Die scharfe Schere

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In einem kleinen Städtchen war einmal ein frommes Schneiderlein, das wartete gar fleißig seiner Arbeit und rührte sich vom Morgen bis zum Abend mit Nähnadel und Fingerhut, Schere und Bügeleisen, brachte es aber gar nicht weit damit und kam zu nichts Rechtem. Alles was man von seinem Glücke sagen konnte, war: daß sotanes Schneiderlein sich leidlich und ehrlich durchflicke. Die Familie, aus Frau und mehreren Kindern bestehend, welche erhalten sein wollte, schwere Zeit und durch sie manche Sorge erpreßten dem Schneiderlein manchen Seufzer. Hätte es gerne etwas besser gehabt, wußte aber nicht, wie dies anfangen; hätte gerne noch mehr gearbeitet, konnte aber doch nicht mehr tun, als zu tun ihm aufgetragen wurde, und konnte keine Kundschaft herbeizaubern, so sehr er dies auch manchesmal wünschte.

Aber die Zeit wurde immer schlechter, und es gedieh dahin, daß das arme Schneiderlein keinen einzigen Gesellen mehr halten konnte, und als sein letzter Lehrling losgesprochen war und das Räntzel geschnürt hatte und in die Fremde gewandert war, so meldete sich kein anderer Knabe zum Lehrling, denn die Leute sagten dem Schneiderlein nach, es sei weiter nichts als ein Flickschneider, welches Wort nicht viel mehr sagen will als ein Lump.

Da klopfte eines Tages schon gegen die Abenddämmerung endlich einmal wieder ein Schneidergesell an, grüßte das Handwerk und bat um Arbeit. Dem klagte das arme Meisterlein gleich seine Not und sprach, es wollte ihm von Herzen gerne Arbeit geben, so es deren nur hätte. Der Schneidergeselle aber antwortete, der Meister solle ihn nur annehmen; wo er arbeite, da sei das Glück, da gebe es genug zu schaffen.

»Nun wohl! Wir wollen es auf acht Tage probieren«, sagte der Schneider, der leicht Hoffnung schöpfte, und wäre es auch nur ein Fingerhut voll gewesen. Einiges fand sich noch zu flicken vor, und am andern Morgen begann die Arbeit; Meister und Geselle saßen einander gegenüber, und dem ersten stand die Nadel still, als er sah, wie flink und fertig der neue Geselle nähte. Dessen Nadel flog nur so, man sah kaum die arbeitende Hand.

Nun betrachtete sich der Meister seinen neuen Gesellen auch weiter und verwunderte sich über dessen Gestalt. Derselbe war schier so dünn wie ein Zwirnsfaden; das nichts weniger als wohlbeleibte Schneiderlein war gegen jenen, was ein starker Stamm ist gegen eine dünne Gerte; das Gesicht des Gesellen war dem Meister nicht angenehm; es ähnelte jenes Physiognomie aufs Haar der eines Ziegenbockes, und nebenbei hing der Geselle an alles, was er sprach, ein seltsames kicherndes Gelächter, das akkurat wie Meckern klang.

Kaum hatte die Arbeit begonnen, als es an die Türe klopfte und ein fremder Herr eintrat, welcher ein neues Gewand bestellte und das Geld für das Tuch gleich auf den Arbeitstisch legte. Zitternd vor Freude hüpfte das Schneiderlein um den Fremden herum und nahm das Maß. Ach, es hatte so lange nicht das wonnige Gefühl einer Schneiderseele empfunden, ein Maß zu einem nagelneuen Gewande zu nehmen. Der Fremde empfahl Eile und ging, und die Frau Meisterin sollte geschwind in den Tuchladen gehen, das Tuch zu holen, konnte sich nicht schnell genug anziehen.

»Sieht der Meister, daß ich recht hatte?« fragte der Geselle. »Mit mir kommt das Glück ins Haus, mähähähä!«

»Freut mich, freut mich sehr!« antwortete schmunzelnd das Schneiderlein.

»Zehn Taler hat der Herr zu Tuch da gelassen?« fragte der Geselle weiter. »Da schickt man achte in den Tuchladen, und zweie behält man – mähähähä!«

»Gott soll mich behüten und bewahren!« rief erschrocken das Schneiderlein. »Nein, das wäre eine Sünde, das wäre unrechtes Gut, das bringt kein Gedeihen!«

»Lasse mich der Meister aus mit – und Sünde – solche Worte kenn ich nicht – mähähähä!« erwiderte mit einem ungemein spöttischen Gesichte der Geselle, immerfort fleißig arbeitend. »Man riecht dem Meister recht das kleine Stadtnest an, darin wir sitzen – da sollte einmal der Meister in einer großen Stadt leben und ein Kunde so dumm sein wie der unsrige, das Geld zum Tuche voraus zu bezahlen! Dort müßte man von zehn Talern gleich fünfe behalten, weil so gar viele andere Kunden das Tuch, das die Schneider zum Gewande tun, nie und niemals bezahlen, und Auslagen nebst Macherlohn zum – zum Teufel sind – mähähähä!«

Das fromme Schneiderlein fädelte einen neuen Faden in seine Nadel, zog diesen recht lang aus, hielt ihn dem Gesellen unter die Nase und sagte: »Sieht Er, Mosjö! Ehrlich währet am längsten!«

»Eine gute Zehrung, mit der man weit kommt!« spottete der Geselle mit seinem steten unausstehlichen Meckerlachen.

Das Tuch wurde gebracht, es war fein und gut; der Schneider spitzte die Kreide und schickte sich zum Zuschneiden an. Der Geselle blickte in die Camera obscura, die sich an den Arbeitstischen der Schneider befindet, um Abfälle von Tuch, Futter und dergleichen aufzunehmen, und scharrte mit dem Fuße darinnen umher, es lag aber gar nichts darin als einige Fasern von der letzten Flickarbeit – dann folgte des Gesellen lauernder Blick jeder Handbewegung des Meisters – dann sagte er: »Nun Meister! Euer Ältester braucht notwendig ein Röcklein, oder die Frau Meisterin könnte eine Sonntagsjacke wohl brauchen. Schneidet hübsch mit Verstand zu – werft die Lappen her – in die Hölle – mähähähä!«

»Beim Teufel ist die Hölle – nicht bei mir! Nicht ein Flecklein zu einem Haubenläppchen für meine Frau behalte ich!« versetzte der ehrliche Schneider.

»Pah!« rief der Geselle und zog sein Bockgesicht zu einer greulich fletschenden Grimasse. »Wozu ist denn die Hölle da? Wozu hat sie ein Loch – mähähähä?«

»Es heißt eigentlich gar nicht Hölle, es heißt Höhle, weil es ein dunkler hohler Raum ist – mit der Hölle hat kein ehrlicher Schneider was zu schaffen«, versetzte der das Tuch mit größter Gewissenhaftigkeit zuschneidende Kleiderkünstler.

»Schulmeister! Oh! Deutscher Sprachmeister!« spottete der Geselle und warf einen Blick voll des grimmigsten Hohnes auf den redlichen Mann. Dieser aber ließ sich nicht irren, und die neue Arbeit wurde begonnen. Im Laufe desselben Tages gingen noch andere Bestellungen ein – eine nach der andern; bereits war Arbeit auf eine ganze Woche vorhanden.

Dem Schneidermeister gefiel sein neuer Geselle gar nicht; er hätte ihm gern am Morgen des ersten Arbeitstages schon wieder Feierabend gegeben, aber er hatte ihn nun einmal auf eine Woche lang angenommen; der Geselle schien in der Tat das Glück mitgebracht zu haben, und schickte er ihn aus der Arbeit, so konnte er allein nicht in zwei Wochen alles fertigen, was bestellt war. Und einen zweiten Arbeiter, wie dieser Geselle war, gab es gar nicht.

Am folgenden Tage setzte sich die Arbeit rührig fort, unter manchem Zwiegespräch, unter mancher Spötterei und manchem den Meister verhöhnenden Bockgelächter, daran sich dieser jedoch wenig kehrte. Er dachte: Spotte, höhne du nur immerzu, stichle, so viel du willst, arbeite nur so fort; dein Spott beißt mich nicht, dein Hohn sticht mich nicht – der heiße Bögelstahl deiner Zunge brennt mich nicht.

So kam der Schneider mit Geduld und gutem Gewissen viel weiter, als wenn er fort und fort mit dem Gesellen gezankt und gehadert hätte.

Zwischen die Arbeittage fiel jetzt ein Sonntag. Meister und Meisterin schliefen eine Stunde länger, es war ja Ruhetag. Am Abende vorher hatte die Meisterin die Werkstätte recht schön ausgekehrt und aufgewaschen, war aber nicht wenig erstaunt, als sie am Sonntagmorgen hineinschaute, den Boden rings umher wieder voll Tuchschnitzel, Zwirnstücke und Futterfetzen liegen zu sehen und auf seinem Platze den Gesellen in voller Arbeit; er hatte ein reines Hemde an, welches vorn aufstand, und mit Entsetzen gewahrte die Meisterin, daß des Gesellen Brust über und über voll schwarzer Haare war.

Sie zog sich zurück und drückte ihrem Manne ihre Verwunderung aus, daß er den Gesellen am lieben Sonntage arbeiten lasse, was doch eine Sünde sei – und sie habe doch erst abends zuvor die Werkstatt so schön gefegt.

»Wie? Er arbeitet?« fragte ganz verwundert der Meister.

»Mir ist nicht eingefallen, ihn das zu heißen. Das soll er gleich bleiben lassen!«

Rasch trat der Meister in die Werkstatt: »Schönen guten Morgen auch! Aber was soll das heißen? Weiß Er nicht, daß heute Sonntag ist?«

»Großen Dank, Meister! Nä, mähähähä!«

»Hör Er! Lasse Er Sein dummes Lachen! Ich verbitt es mir!« sagte der Meister und warf sich in die Brust. »Heute ist Sonntag, heute wird ein für allemal nicht schneideriert. Sonntag ist Ruhetag!«

»Halte mir doch der Meister meine Arbeiten nicht für ungut!« verteidigte sich der Geselle mit scheinbarer Demut. »Für wen arbeite ich denn? Für Ihn oder für mich? Doch ohne Zweifel für Ihn. Ich bin nun einmal an stete Tätigkeit gewöhnt, ich muß mir stets was zu tun machen – ich kenne keine Ruhe und keinen Müßiggang. Kennt Ihr nicht das schöne Sprüchlein: Müßiggang ist des Teufels Ruhebank und aller Laster Anfang? Mähä –«

»Mag sein«, antwortete der Meister, einigermaßen verwirrt. »Jetzt höre Er auf zu arbeiten. Frühstücke Er und ziehe Er sich an. Er täte auch wohl, sich zu rasieren; schau Er einmal in den Spiegel – Er hat ja einen Bart justement wie ein Ziegenbock.«

»Mähähähä!« lachte der Geselle überlaut. »Verzeih mir's der Meister – ich muß lachen – mähähähä! daß Ihr einen solchen Vergleich braucht. Nun Euer Wille soll geschehen.«

Der Geselle ging in seine Kammer, rasierte sich und zog sich an und sah mit dem Barte, den er sich hatte stehen lassen, wie eine lebendige Satire auf die ganze löbliche Schneiderzunft aus.

Er hatte einen kohlschwarzen Frack von glänzendem Sommerzeug an, dessen Schöße bis auf die Erde hingen, und in der Tasche des einen bauschte etwas, als wenn eine lange Schlangengurke drinnen stäke, vermutlich eine Tabakspfeife, denn es hing eine Art schwarzer Quaste heraus. Unter dem Frack trug der Schneidergeselle eine Weste von feuerfarbigem Berkal, und seine Sommermodesten waren von echtem Nankin. Einen Hut besaß der Geselle nicht, sondern bloß ein flottes barettähnliches Käpplein von schwarzem Sammet, mit rotem Rande und mit Goldschnur baspoliert. In der Hand trug er einen wunderlich knorrigen Stock von Wacholderholz, dessen Griff eine Art Drachenkopf bildete, welcher als ein Spiel der Natur so gewachsen war.

»Ei – Er hat sich ja recht stattlich herausgeputzt, Schwarzburger!« rief der Meister den Gesellen an, der, wie das Wanderbuch auswies, aus dem Schwarzburgischen stammte. »Nur Sein Bart gefällt mir nicht und Sein Käpplein auch nicht, es hat vorn so seltsame Ecken, just als ob ein paar Bockshörnlein darunter steckten!«

»Ei, daß Euch der Bock stieße, Meister!« rief der Geselle.

»Erst soll ich armer Schwartenhans einen Bocksbart, dann gar Bockshörnlein haben! Wisset, wenn Ihr so seid, so kann ich auch bocken, kann auch Feierabend machen.«

»Friede am lieben Sonn- und Feiertage!« gebot der Meister. »Wir wollen einander nicht gegenseitig ins Bockshorn jagen. Hier Geselle, hat Er ein Gesangbuch – wir gehen in die Kirche.«

Vergebens hielt der Meister dem Gesellen das Buch hin – jener berührte es nicht – und lachte verlegen:

»Mähähähä, Meister! Legt's hin – legt's hin – ich muß – ja, zu meiner Schande muß ich's Euch gestehen – ich kann nicht – ich kann nicht lesen

»Hm! Hm!« brummte das Schneiderlein verwundert und sprach: »Das nimmt mich wunder, daß bei den zahllosen trefflichen Schulanstalten, deren Deutschland sich zu erfreuen hat, und bei der Überzahl von Lehrern, welche rings die wahre Bildung und Aufklärung verbreiten, irgendwo der Unterricht noch so mangelhaft beschaffen sein sollte, daß ein deutscher Schneider nicht lesen könnte – indessen nehme Er nur das Buch, lege Er es in der Kirche vor sich hin und tue Er, als sähe Er hinein – das machen viele Tausende so, die recht gut lesen können. Es sieht doch aus wie Andacht.«

»Ich kann wahrhaftig nicht, verschone mich der Meister damit!« lehnte der Geselle beharrlich ab. »Ich kann nicht in die Kirche gehen – die kühle Luft beklemmt mir meine schwache Brust – ich will ein wenig Spazierengehen, die Natur ist mein Tempel – und hier ist eine schöne Gegend, nicht wahr, Meister?«

»O ja«, mischte sich die Meisterin in das Gespräch. »Wenn er zum untern Tore hinaus ist, führt gleich links der Weg in ein Felsental; man heißt diesen Weg nur den Drachengraben, und weiter hinten steht ein schöner Steinfels, den heißt man die Teufelskanzel.«

»Ah! Das ist schön! Da will ich hingehen! Küsse die Hand, Frau Meisterin! Wünsche allerseits gute Andacht! Mähähähä!«

Am Sonntage nach der Nachmittagskirche ging das ehrsame Schneiderlein mit seiner Familie auch spazieren; das Wetter war sehr einladend, und an einem nahen Vergnügungsorte, allwo es gutes Bier gab, wurde es sehr voll. Die Kinder fanden Spielgenossen, die Frau Meisterin fand Freundinnen und Gevatterinnen, und der Meister fand einen ihm wohlwollenden geistlichen Herrn, mit dem er sich noch ein wenig in der Nähe des Lustgartens in guten Gesprächen erging. Da begegnete ihnen der Geselle.

»Mein, was ist das für eine Figur? Die hab ich doch hier noch nicht gesehen!« fragte der geistliche Herr. »Schaut, Meister, diese verzwickte Gestalt, diese miserable Physiognomie, und wie der Kerl hinkt!«

»Wahrhaftig, er hinkt, das habe ich noch gar nicht wahrgenommen!« erwiderte der Schneider.

»Wie? Ihr kennt ihn, Meister?«

»Es ist mein neuer Geselle«, antwortete mit einer gewissen Wichtigkeit und Betonung das Schneiderlein; denn es schmeichelte ihm doch, der Mann zu sein, welcher einen Gesellen hielt. Dieser Geselle aber schlug einen Nebenweg ein und bog links ab, um den beiden, die von ihm sprachen, nicht zu begegnen.

Der geistliche Herr schien ebenso neugierig als argwöhnisch, er richtete Frage auf Frage an den Meister und machte dem guten Manne, der so ehrlich war, keine Hölle haben zu wollen, dennoch die Hölle heiß.

»Was sagt Ihr mir da alles, Meister?« rief der geistliche Herr. »Wie ein Bock sieht er aus – meckert wie ein Bock – scheint Hörnlein unter der Kappe zu haben – hinkt – faßte das Gesangbuch nicht an – kann die Kirchenluft nicht vertragen? O du Erzbock, du Sündenbock! Du Bock aller Böcke! Meister, um des Himmels willen, welch einen Bock habt Ihr geschossen, diesen Bock in Euer christliches Haus aufzunehmen! Dankt dem Himmel, daß Euch heute mich hier finden ließe. Euer Geselle – das ist der helle Teufel!«

Das Schneiderlein stieß einen Schrei aus und war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen – ja – ja – alles wurde ihm klar – die plötzlich sich häufende Arbeit, der schlimme verführerische Rat, vom Tuchgelde zu behalten, Tuch zu ganzen Jacken in die Hölle zu werfen – des Gesellen Hohn, den er stets gegen alles aussprach, was hehr und heilig war, jetzt stand alles im fürchterlichen Zusammenhange da. Wenn das Tischgebet gesprochen wurde, hatte der Geselle sich Salz genommen, das Ding in seiner langen Rocktasche hatte sich bisweilen wunderlich bewegt, als zapple ein Aal darin, und die Quaste, die manchmal herausbaumelte, war nicht von schwarzem Kamelgarn, sondern es waren Haare.

»Meister!« begann aufs neue sehr ernst der geistlich Herr: »Ihr seid ausersehen zu einer großen Tat, wie noch nie ein Schneider eine verrichtete – vollbringt Ihr sie, so tragt Ihr ewigen Ruhm davon; unterlaßt Ihr sie zu vollbringen, so seid Ihr mit Leib und Seele, mit Frau und Kindern verloren zeitlich und ewiglich. Ihr habt jetzt den Schwarzen im Hause, Euch dient er, auf Spekulation, Eure Seele zu verderben, der Seelenfänger. Habet Acht, wie wir ihn bannen und ihm das Wiederkommen verleiden, denn das wißt Ihr doch, daß eine Katze nicht wieder das Haus besucht, darin man ihr den Schwanz abhackte oder die Ohren abschnitt. Laßt vom Schleifer Eure Schere schärfen und habt sie zur Hand – das Weitere will ich Euch dann schon noch sagen.«

An diesem Abende gab es an dem Vergnügungsorte nächst dem Städtchen, wo das Schneiderlein seßhaft war, zwischen Schneidergesellen und Schuhmachergesellen fürchterliche Prügel. Ein Schuhmachergeselle hatte über die unförmigen Stiefel gespottet, welche der fremde Schneidergeselle trug, es waren erst witzige, dann grobe Worte gefallen, dann die Schläge hageldicht, erst mit Stöcken, dann mit Stuhlbeinen, und noch nie hatte es so viele zerschlagene Nasenbeine, Beulen, Löcher in den Köpfen und dergleichen gegeben. Alle Leute kamen in dem Urteil überein, der Teufel sei völlig losgewesen.

Am andern Tage ging kein Geselle an die Arbeit. Die ganze Gesellenschaft war aufgeregt, keiner mochte arbeiten, man feierte blauen Montag, zog rauchend und singend, sich Arm in Arm führend, gassenbreit durch das Städtchen, zu den Schneidern gesellten sich Barbier-, Drechsler-, Glaser-, Tuchmacher- und Färber-Gesellen, zu den Schustern aber Gerber-, Tischler-, Schmiede-, Maurer- und Zimmergesellen. Der Schwarzburger war der Führer der erstgenannten Partei – er hatte eine rote Hahnenfeder auf sein Barettlein gesteckt, und als abends die Gesellenschlacht entbrannte, zu der man sich den ganzen Tag über durch manches Glas Branntwein gehörig vorbereitet hatte, floß vieles Blut, und – was noch nie dagewesen war, die Schneiderpartei behauptete siegreich den Kampfplatz, indes kam am Abende dieses blauen Montags kaum einer ohne blaue Flecken oder Blutergüsse heim. Nur der Schwarzburger zeigte keine Spur einer Verwundung, auch keine Ermüdung, sondern arbeitete am Dienstag früh wieder flott und rüstig, zog aber ein sehr schiefes Gesicht, als jener geistliche Herr in die Werkstätte trat, und rückte unruhig hin und her. Der Meister empfing denselben mit vieler Reverenz, zeigte hinter dem Rücken des Gesellen auf die frischgeschliffene scharfe Schere, und der geistliche Herr begann allerlei Fragen an den Gesellen zu richten, so zum Beispiel: »Wie ist dein Taufname?« Da stank es schon in der Fechtschule. »Ich bin nicht getauft«, antwortete der Geselle.

»So bist du vielleicht ein Jude?« fragte der geistliche Herr.

»Ich bin kein Jude.«

»Oder ein Türke? Oder ein Heide?« ging das Fragen fort.

Der Geselle tat, als höre er nicht wohl, und antwortete: »Ja, ich bin ein Schneider. Mähähähä!«

»Der Teufel bist du, unsauberer Geist!« donnerte der geistliche Herr. » Exorciso te, creatura daemonica

Da begann der Teufel zu zittern und bekam den Krampf in seine dürren Waden, und der Schneider hatte sich mittlerweile unter den Sitz des Teufels gebückt und die rechte Stelle ersehen und schnitt jetzt mit einem kühnen Griffe dem Teufel rupps und kahl den bisher so sorglich verwahrten Schwanz ab. Der Teufel tat ein Höllengebrüll und fuhr auf und davon und kam niemals wieder. Den Schwanz ließ er fallen, und der geistliche Herr hob denselben auf, um ihn zu anderen Seltenheiten der Natur und Kunst zu legen, die man in der Reliquienkammer aufbewahrte.

Das Schneiderlein aber wurde gefeiert als ein Held, bekam vielen Zuschlag und hatte später zwölf Gesellen und sechs Lehrburschen sitzen. Litt aber nicht, daß einer gute und große Lappen in die Hölle warf. Die scharfe Schere wurde zu keiner andern Arbeit mehr verwendet, sie blieb ein Angedenken und Kleinod in der Familie, und als der Schneider im Rufe eines frommen Christen verstorben war, meißelte man das treue Abbild derselben in den Grabstein und mauerte diesen an die Außenwand der Kirche, just da, wo innen die Reliquienkammer sich befand.

Seitdem geht nun der Teufel ohne Schwanz umher, und der große Dienst, den der Schneider der Welt durch seinen kecken Schnitt zu leisten vermeinte, bleibt noch sehr in Frage gestellt; denn als der Teufel seinen Schwanz noch hatte, den er allerdings gern auf alles legte, konnte man ihm besser aus dem Wege gehen als jetzt, wo er ohne Schwanz umherstolziert; seit er so gestutzt und stattlich erscheint, kam der Name Stutzer auf für Leute, die geschniegelt, gebügelt und gestriegelt sich sehen lassen, sich in die Brust werfen, hochnäsig und hochmütig, und dabei doch nichts als arme oder dumme Teufel sind.

Schneeweißchen

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Es war einmal eine Königin, die hatte keine Kinder und wünschte sich eins, weil sie so ganz einsam war. Da sie nun eines Tages an einer Stickerei saß und den Rahmen von schwarzem Ebenholz betrachtete, während es schneite, war sie in so tiefen Gedanken, daß sie sich heftig in die Finger stach, so daß drei Blutstropfen auf den weißen Schnee fielen; und da mußte sie wieder daran denken, daß sie kein Kind hatte. »Ach!« seufzte die Königin, »hätte ich doch ein Kind, so rot wie Blut, so weiß wie Schnee, so schwarz wie Ebenholz!«

Und nach einer Zeit bekam diese Königin ein Kind, ein Mägdlein. Das war so weiß wie Schnee an seinem Leibe, und seine Wangen blüheten wie blutrote Röselein, und seine Haare waren so schwarz wie Ebenholz. Die Königin freute sich, nannte das Kind Schneeweißchen, und bald darauf starb sie. Da der König nun ein Witwer geworden war und kein Witwer bleiben wollte, so nahm er sich eine andre Gemahlin, das war ein stattliches Weib voll hoher Schönheit, aber auch voll unsäglichen Stolzes, und auch so eitel, daß sie sich für die schönste Frau in der ganzen Welt hielt. Dazu war sie zumal durch einen Zauberspiegel verleitet, der sagte ihr immer, wenn sie hineinsah und fragte:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?«
»Ihr, Frau Königin, seid die Schönst im Land.«

Und der Spiegel schmeichelte doch nicht, sondern sagte die Wahrheit wie jeder Spiegel.

Das kleine Schneeweißchen, der Königin Stieftochter, wuchs heran und wurde die schönste Prinzessin, die es nur geben konnte, und wurde noch viel schöner als die schöne Königin.

Diese fragte, als das Schneeweißchen sieben Jahre alt war, einmal wieder ihren treuen Spiegel:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönst im ganzen Land?«

Aber da antwortete der Spiegel nicht wie sonst, sondern er antwortete:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
Aber Schneeweißchen ist tausendmal schöner als Ihr.«

Darüber erschrak die Königin zu Tode, und es war ihr, als kehre sich ihr ein Messer im Busen um, und da kehrte sich auch ihr Herz um gegen das unschuldige Schneeweißchen, das nichts zu seiner übergroßen Schönheit konnte.

Und weil sie weder Tag noch Nacht Ruhe hatte vor ihrem bösen neidischen Herzen, so berief sie ihren Jäger zu sich und sprach: »Dieses Kind, das Schneeweißchen, sollst du in den dichten Wald führen und es töten. Bringe mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen, daß du mein Gebot vollzogen!«

Und da mußte das arme Schneeweißchen dem Jäger in den wilden Wald folgen, und im tiefsten Dickicht zog er seine Wehr und wollte das Kind durchstoßen. Das Schneeweißchen weinte jämmerlich und flehte, es doch leben zu lassen, es habe ja nichts verbrochen, und die Tränen und der Jammer des unschuldigen Kindes rührten den Jäger auf das innigste, so daß er bei sich dachte: Warum soll ich mein Gewissen beladen und dies schöne unschuldige Kind ermorden? Nein, ich will es lieber laufen lassen! Fressen es die wilden Tiere, wie sie wohl tun werden, so mag das die Frau Königin vor Gott verantworten.

Und da ließ er Schneeweißchen laufen, wohin es wollte, fing ein junges Wild, stach es ab, weidete es aus und brachte Lunge und Leber der bösen Königin. Die nahm beides und briet es in Salz und Schmalz und verzehrte es und war froh, daß sie, wie sie vermeinte, nun wieder allein die Schönste sei im ganzen Lande. Schneeweißchen im Walde wurde bald angst und bange, wie es so mutterseelenallein durch das Dickicht schritt, und wie es zum ersten Male die harten spitzen Steine fühlte, wie die Dornen ihm das Kleid zerrissen, und vollends, als es zum ersten Male wilde Tiere sah. Aber die wilden Tiere taten ihm gar nichts zuleide; sie sahen Schneeweißchen an und fuhren in die Büsche. Und das Mägdlein ging den ganzen Tag und ging über sieben Berge.

Des Abends kam Schneeweißchen an ein kleines Häuschen mitten im Walde, da ging es hinein, sich auszuruhen, denn es war sehr müde, war auch sehr hungrig und sehr durstig. Darinnen in dem kleinen, kleinen Häuschen war alles gar zu niedlich und zierlich und dabei sehr sauber. Es stand ein kleines Tischlein in der Stube, das war schneeweiß gedeckt und darauf standen und lagen sieben Tellerchen, auf jedem ein wenig Gemüse und Brot, sieben Löffelchen, sieben Paar Messerchen und Gäbelchen, sieben Becherchen. Und an der Wand standen sieben Bettchen, alle blütenweiß überzogen. Da aß nun das hungrige Schneeweißchen von den sieben Tellerchen, nur ein Kleinwenig von jedem, und trank aus jedem Becherchen ein Tröpflein Wein. Dann legte es sich in eins der sieben Bettchen, um zu ruhen, aber das Bettchen war zu klein, und sie mußte es in einem andern probieren, doch wollte keins recht passen, bis zuletzt das siebente, das paßte, da hinein schlüpfte Schneeweißchen, deckte sich zu, betete zu Gott und schlief ein, tief und fest, wie fromme Kinder, die gebetet haben, schlafen.

Derweil wurde es Nacht, und da kamen die Häuschensherren, sieben kleine Bergmännerchen, jedes mit einem brennenden Grubenlichtchen vorn am Gürtel, und da sahen sie gleich, daß eins dagewesen war. Der erste fing an zu fragen: »Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?«

Der zweite fragte: »Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?«

Der dritte fragte: »Wer hat von meinem Brötchen gebrochen?«

Der vierte: »Wer hat von meinem Gemüslein geleckt?«

Der fünfte: »Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?«

Der sechste: »Wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?«

Und der siebente fragte: »Wer hat aus meinem Becherchen getrunken?«

Wie die Zwerglein also gefragt hatten, sahen sie sich nach ihren Bettchen um und fragten: »Wer hat in unsern Bettchen gelegen?« bis auf den siebenten, der fragte nicht so, sondern: »Wer liegt in meinem Bettchen?« denn da lag das Schneeweißchen darin.

Da leuchteten die Bergmännerchen mit ihren Lämpchen alle hin und sahen mit Staunen das schöne Kind, und sie störten es nicht, sondern sie ließen den siebenten in ihren Bettchen liegen, in jedem ein Stündchen, bis die Nacht herum war. Da nun der Morgen mit seinen frühen Strahlen in das kleine, kleine Häuschen der Zwerglein schien, wachte Schneeweißchen auf und fürchtete sich vor den Zwergen. Die waren aber ganz gut und freundlich und sagten, es solle sich nicht fürchten, und fragten, wie es heiße. Da sagte und erzählte nun Schneeweißchen alles, wie es ihm ergangen sei. Darauf sagten die Zwergmännchen: »Du kannst bei uns in unserem Häuschen bleiben, Schneeweißchen, und kannst uns unsern Haushalt führen, kannst uns unser Essen kochen, unsre Wäsche waschen und alles hübsch rein und sauber halten, auch unsre Bettchen machen.« Das war Schneeweißchen recht, und es hielt den Zwergen haus. Die taten am Tage ihre Arbeit in den Bergen, tief unter der Erde, wo sie Gold und Edelsteine suchten, und abends kamen sie und aßen und legten sich in ihre sieben Bettchen.

Unterdessen war die böse Königin froh geworden in ihrem argen Herzen, daß sie nun wieder die Schönste war, wie sie meinte, und versuchte den Spiegel wieder und fragte ihn:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönst im ganzen Land?«

Da antwortete ihr der Spiegel:

»Frau Königin! Ihr seid die Schönste hier,
Aber Schneeweißchen über den sieben Bergen,
Bei den sieben guten Zwergen,
Das ist noch tausendmal schöner als Ihr!«

Das war wiederum ein Dolchstich in das eitle Herz der Frau Königin, und sie sann nun Tag und Nacht darauf, wie sie dem Schneeweißchen ans Leben käme, und endlich fiel ihr ein, sich verkleidet selbst zu Schneeweißchen aufzumachen, und sie verstellte ihr Gesicht und zog geringe Kleider an, nahm auch einen Allerhandkram und ging über die sieben Berge, bis sie an das kleine, kleine Häuschen der Zwerge kam. Da klopfte sie an die Türe und rief: »Holla! Holla! Kauft schöne Waren!« Die Zwerge hatten aber dem Schneeweißchen gesagt, es solle sich vor fremden Leuten in acht nehmen, vornehmlich vor der bösen Königin. Deshalb sah das Mägdlein vorsichtig heraus, da sah sie den schönen Tand, den die Frau zu Markte trug, die schönen Halsketten und Schnüre und allerlei Putz. Da dachte Schneeweißchen nichts Arges und ließ die Krämerin herein und kaufte ihr eine Halsschnur ab, und die Frau wollte ihr zeigen, wie diese Schnur umgetan würde, und schnürte ihm von hinten den Hals so zu, daß Schneeweißchen gleich der Odem ausging und es tot hinsank. »Da hast du den Lohn für deine übergroße Schönheit!« sprach die böse Königin und hob sich von dannen.

Bald darauf kamen die sieben Zwerglein nach Hause, und da fanden sie ihr schönes liebes Schneeweißchen tot und sahen, daß es mit der Schnur erdrosselt war. Geschwinde schnitten sie die Schnur entzwei und träufelten einige Tropfen von der Goldtinktur auf Schneeweißchens blasse Lippen, da begann es leise zu atmen und wurde allmählich wieder lebendig. Als es nun erzählen konnte, erzählte es, wie die alte Krämersfrau ihr den Hals böslich zugeschnürt, und die Zwerge riefen: »Das war kein anderes Weib als die falsche Königin! Hüte dich und lasse gar keine Seele in das kleine Häuschen, wenn wir nicht da sind.«

Die Königin trat, als sie von ihrem schlimmen Gange wieder nach Hause kam, gleich vor ihren Spiegel und fragte ihn:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönst im ganzen Land?«

Und der Spiegel antwortete:

»Frau Königin! Ihr seid die Schönst allhier,
Aber Schneeweißchen über den sieben Bergen,
Bei den sieben guten Zwergen,
Das ist noch tausendmal schöner als Ihr.«

Da schwoll der Königin das Herz vor Zorn, wie einer Kröte der Bauch, und sie sann wieder Tag und Nacht auf Schneeweißchens Verderben. Bald nahm sie wieder die falsche Gestalt einer andern Frau an, durch Verstellung ihres Gesichts und fremdländische Kleidung, machte einen vergifteten Kamm, den tat sie zu anderm Kram und ging über die sieben Berge, an das kleine, kleine Zwergenhäuslein. Dort klopfte sie wieder an die Türe, rief: »Holla! Holla! Kauft schöne Waren! Holla!«

Schneeweißchen sah zum Fenster heraus und sagte: »Ich darf niemand hereinlassen!«

Das Kramweib aber rief: »Schade um die schönen Kämme!« Und dabei zeigte sie den giftigen, der ganz golden blitzte. Da wünschte sich Schneeweißchen von Herzen einen goldenen Kamm, dachte nichts Arges, öffnete die Türe und ließ die Krämerin herein und kaufte den Kamm.

»Nun will ich dir auch zeigen, mein allerschönstes Kind, wie der Kamm durch die Haare gezogen und wie er gesteckt wird«, sprach die falsche Krämerin und strich dem Schneeweißchen damit durchs Haar; da wirkte gleich das Gift, daß das arme Kind umfiel und tot war. »So, nun wirst du wohl das Wiederaufstehen vergessen«, sprach die böse Königin und entfloh aus dem Häuschen.

Bald darauf – und das war ein Glück – wurde es Abend, und da kamen die sieben Zwerge wieder nach Hause, hielten das arme Schneeweißchen für tot und fanden in seinem schönen Haar den giftigen Kamm. Diesen zogen sie geschwind aus dem Haar, und da kam es wieder zu sich. Und die Zwerglein warnten es aufs neue gar sehr, doch ja niemand ins Häuschen zu lassen.

Daheim trat die böse Königin wieder vor ihren Spiegel und fragte ihn:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönst im ganzen Land?«

Und der Spiegel antwortete:

»Frau Königin! Ihr seid die Schönst allhier,
Aber über den sieben Bergen,
Bei den sieben guten Zwergen
Ist Schneeweißchen – tausendmal schöner als Ihr.«

Da wußte sich die Königin vor giftiger Wut darüber, daß alle ihre bösen Ränke gegen Schneeweißchen nichts fruchteten, gar nicht zu lassen und zu fassen und tat einen schweren Fluch, Schneeweißchen müsse sterben, und solle es ihr, der Königin, selbst das Leben kosten. Und darauf machte sie heimlich einen schönen Apfel giftig, aber nur auf einer Seite, wo er am schönsten war, nahm dazu noch einen Korb voll gewöhnlicher Äpfel, verstellte ihr Gesicht, kleidete sich wie eine Bäuerin, ging abermals über die sieben Berge und klopfte am Zwergenhäuslein an, indem sie rief: »Holla! Schöne Äpfel kauft! Kauft!«

Schneeweißchen sah zum Fenster heraus und sagte zu ihr: »Geht fort, Frau! Ich darf nicht öffnen und auch nichts kaufen!«

»Auch gut, liebes Kind!« sprach die falsche Bäuerin. »Ich werde auch ohne dich meine schönen Äpfel noch alle los! Da hast du einen umsonst!«

»Nein, ich danke schön, ich darf nichts annehmen!« rief Schneeweißchen.

»Denkst wohl gar, der Apfel wäre vergiftet? Siehst du, da beiße ich selber hinein! Das schmeckt einmal gut! So hast du in deinem ganzen Leben keinen Apfel gegessen.« Dabei biß das trügerische Weib in die Seite des Apfels, die nicht vergiftet war, und da wurde Schneeweißchen lüstern und griff nach dem Apfel hinaus, und die Bäuerin reichte ihn hin und blieb stehen. Kaum hatte Schneeweißchen den Apfel auf der andern Seite angebissen, wo er ein schönes rotes Bäckchen hatte, so wurden Schneeweißchens rote Bäckchen ganz blaß, und es fiel um und war tot.

»Nun bist du aufgehoben, Ding!« sprach die Königin und ging fort, und zu Hause trat sie wieder vor den Spiegel und fragte wieder:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönst im ganzen Land?«

Und der Spiegel antwortete dieses Mal:

»Ihr, Frau Königin, seid allein die Schönst im Land!«

Nun war das Herz der bösen Königin zufrieden, soweit ein Herz voll Bosheit und Tücke und Mordschuld zufrieden sein kann.

Aber wie sehr erschraken die sieben guten Zwerge, als sie abends nach Hause kamen und ihr Schneeweißchen ganz tot fanden.

Vergebens suchten sie nach einer Ursache, und vergebens versuchten sie die Wunderkraft ihrer Goldtinktur, Schneeweißchen war und blieb jetzt tot.

Da legten die betrübten Zwerglein das liebe Kind auf eine Bahre und setzten sich darum herum und weinten drei Tage lang, hernach wollten sie es begraben. Aber da Schneeweißchen noch nicht wie tot aussah, sondern noch frisch wie ein Mägdlein, das schläft, so wollten sie es nicht allein in die Erde senken, sondern sie machten einen schönen Sarg von Glas, da hinein legten sie es und schrieben darauf: Schneeweißchen, eine Königstochter – und setzten dann den Sarg auf einen von den sieben Bergen und hielt immer einer von ihnen Wache bei dem Sarge. Da kamen auch die Tiere aus dem Walde und weinten über Schneeweißchen, die Eule, der Rabe und das Täubelein.

Und so lag Schneeweißchen lange Jahre in dem Sarge, ohne daß es verweste, vielmehr sah es noch so frisch und so weiß aus wie frischgefallener Schnee, und es hatte wieder rote Wängelein wie frische Blutröschen und die schwarzen ebenholzfarbenen Haare. Da kam ein junger schöner Königssohn zu dem kleinen Zwergenhäuslein, der sich verirrt hatte in den sieben Bergen, und sah den gläsernen Sarg stehen und las die Schrift darauf: Schneeweißchen, eine Königstochter – und bat die Zwerge, ihm doch den Sarg mit Schneeweißchen zu überlassen, er wolle denselben ihnen abkaufen.

Die Zwerge aber sprachen: »Wir haben Goldes die Fülle und brauchen deines nicht! Und um alles Gold in der Welt geben wir den Sarg nicht her.«

»So schenkt ihn mir!« bat der Königssohn. »Ich kann nicht sein ohne Schneeweißchen, ich will es aufs höchste ehren und heilig halten, und es soll in meinem schönsten Zimmer stehen; ich bitte euch darum!«

Da wurden die Zwerglein von Mitleid bewegt und schenkten ihm Schneeweißchen im gläsernen Sarge. Den gab er seinen Dienern, daß sie ihn vorsichtig forttrügen, und er folgte sinnend nach. Da stolperte der eine Diener über eine Baumwurzel, daß der Sarg schütterte, und sie hätten ihn beinahe fallen lassen, und durch das Schüttern fuhr das giftige Stückchen Apfel, das Schneeweißchen noch im Munde hatte (weil es umgefallen war, ehe es den Bissen verschluckt), heraus, und da war es mit einem Male wieder lebendig.

Geschwind ließ es der Königssohn niedersetzen, öffnete den Sarg und hob es mit seinen Armen heraus und erzählte ihm alles und gewann es nun erst recht lieb und nahm es zu seiner Gemahlin, führte es auch gleich in seines Vaters Schloß, und es wurde zur Hochzeit zugerüstet mit großer Pracht, auch viele hohe Gäste wurden geladen, darunter auch die böse Königin. Die putzte sich auf das allerschönste, trat vor ihren Spiegel und fragte wieder:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönst im ganzen Land?«

Darauf antwortete der Spiegel:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönst allhier,
Aber die junge Königin
ist noch tausendmal schöner als Ihr!«

Da wußte die Königin nicht, was sie vor Neid und Scheelsucht sagen und anfangen sollte, und es wurde ihr ganz bange ums Herz, und sie wollte erst gar nicht auf die Hochzeit gehen; dann wollte sie aber doch die sehen, die schöner sei als sie, und fuhr hin. Und wie sie in den Saal kam, trat ihr Schneeweißchen als die allerschönste Königsbraut entgegen, die es jemals gegeben, und da mochte sie vor Schrecken in die Erde sinken.

Schneeweißchen aber war nicht allein die Allerschönste, sondern sie hatte auch ein großes edles Herz, das die Untaten, die die falsche Frau an ihr verübt, nicht selbst rächte. Es kam aber ein giftiger Wurm, der fraß der bösen Königin das Herz ab, und dieser Wurm war der Neid.

Das Dornröschen

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Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder, wünschten sich aber tagtäglich ein Kind. Zu einer Zeit geschah es, daß die Königin badete und seufzete, als sie so allein war: »Ach, hätte ich doch ein Kind!«

Da hüpfte ein Frosch aus dem Wasser und sprach: »Was du wünschest, soll dir werden!« Und darauf hat die Königin ein Töchterlein bekommen, das war schön über alle Maßen, und der König hatte darüber die größte Freude, daß sein liebster Wunsch erfüllt war, und stellte ein großes Fest an, zu dem er alle seine Freunde einlud. Nun lebten in dem Lande auch weise Frauen, die waren begabt mit Zauber- und Wundermacht und genossen große Ehrfurcht vor allem Volke; die lud der König auch ein, und sie sollten auf goldnen Tellern essen. Damals hatten aber die Könige nicht so viele Schüsseln und Teller wie jetzt, und dieser König hatte nur ein Dutzend, das sind zwölf, und der weisen Frauen waren dreizehn, da konnte er auch nur zwölf einladen, und die dreizehnte blieb uneingeladen.

Die weisen Frauen begabten das Königskind mit gar köstlichen Gütern, nicht mit Schönheit, denn die besaß es schon, sondern mit Liebenswürdigkeit, Heiterkeit, Anmut, Sanftmut, Bescheidenheit, Frömmigkeit, Sittsamkeit, Tugend, Aufrichtigkeit, Verstand und Reichtum, und eben wollte die zwölfte weise Frau auch noch ihren Wunsch aussprechen, als die dreizehnte in das Zimmer trat, die nicht eingeladen worden war, und zornig ausrief: »In fünfzehn Jahren soll die Königstochter sich in eine Spindel stechen und tot hinfallen!« Mit diesen Worten war die böse Alrune wieder verschwunden, und die andern standen starr vor Schrecken, denn die weisen Frauen machten keine vergeblichen Worte.

Ein Glück, daß die zwölfte weise Frau ihren Wunsch noch nicht ausgesprochen hatte. Sie konnte zwar das, was einmal eine weise Frau gedroht hatte, nicht abändern, aber ihm doch eine mildernde Wendung geben, und rief: »Die Königstochter soll nur in einen tiefen Schlaf fallen, der soll hundert Jahre dauern und nicht länger.« Der König ließ sogleich ein Regierungsmandat im ganzen Lande ergehen, kraft dessen alle Spindeln überall abgeschafft und dafür die Spinnräder eingeführt wurden; indes erwuchs die schöne Königtochter zu einem Fräulein, das an Schönheit, Holdseligkeit, Freundlichkeit, Milde, Demut, Züchtigkeit, Herzensgüte, Tugend und Verstand seinesgleichen suchte, und so kam es zu seinem fünfzehnten Jahre, von allen, die es kannten, geliebt, ja angebetet. Und da bekam die Prinzessin gerade Lust, sich im Schloß ein bißchen umzusehen, ging durch mehrere Gemächer und kam an eine Treppe, die zu einem alten Turm führte; diese stieg es hinan und kam an ein niedrig Kammertürlein, da steckte ein alter verrosteter Schlüssel daran, und neugierig, wie die ganz jungen Mädchen sind, drehte die Prinzessin an dem Schlüssel, und die Türe ging gleich auf. Da saß ein uraltes Spinneweiblein und spann emsig mit einer Spindel; es mochte wohl des Königs Gesetz nicht gehört oder gelesen oder es längst vergessen haben. Die umhertanzende, auf und nieder wirbelnde Spindel machte der jungen Königstochter viel Freude, sie haschte nach der Spindel, wollte auch spinnen und stach sich damit, denn es war gerade der Tag, an welchem die Prophezeiung der erzürnten weisen Frau in Erfüllung gehen sollte.

Und die Königstochter fiel nieder in einen Schlaf. Und da überkam derselbe Schlaf auch den König und die Königin und das ganze Schloß. Da mag es schön langweilig gewesen sein! Der ganze Hofstaat schlief ein, vom Hofmarschall bis zum Küchenjungen, den der Koch wegen eines Versehens gerade an den Haaren zauste und ihm eine Ohrfeige geben wollte, und Koch und Kellner, Kammerfrau und Kammerjungfer, Kind und Kegel, Hund und Katze, ja die Tauben und Sperlinge auf dem Dache, die Pfauen und Papageien und selbst die Fliegen an der Wand, die schliefen alle. Und das Feuer auf dem Herd legte sich und schlief ein, und der Wind legte sich auch, und wurde alles piepstill, daß man kein Mäuschen im ganzen Schloß mehr knuspern hörte, dieweil die Mäuslein auch schliefen. Und da kam kein Mensch mehr in das verzauberte Schlummerschloß, um welches rund herum eine mächtige Dornenhecke emporwuchs, jedes Jahr einige Schuh höher, bis sie den höchsten Turm überwachsen hatte, daß man nicht einmal die Fahne und den Wetterhahn mehr sah, und so dicht, daß kein menschliches Wesen eindringen konnte.

Und da wurde das Schloß allmählich ganz vergessen, und es ging nur die Sage, hinter den Dornen stehe ein Schloß, darin schlafe das Dornröschen, die verzauberte Prinzessin, wie lange schon und wie lange noch, wisse niemand. Zwar kamen von Zeit zu Zeit Königssöhne, die wollten hindurchdringen durch die Hecke, allein dieselbe war allzu dicht, und konnten es nicht erlangen, blieben wohl gar in den Dornen verstrickt und kamen elendiglich darin um.

Und so waren nun hundert Jahre vergangen, und die Zeit war da, daß das Dornröschen wieder erwachen sollte, es wußte dies aber niemand genau, und da kam auch ein Königssohn, der hörte die Mär von dem schlafenden Dornröschen aus dem Mund eines Alten, der sie ihm gewiß versicherte, denn sein Vater und Urgroßvater hätten ihm oft davon erzählt, und der Alte mußte den Königssohn hin an die verrufene Dornhecke führen. Und das geschah just am hundertsten Jahrestag, seit das Dornröschen in seinen Zauberschlaf gefallen war. Und die Dornhecke stand über und über voll Rosenblumen, das war seit Menschengedenken nicht der Fall gewesen, auch konnte der Königssohn frei durch die Dornhecke gehen, kein Dorn berührte sein Gewand, aber gleich hinter ihm schloß sich die Hecke wieder. Und da fand er alles unversehrt; kein Wind hatte geweht und kein Regen genäßt, das Jahrhundert war über den Häuptern der Schlummernden so leise hinweggeflogen wie ein Schwan über einen stillen See voll träumender Wasserlilien. Da schliefen noch alle Fliegen und alle Mäuschen, da schliefen Huhn und Hahn, Katz und Hund, Magd und Zofe, Kammerherr und Kammerknecht und auch König und Königin.

Das alles sah der Königssohn mit großer Verwunderung, ging nun hinauf in den Turm und kam in die Kammer, wo das süße Dornröschen lag und so sanft schlief, hehr umflossen vom Heiligenschein seiner Unschuld und vom Glanze seiner Schönheit. Da beugte der Prinz sich nieder und küßte das Dornröschen, und alsbald schlug es die Augen auf. Der Königssohn sagte ihm, wie alles sich zugetragen, und führte es herab in das Schloß. Da erwachte alles, König und Königin, Zwerg und Zofe, Hunde und Pferde, Feuer und Wasser, Wind und Wetterhahn, und der Koch gab dem Küchenjungen die Ohrfeige, die er ihm vor hundert Jahren schuldig geblieben war, und alles ging wieder seinen Gang, und es wurde eine stattliche Hochzeit ausgerichtet, nämlich des Dornröschens mit dem Königssohn, der es aus dem Schlummer erlöst, und sie lebten glücklich und zufrieden miteinander, bis an ihr Ende.

Goldener

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Vor langen Jahren hat einmal in einem dichten Wald ein armer Hirte gelebt, der hatte sich ein bretternes Häuschen mitten im Wald erbaut, darin wohnte er mit seiner Frau und sechs Kindern, die waren alle Knaben. An dem Hause war ein Ziehbrunnen und ein Gärtlein, und wenn der Vater das Vieh fütterte, so gingen die Kinder hinaus und brachten ihm zu Mittag oder zu Abend einen kühlen Trunk aus dem Brunnen oder ein Gericht aus dem Gärtlein.

Den jüngsten Knaben riefen die Eltern nur: »Goldener«, denn seine Haare waren wie Gold, und obgleich der jüngste, so war er doch der stärkste von allen und auch der größte. So oft die Kinder hinaus in die Flur gingen, so ging Goldener mit einem Baumzweige voran, anders wollte keins gehen, denn jedes fürchtete sich, zuerst auf ein Abenteuer zu stoßen; ging aber Goldener voran, so folgten sie freudig eines hinter dem andern nach, durch das dunkelste Dickicht, und wenn auch schon der Mond über dem Gebirge stand.

Eines Abends ergötzten sich die Knaben auf dem Rückwege vom Vater mit Spielen im Walde, und Goldener hatte sich vor allen so sehr im Spiele ereifert, daß er so hell aussah wie das Abendrot. »Laßt uns zurückgehen!« sprach der Älteste, »es scheint dunkel zu werden.«

»Seht da, der Mond!« sprach der Zweite. Da kam es auf einmal licht zwischen den dunklen Tannen hervor, und eine Frauengestalt, leuchtend wie der Mond, setzte sich auf einen der moosigen Steine, spann mit einer kristallenen Spindel einen lichten Faden in die Nacht hinaus, nickte mit dem Haupte gegen Goldener und sang:

»Der weiße Fink, die goldne Ros,
Die Königin im Meeresschoß!«

Sie hätte wohl noch weiter gesungen, da brach ihr der Faden, und sie erlosch wie ein Licht. Nun war es ganz Nacht, die Kinder faßte ein Grausen, sie sprangen mit kläglichem Geschrei, das eine dahin, das andere dorthin, über Felsen und Klüfte, und verlor eins das andere.

Wohl viele Tage und Nächte irrte auch Goldener in dem dicken Wald umher, fand aber weder einen seiner Brüder, noch die Hütte seines Vaters, noch sonst die Spur eines Menschen, denn es war der Wald gar dicht verwachsen, ein Berg über den andern gestellt und eine Kluft unter die andere.

Die Brombeeren, welche überall herumrankten, stillten seinen Hunger und Durst, sonst wär er gar jämmerlich gestorben. Endlich am dritten Tage – andere sagen gar erst am sechsten oder siebenten Tage – wurde der Wald hell und immer heller, und da kam Goldener zuletzt hinaus auf eine schöne grüne Wiese.

Da war es ihm so leicht um das Herz, und er atmete mit vollen Zügen die freie Luft ein.

Auf derselben Wiese waren Garne ausgelegt, denn da wohnte ein Vogelsteller, der fing Vögel, die aus dem Wald flogen, und trug sie in die Stadt zum Kaufe.

»Solch ein Bursche ist mir gerade vonnöten«, dachte der Vogelsteller, als er Goldener erblickte, der auf der grünen Wiese nah an den Garnen stand und in den weiten blauen Himmel hineinsah und sich nicht satt sehen konnte.

Der Vogelsteller wollte sich einen Spaß machen, er zog seine Garne und husch! war Goldener gefangen und lag unter dem Garne ganz erstaunt, denn er wußte nicht, wie das geschehen war. »So fängt man die Vögel, die aus dem Walde kommen«, sprach der Vogelsteller laut lachend, »deine roten Federn sind mir eben recht. Du bist wohl ein verschlagener Fuchs? Bleibe bei mir, ich lehre dich auch die Vögel fangen!«

Goldener war gleich dabei, ihm deuchte unter den Vögeln ein gar lustig Leben, zumal er ganz die Hoffnung aufgegeben hatte, die Hütte seines Vaters wiederzufinden.

»Laß erproben, was du gelernt hast«, sprach der Vogelsteller nach einigen Tagen zu ihm. Goldener zog die Garne, und bei dem ersten Zuge fing er einen schneeweißen Finken.

»Packe dich mit diesem weißen Finken!« schrie der Vogelsteller, »du hast es mit dem Bösen zu tun!« und so stieß er ihn gar unsanft von der Wiese, indem er den weißen Finken, den ihm Goldener gereicht hatte, unter vielen Verwünschungen mit den Füßen zertrat.

Goldener konnte die Worte des Vogelstellers nicht begreifen, er ging traurig, doch getrost wieder in den Wald zurück und nahm sich noch einmal vor, die Hütte seines Vaters zu suchen. Tag und Nacht lief er über Felsensteine und alte gefallene Baumstämme, fiel auch gar oft über die schwarzen Wurzeln, die aus dem Boden überall hervorragten.