschadens. Anderseits wurde die Höhe des Engagements durch die anfängliche Kapitalzeichnung begrenzt, sodass der Anleger keine unbegrenzten Verluste zu befürchten hatte, wie sie im alternativen britischen Versicherungsmechanismus, den Lloyds-Syndikaten, entstehen konnten.

Es besteht eine enge Verbindung zwischen der Gründung der ersten englischen Versicherungsriesen und einer Revolution der Gesellschaftsform. Diese Innovation hing mit einer allgemeineren Finanzrevolution zusammen, bei der ein neues Konzept für das Bankwesen und die Verwaltung der Staatsschulden – bei der eine andere Aktiengesellschaft, die Bank of England, eine entscheidende Rolle spielte – die Grundlage für ein Vertrauensnetz schuf, das immer stabiler wurde. Die Staatsschulden, die seit 1694 von der Bank of England verwaltet wurden, waren eine sichere Anlage, die das Fundament eines Finanzsystems bildete, das glaubwürdige Versprechen zu einer realen Möglichkeit machte. Die beiden lange Zeit dominierenden britischen Versicherungsgesellschaften, die Royal Exchange Assurance und die London Assurance, entstanden beide im Jahr 1720, als die Finanzspekulationen eskalierten. In England entstand und platzte die Südseeblase mit den Aktien der South Sea Company, in Frankreich zur selben Zeit die Mississippiblase um den Plan John Laws, mit der Übernahme der französischen Staatsschulden durch die Mississippi-Kompanie die französischen Finanzen zu revolutionieren. Der Ursprung zur Gründung der Royal Exchange Assurance liegt im 1717 entstandenen Vorschlag, eine große Subskription in Höhe von einer Million Pfund für eine Transportversicherung aufzulegen. Die Summe war so hoch, dass sie eine Charter als Aktiengesellschaft erforderte. Diese konnte jedoch nur ausgestellt werden, wenn die neue Gesellschaft auch einen Mechanismus für die Übernahme eines Teils der englischen Staatsschulden anbot, wie es die Bank of England 1694 getan hatte und wie es auch die South Sea Company in Aussicht stellte. Denselben Effekt hatte dieses Spekulationsjahr, in dem so viele Aktiengesellschaften entstanden, auch in den Niederlanden, wo die Rotterdamsche Maatschappij van Assurantie gegründet wurde. Riesige Kapitalbeträge strömten in die Neuemissionen, doch der Kurs brach mit dem Ende der Spekulationsblase schnell ein.

Durch die Diskreditierung der Aktiengesellschaft infolge der extremen Finanzturbulenzen von 1720 waren dem Versicherungsgeschäft eine Zeit lang Grenzen gesetzt. Als die Idee in Europa wieder auftauchte, weil durch die technischen Veränderungen der industriellen Revolution neue Sicherheitsanforderungen entstanden, waren die Länder mit einem liberalen Gesellschaftsrecht – allen voran das neue Königreich Belgien – klar im Vorteil. So verzeichnete insbesondere Belgien eine explosionsartige Steigerung der Unternehmenstätigkeit. Häufig ging es dabei um neue Dienstleistungen für französische und deutsche Firmen.

Die moderne Versicherung entstand auch, weil ältere staatlich gelenkte Versicherungsinitiativen scheiterten. Der Brand von Glarus in der Schweiz belastete und zerstörte die bestehenden öffentlichen Mechanismen, und bei der Landsgemeinde im Mai 1861 verlangten die Bürger ein Ende der öffentlichen Versicherung, weil sie allein keine ausreichende Sicherheit bieten könne. Stattdessen wurde eine private Lösung als Möglichkeit vorgeschlagen, größere Verbindlichkeiten breiter und verlässlicher zu verteilen. Ein solches Versicherungskonzept erforderte die Gründung eines Netzwerkes mit finanziellen Zusagen, die die Zahlung hoher Schäden unterstützen konnten.

Rückversicherung

Die Rückversicherung als Geschäft entwickelte sich speziell in Mitteleuropa, in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Diese Tatsache bedarf einer Erklärung. Das Prinzip der Risikobeteiligung oder der Verteilung von Versicherungsrisiken durch Mitversicherung ist schon alt, es geht auf die Anfangstage der Transportversicherung zurück. Der reine Rückversicherungsanbieter ist jedoch ein Geschöpf des 19. Jahrhunderts – und war zunächst eine bizarre und problematische Erscheinung.

Warum war die Rückversicherung eine Besonderheit des Kontinents? Die großen britischen Firmen – ebenso wie die komplexe Organisation der Transportversicherung durch Lloyds-Syndikate – verfügten über ausreichende Kapitalreserven und brauchten daher keine unterstützende oder ergänzende Rückversicherung. Außerdem war die reine Rückversicherungstätigkeit in England bis 1864 verboten, da sie verschiedentlich missbraucht worden war, um Versicherungen ohne Risikotransfer zu tarnen.

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Das große Feuer von London, 1666.

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Lloyd’s Underwriter in einer Darstellung von 1789. Edward Lloyd’s Kaffeehaus wurde 1688 erstmals erwähnt und blieb der zentrale Treffpunkt für den Londoner Versicherungsmarkt, bis die Mitglieder von Lloyd’s 1774 in die Royal Exchange umzogen.

Kontinentaleuropa litt dagegen unter den Folgen einer geringeren Kapitalakkumulation. Die Versicherer waren anfangs kleiner und konnten mögliche Forderungen nicht in vollem Umfang erfüllen. Die Möglichkeit, Rückversicherungen anzubieten, war daher ein Ersatz für Kapitalimporte. Bei den Überlegungen zur Gründung von Swiss Re ging es zuerst konkret darum, dass es wünschenswert sei, nicht zu sehr von ausländischem Kapital abhängig zu sein. Als sich das Rückversicherungsprinzip etabliert hatte, erwies es sich als gute Möglichkeit, Kompetenz in neuen Märkten zu erwerben. Man schnupperte gewissermaßen an neuen Aufgaben, denn durch die Zeichnung von Risiken anderer Versicherer konnte man sich gut mit den Schadensmustern und den entsprechenden Prämienberechnungen vertraut machen.

In der Schweiz war die Problematik der Abhängigkeit von ausländischem Kapital besonders extrem. Nicht dass das Land arm gewesen wäre, aber der Kapitalbedarf für Infrastrukturinvestitionen in der romantischen und wilden, aber auch kostenträchtig felsigen und gebirgigen Landschaft war exorbitant. Sollte dieser Bedarf durch staatliche Maßnahmen gedeckt werden? Oder ließ sich die Lücke mit privater Initiative schließen?

Swiss Re entstand in unmittelbarer Nähe zu großen Schweizer Banken – der Basler Handelsbank, vor allem aber der 1856 (als Schweizerische Kreditanstalt) gegründeten Credit Suisse. Der große Schweizer Industriepionier Alfred Escher sah in der Bank ein Vehikel – gewissermaßen eine Art Dampfmaschine – zur Mobilisierung der gewaltigen Summen, die benötigt wurden, um den Gotthard- und andere Tunnel zu bauen und die Schweiz in eine Drehscheibe des europäischen Eisenbahnnetzes zu verwandeln. Im Transportbereich ergänzte man sich in vielen Bereichen: Der Initiator von Swiss Re, Moritz Grossmann, war ursprünglich von St. Galler Kaufleuten angesprochen worden, die eine Transportversicherungsfirma gründen wollten (daraus wurde dann die Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft Helvetia). Anschließend schlug er die Gründung des ersten privaten Schweizer Feuerversicherers vor, danach die eines Rückversicherungsunternehmens. Als Argument wurde explizit angeführt, wie Tobias Straumann zeigt, dass mit der Gründung einer Rückversicherungsgesellschaft Kapital in der Schweiz gehalten werden könne, das sonst ins Ausland fließen würde. Es war die Credit Suisse, die darauf bestand, dass eine weitere Bank und andere Versicherer als Aktionäre beteiligt sein sollten. Escher war nicht nur der überragende Unternehmer der Schweizer

Geschichte, sondern er war auch ein Visionär: Ihm war klar, dass der Aufbau einer neuen Wirtschaft notwendigerweise ein Solidaritätsnetz erforderte, das er und sein Institut nicht allein bereitstellen konnten.

Die neue Gesellschaft erkannte, dass sich ihre Organisationsform auch für Geschäfte jenseits der Schweizer Grenzen eignete, insbesondere in Deutschland und Österreich. Doch den eigentlichen Impuls zur Globalisierung des Geschäfts gab erst der Wettbewerb. Ende des 19. Jahrhunderts war Swiss Re eindeutig nicht so agil wie ihr stark expandierender deutscher Konkurrent, die (1880 gegründete) Münchener Rück. Die Münchener Rück ging anders vor, um ihr Geschäft voranzubringen: 1890 gründete sie einen eigenen Erstversicherer, die Allianz, die recht schnell eine gigantische Präsenz auf dem internationalen Versicherungsmarkt erreichte. Dieses Modell imitierte Swiss Re erst in den 1920er Jahren. Andererseits veranlasste die mächtige süddeutsche Konkurrenz Swiss Re zu einem gesteigerten Engagement in Frankreich und Großbritannien, ab 1899 aber auch in den USA und insbesondere in den sogenannten offenen Staaten, in denen keine besondere (an bestimmte Investitionszusagen geknüpfte) Konzession erforderlich war. (Auch deutsche Länder verlangten den Erwerb eines Portfolios lokaler Anlagen – Staatsanleihen – als Voraussetzung für die Zulassung zum Versicherungsmarkt, doch Deutschland war ein so naheliegender und notwendiger Markt für ein schweizerisches Unternehmen und zudem fiskalisch und wirtschaftlich erheblich stabiler, dass der Kauf deutscher Anlagen bei Swiss Re nie problematisiert wurde.) Die Münchener Rück hatte sich 1897 im US-Markt engagiert und stieg bis zum Ersten Weltkrieg zum beherrschenden Unternehmen in der US-Feuerrückversicherung auf. Swiss Re dagegen erzielte noch 1913 fast die Hälfte ihrer Gewinne in den europäischen Nachbarstaaten Frankreich, Italien und Österreich.

Erst- und Rückversicherer mussten zwangsläufig eng zusammenarbeiten. Dies war ein wesentliches Element der ursprünglichen Vision der Pioniere Escher und Grossmann. Naturgemäß bestand das Problem, dass kleine Versicherer ohne eine Verbindung, die Vertrauensbeziehungen schafft, versucht waren, problematische Policen gezielt bei Rückversicherern abzuladen. Genau so eine Szene enthält Thomas Manns berühmter Roman Buddenbrooks über den Niedergang des Großbürgertums: Tony Buddenbrooks scheinbar ehrenwerter Schwiegersohn Hugo Weinschenk reicht Policen an Rückversicherer weiter, nachdem Brände stattgefunden hatten. Mann beschrieb offenbar ein reales und gravierendes Problem: Während die Feuerversicherung im späten 19. Jahrhundert bescheidene Gewinne abwarf, verzeichnete die Rückversicherung langfristige Verluste. Die frühen Jahre der neuen mitteleuropäischen Rückversicherer waren recht hart. Die Kölnische Rück, einer der Pioniere, zog sich zurück. 1868, nach einem langen heißen Sommer mit ungewöhnlich vielen verheerenden Bränden, stand Swiss Re kurz vor der Insolvenz. Sie reduzierte das Kapital und erwog einen vollständigen Ausstieg aus der Feuerversicherung. 1876 stieg sie in die Lebensversicherung ein, wo die versicherungstechnischen und mathematischen Berechnungsgrundlagen besser nachzuvollziehen waren. Die Rückversicherungsbranche bemühte sich damals auch um ein gemeinschaftliches Vorgehen und veranstaltete in München eine allgemeine Konferenz, die David Gugerli in seinem Beitrag zu diesem Band über die Entwicklung des Rückversicherungsmarkts auf dem Kontinent beschreibt. Dort wurde versucht, die Beziehungen zu den Erstversicherern neu zu bestimmen und zu verbessern.

Die internationale Mobilität des Kapitals und das Problem der Rendite

Im 19. Jahrhundert war der Kapitalverkehr frei – freier sogar als der Warenverkehr, der zu Beginn des Jahrhunderts streng kontrolliert wurde und vom letzten Viertel des Jahrhunderts an durch die Zollpolitik eingeschränkt wurde. Der Beitrag von Peter Borscheid skizziert den Aufstieg der Versicherungswirtschaft zur globalen Industrie, die von der Mobilität des Kapitals profitiert und gleichzeitig einen kostengünstigeren Ersatz für die weitaus größeren Kapitalströme bietet, die ohne Versicherung für die Entwicklung erforderlich gewesen wären. Ein solches globales Geschäft war durch Maßnahmen gefährdet, die heute oft als Gegenreaktion auf die Globalisierung im Gespräch sind.[14] Was geschah, als der Kapitalverkehr immer stärker eingeschränkt wurde – zuerst aus politischen Gründen während des Ersten Weltkriegs und dann im Gefolge der Weltwirtschaftskrise?

Im 20. Jahrhundert veränderten sich auch Ausmaß und Art der Risiken. Das Erdbeben von San Francisco war ein entscheidender Moment, denn es zeigte die Überlebensfähigkeit einer belastbaren Versicherungsbranche auch angesichts enormer Schäden, rechtlicher Herausforderungen und eines politischen Umfelds, das sie zur Begleichung von Schäden drängte, für die sie sich nicht in der Haftung sah. Die von Swiss Re gezahlte Regulierungssumme von 4,3 Mio. CHF war – gemessen an den Prämieneinnahmen – die bis dahin höchste einzelne Schadenszahlung. Swiss Re ging daran nicht zugrunde, doch die Geschäftsleitung sah sich zunächst zu dem Beschluss veranlasst, sich aus dem US-Markt zurückzuziehen. Sie überdachte die Frage dann jedoch und kam zu dem Ergebnis, dass sie sich durch die Reaktion auf das Erdbeben von San Francisco einen Ruf als verlässlicher Zahler erworben hatte, an den sie anknüpfen konnte. 1910 gründete sie gemeinsam mit der Londoner Phoenix ein amerikanisches Branch office, das in allen Staaten der Union tätig war.

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Anlagerendite von Swiss Re und Rendite zehnjähriger Schweizer Staatsanleihen