EDITORIAL

Mike Beckers Redakteur dieses Hefts

Mike Beckers
Redakteur dieses Hefts

Die große Wirkung kleiner Effekte

Zwar hat es nur ein Phänomen der Quantenmechanik in die Populärkultur geschafft, dafür ist das Bild dafür aber umso eindrucksvoller: Schrödingers Katze, die zugleich tot und lebendig ist. Das bekannte Gedankenexperiment prägt die Vorstellung vieler Menschen von einer bizarren Realität, in der Dinge keine klaren Eigenschaften mehr haben und unserer Erfahrbarkeit vollkommen entrückt sind.

Das ist schade, denn es wird der praktischen Bedeutung der Quantenphysik nicht gerecht. Außerdem haben Theoretiker die Katze längst aus ihrer Zwischenwelt befreit. Selbst wenn niemand nachschaut, ist sie stets entweder tot oder lebendig, nicht beides gleichzeitig. Das Konzept der Dekohärenz entstand erst nach Erwin Schrödingers Tod und berücksichtigt die ständige Wechselwirkung makroskopischer Objekte mit ihrer Umgebung. Ein großes System wird deswegen nie lange in einem Quantenzustand verbleiben. Als gedanklicher Einstieg in das subatomare Wunderland ist die Katze aber weiterhin nützlich und wird Ihnen auch in diesem Heft begegnen.

Allerdings sollte man die facettenreiche Theorie nicht auf dieses Beispiel reduzieren und sich auch nicht von der scheinbaren Paradoxie abschrecken lassen. Denn die Quantenmechanik ist trotz all ihrer Rätsel enorm nützlich. Physiker verwenden sie nicht nur erfolgreich, um Phänomene auf kleinsten Skalen zu beschreiben, sondern nutzen sie, um immer komplexere Systeme aus vielen Teilchen regelrecht maßzuschneidern (S. 50). Sie hoffen sogar, mit ihrer Hilfe kosmischen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen (S. 58).

Besonders spannend dürfte eine sehr handfeste Konsequenz werden: Der lang gehegte Traum vom Quantencomputer könnte bald Wirklichkeit sein. Er wäre allerdings ein Albtraum für unsere Datensicherheit, weil damit heute verbreitete Verschlüsselungsmethoden obsolet würden. Vermeintlich undekodierbare Aufzeichnungen lägen vor Geheimdiensten wie ein offenes Buch.

Da sich die Ingenieure inzwischen immer souveräner in der Quantenwelt bewegen, rechnen viele Experten mit einer baldigen und gewaltigen Revolution unserer Rechnerarchitektur. Und sie mahnen, rechtzeitig darüber nachzudenken, wie wir dann überhaupt noch sicher kommunizieren können (S. 74 und S. 82).

Rund ein Jahrhundert nach Entstehung der Theorie haben wir heute endlich die technologischen Mittel, einige ihrer verblüffendsten Konsequenzen zu überprüfen und auszunutzen. Es bleibt das Fernziel, die Quantenmechanik wirklich bis ins Letzte zu verstehen – ich freue mich aber schon über die ganz pragmatische Einsicht, dass sie erstaunlich gut funktioniert.

Eine kurzweilige Lektüre wünscht Ihnen

frn_fig_003

frn_fig_001

INHALT

EINE BIZARRE REALITÄT

ESSAY

Die Wirklichkeit der Natur

Michael Springer

Was ist die korrekte Interpretation der Quantenmechanik und inwieweit sind die Objekte darin »real«? Oder erweist sich diese Frage gar als sinnlos?

MIKROPHYSIK

Hamlet in der Quantenwelt

Markus Arndt, Markus Oberthaler und Jörg Schmiedmayer

Experimente rütteln an gewohnter Logik: Bei Atomen und Molekülen kann etwas zugleich sein und nicht sein.

VERSCHRÄNKUNG

Das Ende des lokalen Realismus

Howard Wiseman

Erstmals ist ohne mögliche Schlupflöcher belegt, dass es einen seltsamen Effekt tatsächlich gibt.

STANDARDMODELL

Machen Quanten Sprünge?

David Tong

Auch im Mikrokosmos gelten stets kontinuierliche Gesetze. Die Welt funktioniert im Grunde analog!

QBISMUS

Eine neue Quantentheorie

Hans-Christian von Bayer

Eine Deutung der Wellenfunktion geht davon aus, dass diese nur die subjektive Erwartungshaltung des Beobachters wiedergibt.

MERKWÜRDIGE MATERIE

TEILCHENPHYSIK

Stringtheorie für Festkörper

Subir Sachdev

Hinter exotischen Materiezuständen verbergen sich hochkomplexe Systeme. Zu deren Beschreibung eignet sich überraschenderweise die Stringtheorie.

ATOMKERNE

Zwischen Flüssigkeit und Kristall

Jean-Paul Ebran und Elias Khan

Wissenschaftler entwickeln ein Modell für die Formenvielfalt gebundener Protonen und Neutronen.

VIELTEILCHENSYSTEME

Simulierte Quantenwelten

Immanuel Bloch und Oliver Morsch

Manche Systeme sind zu komplex, um sie zu berechnen oder direkt zu untersuchen. Daher bauen Forscher sie mit anderen Mitteln trickreich nach.

VOM ALLERKLEINSTEN ZUM GRÖSSTEN

QUANTENGRAVITATION

Raum – Zeit – Verschränkung

Ron Cowen

Einige Physiker vermuten Beziehungen zwischen der Schwerkraft und mikroskopischen Phänomenen.

RELATIVITÄTSTHEORIE

Einstein im Quantentest

Domenico Giulini

Forscher überprüfen Einsteins Äquivalenzprinzip. Die Interpretation ihrer Ergebnisse berührt die Frage, wie Gravitation auf atomarer Ebene funktioniert.

QUANTENTECHNOLOGIEN

KRYPTOGRAFIE

Vertraulichkeit ist machbar

Artur Ekert und Renato Renner

Korrelationen zwischen Lichtteilchen, zufällige Verschlüsselungen und freier Wille reichen aus, um Informationen zumindest prinzipiell geheim zu halten.

INFORMATIK

Quantencomputer als Kodeknacker

Tim Folger

Heute übliche abhörsichere Methoden werden den Rechenmaschinen der Zukunft nicht standhalten. Daher gilt es, völlig neue Verfahren technisch umzusetzen.

Editorial

Impressum

frn_fig_004 Titelmotiv: Simulation: Jean-Paul Ebran / CEA

In manchen Atomen bilden die Nukleonen auf Grund ihrer Quantennatur molekülartige Strukturen. Der Titel zeigt eine Simulation des Kerns von Schwefel-32.

ESSAY

Die Wirklichkeit der Natur

Bis heute ringen die Physiker um die korrekte Interpretation der Quantenmechanik. Insbesondere herrscht Uneinigkeit darüber, inwieweit die von der Theorie beschriebenen Objekte »real« sind. Oder erweist sich die Frage nach deren Wirklichkeit gar als sinnlos?

Von Michael Springer

AUF EINEN BLICK

AUSSAGEN ÜBER DIE NATUR

1 Die Naturforschung beansprucht, Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen, anstatt bloß diese oder jene Meinung zu äußern – doch es ist gar nicht so einfach, ein Kriterium für wissenschaftlich sinnvolle Sätze anzugeben.

2 Dem handgreiflichen Erfolg der Quantenphysik steht das Rätselraten über die Deutung ihrer unanschaulichen Aussagen gegenüber. Betreffen diese überhaupt eine vom Beobachter unabhängige Wirklichkeit?

3 In der modernen Kosmologie spielen Quantenphänomene eine zentrale Rolle, bei deren Entstehung gewiss kein Beobachter zugegen war. Doch auch eine vom Beobachter unabhängige Theorie ist nicht mit der Wirklichkeit identisch.

Der Kongress, der die Entscheidung bringen sollte, fand wie seit zweihundert Jahren im Kloster Mi Sang statt, welches am Ufer des Gelben Flusses liegt. Die Frage hieß: Ist der Gelbe Fluss wirklich, oder existiert er nur in den Köpfen? Während des Kongresses aber gab es eine Schneeschmelze im Gebirg, und der Gelbe Fluss stieg über seine Ufer und schwemmte das Kloster Mi Sang mit allen Kongressteilnehmern weg. So ist der Beweis, dass die Dinge außer uns, für sich, auch ohne uns sind, nicht erbracht worden.

Bertolt Brecht, »Turandot oder der Kongress der Weißwäscher«

 

 

 

Man kann über die Welt geteilter Meinung sein. Sie ist die beste aller möglichen, wollte der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 1716) beweisen; sie ist die schlechtestmögliche, fand später Arthur Schopenhauer (1788 1860). Im Mittelalter galt sie als Scheibe, und Kreationisten beharren noch heute darauf, dass sie nicht viel älter als 6000 Jahre ist. Für Kolumbus bildete sie eine meerbedeckte Kugel mit dem eurasischen Kontinent – im Westen Europa, im Osten Indien, weswegen er westwärts von Spanien aufbrach, um auf dem Seeweg um den Globus herum Indien zu erreichen. Als der Genuese endlich Land sah, meinte er, das ersehnte Ziel vor Augen zu haben. Er nannte das Gebiet folgerichtig Westindien und die Einwohner Indianer. In Wirklichkeit hatte Kolumbus die Neue Welt entdeckt.

In Wirklichkeit: Dieses auftrumpfende »in Wirklichkeit« wird immer dann bemüht, wenn sich eine vorgefasste Meinung über die Natur als falsch erweist. Die wirkliche Welt wird »entdeckt« – wie ein gedeckter Tisch, von dem man mit einem Ruck das Tischtuch wegzieht mitsamt den Tellern und Tassen. Klirrend fallen die Meinungen zu Boden und aufgedeckt wird, was darunter liegt: der nackte Tisch, Tabula rasa, die bloße Wirklichkeit.

Also her mit der unverstellten Wahrnehmung unserer fünf Sinne, die uns die Welt so zeigen, wie sie wirklich und wahrhaftig ist! Um die pure Wirklichkeit zu erkennen, müssen wir den Sinnen trauen, nicht irgendeiner Meinung glauben: Wie jeder Astronaut sieht, ist die Erde keine Scheibe.

Dagegen wenden die modernen Physiker ein, dass ihr Gegenstand – die so genannte physikalische Realität – sich von dem, was wir gewöhnlich unter wirklich verstehen, ganz erheblich unterscheidet. Zwischen Ursache und Wirkung besteht im Mikrokosmos kein streng deterministischer Zusammenhang wie in der klassischen Mechanik Newtons und Einsteins; in der Quantenwelt herrschen Wahrscheinlichkeitsgesetze. Gemäß der gängigen Interpretation der Quantenmechanik hängt dies mit dem Einfluss des makroskopischen, klassisch zu beschreibenden Beobachtungsvorgangs auf das mikroskopische Quantenobjekt zusammen.

Was nun? Sollen wir also zuerst auf unsere fünf Sinne bauen, dann diese durch raffinierte Instrumente ins winzig Kleine erweitern und am Ende den abstrakt-mathematisch formulierten Aussagen einer unanschaulichen Theorie folgen? Was ist von einer Wirklichkeit zu halten, die sich nicht der unmittelbaren Anschauung offenbart, sondern erst dem Einsatz komplizierter Apparate und Theorien, die man nur nach jahrelangem Studium versteht? Und wie ist es um die Objektivität dieser Wirklichkeit bestellt, wenn sie – wie im Fall der Quantenphysik – je nach der Art der Frage, die der Experimentator stellt, einmal so und einmal anders antwortet? Fast scheint es, wir hätten uns im Kreis bewegt. Wir sind vom Glauben an ein System von theologisch-philosophischen Lehrmeinungen zu einem Gebäude von abstrakten, sinnenfernen Behauptungen gelangt, die wiederum in kanonisierten Lehrbüchern stehen und unseren Alltagsverstand nicht weniger strapazieren – oder sogar noch mehr – als die Dreieinigkeit Gottes oder die dunklen Sätze des Denkers Martin Heidegger (1889 1976) vom Sein des Seienden und dem Nichten des Nichts.

Vor allem unter Geisteswissenschaftlern ist oft die Auffassung zu finden, dass die Naturwissenschaft nur eine Ideologie ist, die sich einbildet, über einen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit zu verfügen. In Wahrheit handle es sich um eine Form sozialer Praxis unter anderen, nicht anders als etwa Kunst oder Religion, meinte der österreichisch-amerikanische Philosoph Paul Feyerabend (1924 1994). Ihm zufolge gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Astrologie und Astronomie. Astrologen wie Astronomen deuten den Lauf der Gestirne; beide stellen gewisse Einflüsse der außerirdischen Konstellationen auf irdische Abläufe fest; beide haben ihre Anhänger; beide finden, die jeweils andere Fraktion sei im Irrtum. Eine sozialanthropologische Beschreibung beider Disziplinen – das heißt eine Beobachtung, die sich auf das astrologische beziehungsweise astronomische Interagieren der Teilnehmer beschränkt – muss zu dem unparteiischen Schluss kommen, dass es sich bloß um zwei durch feste und unversöhnliche Überzeugungen getrennte Gruppen von Himmelsbeobachtern handelt.

Gibt es wirklich keinen Unterschied? Wenn man von der soziologischen Momentaufnahme zur historischen Betrachtung übergeht, fällt sofort auf: Astrologen halten an ihrer Überzeugung vom Zusammenhang zwischen Sternzeichen, Geburtsdatum und Schicksal unverändert fest, während sich das Weltbild der Astronomen seit der Antike im Licht immer neuer Erkenntnisse fortwährend radikal gewandelt hat. Dennoch erweist sich das Abgrenzungsproblem – was unterscheidet empirische Forschung von Pseudowissenschaft, religiösen Glaubenssätzen und metaphysischen Spekulationen – als so knifflig, dass es Bibliotheken füllt. Ein Unterscheidungskriterium nach dem anderen entpuppte sich als zu eng.

Radikaler Sensualismus

Man könnte etwa darauf beharren: Wissenschaftlich sinnvoll ist nur, was uns die Sinne unmittelbar mitteilen; alles andere ist Meinung. Dieser radikale Sensualismus erklärt alle wissenschaftlichen Begriffe zu bloß »denkökonomischen« Konstruktionen. Wenn Forscher Theorien entwickeln, Modelle entwerfen, unzählige empirische Daten in mathematische Formeln kleiden und daraus wiederum neue empirische Vorhersagen herleiten, dann dient das nur der Vereinfachung und Erleichterung ihrer Arbeit, sagt aber über eine hinter den Sinneserlebnissen stehende Wirklichkeit nichts aus.

Doch der Sensualismus erwies sich rasch als Erkenntnisbremse. Er hinderte beispielsweise Ende des 19. Jahrhunderts Physiker wie Ernst Mach (1838 1916) und den jungen Max Planck (1858 1947) daran, Atome für reale Objekte zu halten, weil diese mit damaligen Apparaten nicht zu sehen waren. Offenbar ist es hilfreich, auch nicht unmittelbar erfahrbaren Dingen wie Elektronen oder Quarks Realität zuzubilligen.

Man braucht dann aber ein Kriterium für sinnvolle Sätze, die – wie die meisten wissenschaftlichen Aussagen – nicht nur unmittelbare Sinneserfahrungen beschreiben, sondern auch logische und mathematische Allgemeinbegriffe enthalten. Darum hat der logische Positivismus postuliert: Sinnvoll ist ein Satz dann, wenn er sich verifizieren lässt. Für Sätze wie »Das All ist 13,8 Milliarden Jahre alt« oder »Alle Vögel stammen von Dinosauriern ab« lassen sich Verifikationsmethoden angeben, also sind sie sinnvoll – sehr zum Unterschied von Sätzen wie »Gott ist groß« oder »Das Nichts nichtet«, die deshalb zu sinnlosen Wortkombinationen erklärt werden.

Bald erwies sich dieses Kriterium als zu eng. Viele wissenschaftliche Sätze sind Allaussagen: Sie folgern aus bisherigen empirischen Bestätigungen einer Aussage, diese sei auch in Zukunft gültig. Doch solche induktiven Schlüsse, die aus Einzelfällen allgemeine Folgerungen ziehen, sind streng genommen unzulässig; sie treffen nur wahrscheinlich zu. Berühmt ist das Beispiel des Philosophen Karl Popper (1902 1994) »Alle Schwäne sind weiß«. Dafür sprechen viele Beobachtungen, doch das ist noch kein Beweis. Wenn es in einem Winkel des Universums nur einen einzigen schwarzen Schwan gibt, ist die Aussage falsch. Das Verifizieren einer Allaussage ist eine unendliche und somit unlösbare Aufgabe. Also ist das Verifikationskriterium untauglich für viele Sätze der Wissenschaft – beispielsweise auch für so genannte Dispositionsprädikate wie »zerbrechlich« oder »schmelzbar«. Der Satz »Glas ist zerbrechlich« wäre erst komplett verifiziert, wenn wir jedes Stück Glas im Universum zertrümmert hätten.

Darum hat Popper das schwächere Falsifikationskriterium vorgeschlagen: Sinnvoll sind Sätze, die sich widerlegen lassen. Damit gelten die obigen Beispiele »Gott ist groß« und »Das Nichts nichtet« weiterhin als sinnlos, denn wie will man sie falsifizieren? Dafür sind Dispositionsprädikate und die Behauptung ausnahmslos weißer Schwäne nun als sinnvoll gerettet, denn sie dürfen als wahr gelten, bis ein hartnäckiger Falsifikationist ein unzerbrechliches Glas, ein unschmelzbares Metall oder einen schwarzen Schwan vorweisen kann.

So richtig glücklich können Wissenschaftstheoretiker aber auch mit Poppers Kriterium nicht sein. Es schließt zwar eine Pseudowissenschaft wie die Astrologie aus dem Kanon der empirischen Forschung aus, denn einen Astrologen eines Irrtums zu überführen, wäre vergebliche Liebesmüh – aber praktizierende Naturwissenschaftler sind nun einmal keine Falsifikationisten. Man erforscht die Natur nicht mit dem Ziel, falsche Theorien aufzustellen und anschließend zu widerlegen. Man ist stolz auf Sätze wie »Das All ist 13,8 Milliarden Jahre alt« und »Vögel stammen von Dinosauriern ab«, weil man so starke Indizien dafür besitzt, dass man sie für praktisch verifiziert halten möchte.

Freilich ruhen solche Sätze auf einem derart komplizierten Geflecht von empirischen Daten und mathematisch formulierten Theorien, dass man für sie unmöglich eine simple Verifikationsvorschrift angeben kann. Der amerikanische Wissenschaftsphilosoph Willard Van Orman Quine (1908 2000) hat überzeugend dargelegt, dass ein Theoriegebäude nicht in separate Einzelaussagen zerlegt werden kann, die sich dann jede für sich verifizieren lassen. Nur die Theorie als Ganze lässt sich empirisch bestätigen oder widerlegen. Zwar könnte ein Verteidiger des ersten Beispielsatzes sagen: »Die kosmische Hintergrundstrahlung lässt sich am besten als Nachglühen eines Urknalls vor 13,8 Milliarden Jahren deuten« und obendrein die Rotverschiebung der Spektrallinien als Indiz für die Expansion des Weltalls infolge des Urknalls ins Treffen führen und so weiter. Das hat aber einige wissenschaftliche Dissidenten – ganz zu schweigen von vielen spekulationsfreudigen Laien – nicht daran gehindert, das Urknallmodell abzulehnen oder zumindest in Frage zu stellen.

Ähnlich steht es um den zweiten Beispielsatz. Kreationisten, welche die Entstehung der Arten durch natürliche Selektion ablehnen und stattdessen an göttliche Interventionen glauben, halten Saurier wie Vögel für gleichzeitige Geschöpfe eines übermenschlichen Konstrukteurs. Wenn man ihnen Fossilien des Archäopteryx und anderer Zwischentypen vorlegt, um die Abstammung der Vögel von Sauriern zu belegen, sehen sie darin wahlweise weitere Gottesgeschöpfe oder Fälschungen: Darwinisten hätten einem Saurierabdruck Vogelfedern angeklebt.

Was ist »wirklich wahr«?

Mit welchem Recht dürfen wir also sagen, das kosmologische Standardmodell und die Evolutionslehre seien »wirklich wahr«? Meine Antwort lautet: Was wir über die Natur wissen, ist Resultat eines Selektionsprozesses, bei dem es nicht wie in der Bioevolution um das Überleben von Arten geht, sondern um das Bestätigen von Theorien, hier wie dort in einem umständlichen Verfahren von Versuch und Irrtum. Eine Theorie, die »überlebt«, muss aber zur Natur passen, so wie eine Spezies, die nicht ausstirbt, sich ihrer Umwelt angepasst hat. Und diese – niemals vollkommene – Übereinstimmung zwischen Natur und Theorie bedeutet, dass die Theorie »wirklich wahr« ist.

Natürlich ist diese Wahrheit nicht absolut, sondern vorläufig – aber auch nicht demnächst absolut falsch. Es hat durchaus Theorien gegeben, die lange galten und sich letztlich als falsch erwiesen wie das geozentrische System in der Kosmologie; doch gewisse große Theorien wie die newtonsche Mechanik wurden nicht widerlegt, sondern relativiert. Man könnte sogar einräumen, dass die antike Physik des Aristoteles und das geozentrische System gar nicht absolut falsch sind, sondern die Alltagserfahrung recht zutreffend beschreiben. Man muss nur berücksichtigen, dass sie – wie später Newtons Physik – lediglich einen kleinen Realitätsausschnitt näherungsweise beschreiben, nämlich den irdischen Alltag beziehungsweise die Planetenbahnen. Das war eben zu Zeiten des Aristoteles beziehungsweise Newtons der für die unmittelbare Erfahrung und für die damals vorhandenen Instrumente zugängliche Wirklichkeitsbereich. Die jeweils aktuell zutreffende Physik beschreibt, so vollständig sie kann, die zu ihrer Zeit bekannte Natur – und deren Bereich wird durch den Stand der Technik definiert, denn davon hängt die Leistungsfähigkeit der physikalisch-astronomischen Instrumente ab.

Philosophisch Geschulte mag all das fahrlässig anmuten. Wahr, wirklich und real – wie kann man mit ehrwürdigen Begriffen so Schindluder treiben? Die Schulphilosophie hat für solche Irrwege längst Verdammungsurteile parat, regelrechte Schimpfworte: Sie spricht vom »naiven Realismus«, wenn man vernachlässigt, dass unser Erkenntnisapparat alles formt, was wir wahrnehmen. Heidegger konstatiert überall ein »vulgäres Seinsverständnis«, eine regelrechte »Seinsvergessenheit«, die sich mit der bloßen »Zuhandenheit« der Dinge zufriedengibt, wie es dem technischen Hantieren eben passt, denn die »Wissenschaft denkt nicht«.

Woher willst du eigentlich wissen, fragen Philosophen gern, dass deine Wahrnehmungen, Sätze und Theorien etwas jenseits deiner Wahrnehmungen, Sätze und Theorien erfassen, repräsentieren, wiedergeben? Du hast doch nichts als deine Wahrnehmungen, Sätze und Theorien. Also glaubst du bloß, sie besagten etwas über eine Wirklichkeit jenseits von ihnen. Aber diese Wirklichkeit wäre so jenseitig und unfassbar wie Gott, und an den klammerst du dich doch wohl nicht, solange du Wissenschaftler bleiben willst?

Gegen die skeptische Leugnung einer bewusstseinsunabhängigen Realität ist kein Kraut gewachsen. Es stimmt einfach, dass wir stets nur über Wahrnehmungen, Sätze und Theorien reden und nicht über eine davon separate Wirklichkeit – denn die nackte, von uns nicht wahrgenommene, nicht besprochene und nicht theoretisch beschriebene Wirklichkeit ist so finster, blind und stumm, als wäre sie nicht vorhanden. Um das Bild vom Anfang aufzunehmen: An die Tabula rasa der Wirklichkeit kommen wir nicht heran, indem wir das Tischtuch so ungeschickt wegreißen, dass alles, was an Besteck und Geschirr darauf lag, zu Boden fällt. Das Kunststück besteht darin, die Decke so entschlossen wegzuziehen, dass Messer, Gabeln, Gläser und Teller auf dem nunmehr nackten Tisch bleiben, als hätte es nie ein Tischtuch gegeben. Dann erst können wir die Grundlage einer möglichen Erkenntnismahlzeit sehen: den Tisch mitsamt den Instrumenten, die man zum Essen braucht. Rund um den Tisch – die »nackte« Wirklichkeit – versammeln wir uns zur Mahlzeit, aber wir essen nicht mit bloßen Händen.

Die Sätze der Alltagssprache und der naturwissenschaftlichen Theorien haben ein Ziel, das über sie selbst hinausweist, eine Intention. Sie verstehen sich in der Regel nicht als Teile eines Selbstgesprächs, sondern als mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, Aussagen über die Wirklichkeit zu machen. Ob diese Aussagen zutreffen oder nicht, wahr sind oder falsch, zeigt sich in der praktischen Anwendung. Anders als beim reinen Selbstgespräch ist für die wissenschaftlich-technische Praxis typisch, dass sie zu Überraschungen führt, wie sie nur die Wirklichkeit zu bereiten vermag: Eine Vorhersage erweist sich unerwartet als falsch; eine Folgerung passt überraschenderweise zu den Folgerungen aus einer ganz anderen Theorie; eine Aussage der Theorie bestätigt sich, als kaum noch jemand darauf zu hoffen wagte.

Kolumbus fand, ohne es gleich zu merken, nicht Indien, sondern Amerika. Allmählich wurden die Landkarten differenzierter, denn immer mehr Seefahrer wagten sich aufs offene Meer hinaus. Sie besaßen immer bessere Sextanten zum Messen der geografischen Breite und immer genauere Uhren zur Bestimmung der geografischen Länge – bis der Globus zum beliebten Möbelstück in Studierzimmern wurde. Lange Zeit konnten sich Menschen nur auf der unmittelbar um sie herum flachen Erde bewegen, doch durch Reisen und Instrumente kannten sie den Globus längst, bevor der Blick aus Raumstationen auf ihn fiel. Aber erst seit Astronauten mit eigenen Augen auf die Erde hinunterblicken, bestätigt der Augenschein, dass unser Planet wirklich genauso aussieht wie auf den im Lauf der Jahrhunderte immer wirklichkeitsnäheren Karten der Meere und Kontinente.

Wenn die Anschauung scheitert

Eine derart eingängige Versöhnung von Theorie und Anschauung wie von der Geografie durch die Raumfahrt können wir uns von der Quantenphysik freilich nicht erhoffen. Ihre Theorie ist mathematisch konsistent, ihre Vorhersagen haben sich in überwältigender Weise empirisch bestätigt – aber unsere an Alltagsobjekten geschulte Anschauung scheitert an der einfachen Deutung: Niemand weiß, was die Quantenmechanik »wirklich« bedeutet. Die Realität der Quantenwelt bleibt umstritten, seit Theoretiker Quantenphänomene zu beschreiben begannen.

Maßgebliche Gründerväter der Theorie – insbesondere Niels Bohr (1885 1962) und Werner Heisenberg (1901 1976) – standen noch unter dem Einfluss des machschen Sensualismus. Sie plädierten dafür, nur den im Experiment gewonnenen Beobachtungsdaten Realität zuzubilligen; jede Frage nach einer hinter den Daten stehenden Wirklichkeit sei sinnlos. Das ging Einstein zu weit. Er fragte Bohr, ob der Mond denn nur existiere, wenn ihn jemand betrachte. Die berühmte Bohr-Einstein-Debatte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts drehte sich letztlich um die Frage nach der Wirklichkeit der Quanten. Einstein beharrte auf einer vom Beobachter unabhängigen Realität der Mikrowelt, während Bohr und Heisenberg dies leugneten. In dieser Debatte zog Einstein den Kürzeren, denn Bohr konnte alle Gedankenexperimente widerlegen, mit denen Einstein zeigen wollte, dass die Quantentheorie unvollständig sei und es »dahinter« noch etwas geben müsse. Heute ist unstrittig: Die Theorie braucht nicht um so genannte verborgene Variable erweitert zu werden.

Genauer gesagt zeigte sich, dass die Quantenphysik nicht mit dem von Einstein für selbstverständlich gehaltenen »lokalen Realismus« vereinbar ist. Zwei so genannte verschränkte Teilchen bilden selbst über beliebige Entfernungen hinweg ein gemeinsames Quantensystem, das heißt sie haben keine separaten Zustände; die Messung des einen Partners bestimmt augenblicklich den Messwert des anderen. Wenn wir wie Einstein der Wirklichkeit vorschreiben, sie habe »lokal« zu sein – was sich hier und jetzt abspielt, beeinflusst nicht augenblicklich Vorgänge anderswo –, dann stellt das die Realität der Quanten in Frage.

Sind die Quanten also nur denkökonomische Beschreibungshilfen ohne Wirklichkeitsbezug? Diese Konsequenz popularisierten in den 1930er Jahren insbesondere die britischen Astrophysiker Arthur Eddington (1882 1944) und James Jeans (1877 1946). In seinerzeit einflussreichen Büchern meinten beide, Quanten seien mathematische Ideen des menschlichen Geistes, die dieser auf die Welt projiziere und darum für Eigenschaften der Natur halte. Das wäre etwa so, als würde man aus dem Fenster eines erleuchteten Zugabteils in die Nacht hinausschauen und draußen nur das eigene Spiegelbild erkennen. Tatsächlich spekulierte Eddington, man werde eines Tages wichtige Naturgrößen a priori aus mathematischen Überlegungen herleiten, und Jeans stellte sich Gott als Mathematiker vor, der unsere Welt träumt.

Seither müssen die Quanten für viele Spekulationen herhalten, die mit Physik gar nichts zu tun haben. Die heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation und der Indeterminismus garantieren angeblich die Willensfreiheit. Die Nichtlokalität der Quantenphysik soll belegen, dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt, dass Geist und Natur irgendwie ein und dasselbe sind und darum beide unter dem Oberbegriff Information zusammenfallen. Selbsternannte Quantenheiler therapieren mit beschwörenden Reden über spukhaft verschränkte Teilchen seelische Verkrampfungen, und postmoderne Konstruktivisten sehen in der Quantenmechanik ihre Überzeugung bestätigt, die vermeintliche Wirklichkeit sei nichts weiter als ein Produkt menschlicher Ideen.