DasEdenProjekt_Ebook

HYBRID VERLAG

Ebookausgabe

12/2018

 

 

 

 

© by Paul Lung

© by Hybrid Verlag, Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2016 by Creativ Work Design, Homburg

Lektorat: Matthias Schlicke, Mika Jänisen

Autorenfoto: Paul Lung

 

 

 

 

Coverbild ›Die Gameshow‹

© by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Die letzte Melderin‹

© by Katharina Netolitzky

Bilder: Stocksnap.io

 

 

ISBN 978-3-946-82053-6

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

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EPILOG

Schlusswort des Autors

 

 

Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.

Albert Einstein

PROLOG

 

Mit gemächlicher Geschwindigkeit näherte er sich dem Gebilde. Die Schubdüsen seines Druckanzugs trugen ihn mit sanfter Kraft immer näher an die filigran wirkende Konstruktion der Relaisstation heran.

»Wieso?«, murmelte er vor sich hin und genoss den Klang der eigenen Stimme in der Totenstille des Weltalls. »Was ist so schwierig daran, eine standardisierte Schnittstelle für eine verkackte Drohne einzuplanen? Jetzt müssen es wieder die Techniker richten.«

Der Helm verschluckte seine Stimme und sein genervtes Augenrollen sah niemand.

»Aber wem erzähle ich das?«, seufzte er. »Doch nur mir selbst. Wenigstens einer, der mir zuhört. Ist gut, dass mir jemand zuhört. Wenn ich einfach nur vor mich hin reden würde, wäre ich doch verrückt.«

Er kicherte vor sich hin, während er der Fachwerkskonstruktion immer näherkam. Der gigantische Ikosaeder aus Streben wirkte wie ein metallenes Spinnennetz. Mehrere Ausleger hielten Fotovoltaikpaneele, die die Energiezufuhr sicherten und die Elektronik dahinter vor der zerstörerischen Strahlung der Sonne schützten. Aus dem Gerüst ragten zwei dicke Rohre heraus: mächtige Hochleistungslaser, die normalerweise Unmengen an Daten zwischen dem Mars und der Erde vermittelten. Doch jetzt hing der Riese still in seiner Umlaufbahn um das Zentralgestirn. Um den Grund für den Ausfall zu ermitteln und das wichtige Schaltwerk wieder in Gang zu bringen, hatte man ihn hierhergeschickt. Es kreisten nur zwei dieser Relais um die Sonne und sicherten die Verbindung zwischen den Planeten. Der andere trat in den nächsten 48 Stunden in den Sonnenschatten ein und verlor damit die Verbindung. Spätestens dann sollte diese Einheit hier wieder senden.

»Ach, mach schon!«, schimpfte er, als er Gegenschub gab und sich seine Geschwindigkeit nur langsam verzögerte. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

Er dachte an seinen Vorgesetzten, der ihn heute Morgen in völliger Auflösung von dem Ausfall in Kenntnis gesetzt und ihm die Anweisung gegeben hatte, sofort zu starten.

»Na ja«, korrigierte er sich und kicherte wieder. »Eigentlich habe ich alle Zeit der Welt.«

Es amüsierte ihn, wenn er daran dachte, was dieser Ausfall auf lange Sicht bedeuten würde. Unzähligen Unternehmen auf der Erde ginge die Verbindung zu ihren Außenstellen auf dem Roten Planeten verloren, ganz zu schweigen von den Nachrichtendiensten, die das dortige Geschehen überwachten. Das zöge einen mittleren Skandal, Imageverlust und Schadensersatzforderungen nach sich. Und das nur, weil ein paar Schreibtischhengste glaubten, sie könnten mit Sicherheitsfaktoren und redundanter Bauweise allen Unwägbarkeiten trotzen.

»Hätten sie doch einmal auf einen von uns dummen Monteuren gehört«, sagte er. »Ich hätte ihnen schon erzählt, dass genau so etwas passieren würde. Aber nein, die feinen Herren sitzen sich ihren Arsch auf ihrem Bürosessel wund und schauen dann ungläubig, wenn etwas Unerwartetes passiert.« Genüsslich stellte er sich die Konstrukteure vor, wie ihr Vorgesetzter sie zusammenstauchte. Nicht, dass es etwas ändern würde, aber es wäre eine Genugtuung. Wie gerne stünde er daneben.

Ganz langsam trieb er an eine Strebe, hakte die Sicherungsleine ein und warf einen sehnsüchtigen Blick zurück auf den kleinen Raumgleiter, sein treuer, sein einziger Freund in dieser weiten Leere.

»Ich bin gleich zurück, mein Kleiner. Mach Platz und sei artig.«

Trotz der Schwerelosigkeit gestaltete sich der Weg über die Streben recht anstrengend. Der Druckanzug schränkte die Bewegungsfreiheit ein und die Bauchtasche mit den Werkzeugen hinderte ebenfalls.

»Das ist doch keine Arbeit für einen Menschen«, schimpfte er, während er sich schnaufend zur Kugel in der Mitte der Struktur hangelte. »Das nächste Mal nehme ich einen dieser aufgeblasenen Ingenieure mit. Das wäre ein Spaß. Aber wir stünden wohl Wochen hier.«

Er schwadronierte noch weiter, bis er endlich vor dem Schott der Schleuse stand, die in das Innere der Kugel führte. Die Statuslämpchen leuchteten nicht, das Bedienfeld blieb trotz mehrerer Versuche schwarz. Mittels der manuellen Betätigung gelangte er trotzdem hinein.

»Na, das sieht doch schon besser aus!«, rief er erfreut, als er in der hell erleuchteten, klinisch weißen Kapsel stand.

Überall an der Aussteifung des Innenraums und an der Wandung standen Kästen, rankten sich Kabelbäume und blinkten Signalleuchten. Jeder Platz war effizient genutzt, zwischen den Geräten blieben lediglich schmale Gänge. Zielsicher zwängte er sich durch einen davon und bewegte sich geradewegs auf einen großen Kasten zu. Der Steuerungscomputer reagierte prompt auf seine Eingabe, ein gutes Zeichen. Doch die Werte, die auf dem Bildschirm erschienen, gefielen ihm deutlich weniger.

»Das kann nicht sein«, murmelte er, während er die einzelnen Systemkomponenten checkte. »Hauptstromversorgung tot … Servoantriebe – kein Zugriff … Was soll das denn?«

Nervös hackte er auf der Konsole herum, doch die Werte der Strahlungssensoren lagen weiterhin in einem völlig absurden Bereich und reagierten nicht. Einen Moment starrte er ratlos auf den Bildschirm. Wie sollte er seinen Vorgesetzten und deren Auftraggebern verklickern, dass diese Anlage hier nicht mehr als ein großer Schrotthaufen war? Die Zentralsteuerung arbeitete noch mittels Notstrom, der Rest reagierte nicht mehr.

»Funktionale Querschnittslähmung«, stellte er als Diagnose und seufzte. Er sicherte die Log-Daten des Systems, sprach eine kurze Stellungnahme dazu und gab den Befehl, das zusammengestellte Datenpaket an den Gleiter zu senden.

»Keine Verbindung«, gab das Betriebssystem des Anzugs von sich.

»Ach ja«, brummte er und blickte auf die weiße Wand hinter der Konsole. »Ganz gut abgeschirmt hier. Wenigstens haben die Sesselfurzer das einigermaßen hinbekommen.«

Er verharrte kurz und überlegte, ob er hinausklettern und einen Zwischenstand zum Gleiter schicken sollte, als sich die Werte auf dem Bildschirm abrupt änderten und Warnsignale aufblinken.

»Was zum …«, setzte er an, da plärrte auch schon das System los. Das Licht in der Kugel blinkte jetzt gelb.

Eine Sonneneruption? Nein, die Astronomen und Sonnenobservatorien hatten nichts Derartiges gemeldet. Nicht in dieser Stärke. Doch was kam sonst in Frage? Bevor er sich eine Antwort überlegen konnte, veränderte sich das Licht abermals, diesmal von Gelb zu Rot. Das Computersystem meldete »Sicherheitswarnung!«, »Werte im Gefahrenbereich!« und die Überhitzung des Kühlsystems.

»Scheiße!«, fluchte er, während er sich hektisch durch den Gang Richtung Schleuse hangelte. »Das Ding ist nicht nur ein Schrotthaufen, sondern eine verkackte Zeitbombe. – Verfluchtes Kabel, lass los!«

Aufgeregt strampelte er verworrene Leitungsbündel und Schläuche von seinem Bein und stemmte sich vorwärts. Beim Abstoßen mit den Beinen beschädigte er Displays und Schalter, doch das registrierte er gar nicht. Er musste hier so schnell wie möglich raus, zum Gleiter, Sonneneruption und Plasmawolke hin oder her. Auf der sonnenabgewandten Seite der Relaisstation hatte er wenigstens eine Chance. Erste Lichter fielen aus, als er sich den Weg zurück zur Schleuse bahnte. Raus, nur raus hier! Als er an den Griff der Schleuse fasste, ging ein Zittern durch die Struktur. Die Betätigung der Tür reagierte nicht, nicht einmal mehr die manuelle.

Jetzt fielen auch die letzten Lämpchen aus. Erst die Helmbeleuchtung brachte etwas Helligkeit zurück. Im matten Schein der Lampe suchte er fieberhaft nach der Notentriegelung.

»Diese unfähigen … Ach, komm schon!«, knurrte er, als er den Riegel halb verborgen unter einem Kabelschlauch fand. Das Betätigen des Notfallschalters riss die Tür aus den Angeln. Plötzlich ruckte die ganze Kugel, als falle sie irgendwo hinunter. Die Bewegung wirbelte ihn herum und schleuderte ihn gegen die Wand. Der Anzug dämpfte den Aufprall, aber es dauerte einen Augenblick, bis er sich wieder im Raum orientieren konnte. Hinein in die Schleuse, da ruckte es wieder. Er taumelte, verlor das Gleichgewicht. Sein Helm schlug heftig gegen die Wand und ihm wurde schlecht. Benommen tastete er um sich, bekam einen Hebel zu fassen und zog daran. Der heftige Auswurf der äußeren Schleusentür riss ihn mit sich und er trudelte unkontrolliert hinaus. Die nun merkwürdig verbogene Struktur der Station wirbelte vor seinem Gesicht. Während er mittels der Steuerdüsen versuchte, seine Lage zu kontrollieren, sah er etwas aufblitzen. Geräuschlos löste sich ein riesiges Solarpaneel.

»Wo ist denn dieser … Ah! Hier! Komm schon, mach doch!«

Er ortete den Gleiter links neben sich und manövrierte dorthin. Langsam, unglaublich langsam näherte er sich dem rettenden Schott.

Wieder blitzte es, diesmal größer. Fassungslos sah er zu, wie sich eines der großen Laserrohre auflöste. Ein gigantischer Spiegel trudelte in seine Richtung, unhörbar, unaufhaltsam. Panisch betätigte er den Notschub, der seine Atemluft als Antrieb benutzte. Die Anzeige für den Sauerstoffvorrat sank rapide. Endlich gab er Gegenschub, prallte gegen die Schleusentür, fing sich irgendwie.

Die Tür schloss sofort hinter ihm. Während er gegen den Taster hämmerte, der den Hermetisierungsvorgang einleitete, starrte er aus dem kleinen Bullauge. Der Spiegel kam näher, genau auf ihn zu und der Druck in der Schleuse musste sich erst aufbauen. 70 Prozent. Wütend trat er gegen die Wand. »Nun mach schon, du Scheißding!« 80 Prozent. Die glänzende Scheibe nahm schon fast den gesamten Sichtbereich aus dem Bullauge ein. 90 Prozent. Panisch riss er am Hebel für die innere Schleusentür, doch nichts rührte sich und das rote Licht an der Konsole daneben schien ihn zu verhöhnen.

Die Meldung, dass seine Daten nun gesendet wurden, registrierte er nicht mehr. Ein Schlag zerfetzte den Rumpf des Gleiters und seinen Anzug. Die Dekompression nahm ihm augenblicklich die Sinne.

 

1

 

Tollpatschig tastete Ilays Hand über das Nachttischchen, auf dem sein Telefon nervtötende Geräusche von sich gab. Mit verschleiertem Blick starrte er auf das Display. ‚Harold Forster FLD‘ stand neben einer unchristlichen Uhrzeit. Was konnte ‚Fast Light Data‘ so früh am Morgen von ihm wollen? Wahrscheinlich gab ein Server Sicherheitsalarm, weil irgendein Mitarbeiter wieder ein nicht autorisiertes Programm installiert hatte. Und nun vermutete Forster, dieser ahnungslose Hilfssheriff, wohl einen Hackerangriff.

Missmutig nahm Ilay das Gespräch an. Bevor er noch etwas sagen konnte, quäkte schon eine aufgeregte Stimme los.

»Herr Gador, hier spricht Esquerraz, Cybersecurity. Es gibt einen Notfall, wir brauchen Ihre Hilfe. Ein Flugzeug ist schon unterwegs, es holt Sie in zwanzig Minuten ab. Sind Sie verfügbar?«

Völlig überrumpelt bejahte Ilay die Frage. Mehr als eine Zustimmung wollte der Anrufer offensichtlich auch gar nicht hören, denn nach einem hastigen »Vielen Dank, bis später!«, legte er auf.

Ilay ließ sich wieder auf das Kissen fallen, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, schwang sich aber schließlich doch aus dem Bett. Während der rudimentären Morgenhygiene ließ er das eigenartige Telefonat Revue passieren. Wenn ihn nicht Forster, sondern jemand von der Cybersecurity anrief und so offensichtliche Ungeduld und Nervosität an den Tag legte, handelte es sich wahrscheinlich nicht um einen Fehlalarm. Eine Weile überlegte er, was denn passiert sein könnte. Bei FLD konnte das vieles sein.

Das Unternehmen betrieb mehrere sogenannte Backbone-Netzwerke, quasi die Hauptschlagadern der digitalen Gesellschaft. Hochgeschwindigkeitsnetzwerke, welche Kontinente, Raumstationen bis hin zu Planeten untereinander verbanden.

Trotz doppelter und dreifacher Absicherung brauchte es im schlimmsten Fall nur ein fehlerhaftes Serverprotokoll, um ganze Landstriche von jeglicher Kommunikation abzuschneiden. Potentielle Probleme und damit Grund für diesen Esquerraz, Panik zu schieben, gab es genug, auch wenn ein solcher Ausfall mehr als unwahrscheinlich galt.

Der Duft von Kaffee strömte ihm aus der Küche entgegen, als er daran vorbeilief, um sich aus dem Kleiderschrank ein halbwegs frisches Shirt zu holen. ‚Wäsche waschen!‘, notierte er sich in Gedanken, wohl wissend, dass er es gleich wieder vergessen würde.

Mit einer dampfenden Tasse in der Hand und in einigermaßen zivilisiertem Outfit stand er wenig später vor seiner ‚Zentrale‘, wie er es nannte. Sie bestand im Wesentlichen aus einem Computerpaneel an der Wand, das alle Funktionen seines kleinen Hauses steuerte.

Mit ein paar gesprochenen Anweisungen stellte er das System auf seine Abwesenheit ein. Überwachungslevel hoch, automatische Beleuchtung an. – Es musste ja schließlich niemand wissen, dass er sich nicht hier befand.

Etwas Weiches strich um seine Knöchel. Er bückte sich und streichelte Linus, den grau-getigerten Kater. Das einzige Lebewesen, mit dem er sich auf Dauer arrangieren konnte. Wohlig schnurrte das Tier und drückte den Kopf gegen seine Hand. Unwillkürlich musste er lächeln. Wie einfach man doch ein solches Vieh zufriedenstellen konnte. Ganz im Gegensatz zu einem Menschen. Bei dem Kater wusste Ilay genau, was er zu tun hatte, bei menschlichen Bekanntschaften trat er jedes Mal von einem Fettnäpfchen ins andere.

Nach den angekündigten zwanzig Minuten trat er auf die Veranda und gab dem Computersystem die Mitteilung, die Alarmanlage scharf zu stellen. Immer noch mit verschlafenen Augen blinzelte er in die helle Scheibe, deren Rand sich soeben über die Gebirgszüge schob. Ein Flugzeug zeigte sich nirgends. Außer den beruhigenden Geräuschen der Natur hörte er nichts. Hier gab es nur ihn, hier gehörte er her, weit weg von anderen Menschen, mitten in einem der letzten Refugien der Natur. Mit dem Fahrzeug brauchte er eine halbe Stunde, um über die Serpentinen hinunter ins Tal zu kommen, wo der Nationalpark endete und die Zivilisation begann. Er schloss die Augen und genoss die warmen Strahlen der Sonne und die prickelnde Kühle der feuchten Morgenluft. Doch schon nach wenigen Sekunden riss ihn ein pfeifendes Geräusch aus seiner Ruhe.

Mit tosendem Lärm fegte ein kleines Flugzeug heran, verlangsamte und setzte auf der Wiese vor dem Haus auf. Die vier schwenkbaren Triebwerke, die das Transportmittel senkrecht starten und landen ließen, schalteten erst gar nicht ab.

Die Luke öffnete sich und ein Mann winkte ihn herein. Um die Dringlichkeit des Auftrags wissend, lief Ilay zu dem heulenden Ungetüm, das das Gras um Umfeld der heißen Triebwerke verbrannte. Der Steward, gleichzeig auch der Pilot, wies ihn an, im kleinen Passagierraum Platz zu nehmen und sich anzuschnallen. Kaum sitzend, hob das Flugzeug auch schon wieder ab.

Sein Chauffeur wusste von nichts. Er führe nur seinen Auftrag aus, antwortete er auf Nachfrage und fügte mit großem Nachdruck hinzu: »So schnell wie möglich!«

Da er hier offensichtlich keine Informationen bekam und der Pilot sich um seine Geräte kümmerte, sah Ilay von einem Gespräch ab und konzentrierte sich auf die Aussicht. Er sah zu, wie die grünen Hänge und damit sein Zuhause im Dunst des Morgens verschwanden und sich unter ihm graue Gebäude breitmachten. Zuerst große Produktionshallen, später Siedlungen mit Einfamilienhäusern zwischen überdachten Feldern und größeren Betonblöcken.

Nach kaum einer Viertelstunde Flugzeit tauchte vor ihnen eine Gruppe gigantischer Türme auf. Mehrere bullige Klötze formierten sich um eine Handvoll schlanker Nadeln aus Glas, Stahl und Beton, die sich den Wolken entgegenstreckten. Das Stadtzentrum war fast schon ein eigener Distrikt, abgeschottet vom Rest, der kläglich am Boden dahinvegetierte. Der Ort der Reichen und Schönen, der Mächtigen und Privilegierten. Sie steuerten auf einen fast kegelförmigen Turm zu. Erst bei näherer Betrachtung kamen Strukturen auf der Oberfläche zum Vorschein: Vorsprünge, Terrassen, Plattformen. Schriftzüge, Logos und glänzende Glasflächen überzogen die gesamte Fassade des kolossalen Baus.

Der Pilot hielt auf eine Stellfläche zu, eine Art großer Balkon, auf dem bereits einige ähnliche Kleinflugzuge parkten.

Für Ilay stellte dieser Anblick etwas Außergewöhnliches dar, musste er sonst doch immer mit dem Auto oder der U-Bahn hierherkommen. Diese luxuriöse Art des Reisens glich in keiner Weise dem Gedränge in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Vom Ausblick ganz zu schweigen. Er ließ seinen Blick über die verspiegelte Fassade schweifen und fand das Logo seines Ziels, die Buchstaben ‚FLD‘ in kantiger Schrift und von einem pulsierenden, stilisierten Laserstrahl durchschnitten.

Sie landeten und sein Chauffeur führte ihn in das Gebäude, wo eine hochgewachsene Frau in einem dunkelblauen Kostüm wartete. Beim Näherkommen ging sie drei Schritte auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

»Guten Tag, Herr Gador. Mein Name ist Moira Denneck, Datenoperator, FLD.«

Ilay grüßte zurück und musterte sie für einen verstohlenen Augenblick. Im Gegensatz zum aufgeregten Tonfall des Sicherheitschefs am Telefon, strahlte sie Ruhe und eine kühle Sachlichkeit aus, die Ilay gleichermaßen anzog wie abstieß.

»Kommen Sie«, forderte sie ihn auf, »Sie werden schon erwartet. Die Sache ist äußerst dringlich. Ein Briefing erhalten sie drinnen.«

Mit einer eleganten Handbewegung gab sie ihm zu verstehen, dass er mitkommen sollte, und drehte sich zum Eingangsbereich. Während er ihr durch das helle Foyer folgte, betrachtete er sie verstohlen. Die Haltung kerzengerade, schritt sie hart auf ihren Pumps dahin, sodass die Absätze rhythmisch auf den Fliesenboden klackerten. In gewisser Art und Weise fand er sie attraktiv. Die Figur schlank und sportlich, die feuerroten, gekräuselten Haare passten gut zum optischen Gesamteindruck und doch haftete ihr der Eindruck der kalten Unnahbarkeit an, die ihn unwillkürlich Abstand halten ließ.

Zu genaueren Eindrücken kam es nicht. Sie erreichten einen großzügigen Raum, in dem eine Handvoll Leute warteten und aufgeregt diskutierten. Eine Wand des Raums bestand aus einer einzigen, großen Glasscheibe, die einen beeindruckenden Ausblick auf die Stadt unter ihnen bot. Doch auch hierfür blieb Ilay keine Zeit. Ein stattlicher Mann, dessen Jackett sich über einen gewaltigen Bauch spannte, reichte ihm seine verschwitzte Pranke. Er stellte sich als Esquerraz vor, Abteilungsleiter Cybersecurity.

Dieser Mann also hatte ihn heute Morgen so unsanft geweckt. Jetzt, da er ihm gegenüberstand, verstand Ilay dessen fahrige Weise und die Dringlichkeit seines Anrufs besser. Esquerraz wirkte sehr gestresst, sein feistes, gerötetes Gesicht glänzte vor Schweiß, obwohl hier angenehme Temperaturen herrschten. Er gab Frau Denneck einen Wink, die Tür zu schließen, bot Ilay einen Stuhl an und kam gleich zu Sache.

»Herr Gador, danke für Ihre schnelle Bereitschaft. Soweit ich weiß, besteht der Rahmenvertrag mit unserem Unternehmen noch, also können wir gleich mit der Lösung des Problems beginnen und müssen uns nicht mit Zahlendrehereien herumschlagen.«

Der Abteilungsleiter sah ihn an und Ilay nickte. Als freiberuflicher IT-Sicherheitsberater rief ihn das Unternehmen ein paarmal im Jahr zu sich, um Inspektionen durchzuführen, Schulungen abzuhalten oder neue Software zu testen. FLD zahlte gut und pünktlich, aber deswegen machte Ilay den Job nicht. Geld brauchte er aufgrund seiner Lebensweise wenig. Schon mit den Programmieraufträgen allein, mit denen er hin und wieder Softwarefirmen aushalf, kam er leidlich über die Runden. Doch diese Arbeit hier verhalf ihm neben interessanten Tätigkeiten auch zu guten Kontakten. Vor allem aber stand ihm sehr schnell die neueste Computertechnologie zur Verfügung, oft noch bevor es sie in den offiziellen Läden zu kaufen gab. Außerdem bescherte ihm sein direkter Zugriff auf das Backbone-Netzwerk der Firma eine Menge Möglichkeiten, auf Websites zuzugreifen, die anderen unzugänglich blieben, weil die meisten Provider die Daten filterten.

Esquerraz stellte ihm die anderen Anwesenden vor. Drei von ihnen kannte Ilay bereits von früheren Aufträgen, der Rest setzte sich aus Raumfahrtingenieuren und Managern diverser Abteilungen zusammen. Mit einer Geste rief der Moderator des Meetings eine Präsentation auf. An der Wand erschien das dreidimensionale Modell eines filigranen Gebildes, aus unzähligen Streben bestehend, mit Fotovoltaikpaneelen und zwei dicken Zylindern in der Mitte.

»Sie sehen hier eines unserer beiden Kommunikationsrelais vom Typ Spacelight-3«, begann Esquerraz. »Derzeit sind zwei davon im Orbit um die Sonne im Einsatz und stellen die Verbindung zwischen Erde und Mars sicher. Ein drittes befindet sich im Bau und soll die Redundanz der Verbindung in allen Lagen absichern. Heute, um drei Uhr zwanzig unserer Zeit, sollte ein Techniker an diesem hier Reparaturarbeiten durchführen, weil die Einheit plötzlich nicht mehr sendete. Der Kontakt zum Techniker brach kurz nach dessen Eintreffen ab, mehrere Teleskope bestätigten eine Explosion. Genaueres können wir noch nicht sagen, ein Bergungsteam ist unterwegs. Der Mann konnte vor dem Unglück noch einige Daten senden, sie sind aber unvollständig und bruchstückhaft. Was wir bislang entschlüsseln konnten, weist auf eine elektromagnetische Anomalie hin, wir können aber nicht sagen, aus welcher Quelle diese Strahlung stammt. Da das zweite Kommunikationsrelais in weniger als 24 Stunden auf seiner Bahn um die Sonne den Kontakt mit der Erde verliert, ist äußerste Eile geboten. Ich brauche in spätestens sechs Stunden eine vorläufige Analyse, damit wir entsprechend darauf reagieren können.«

Er führte weiter aus, dass die Ingenieure und Ilay eine Arbeitsgruppe unter der Führung von Frau Denneck bilden sollten. Den Leiter der Presseabteilung bat er, seine Kontakte spielen zu lassen und sich umzuhören, ob es in anderen Firmen ähnliche Vorfälle gab. Er selbst wolle sich mit den Behörden in Verbindung setzen. Damit schloss er die Runde, verabschiedete sich und eilte zur Tür hinaus. Auch die anderen Führungskräfte legten eine ähnliche Hektik an den Tag.

Denneck wies den Rest an, hier im Besprechungsraum zu bleiben und ihn in das vorläufige Krisenzentrum umzufunktionieren.

Etwas perplex, so von seinem ruhigen Alltag mitten in das Chaos dieser Untersuchung hineingerissen zu werden, begann Ilay, die Daten zu sichten. Die Tonaufzeichnungen des Technikers ließ er erst mal außen vor. Aus den Log-Dateien des Steuerungsrechners ließ sich schon mal ein grobes Bild zeichnen. So hoffte er jedenfalls.

2

 

Als Ranstett diesen Morgen die Zentrale der EDA, der European Defense Agency, betrat, wirkte alles wie immer. Gegen die künstliche Umgebung aus Glas, kühlem Aluminium und Kunststoff kamen nicht einmal die Tageslichtleisten und virtuellen Fenster an, die eine sonnige Aussicht simulieren sollten. Sonnenlicht und die Aussicht aus echten Fenstern gab es nicht. Aus dem Bunker, wie sie das bullige Gebäude nannten, in dem sich der Verfassungsschutz, Geheimdienste und auch eine Zweigstelle der Anti-Terror-Einheit der EDA befanden, durfte nichts herausdringen. Kein Laut, kein Licht, keinerlei elektromagnetische Strahlung. Jede Öffnung im Beton galt als Schwachstelle.

Doch Leutnant Jolana Amy Ranstett, Agentin für digitalen Terrorismus, mochte diese frische Kühle. Sie bildete den Kontrast zu den hitzigen Straßenschluchten und der stinkenden Luft der Stadt. Bevor sie ihr Büro aufsuchte, ging sie in die Küche und holte sich Kaffee. Schwarz und bitter, das Koffein würde ihre Müdigkeit vertreiben. Gemächlich schlenderte sie Richtung Büro, winkte müde einem Kollegen, der ihr entgegenkam, und hob den Kaffeebecher unter ihre Nase, um das Aroma der billigen Kaffeebohnen in sich aufzunehmen.

»Ranstett!«

Dieser Ruf genügte, um die Illusion eines normalen Morgens zerplatzen zu lassen. Sie schielte über den Rand des Bechers. Weiter vorne stand eine massige Gestalt in der Tür und winkte sie zu sich.

Major Henrik Baner – von allen einfach ‚Chief‘ genannt – schien immer schlecht gelaunt zu sein, so auch heute. Mit einem kurzen »Kommen Sie zu mir ins Büro!«, verschwand er wieder. Missmutig und mit der Aussicht, eine weitere sinnlose Aufgabe zu bekommen, schlurfte sie ihm nach. Als ob es nicht genug zu tun gäbe.

Baner schien sie gar nicht zu bemerken, als sie eintrat und sich wie selbstverständlich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch fallen ließ. Erst als sie geräuschvoll von ihrem Getränk schlürfte, schreckte er von seinem Bildschirm auf.

»Leutnant Ranstett«, sagte er, irgendwie abwesend. »Ich habe eine Aufgabe für Sie. Es geht um einen Vorfall, der kritische Infrastruktur betrifft. Wir können nicht ausschließen, dass ein terroristischer Akt zugrunde liegt. Ich möchte, dass Sie sich das mal ansehen.«

Wieder das übliche Spielchen. Seit der Einführung der Meldepflicht für Unfälle, die potenziell einen terroristischen Hintergrund aufweisen konnten, häuften sich die eingehenden Meldungen. Und dieser unfähige Fettsack nahm jede einzelne davon ernst. Jedem Unfall mussten sie nachgehen, auch wenn nur ein Softwarefehler einen Roboter in einer Fabrik Amok laufen ließ. Zwar galt diese Meldepflicht nur für sogenannte kritische Infrastruktur, aber im Grunde fiel fast alles unter diesen Begriff. Daten- und Stromnetze, Kraftwerke, Lebensmittelproduktion, Wasserversorgung, Logistik, alles galt als essenziell wichtig. Alles griff ineinander, wie in einem großen Getriebe. Streute man nur ein wenig Sand hinein, standen ganze Produktionsketten still.

Welche sonderbaren Verschwörungstheorien oder Bedrohungsszenarien in Baners Gehirn herumspukten, wusste Ranstett nicht, aber dessen Misstrauen sorgte dafür, dass seine Untergebenen oft bis zur Erschöpfung arbeiten mussten. Die unbearbeiteten Meldungen stapelten sich im Dateisystem.

Wieso er sie unbedingt in sein Büro bestellte, erschloss sich Ranstett nicht, aber die Einleitung, dass es sich potenziell um einen terroristischen Akt handeln könnte, ließ ihr die Galle aufsteigen.

»Mit allem Respekt, Chief«, erwiderte sie schärfer als gewollt, »auf meinem Computer liegen dutzende Meldungen, denen ich nachgehen muss. Ich erwarte nicht, dass nur von einem ein Risiko für die nationale Sicherheit ausgeht. Ich habe keine Zeit, um noch einen Auftrag zu bearbeiten. Wie soll ...«

»Diese Meldung besitzt oberste Priorität«, fuhr ihr der Chief hart dazwischen. »Lassen Sie die anderen Dinge ruhen und kümmern Sie sich darum. Heute Nacht löste sich ein essenzielles Kommunikationsrelais, über das ein großer Teil der Daten zwischen dem Mars und der Erde fließt, in seine Einzelteile auf und wir wissen noch nicht, warum das passiert ist. Fast Light Data wird als Netzwerkdienstleister mit kritischer Infrastruktur bewertet. Sollte dieser Unfall auf einen Anschlag zurückgehen, wären die Konsequenzen erheblich. Es beträfe uns sogar direkt, denn wenn der Nachrichtendienst keine Informationen mehr vom Mars abgreifen kann, bringt uns das in eine ziemlich gefährliche Lage.«

Also doch nichts Alltägliches, dachte Ranstett und nickte.

Dieser Auftrag könnte ihr gefallen. Einfach alles links liegen lassen und sich um Wichtigeres kümmern. Vielleicht dauerten die Ermittlungen auch etwas länger. Der Alltag würde ohnehin schneller wiederkommen, als ihr lieb war.

3

 

Die Log-Einträge des Steuerungssystems, die der Techniker vor der Explosion noch hatte übermitteln können, gaben wenig her. Eine Überspannung hier, ein Sensoralarm dort, viele Meldungen von Hardware-Defekten. Bereits nach wenigen Stunden kam Ilay zu dem Schluss, dass eine gezielte Softwaremanipulation ausgeschlossen werden konnte.

In dem umfunktionierten Konferenzraum herrschte nahezu Stille, trotz der fieberhaften Emsigkeit des halben Dutzends von Analysten. Kurz vor Mittag berief Moira Denneck eine Besprechung ein, wozu auch der Sicherheitschef und zwei weitere Manager erschienen.

»Ich darf kurz zusammenfassen«, begann sie vor der Runde. »Zum aktuellen Zeitpunkt können wir Fremdverschulden mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen.«

»Aus welchem Grund?«, hakte Esquerrez nach.

»Ein Hardwarefehler zieht grundsätzlich immer eine Meldung im Log nach sich«, antwortete Ilay, als Moira ihn ansah.

»Es gibt mehrere solcher Meldungen, aber sie treten fast zeitgleich und in verschiedenen Komponenten auf. Das spricht für eine externe Ursache.«

»Eine Sonneneruption käme als solche in Betracht«, fuhr Klastky, einer der Ingenieure, fort. »Auf unsere Nachfrage bestätigte das ECAW, das Europäische Zentrum für Weltraumwetter, dass es zur fraglichen Zeit mehrere Eruptionen mit entsprechender Partikelemission gab. Allerdings sollte die Abschirmung diese Belastung zuverlässig von den elektronischen Bauteilen fernhalten.«

Moira übernahm wieder das Wort. »Wir verfolgen also derzeit zwei Hypothesen. Erstens gäbe es die Möglichkeit eines Defektes der Abschirmung. Dies könnte möglicherweise auch absichtlich geschehen sein, weswegen wir einen terroristischen Akt noch nicht vollkommen ausschließen können. Das Bergungsteam kann uns vielleicht mehr sagen, wenn es vor Ort eintrifft. Als zweite potenzielle Ursache kämen falsche oder unvollständige Daten des Weltraumwetters in Betracht. Diesen Fall schließen auch die Astronomen nicht aus, sie kontrollieren soeben ihren Datensatz.«

Esquerrez schnaufte und trommelte mit den Fingern nervös gegen die Tischplatte. »Wir müssen also weiterhin von Sabotage ausgehen?«

Moira bestätigte nickend.

»Das ist eine Katastrophe«, murmelte der Mann. Dann sah er in die Runde. »Die Behörden verlangen uneingeschränkten Zugriff auf unser System. Welchen Imageverlust das bedeutet, was für einen Aufwand und welche Kosten das verursacht, können wir noch gar nicht absehen. Also sorgen Sie dafür, dass Sie die Sache aufklären, oder zumindest menschliches Verschulden ausschließen können. - Sie halten mich auf dem Laufenden!«

Die letzten Worte richtete er an Denneck, bevor er aus der Tür eilte.

Die Frau mit den feuerroten Haaren übernahm wieder das Kommando. »Sie haben ihn gehört, jede Sekunde zählt. Sehen wir zu, dass wir etwas herausfinden. Klastky, Sie machen den Astronomen Druck. Gador, Sie sehen sich die Aufzeichnungen des toten Astronauten an! Alle anderen versuchen herauszufinden, ob und wie sich die Abschirmung lösen könnte und prüfen die Konstruktion auf mögliche Schwachpunkte bezüglich statischer Aufladung. Los!«

Während Klastky begann, lautstark mit den Astronomen zu telefonieren, verstrickten sich die anderen in eine heftige Diskussion, von welchem Bauteil aus die Kaskade der Zerstörung begonnen hatte. Eine Weile versuchte Ilay, sich zu konzentrieren, aber schon nach wenigen Minuten musste er aufgeben.

Seine Augen schmerzten vom Arbeiten am Bildschirm und sein Körper meldete, es sei Mittag.

Niemand der aufgeregt debattierenden Ingenieure registrierte, dass er den Raum verließ. Gleich neben dem Besprechungsraum gab es eine Küche. Trotz Mittagszeit traf er dort niemanden, die Situation schien den Angestellten den Appetit zu verderben.

Ilay kümmerte das wenig, er war hier nur ein Dienstleister, der seinen Job erledigte. Die Sorge um einen möglichen Schaden für das Unternehmen schlug ihm nicht auf den Magen. Mehrere Automaten hielten Snacks, warme Mahlzeiten und Getränke bereit, doch bezahlen konnte man nur mit einer Mitarbeiterkarte. Die er nicht besaß.

»Nur ein Dienstleister ...«, grummelte er und wollte gerade gehen, als Denneck auf ihn zumarschierte.

»Hunger?«, fragte sie und schenkte ihm ein Lächeln.

»Ja, aber der Automat will sein Essen nicht mit mir teilen.«

Die rothaarige Frau, die dank ihrer Körpergröße und der hochhackigen Schuhe Ilay ein gutes Stück überragte, brauchte einen Moment. Dann jedoch lachte sie.

»Kommen Sie, ich lade Sie ein.«

Während Ilay genüsslich seine Spaghetti in sich hinein schaufelte, saß ihm die Frau gegenüber und verzehrte geradezu anmutig ein Sandwich. Das veranlasste ihn dazu, sich an einst erlernte Tischmanieren zu erinnern. Zuhause achtete er nicht darauf, es gab auch niemanden, den es kümmern würde. Aber jetzt, wo ihm diese zugegebenermaßen äußerst attraktive Frau gegenübersaß, versuchte er, sich ein bisschen eleganter zu benehmen. Dazu gehörte auch die Haltung. Seine Wirbelsäule, vom stetig nachlässigen Sitzen vor dem Bildschirm gekrümmt, knackte, als er sich auf dem Barhocker geraderichtete. Beschämt verglich er sich selbst mit seinem Gegenüber. Sein Outfit, ein zerknittertes Shirt und abgetragene Jeans, gegen die straffe und elegante Kleidung, die er trotz seines ungeübten Blicks als teuer deklarierte. Gekämmt hatte er sich heute Morgen auch nicht. Wozu auch? Haare brachten einem Mann keinen Nutzen, sie machten nur Mühe. Bei einer Frau wie Moira Denneck hingegen unterstrichen sie ihre Ausstrahlung, die zwischen geschäftsmäßig streng und aufregend schwankte.

Gerade betrachtete sie ihn, überlegte sich wahrscheinlich, wie sie so weit sinken konnte, dass sie jetzt mit einem solchen Mann zu Mittag aß. In seinen Gedanken versunken, hörte er ihr gar nicht zu. Erst als sie ihn mit großen Augen anstarrte, riss es ihn aus seinen Betrachtungen. »Entschuldigen Sie, ich … äh ...«, murmelte er verwirrt. »Was sagten Sie?«

»Warum arbeiten Sie eigentlich nur als externer Dienstleister?«, wiederholte sie und ergänzte dann auf sein Stirnrunzeln hin: »Ich meine, jemand mit Ihren Fähigkeiten sollte doch einen guten Job bekommen. Ich bin mir sicher, unsere IT-Fachabteilung könnte fähige Leute wie Sie gebrauchen. Sie haben offensichtlich einen hervorragenden Ruf bei FLD. Ansonsten hätte man Sie in dieser Sache nicht herbestellt.«

Ilay schluckte den Rest seiner Nudeln hinunter, schob den Plastikteller weg und tupfte sich mit einer Serviette den Mund, ehe er schulterzuckend antwortete: »Ich gehe nicht so gerne unter Menschen und arbeite lieber von zu Hause aus.«

»Warum denn das?«

»Das ist kompliziert.«

»Oh, entschuldigen Sie, ich wollte nicht zu persönlich werden. – Kaffee?«

Elegant ließ sie sich von ihrem Hocker gleiten und steuerte auf die Automateninsel zu. Ilay folgte ihr verwundert, sagte aber nichts. Frauen blieben ihm ohnehin ein Rätsel. Während sie mit einem Becher in der Hand wieder zu ihrem provisorischen Büro gingen, sprachen sie nur über Belangloses und die weitere Vorgehensweise bei der Untersuchung. Sie schenkte ihm noch ein Lächeln, als sie ihm viel Erfolg bei der Arbeit wünschte, dann vertiefte er sich wieder in die Daten.

Doch das Lächeln wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Was sollte es bedeuten? Eine geschäftsmäßige Freundlichkeit? Wahrscheinlich. Er atmete tief durch, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Er interpretierte da zu viel hinein, weibliche Gesellschaft lag schon zu lang zurück. Vielleicht sollte er wieder einmal sein auf Eis gelegtes Datingprofil besuchen. Aber nicht heute, es gab genug zu tun.

Da die Ingenieure immer noch heftig diskutierten, aktivierte er seine Ohrimplantate und spielte Musik ein. Entspannt betrachtete er die Szenerie, während der harte Beat der Techno-Musik in seinem Ohr hämmerte und alle anderen Geräusche ausblendete. Vor einem meterhohen, dreidimensionalen Modell des Satelliten, das mitten im Raum schwebte, gestikulierten die Ingenieure und simulierten Bewegungen von Bauteilen. Sein Blick wanderte unwillkürlich zu Denneck, die mit überschlagenen Beinen auf einem Tisch saß und telefonierte. Schluss jetzt!, ermahnte er sich und wandte sich endlich seinen Bildschirmen zu.

Die Aufzeichnungen des verunglückten Astronauten lieferten keine Neuigkeiten, nur weitere Indizien für eine starke elektromagnetische Anomalie. Aber was bedeutete das? Ein derartiger Strahlungsausbruch der Sonne konnte doch nicht unbemerkt bleiben. Oder doch? Auch wenn viele Satelliten und Sonden versuchten, alle Vorgänge im inneren Sonnensystem zu beobachten, praktisch observierten sie nur einen verschwindend geringen Bereich, nämlich den für die Erde relevanten. Ein Strahlungsausbruch könnte also theoretisch nicht registriert worden sein. Doch was, wenn sich ein solcher Plasmaausstoß erneut ereignete, diesmal auf die Erde gerichtet?

Einem Impuls folgend, tippte er eine Nachricht, in der er seine Überlegungen und die Messwerte der Satellitensensoren anführte und schickte sie an das Astronomenteam der ECAW, das sich mit diesem Fall befasste.

4

 

»Hallo Jola.«

Agent Ranstett sah vom Bildschirm auf und blinzelte. Erst als sich ihr von der konzentrierten Bildschirmarbeit verschwommenes Sichtfeld etwas fokussierte, erkannte sie ihren Kollegen, Agent Riley Kocek. Sein schwarzes Haar, in Strähnen zurückgekämmt, wirkte wie immer fettig, aus Ranstetts Sicht machte er eigentlich stets einen etwas schmierigen Eindruck. Trotzdem kam sie gut mit ihm zurecht, hin und wieder tranken sie ein Bier zusammen.

»Tag, Riley. Was gibt es?«

»Vom Chief bekam ich den Auftrag, mich bezüglich deines Falls bei meinen Informanten umzuhören. Ich habe dir etwas geschickt.«

Tatsächlich fand sie eine E-Mail, kommentarlos, mit ein paar angehängten Fotos. Während sie die dunklen und verwaschenen Bilder betrachtete, trat Riley hinter sie. Sein aufdringliches Duftwasser stach ihr in die Nase.

»Was soll das sein?«

»Aufnahmen des zerstörten Kommunikationsrelais von FLD, ein paar Tage vor der Explosion. Hier«, er zeigte auf ein paar Strukturen, die sich undeutlich vom dunklen Hintergrund abhoben, »ist die Einheit. Aber am interessantesten finde ich die Falschfarbenaufnahme, die einen größeren Bereich des Wellenspektrums erfasst. Nimm mal das nächste Bild.«

Die zweite Aufnahme ähnelte der ersten, ebenso verwaschen und undeutlich, aber nicht so dunkel. Die Streben der Konstruktion strahlten bläulich, während im Hintergrund farbige Schleier und Flecken ein Kunstwerk erschufen. Doch ein Detail trat hier wesentlich deutlicher zutage. Ein klar abgegrenzter Fleck, rechteckig mit ein paar runden Ausbuchtungen. Bevor Ranstett ihre Vermutung äußern konnte, erklärte Riley: »Es handelt sich um eine Drohne. Ein eher kleineres Modell, genau kann ich es nicht sagen, aber ich tippe auf eine Spionagedrohne. Also wahrscheinlich unbewaffnet. Es gibt noch ein paar weitere Bilder, das Ding fliegt um den Satelliten herum und verschwindet nach ein paar Stunden wieder. Ein doch sehr merkwürdiger Zufall.«

Ranstett betrachtete die Bilder. Es sah tatsächlich einer Spionagedrohne ähnlich, aber um das genau sagen zu können, müsste man die Bilder besser aufbereiten. Dann wandte sie sich an ihren Kollegen. »Woher hast du das?«

»Sagte ich doch bereits: von einem meiner Informanten.«

»Ich will mit ihm reden.«

»Das geht nicht. Es war schon eine Kunst, ihn zu überreden, mir diese Aufnahmen zu geben.«

»Wo arbeitet er? Geheimdienst, Nachrichtendienst? Russland? Oder gar bei unseren Freunden auf dem Mars?«

»Das weiß nicht einmal ich. Die einzige Information, die ich von ihm erhielt ist, dass diese Aufnahmen von einem Weltraumteleskop stammen. Aber er sagte nicht von welchem. Wenn ich mir die Qualität der Aufnahmen ansehe und die Tatsache berücksichtige, dass es das innere Sonnensystem beobachtet, gehe ich von einem kleineren Teleskop aus, vielleicht gar nicht offiziell registriert. Möglicherweise Geheimdienst, könnte aber auch von einer Orbitalstation sein und von einem Hobbyastronomen betrieben werden.«

»Können wir wenigstens die Rohdaten der Bilder bekommen?«, fragte Ranstett nach einer kurzen Pause. »Denn mit diesem Mist hier kann die Datenforensik nichts anfangen.«

»Mal sehen, was ich tun kann.«

 

Das Labor der Datenforensik glich eher der Werkstätte eines zerstreuten Wissenschaftlers oder einer Gruppe Nerds, die an ebenso interessanten wie sinnlosen Experimenten arbeiteten. Auf einem Tisch lagen zerlegte Geräte, aus denen dutzende bis hunderte Kabel ragten und zu Messstationen führten.

Ein großer Tisch stellte als holografische Projektion einen ganzen Schwarm an Datensätzen dar, dessen Umfang den Uneingeweihten verwirrte. An den Wänden hingen Computerterminals, Verbindungspunkte zum Hochleistungsrechner im Hintergrund, in einem Nebenraum schraubten zwei Techniker an einem Gerät.

Harold Grundman, der Mann, zu dem Ranstett wollte, stand mit dem Rücken zu ihr und bearbeitete konzentriert seinen Computer. Erst als sie ihn begrüßte, schreckte er auf.

»Junge Frau, wieso schleichen Sie sich so an einen alten Mann heran? Das kann mich das Leben kosten.«

»Harold, du übertreibst wieder einmal. Was dein angeblich schwaches Herz betrifft und auch mein Alter. Jung bin ich schon lange nicht mehr. Hast du etwas für mich?«

»Ja, genau, die Drohne.«

Der leicht beleibte Mann mit der Halbglatze holte die Bilder auf den Schirm. Sie sahen jetzt anders aus, schärfer und kontrastreicher. »Die Qualität der Bilder ist, um es kurz zu sagen, mies«, beklagte er sich. »Zwar habe ich alle Möglichkeiten der Software ausgeschöpft, habe sogar manuell nachgebessert, aber mehr konnte ich nicht herausholen.«