Immanuel Kant

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht

Naturlehre des Menschen

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musaicumbooks@okpublishing.info
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-2657-3

Inhaltsverzeichnis

Vorrede.
Erster Theil. Anthropologische Didaktik.
Erstes Buch. Vom Erkenntnißvermögen.
Vom Bewußtsein seiner selbst.
Vom Egoism.
Anmerkung.
Von dem willkürlichen Bewußtsein seiner Vorstellungen.
Von dem Beobachten seiner selbst.
Von den Vorstellungen, die wir haben, ohne uns ihrer bewußt zu sein.
Von der Deutlichkeit und Undeutlichkeit im Bewußtsein seiner Vorstellungen.
Von der Sinnlichkeit im Gegensatz mit dem Verstande.
Apologie für die Sinnlichkeit.
Rechtfertigung der Sinnlichkeit gegen die erste Anklage.
Rechtfertigung der Sinnlichkeit gegen die zweite Anklage.
Rechtfertigung der Sinnlichkeit wider die Dritte Anklage.
Vom Können in Ansehung des Erkenntnißvermögens überhaupt.
Von dem künstlichen Spiel mit dem Sinnenschein.
Von dem erlaubten moralischen Schein.
Von den fünf Sinnen.
Vom Sinne der Betastung.
Vom Gehör.
Von dem Sinn des Sehens.
Von den Sinnen des Geschmacks und des Riechens.
Allgemeine Anmerkung über die äußern Sinne.
Fragen.
Vom inneren Sinn.
Von den Ursachen der Vermehrung oder Verminderung der Sinnenempfindungen dem Grade nach.
Von der Hemmung, Schwächung und dem gänzlichen Verlust des Sinnenvermögens.
Von der Einbildungskraft.
Von dem sinnlichen Dichtungsvermögen nach seinen verschiedenen Arten.
Von dem Vermögen der Vergegenwärtigung des Vergangenen und Künftigen durch die Einbildungskraft.
Von der unwillkürlichen Dichtung im gesunden Zustande, d. i. vom Traume.
Von dem Bezeichnungsvermögen. ( Facultas signatrix.)
Anhang.
Vom Erkenntnißvermögen, so fern es auf Verstand gegründet wird.
Anthropologische Vergleichung der drei oberen Erkenntnißvermögen mit einander.
Von den Schwächen und Krankheiten der Seele in Ansehung ihres Erkenntnißvermögens.
Zerstreute Anmerkungen.
Von den Talenten im Erkenntnißvermögen.
Von dem specifischen Unterschiede des vergleichenden und des vernünftelnden Witzes.
Zweites Buch. Das Gefühl der Lust und Unlust.
Eintheilung.
Von der sinnlichen Lust.
Von der Üppigkeit.
Drittes Buch. Vom Begehrungsvermögen.
Von den Affecten in Gegeneinanderstellung derselben mit der Leidenschaft.
Von den Affecten insbesondere.
Von der Furchtsamkeit und der Tapferkeit.
Von Affecten, die sich selbst in Ansehung ihres Zwecks schwächen. (Impotentes animi motus .)
Von den Affecten, durch welche die Natur die Gesundheit mechanisch befördert.
Allgemeine Anmerkung.
Von den Leidenschaften.
Eintheilung der Leidenschaften.
Von der Neigung des Wahnes als Leidenschaft.
Von dem höchsten physischen Gut.
Von dem höchsten moralisch=physischen Gut.

Zweiter Theil. Die anthropologische Charakteristik.
Eintheilung.
A. Der Charakter der Person.
I. Von dem Naturell.
II. Vom Temperament.
III. Vom Charakter als der Denkungsart.
Von den Eigenschaften, die blos daraus folgen, daß der Mensch einen Charakter hat oder ohne Charakter ist.
Von der Physiognomik.
Eintheilung der Physiognomik.
Zerstreute Anmerkungen.
B. Der Charakter des Geschlechts.
Zerstreute Anmerkungen.
Pragmatische Folgerungen.
C. Der Charakter des Volks.
D. Der Charakter der Rasse.
E. Der Charakter der Gattung.
Grundzüge der Schilderung des Charakters der Menschengattung.

Vorrede.

Inhaltsverzeichnis

Alle Fortschritte in der Cultur, wodurch der Mensch seine Schule macht, haben das Ziel, diese erworbenen Kenntnisse und Geschicklichkeiten zum Gebrauch für die Welt anzuwenden; aber der wichtigste Gegenstand in derselben, auf den er jene verwenden kann, ist der Mensch: weil er sein eigener letzter Zweck ist. - Ihn also seiner Species nach als mit Vernunft begabtes Erdwesen zu erkennen, verdient besonders Weltkenntniß genannt zu werden, ob er gleich nur einen Theil der Erdgeschöpfe ausmacht.

Eine Lehre von der Kenntniß des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. - Die physiologische Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll. - Wer den Naturursachen nachgrübelt, worauf z.B. das Erinnerungsvermögen beruhen möge, kann über die im Gehirn zurückbleibenden Spuren von eindrücken, welche die erlittenen Empfindungen hinterlassen, hin und her (nach dem Cartesius) vernünfteln; muß aber dabei gestehen: daß er in diesem Spiel seiner Vorstellungen bloßer Zuschauer sei und die Natur machen lassen muß, indem er die Gehirnnerven und Fasern nicht kennt, noch sich auf die Handhabung derselben zu seiner Absicht versteht, mithin alles theoretische Vernünfteln hierüber reiner Verlust ist. -- Wenn er aber die Wahrnehmungen über das, was dem Gedächtniß hinderlich oder beförderlich befunden worden, dazu benutzt, um es zu erweitern oder gewandt zu machen, und hiezu die Kenntniß des Menschen braucht, so würde dieses einen Theil der Anthropologie in pragmatischer Absicht ausmachen, und das ist eben die, mit welcher wir uns hier beschäftigen.

Eine solche Anthropologie, als Weltkenntniß, welche auf die Schule folgen muß, betrachtet, wird eigentlich alsdann noch nicht pragmatisch genannt, wenn sie ein ausgebreitetes Erkenntniß der Sachen in der Welt, z.B. der Thiere, Pflanzen und Mineralien in verschiedenen Ländern und Klimaten, sondern wenn sie Erkenntniß des Menschen als Weltbürgers enthält. - Daher wird selbst die Kenntniß der Menschenrassen als zum Spiel der Natur gehörender Producte noch nicht zur pragmatischen, sondern nur zur theoretischen Weltkenntniß gezählt.

Noch sind die Ausdrücke: die Welt kennen und Welt haben in ihrer Bedeutung ziemlich weit auseinander: indem der Eine nur das Spiel versteht, dem er zugesehen hat, der Andere aber mitgespielt hat. Die sogenannte große Welt aber, den Stand der Vornehmen, zu beurtheilen, befindet sich der Anthropologe in einem sehr ungünstigen Standpunkte, weil diese sich unter einander zu nahe, von Anderen aber zu weit befinden.

Zu den Mitteln der Erweiterung der Anthropologie im Umfange gehört das Reisen, sei es auch nur das Lesen der Reisebeschreibungen. Man muß aber doch vorher zu Hause durch Umgang mit seinen Stadt oder Landesgenossen1 sich Menschenkenntniß erworben haben, wenn man wissen will, wornach man auswärts suchen solle, um sie in größerem Umfange zu erweitern. Ohne einen solchen Plan (der schon Menschenkenntniß voraussetzt) bleibt der Weltbürger in Ansehung seiner Anthropologie immer sehr eingeschränkt. Die Generalkenntniß geht hierin immer vor der Localkenntniß voraus, wenn jene durch Philosophie geordnet und geleitet werden soll: ohne welche alles erworbene Erkenntniß nichts als fragmentarisches Herumtappen und keine Wissenschaft abgeben kann.

Allen Versuchen aber, zu einer solchen Wissenschaft mit Gründlichkeit zu gelangen, stehen erhebliche, der menschlichen Natur selber anhängende Schwierigkeiten entgegen.

1. Der Mensch, der es bemerkt, daß man ihn beobachtet und zu erforschen sucht, wird entweder verlegen (genirt) erscheinen, und da kann er sich nicht zeigen, wie er ist; oder er verstellt sich, und da will er nicht gekannt sein, wie er ist.

2. Will er auch nur sich selbst erforschen, so kommt er, vornehmlich was seinen Zustand im Affect betrifft, der alsdann gewöhnlich keine Verstellung zuläßt, in eine kritische Lage: nämlich daß, wenn die Triebfedern in Action sind, er sich nicht beobachtet, und wenn er sich beobachtet, die Triebfedern ruhen.

3. Ort und Zeitumstände bewirken, wenn sie anhaltend sind, Angewöhnungen, die, wie man sagt, eine andere Natur sind und dem Menschen das Urtheil über sich selbst erschweren, wofür er sich halten, vielmehr aber noch, was er aus dem Anderen, mit dem er im Verkehr ist, sich für einen Begriff machen soll; denn die Veränderung der Lage, worein der Mensch durch sein Schicksal gesetzt ist, oder in die er sich auch als Abenteuer selbst setzt, erschweren es der Anthropologie sehr, sie zum Rang einer förmlichen Wissenschaft zu erheben.

Endlich sind zwar eben nicht Quellen, aber doch Hülfsmittel zur Anthropologie: Weltgeschichte, Biographien, ja Schauspiele und Romane. Denn obzwar beiden letzteren eigentlich nicht Erfahrung und Wahrheit, sondern nur Erdichtung untergelegt wird, und Übertreibung der Charaktere und Situationen, worein Menschen gesetzt werden, gleich als im Traumbilde aufzustellen, hier erlaubt ist, jene also nichts für die Menschenkenntniß zu lehren scheinen, so haben doch jene Charaktere, so wie sie etwa ein Richardson oder Moliere entwarf, ihren Grundzügen nach aus der Beobachtung des wirklichen Thuns und Lassens der Menschen genommen werden müssen: weil sie zwar im Grade übertrieben, der Qualität nach aber doch mit der menschlichen Natur übereinstimmend sein müssen.

Eine systematisch entworfene und doch populär (durch Beziehung auf Beispiele, die sich dazu von jedem Leser auffinden lassen) in pragmatischer Hinsicht abgefaßte Anthropologie führt den Vortheil für das lesende Publicum bei sich: daß durch die Vollständigkeit der Titel, unter welche diese oder jene menschliche, ins Praktische einschlagende beobachtete Eigenschaft gebracht werden kann, so viel Veranlassungen und Aufforderungen demselben hiemit gegeben werden, jede besondere zu einem eigenen Thema zu machen, um sie in das ihr zugehörende Fach zu stellen; wodurch die Arbeiten in derselben sich von selbst unter die Liebhaber dieses Studiums vertheilen und durch die Einheit des Plans nachgerade zu einem Ganzen vereinigt werden; wodurch dann der Wachsthum der gemeinnützigen Wissenschaft befördert und beschleunigt wird2.

1 Eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Cultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes sowohl, als auch mit angränzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt, - eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntniß als auch der Weltkenntniß genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.

2 In meinem anfänglich frei übernommenen, späterhin mir als Lehramt aufgetragenen Geschäfte der reinen Philosophie habe ich einige dreißig Jahre hindurch zwei auf Weltkenntniß abzweckende Vorlesungen, nämlich (im Winter=) Anthropologie und (im Sommerhalbenjahre) physische Geographie gehalten, welchen als populären Vorträgen beizuwohnen, auch andere Stände gerathen fanden; von deren ersterer dies das gegenwärtige Handbuch ist, von der zweiten aber ein solches aus meiner zum Text gebrauchten, wohl keinem Anderen als mir leserlichen Handschrift zu liefern mir jetzt für mein Alter kaum noch möglich sein dürfte.

Erster Theil. 
Anthropologische Didaktik.

Von der Art, das Innere sowohl als das Äußere des Menschen zu erkennen.

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch. 
Vom Erkenntnißvermögen.

Inhaltsverzeichnis

Vom Bewußtsein seiner selbst.

Inhaltsverzeichnis

§ 1. Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Thiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen, selbst wenn er das Ich noch nicht sprechen kann, weil er es doch in Gedanken hat: wie es alle Sprachen, wenn sie in der ersten Person reden, doch denken müssen, ob sie zwar diese Ichheit nicht durch ein besonderes Wort ausdrücken. Denn dieses Vermögen (nämlich zu denken) ist der Verstand.

Es ist aber merkwürdig: daß das Kind, was schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät (vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt durch Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Person sprach (Karl will essen, gehen u. s. w.), und daß ihm gleichsam ein Licht aufgegangen zu sein scheint, wenn es den Anfang macht durch Ich zu sprechen: von welchem Tage an es niemals mehr in jene Sprechart zurückkehrt. - Vorher fühlte es bloß sich selbst, jetzt denkt es sich selbst. - Die Erklärung dieses Phänomens möchte dem Anthropologen ziemlich schwer fallen.

Die Bemerkung, daß ein Kind vor dem ersten Vierteljahr nach seiner Geburt weder Weinen noch Lächeln äußert, scheint gleichfalls auf Entwickelung gewisser Vorstellungen von Beleidigung und Unrechtthun, welche gar zur Vernunft hindeuten, zu beruhen. - Daß es den in diesem Zeitraum ihm vorgehaltenen glänzenden Gegenständen mit Augen zu folgen anhebt, ist der rohe Anfang des Fortschreitens von Wahrnehmungen (Apprehension der Empfindungsvorstellung), um sie zum Erkenntniß der Gegenstände der Sinne, d.i. der Erfahrung, zu erweitern. Daß ferner, wenn es nun zu sprechen versucht, das Radbrechen der Wörter es für Mütter und Ammen so liebenswürdig und diese geneigt macht, es beständig zu herzen und zu küssen, es auch wohl durch Erfüllung jedes Wunsches und Willens zum kleinen Befehlshaber zu verziehen: diese Liebenswürdigkeit des Geschöpfs im Zeitraum seiner Entwickelung zur Menschheit muß wohl auf Rechnung seiner Unschuld und Offenheit aller seiner noch fehlerhaften Äußerungen, wobei noch kein Hehl und nichts Arges ist, einerseits, andrerseits aber auf den natürlichen Hang der Ammen zum Wohlthun an einem Geschöpf, welches einschmeichelnd sich des andern Willkür gänzlich überläßt, geschrieben werden, da ihm eine Spielzeit eingewilligt wird, die glücklichste unter allen, wobei der Erzieher dadurch, daß er sich selber gleichsam zum Kinde macht, diese Annehmlichkeit nochmals genießt.

Die Erinnerung seiner Kinderjahre reicht aber bei weitem nicht bis an jene Zeit, weil sie nicht die Zeit der Erfahrungen, sondern blos zerstreuter, unter den Begriff des Objects noch nicht vereinigter Wahrnehmungen war.

Vom Egoism.

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§ 2. Von dem Tage an, da der Mensch anfängt durch Ich zu sprechen, bringt er sein geliebtes Selbst, wo er nur darf, zum Vorschein, und der Egoism schreitet unaufhaltsam fort; wenn nicht offenbar (denn da widersteht ihm der Egoism Anderer), doch verdeckt, um mit scheinbarer Selbstverleugnung und vorgeblicher Bescheidenheit sich desto sicherer im Urtheil Anderer einen vorzüglichen Werth zu geben.

Der Egoism kann dreierlei Anmaßungen enthalten: die des Verstandes, des Geschmacks und des praktischen Interesse, d. i. er kann logisch oder ästhetisch oder praktisch sein.

Der logische Egoist hält es für unnöthig, sein Urtheil auch am Verstande Anderer zu prüfen; gleich als ob er dieses Probirsteins (criterium veritatis extrenum) gar nicht bedürfte. Es ist aber gewiß, daß wir dieses Mittel, uns der Wahrheit unseres Urtheils zu versichern, nicht entbehren können, daß es vielleicht der wichtigste Grund ist, warum das gelehrte Volk so dringend nach der Freiheit der Feder schreit; weil, wenn diese verweigert wird, uns zugleich ein großes Mittel entzogen wird, die Richtigkeit unserer eigenen Urtheile zu prüfen, und wir dem Irrthum preis gegeben werden. Man sage ja nicht, daß wenigstens die Mathematik privilegirt sei, aus eigener Machtvollkommenheit abzusprechen; denn wäre nicht die wahrgenommene durchgängige Übereinstimmung der Urtheile des Meßkünstlers mit dem Urtheile aller Anderen, die sich diesem Fache mit Talent und Fleiß widmeten, vorhergegangen, so würde sie selbst der Besorgniß, irgendwo in Irrthum zu fallen, nicht entnommen sein. - Giebt es doch auch manche Fälle, wo wir sogar dem Urtheil unserer eigenen Sinne allein nicht trauen, z. B. ob ein Geklingel blos in unseren Ohren, oder ob es das Hören wirklich gezogener Glocken sei, sondern noch andere zu befragen nöthig finden, ob es sie nicht auch so dünke. Und ob wir gleich im Philosophiren wohl eben nicht, wie die Juristen sich auf Urtheile der Rechtserfahrenen, uns auf andrer Urtheile zu Bestätigung unserer eigenen berufen dürfen, so würde doch ein jeder Schriftsteller, der keinen Anhang findet, mit seiner öffentlich erklärten Meinung, die sonst von Wichtigkeit ist, in Verdacht des Irrthums kommen.

Eben darum ist es ein Wagestück: eine der allgemeinen Meinung, selbst der Verständigen, widerstreitende Behauptung ins Publicum zu spielen. Dieser Anschein des Egoisms heißt die Paradoxie. Es ist nicht eine Kühnheit, etwas auf die Gefahr, daß es unwahr sei, sondern nur daß es bei wenigen Eingang finden möchte, zu wagen. - Vorliebe fürs Paradoxe ist zwar logischer Eigensinn, nicht Nachahmer von Anderen sein zu wollen, sondern als ein seltener Mensch zu erscheinen, statt dessen ein solcher oft nur den Seltsamen macht. Weil aber doch ein jeder seinen eigenen Sinn haben und behaupten muß (Si omnes patres sic, at ego non sic. Abaelard): so ist der Vorwurf der Paradoxie, wenn sie nicht auf Eitelkeit, sich blos unterscheiden zu wollen, gegründet ist, von keiner schlimmen Bedeutung. - Dem Paradoxen ist das Alltägliche entgegengesetzt, was die gemeine Meinung auf seiner Seite hat. Aber bei diesem ist eben so wenig Sicherheit, wo nicht noch weniger, weil es einschläfert; statt dessen das Paradoxon das Gemüth zur Aufmerksamkeit und Nachforschung erweckt, die oft zu Entdeckungen führt.

Der ästhetische Egoist ist derjenige, dem sein eigener Geschmack schon gnügt; es mögen nun andere seine Verse, Malereien, Musik u. d. g. noch so schlecht finden, tadeln oder gar verlachen. Er beraubt sich selbst des Fortschritts zum Besseren, wenn er sich mit seinem Urtheil isolirt, sich selbst Beifall klatscht und den Probirstein des Schönen der Kunst nur in sich allein sucht.

Endlich ist der moralische Egoist der, welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränkt, der keinen Nutzen worin sieht, als in dem, was ihm nützt, auch wohl als Eudämonist blos im Nutzen und der eigenen Glückseligkeit, nicht in der Pflichtvorstellung den obersten Bestimmungsgrund seines Willens setzt. Denn weil jeder andere Mensch sich auch andere Begriffe von dem macht, was er zur Glückseligkeit rechnet, so ists gerade der Egoism, der es so weit bringt, gar keinen Probirstein des ächten Pflichtbegriffs zu haben, als welcher durchaus ein allgemein geltendes Princip sein muß. Alle Eudämonisten sind daher praktische Egoisten.

Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten. So viel gehört davon zur Anthropologie. Denn was diesen Unterschied nach metaphysischen Begriffen betrifft, so liegt er ganz außer dem Felde der hier abzuhandelnden Wissenschaft. Wenn nämlich blos die Frage wäre, ob ich als denkendes Wesen außer meinem Dasein noch das Dasein eines Ganzen anderer, mit mir in Gemeinschaft stehender Wesen (Welt genannt) anzunehmen Ursache habe, so ist sie nicht anthropologisch, sondern blos metaphysisch.

Anmerkung.

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Über die Förmlichkeit der egoistischen Sprache.

Die Sprache des Staatsoberhaupts zum Volk ist in unseren Zeiten gewöhnlich pluralistisch (Wir N. von Gottes Gnaden u. s. w.). Es frägt sich, ob der Sinn hiebei nicht vielmehr egoistisch, d. i. eigene Machtvollkommenheit anzeigend, und eben dasselbe bedeuten solle, was der König von Spanien mit seinem Io, el Rey (Ich, der König) sagt. Es scheint aber doch: daß jene Förmlichkeit der höchsten Autorität ursprünglich habe Herablassung (Wir, der König und sein Rath oder die Stände) andeuten sollen. - Wie ist es aber zugegangen, daß die wechselseitige Anrede, welche in den alten, classischen Sprachen durch Du, mithin unitarisch ausgedrückt wurde, von verschiedenen, vornehmlich germanischen Völkern pluralistisch durch Ihr bezeichnet worden? wozu die Deutschen noch zwei, eine größere Auszeichnung der Person, mit der man spricht, andeutende Ausdrücke, nämlich den des Er und des Sie (gleich als wenn es gar keine Anrede, sondern Erzählung von Abwesenden und zwar entweder Einem oder Mehreren wäre), erfunden haben; worauf endlich zu Vollendung aller Ungereimtheiten der vorgeblichen Demüthigung unter dem Angeredeten und Erhebung des Anderen über sich statt der Person das Abstractum der Qualität des Standes des Angeredeten (Ew. Gnaden Hochgeb., Hoch= und Wohledl. u.d.g.) in Gebrauch gekommen. - Alles vermuthlich durch das Feudalwesen, nach welchem dafür gesorgt wurde, daß von der königlichen Würde an durch alle Abstufungen bis dahin, wo die Menschenwürde gar aufhört, und blos der Mensch bleibt, d. i. bis zu dem Stande des Leibeigenen, der allein von seinem Oberen durch Du angeredet werden, oder eines Kindes, was noch nicht einen eigenen Willen haben darf, - der Grad der Achtung, der dem Vornehmeren gebührt, ja nicht verfehlt würde.

Von dem willkürlichen Bewußtsein seiner Vorstellungen.

Inhaltsverzeichnis

§ 3. Das Bestreben sich seiner Vorstellungen bewußt zu werden ist entweder das Aufmerken (attentio), oder das Absehen von einer Vorstellung, deren ich mir bewußt bin (abstractio). - Das letztere ist nicht etwa bloße Unterlassung und Verabsäumung des ersteren (denn das wäre Zerstreuung (distractio), sondern ein wirklicher Act des Erkenntnißvermögens, eine Vorstellung, deren ich mir bewußt bin, von der Verbindung mit anderen in Einem Bewußtsein abzuhalten. - Man sagt daher nicht, etwas abstrahiren (absondern), sondern von etwas, d. i. einer Bestimmung des Gegenstandes meiner Vorstellung, abstrahiren, wodurch diese die Allgemeinheit eines Begriffs erhält und so in den Verstand aufgenommen wird. Von einer Vorstellung abstrahiren zu können, selbst wenn sie sich dem Menschen durch den Sinn aufdringt, ist ein weit größeres Vermögen, als das zu attendiren: weil es eine Freiheit des Denkungsvermögens und die Eigenmacht des Gemüths beweist, den Zustand seiner Vorstellungen in seiner Gewalt zu haben (animus sui compos). - In dieser Rücksicht ist nun das Abstractionsvermögen viel schwerer, aber auch wichtiger als das der Attention, wenn es Vorstellungen der Sinne betrifft. Viele Menschen sind unglücklich, weil sie nicht abstrahiren können. Der Freier könnte eine gute Heurath machen, wenn er nur über eine Warze im Gesicht oder eine Zahnlücke seiner Geliebten wegsehen könnte. Es ist aber eine besondere Unart unseres Attentionsvermögens gerade darauf, was fehlerhaft an anderen ist, auch unwillkürlich seine Aufmerksamkeit zu heften: seine Augen auf einen dem Gesicht gerade gegenüber am Rock fehlenden Knopf, oder die Zahnlücke, oder einen angewohnten Sprachfehler zu richten und den Anderen dadurch zu verwirren, sich selbst aber auch im Umgange das Spiel zu Verderben. - Wenn das Hauptsächliche gut ist, so ist es nicht allein billig, sondern auch klüglich gehandelt, über das Üble an Anderen, ja selbst unseres eigenen Glückszustandes wegzusehen; aber dieses Vermögen zu abstrahiren ist eine Gemüthsstärke, welche nur durch Übung erworben werden kann.

Von dem Beobachten seiner selbst.

Inhaltsverzeichnis

§ 4. Das Bemerken (animadvertere) ist noch nicht ein Beobachten (observare) seiner selbst. Das letztere ist eine methodische Zusammenstellung der an uns selbst gemachten Wahrnehmungen, welche den Stoff zum Tagebuch eines Beobachters seiner selbst abgiebt und leichtlich zu Schwärmerei und Wahnsinn hinführt.

Das Aufmerken (attentio) auf sich selbst, wenn man mit Menschen zu thun hat, ist zwar nothwendig, muß aber im Umgange nicht sichtbar werden; denn da macht es entweder genirt (verlegen) oder affectirt (geschroben). Das Gegentheil von beiden ist die Ungezwungenheit (das air dçgagç): ein Vertrauen zu sich selbst von Andern in seinem Anstande nicht nachtheilig beurtheilt zu werden. Der, welcher sich so stellt, als ob er sich vor dem Spiegel beurtheilen wolle, wie es ihm lasse, oder so spricht, als ob er sich (nicht blos als ob ein Anderer ihn) sprechen höre, ist eine Art von Schauspieler. Er will repräsentiren und erkünstelt einen Schein von seiner eigenen Person; wodurch, wenn man diese Bemühung an ihm wahrnimmt, er im Urtheil Anderer einbüßt, weil sie den Verdacht einer Absicht zu betrügen erregt. - Man nennt die Freimüthigkeit in der Manier sich äußerlich zu zeigen, die zu keinem solchen Verdacht Anlaß giebt, das natürliche Betragen (welches darum doch nicht alle schöne Kunst und Geschmacks=Bildung ausschließt), und es gefällt durch die bloße Wahrhaftigkeit in Äußerungen. Wo aber zugleich Offenherzigkeit aus Einfalt, d. i. aus Mangel einer schon zur Regel gewordenen Verstellungskunst, aus der Sprache hervorblickt, da heißt sie Naivetät.

Die offene Art sich zu erklären an einem der Mannbarkeit sich nähernden Mädchen oder einem mit der städtischen Manier unbekannten Landmann erweckt durch die Unschuld und Einfalt (die Unwissenheit in der Kunst zu scheinen) ein fröhliches Lachen bei denen, die in dieser Kunst schon geübt und gewitzigt sind. Nicht ein Auslachen mit Verachtung; denn man ehrt doch hiebei im Herzen die Lauterkeit und Aufrichtigkeit; sondern ein gutmüthiges, liebevolles Belachen der Unerfahrenheit in der bösen, obgleich auf unsere schon verdorbene Menschennatur gegründeten, Kunst zu scheinen, die man eher beseufzen als belachen sollte: wenn man sie mit der Idee einer noch unverdorbenen Natur vergleicht.1 Es ist eine augenblickliche Fröhlichkeit, wie von einem bewölkten Himmel, der sich an einer Stelle einmal öffnet, den Sonnenstrahl durchzulassen, aber sich sofort wieder zuschließt, um der blöden Maulwurfsaugen der Selbstsucht zu schonen.

Was aber die eigentliche Absicht dieses §s betrifft, nämlich die obige Warnung sich mit der Ausspähung und gleichsam studirten Abfassung einer inneren Geschichte des unwillkürlichen Laufs seiner Gedanken und Gefühle durchaus nicht zu befassen, so geschieht sie darum, weil es der gerade Weg ist, in Kopfverwirrung vermeinter höherer Eingebungen und ohne unser Zuthun, wer weiß woher, auf uns einfließenden Kräfte, in Illuminatism oder Terrorism zu gerathen. Denn unvermerkt machen wir hier vermeinte Entdeckungen von dem, was wir selbst in uns hineingetragen haben; wie eine Bourignon mit schmeichelhaften, oder ein Pascal mit schreckenden und ängstlichen Vorstellungen, in welchen Fall selbst ein sonst vortrefflicher Kopf, Albrecht Haller, gerieth, der bei seinem lange geführten, oft auch unterbrochenen Diarium seines Seelenzustandes zuletzt dahin gelangte, einen berühmten Theologen, seinen vormaligen akademischen Collegen, den D. Leß, zu befragen: ob er nicht in seinem weitläuftigen Schatz der Gottesgelahrtheit Trost für seine beängstigte Seele antreffen könne.

Die verschiedenen Acte der Vorstellungskraft in mir zu beobachten, wenn ich sie herbeirufe, ist des Nachdenkens wohl werth, für Logik und Metaphysik nöthig und nützlich. - Aber sich belauschen zu wollen, so wie sie auch ungerufen von selbst ins Gemüth kommen (das geschieht durch das Spiel der unabsichtlich dichtenden Einbildungskraft) ist, weil alsdann die Principien des Denkens nicht (wie sie sollen) vorangehen, sondern hintennach folgen, eine Verkehrung der natürlichen Ordnung im Erkenntnißvermögen und ist entweder schon eine Krankheit des Gemüths (Grillenfängerei) oder führt zu derselben und zum Irrhause. Wer von inneren Erfahrungen (von der Gnade, von Anfechtungen) viel zu erzählen weiß, mag bei seiner Entdeckungsreise zur Erforschung seiner selbst immer nur in Anticyra vorher anlanden. Denn es ist mit jenen inneren Erfahrungen nicht so bewandt, wie mit den äußeren Gegenständen im Raum, worin die Gegenstände nebeneinander und als bleibend festgehalten erscheinen. Der innere Sinn sieht die Verhältnisse seiner Bestimmungen nur in der Zeit, mithin im Fließen, wo keine Dauerhaftigkeit der Betrachtung, die doch zur Erfahrung nothwendig ist, statt findet.2

Von den Vorstellungen, die wir haben, ohne uns ihrer bewußt zu sein.

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§ 5. Vorstellungen zu haben und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein, darin scheint ein Widerspruch zu liegen; denn wie können wir wissen, daß wir sie haben, wenn wir uns ihrer nicht bewußt sind? Diesen Einwurf machte schon Locke, der darum auch das Dasein solcher Art Vorstellungen verwarf. - Allein wir können uns doch mittelbar bewußt sein eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewußt sind. - Dergleichen Vorstellungen heißen dann dunkele; die übrigen sind klar und, wenn ihre Klarheit sich auch auf die Theilvorstellungen eines Ganzen derselben und ihre Verbindung erstreckt, deutliche Vorstellungen, es sei des Denkens oder der Anschauung.

Wenn ich weit von mir auf einer Wiese einen Menschen zu sehen mir bewußt bin, ob ich gleich seine Augen, Nase, Mund u. s. w. zu sehen mir nicht bewußt bin, so schließe ich eigentlich nur, daß dies Ding ein Mensch sei; denn wollte ich darum, weil ich mir nicht bewußt bin, diese Theile des Kopfs (und so auch die übrigen Theile dieses Menschen) wahrzunehmen, die Vorstellung derselben in meiner Anschauung gar nicht zu haben behaupten, so würde ich auch nicht sagen können, daß ich einen Menschen sehe; denn aus diesen Theilvorstellungen ist die ganze (des Kopfs oder des Menschen) zusammengesetzt.

Daß das Feld unserer Sinnenanschauungen und Empfindungen, deren wir uns nicht bewußt sind, ob wir gleich unbezweifelt schließen können, daß wir sie haben, d. i. dunkeler Vorstellungen im Menschen (und so auch in Thieren), unermeßlich sei, die klaren dagegen nur unendlich wenige Punkte derselben enthalten, die dem Bewußtsein offen liegen; daß gleichsam auf der großen Karte unseres Gemüths nur wenig Stellen illuminirt sind: kann uns Bewunderung über unser eigenes Wesen einflößen; denn eine höhere Macht dürfte nur rufen: es werde Licht! So würde auch ohne Zuthun des Mindesten (z. B. wenn wir einen Litterator mit allem dem nehmen, was er in seinem Gedächtniß hat) gleichsam eine halbe Welt ihm vor Augen liegen. Alles, was das bewaffnete Auge durchs Teleskop (etwa am Monde) oder durchs Mikroskop (an Infusionsthierchen) entdeckt, wird durch unsere bloßen Augen gesehen; denn diese optischen Mittel bringen ja nicht mehr Lichtstrahlen und dadurch erzeugte Bilder ins Auge, als auch ohne jene künstliche Werkzeuge sich auf der Netzhaut gemalt haben würden, sondern breiten sie nur mehr aus, um uns ihrer bewußt zu werden. - Eben das gilt von den Empfindungen des Gehörs, wenn der Musiker mit zehn Fingern und beiden Füßen eine Phantasie auf der Orgel spielt und wohl auch noch mit einem neben ihm Stehenden spricht, wo so eine Menge Vorstellungen in wenig Augenblicken in der Seele erweckt werden, deren jede zu ihrer Wahl überdem noch ein besonderes Urtheil über die Schicklichkeit bedurfte, weil ein einziger der Harmonie nicht gemäßer Fingerschlag sofort als Mißlaut vernommen werden würde, und doch das Ganze so ausfällt, daß der frei phantasirende Musiker oft wünschen möchte, manches von ihm glücklich ausgeführte Stück, dergleichen er vielleicht sonst mit allem Fleiß nicht so gut zu Stande zu bringen hofft, in Noten aufbehalten zu haben.

So ist das Feld dunkler Vorstellungen das größte im Menschen. Weil es aber diesen nur in seinem passiven Theile als Spiel der Empfindungen wahrnehmen läßt, so gehört die Theorie derselben doch nur zur physiologischen Anthropologie, nicht zur pragmatischen, worauf es hier eigentlich abgesehen ist.

Wir spielen nämlich oft mit dunkelen Vorstellungen und haben ein Interesse beliebte oder unbeliebte Gegenstände vor der Einbildungskraft in Schatten zu stellen; öfter aber noch sind wir selbst ein Spiel dunkeler Vorstellungen, und unser Verstand vermag sich nicht wider die Ungereimtheiten zu retten, in die ihn der Einfluß derselben versetzt, ob er sie gleich als Täuschung anerkennt.

So ist es mit der Geschlechtsliebe bewandt, so fern sie eigentlich nicht das Wohlwollen, sondern vielmehr den Genuß ihres Gegenstandes beabsichtigt. Wie viel Witz ist nicht von jeher verschwendet worden, einen dünnen Flor über das zu werfen, was zwar beliebt ist, aber doch den Menschen mit der gemeinen Thiergattung in so naher Verwandtschaft sehen läßt, daß die Schamhaftigkeit dadurch aufgefordert wird, und die Ausdrücke in feiner Gesellschaft nicht unverblümt, wenn gleich zum Belächeln durchscheinend genug, hervortreten dürfen. - Die Einbildungskraft mag hier gern im Dunkeln spaziren, und es gehört immer nicht gemeine Kunst dazu, wenn, um den Cynism zu vermeiden, man nicht in den lächerlichen Purism zu verfallen Gefahr laufen will.

Andererseits sind wir auch oft genug das Spiel dunkeler Vorstellungen, welche nicht verschwinden wollen, wenn sie gleich der Verstand beleuchtet. Sich das Grab in seinem Garten oder unter einem schattichten Baum, im Felde oder im trockenen Boden bestellen, ist oft eine wichtige Angelegenheit für einen Sterbenden: obzwar er im ersteren Fall keine schöne Aussicht zu hoffen, im letzteren aber von der Feuchtigkeit den Schnupfen zu besorgen nicht Ursache hat. Daß das Kleid den Mann mache, gilt in gewisser Maße auch für den Verständigen. Das russische Sprichwort sagt zwar: "Man empfängt den Gast nach seinem Kleide und begleitet ihn nach seinem Verstande"; aber der Verstand kann doch den Eindruck dunkeler Vorstellungen von einer gewissen Wichtigkeit, den eine wohlgekleidete Person macht, nicht verhüten, sondern allenfalls nur das vorläufig über sie gefällte Urtheil hinten nach zu berichtigen den Vorsatz haben. Sogar wird studirte Dunkelheit oft mit gewünschtem Erfolg gebraucht, um Tiefsinn und Gründlichkeit vorzuspiegeln; wie etwa in der Dämmerung oder durch einen Nebel gesehene Gegenstände immer größer gesehen werden, als sie sind.3 Das Skotison (machs dunkel!) ist der Machtspruch aller Mystiker, um durch gekünstelte Dunkelheit Schatzgräber der Weisheit anzulocken. - Aber überhaupt ist auch ein gewisser Grad des Räthselhaften in einer Schrift dem Leser nicht unwillkommen: weil ihm dadurch seine eigene Scharfsinnigkeit fühlbar wird, das Dunkele in klare Begriffe aufzulösen.

Von der Deutlichkeit und Undeutlichkeit im Bewußtsein seiner Vorstellungen.

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§ 6. Das Bewußtsein seiner Vorstellungen, welches zur Unterscheidung eines Gegenstandes von anderen zureicht, ist Klarheit. Dasjenige aber, wodurch auch die Zusammensetzung der Vorstellungen klar wird, heißt Deutlichkeit. Die letztere macht es allein, daß eine Summe von Vorstellungen Erkenntniß wird; worin dann, weil eine jede Zusammensetzung mit Bewußtsein Einheit desselben, folglich eine Regel für jene voraussetzt, Ordnung in diesem Mannigfaltigen gedacht wird. Der deutlichen Vorstellung kann man nicht die verworrene (perceptio confusa), sondern muß ihr blos die undeutliche (mere clara) entgegensetzen. Was verworren ist, muß zusammengesetzt sein; denn im Einfachen giebt es weder Ordnung noch Verwirrung. Die letztere ist also die Ursache der Undeutlichkeit, nicht die Definition derselben. - In jeder vielhaltigen Vorstellung (perceptio complexa) , dergleichen ein jedes Erkenntniß ist (weil dazu immer Anschauung und Begriff erfordert wird), beruht die Deutlichkeit auf der Ordnung, nach der die Theilvorstellungen zusammengesetzt werden, die dann entweder (die bloße Form betreffend) eine blos logische Eintheilung in obere und untergeordnete (perceptio primaria et secundaria), oder eine reale Eintheilung in Haupt= und Nebenvorstellungen (perceptio principalis et adhaerens) veranlassen; durch welche Ordnung das Erkenntniß deutlich wird. - Man sieht wohl, daß, wenn das Vermögen der Erkenntniß überhaupt Verstand (in der allgemeinsten Bedeutung des Worts) heißen soll, dieser das Auffassungsvermögen (attentio) gegebener Vorstellungen, um Anschauung, das Absonderungsvermögen dessen, was mehreren gemein ist (abstractio), um Begriff, und das Überlegungsvermögen (reflexio), um Erkenntniß des Gegenstandes hervorzubringen, enthalten müsse.

Man nennt den, welcher diese Vermögen im vorzüglichen Grade besitzt, einen Kopf; den, dem sie in sehr kleinem Maß beschert sind, einen Pinsel (weil er immer von Andern geführt zu werden bedarf); den aber, der sogar Originalität im Gebrauch desselben bei sich führt (Kraft deren er, was gewöhnlicherweise unter fremder Leitung gelernt werden muß, aus sich selbst hervorbringt), ein Genie.

Der nichts gelernt hat, was man doch gelehrt werden muß, um es zu wissen, heißt ein Ignorant, wenn er es hätte wissen sollen, so fern er einen Gelehrten vorstellen will; denn ohne diesen Anspruch kann er ein großes Genie sein. Der, welcher nicht selbst denken, wenn gleich viel lernen kann, wird ein beschränkter Kopf (bornirt) genannt. - Man kann ein vaster Gelehrter (Maschine zur Unterweisung anderer, wie man selbst unterwiesen worden) und in Ansehung des vernünftigen Gebrauchs seines historischen Wissens dabei doch sehr bornirt sein. - Der, dessen Verfahren mit dem, was er gelernt hat, in der öffentlichen Mittheilung den Zwang der Schule (als Mangel der Freiheit im Selbstdenken) verräth, ist der Pedant; er mag übrigens Gelehrter oder Soldat, oder gar Hofmann sein. Unter diesen ist der gelehrte Pedant im Grunde noch der erträglichste, weil man doch von ihm lernen kann: da hingegen die Peinlichkeit in Formalien (die Pedanterie) bei den letzteren nicht allein nutzlos, sondern auch wegen des Stolzes, der dem Pedanten unvermeidlich anhängt, obenein lächerlich wird, da es der Stolz eines Ignoranten ist.

Die Kunst aber oder vielmehr die Gewandtheit im gesellschaftlichen Tone zu sprechen und sich überhaupt modisch zu zeigen, welche, vornehmlich wenn es Wissenschaft betrifft, fälschlich Popularität genannt wird, da sie vielmehr geputzte Seichtigkeit heißen sollte, deckte manche Armseligkeit des eingeschränkten Kopfs. Aber nur Kinder lassen sich dadurch irre leiten. "Deine Trommel (sagte der Quäker beim Addison zu dem in der Kutsche neben ihm schwatzenden Officier) ist ein Sinnbild von dir: sie klingt, weil sie leer ist."

Um die Menschen nach ihrem Erkenntnißvermögen (dem Verstande überhaupt) zu beurtheilen, theilt man sie in diejenigen ein, denen Gemeinsinn (sensus communis), der freilich nicht gemein (sensus vulgaris) ist, zugestanden werden muß, und in Leute von Wissenschaft. Die erstern sind der Regeln Kundige in Fällen der Anwendung (in concreto), die andern für sich selbst und vor ihrer Anwendung (in abstracto). - Man nennt den Verstand, der zu dem ersteren Erkenntnißvermögen gehört, den gesunden Menschenverstand (bon sens), den zum zweiten den hellen Kopf (ingenium perspicax). - Es ist merkwürdig, daß man sich den ersteren, welcher gewöhnlich nur als praktisches Erkenntnißvermögen betrachtet wird, nicht allein als einen, welcher der Cultur entbehren kann, sondern als einen solchen, dem sie wohl gar nachtheilig ist, wenn sie nicht weit genug getrieben wird, vorstellig macht, ihn daher bis zur Schwärmerei hochpreiset und ihn als eine Fundgrube in den Tiefen des Gemüths verborgen liegender Schätze vorstellt, auch bisweilen seinen Ausspruch als Orakel (den Genius des Sokrates) für zuverlässiger erklärt als Alles, was studirte Wissenschaft immer zu Markte bringen würde. - So viel ist gewiß, daß, wenn die Auflösung einer Frage auf den allgemeinen und angebornen Regeln des Verstandes (deren Besitz Mutterwitz genannt wird) beruht, es unsicherer ist, sich nach studirten und künstlich aufgestellten Principien (dem Schulwitz) umzusehen und seinen Beschluß darnach abzufassen, als wenn man es auf den Ausschlag der im Dunkeln des Gemüths liegenden Bestimmungsgründe des Urtheils in Masse ankommen läßt, welches man den logischen Tact nennen könnte: wo die Überlegung den Gegenstand sich auf vielerlei Seiten vorstellig macht und ein richtiges Resultat herausbringt, ohne sich der Acte, die hiebei im inneren des Gemüths vorgehen, bewußt zu werden.

Der gesunde Verstand aber kann diese seine Vorzüglichkeit nur in Ansehung eines Gegenstandes der Erfahrung beweisen: nicht allein durch diese an Erkenntniß zu wachsen, sondern sie (die Erfahrung) selbst zu erweitern, aber nicht in speculativer, sondern blos in empirisch=praktischer Rücksicht. Denn in jener bedarf es wissenschaftlicher Principien a priori; in dieser aber können es auch Erfahrungen, d. i. Urtheile sein, die durch Versuch und Erfolg continuirlich bewährt werden.

Von der Sinnlichkeit im Gegensatz mit dem Verstande.

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§ 7. In Ansehung des Zustandes der Vorstellungen ist mein Gemüth entweder handelnd und zeigt Vermögen (facultas), oder es ist leidend und besteht in Empfänglichkeit (receptivitas). Ein Erkenntniß enthält beides verbunden in sich, und die Möglichkeit eine solche zu haben führt den Namen des Erkenntnißvermögens von dem vornehmsten Theil derselben, nämlich der Thätigkeit des Gemüths Vorstellungen zu verbinden, oder von einander zu sondern.

Vorstellungen, in Ansehung deren sich das Gemüth leidend verhält, durch welche also das Subject afficirt wird (dieses mag sich nun selbst afficiren oder von einem Object afficirt werden), gehören zum sinnlichen; diejenigen aber, welche ein bloßes Thun (das Denken) enthalten, zum intellectuellen Erkenntnißvermögen. Jenes wird auch das untere, dieses aber das obere Erkenntnißvermögen genannt.4 Jenes hat den Charakter der Passivität des inneren Sinnes der Empfindungen, dieses der Spontaneität der Apperception, d. i. des reinen Bewußtseins der Handlung, welche das Denken ausmacht und zur Logik (einem System der Regeln des Verstandes), so wie jener zur Psychologie (einem Inbegriff aller innern Wahrnehmungen unter Naturgesetzen) gehört und innere Erfahrung begründet.

Anmerkung. Der Gegenstand der Vorstellung, der nur die Art enthält, wie ich von ihm afficirt werde, kann von mir nur erkannt werden, wie er mir erscheint, und alle Erfahrung (empirische Erkenntniß), die innere nicht minder als die äußere, ist nur Erkenntniß der Gegenstände, wie sie uns erscheinen, nicht wie sie (für sich allein betrachtet) sind. Denn es kommt alsdann nicht blos auf die Beschaffenheit des Objects der Vorstellung, sondern auf die des Subjects und dessen Empfänglichkeit an, welcher Art die sinnliche Anschauung sein werde, darauf das Denken desselben (der Begriff vom Object) folgt. - Die formale Beschaffenheit dieser Receptivität kann nun nicht wiederum noch von den Sinnen abgeborgt werden, sondern muß (als Anschauung) a priori gegeben sein, d. i. es muß eine sinnliche Anschauung sein, welche übrig bleibt, wenn gleich alles Empirische (Sinnenempfindung Enthaltende) weggelassen wird, und dieses Förmliche der Anschauung ist bei inneren Erfahrungen die Zeit.

Weil Erfahrung empirisches Erkenntniß ist, zum Erkenntniß aber (da es auf Urtheilen beruht) Überlegung (reflexio), mithin Bewußtsein der Thätigkeit in Zusammenstellung des Mannigfaltigen der Vorstellung nach einer Regel der Einheit desselben, d. i. Begriff und (vom Anschauen unterschiedenes) Denken überhaupt, erfordert wird: so wird das Bewußtsein in das discursive (welches als logisch, weil es die Regel giebt, voran gehen muß) und das intuitive Bewußtsein eingetheilt werden; das erstere (die reine Apperception seiner Gemüthshandlung) ist einfach. Das Ich der Reflexion hält kein Mannigfaltiges in sich und ist in allen Urtheilen immer ein und dasselbe, weil es blos dies Förmliche des Bewußtseins, dagegen die innere Erfahrung das Materielle desselben und ein Mannigfaltiges der empirischen inneren Anschauung, das Ich der Apprehension, (folglich eine empirische Apperception) enthält.

Ich, als denkendes Wesen, bin zwar mit Mir, als Sinnenwesen, ein und dasselbe Subject; aber als Object der inneren empirischen Anschauung, d. i. so fern ich innerlich von Empfindungen in der Zeit, so wie sie zugleich oder nach einander sind, afficirt werde, erkenne ich mich doch nur, wie ich mir selbst erscheine, nicht als Ding an sich selbst. Denn es hängt doch von der Zeitbedingung, welche kein Verstandesbegriff (mithin nicht bloße Spontaneität) ist, folglich von einer Bedingung ab, in Ansehung deren mein Vorstellungsvermögen leidend ist (und gehört zur Receptivität). Daher erkenne ich mich durch innere Erfahrung immer nur, wie ich mir erscheine; welcher Satz dann oft böslicherweise so verdreht wird, daß er so viel sagen wolle: es scheine mir nur (mihi videri), daß ich gewisse Vorstellungen und Empfindungen habe, ja überhaupt daß ich existire. Der Schein ist der Grund zu einem irrigen Urtheil aus subjectiven Ursachen, die fälschlich für objectiv gehalten werden; Erscheinung ist aber gar kein Urtheil, sondern blos empirische Anschauung, die durch Reflexion und den daraus entspringenden Verstandesbegriff zur inneren Erfahrung und hiemit Wahrheit wird.

Daß die Wörter innerer Sinn und Apperception von den Seelenforschern gemeinhin für gleichbedeutend genommen werden, unerachtet der erstere allein ein psychologisches (angewandtes), die zweite aber blos ein logisches (reines) Bewußtsein anzeigen soll, ist die Ursache dieser Irrungen. Daß wir aber durch den ersteren uns nur erkennen können, wie wir uns erscheinen, erhellt daraus, weil Auffassung (apprehensio) der Eindrücke des ersteren eine formale Bedingung der inneren Anschauung des Subjects, nämlich die Zeit, voraussetzt, welche kein Verstandesbegriff ist und also blos als subjective Bedingung gilt, wie nach der Beschaffenheit der menschlichen Seele uns innere Empfindungen gegeben werden, also diese uns nicht, wie das Object an sich ist, zu erkennen giebt.

Diese Anmerkung gehört eigentlich nicht zur Anthropologie. In dieser sind nach Verstandesgesetzen vereinigte Erscheinungen Erfahrungen, und da wird nach der Vorstellungsart der Dinge, wie sie auch ohne ihr Verhältniß zu den Sinnen in Betrachtung zu ziehen (mithin an sich selbst) sind, gar nicht gefragt; denn diese Untersuchung gehört zur Metaphysik, welche es mit der Möglichkeit der Erkenntniß a priori zu thun hat. Aber es war doch nöthig so weit zurückzugehen, um auch nur die Verstöße des speculativen Kopfs in Ansehung dieser Frage abzuhalten. - Da übrigens die Kenntniß des Menschen durch innere Erfahrung, weil er darnach großentheils auch Andere beurtheilt, von großer Wichtigkeit, aber doch zugleich von vielleicht größerer Schwierigkeit ist, als die richtige Beurtheilung Anderer, indem der Forscher seines Inneren leichtlich, statt blos zu beobachten, manches in das Selbstbewußtsein hinein trägt, so ist es rathsam und sogar nothwendig von beobachteten Erscheinungen in sich selbst anzufangen und dann allererst zu Behauptung gewisser Sätze, die die Natur des Menschen angehen, d. i. zur inneren Erfahrung, fortzuschreiten.

Apologie für die Sinnlichkeit.

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§ 8. Dem Verstande bezeigt jedermann alle Achtung, wie auch die Benennung desselben als oberen Erkenntnißvermögens es schon anzeigt; wer ihn lobpreisen wollte, würde mit dem Spott jenes das Lob der Tugend erhebenden Redners (stulte! Quis unquam vituperavit) abgefertigt werden. Aber die Sinnlichkeit ist in üblem Ruf. Man sagt ihr viel Schlimmes nach: z. B. 1)daß sie die Vorstellungskraft verwirre; 2)daß sie das große Wort führe und als Herrscherin, da sie doch nur die Dienerin des Verstandes sein sollte, halsstarrig und schwer zu bändigen sei; 3)daß sie sogar betrüge und man in Ansehung ihrer nicht genug auf seiner Hut sein könne. - Anderseits fehlt es ihr aber auch nicht an Lobrednern, vornehmlich unter Dichtern und Leuten von Geschmack, welche die Versinnlichung der Verstandesbegriffe nicht allein als Verdienst hochpreisen, sondern auch gerade hierin und daß die Begriffe nicht so mit peinlicher Sorgfalt in ihre Bestandtheile zerlegt werden müßten, das Prägnante (die Gedankenfülle) oder das Emphatische (den Nachdruck) der Sprache und das Einleuchtende (die Helligkeit im Bewußtsein) der Vorstellungen setzen, die Nacktheit des Verstandes aber geradezu für Dürftigkeit erklären5.Wir brauchen hier keinen Panegyristen, sondern nur einen Advocaten wider den Ankläger.

Das Passive in der Sinnlichkeit, was wir doch nicht ablegen können, ist eigentlich die Ursache alles des Übels, was man ihr nachsagt. Die innere Vollkommenheit des Menschen besteht darin: daß er den Gebrauch aller seiner Vermögen in seiner Gewalt habe, um ihn seiner freien Willkür zu unterwerfen. Dazu aber wird erfordert, daß der Verstand herrsche, ohne doch die Sinnlichkeit (die an sich Pöbel ist, weil sie nicht denkt) zu schwächen: weil ohne sie es keinen Stoff geben würde, der zum Gebrauch des gesetzgebenden Verstandes verarbeitet werden könnte.

Rechtfertigung der Sinnlichkeit gegen die erste Anklage.

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