Volker Handon

DIE PSYCHO-TRADER

Aus dem Innenleben
unseres kranken Finanzsystems

Ein Insider erzählt

eBook Edition

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ISBN 978-3-86489-572-2
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2015
Umschlaggestaltung: pleasant_net, Büro für strategische Beeinflussung
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Dieses Buch widme ich
meiner lieben Frau DeDe,
unseren Kindern Tristan, Liam und Marlin,
meiner Schwester Susanne,
die alle viel zu viel Geduld mit mir hatten,
und meinem Freund Johannes,
ohne den dieses Buch niemals entstanden wäre.

Inhalt

Im Tal der Ahnungslosen

Fluchtschlafen

Börsen-Big-Bang

Dunkle Geschäfte am Main

Begegnung mit einem Revolutionär

Verluste lieben lernen

Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom

Rio-Trades und andere Katastrophen

Vertrauenstsunami

Zwischen Strategie und Manipulation

Master of Desaster

Von der EZB zum Islamischen Banking

Wer nichts weiß, muss viel glauben

Fair Trading

Psycho-Trader

Im Tal der Ahnungslosen

Ich bin ein Spieler. Seit ich denken kann, bin ich mit großem Vergnügen einem starken Spieltrieb gefolgt. Und wenn ich ehrlich und tief in mich hineinblicke, war dieser der zentrale Antrieb für viele wichtige Entscheidungen in meinem Leben. Schon während meiner Kindheit habe ich mehr Zeit mit irgendwelchen Spielchen verbracht als andere Kinder in meinem Alter. Allerdings interessierte mich schon damals nahezu ausschließlich die messbare Leistung, der Wettbewerb. Bauklotze stapeln oder Modellflugzeuge zusammenbasteln – geschenkt, das war überhaupt nicht mein Ding. Ich brauchte immer einen Gegner. Einfach nur irgendein Ziel erreichen, das reizte mich nie. Ein Spiel, bei dem es keine Gewinner und Verlierer gab, empfand ich als ziemlich langweilig, eine wertlose Zeitverschwendung.

Ohne diese Freude am permanenten Wettbewerb hätte ich die letzten 25 Jahre sicher nicht als Wertpapierhändler verbracht und wäre auch nicht bis heute als Day-Trader am Finanzmarkt unterwegs. Die oft beschriebene Gier der Banker mag für viele Marktakteure ein starkes Motiv sein, doch dahinter steckt bei allen, die ich im Lauf meiner Karriere kennengelernt habe, eine große Leidenschaft am Spiel. Es ist die pure Lust am Gewinnen, ohne die für mich die Bereitschaft zum Risiko nicht erklärbar ist. »Spieler« oder »Zocker« scheint mir eine ehrliche Bezeichnung für die Spezies der Börsenhändler und Investmentbanker. Mehr noch: Über eine starke Spielernatur zu verfügen, halte ich für eine absolut notwendige Bedingung für diesen Job.

Als ich Ende der achtziger Jahre das Parkett betrat, wurden Börsenhändler noch ganz selbstverständlich als Spekulanten bezeichnet – was Kern und Wesen unserer Arbeit ziemlich präzise beschreibt: auf die Entwicklung von Märkten und Kursen zu spekulieren und durch den möglichst optimal gewählten Zeitpunkt für Käufe oder Verkäufe einen maximalen Gewinn zu erzielen – that’s it. Aber würden Sie einem Spekulanten, Spieler oder Zocker wirklich Ihr Erspartes zur weiteren Vermögensvermehrung anvertrauen? Natürlich nicht! Begriffe wie Investor oder Anleger klingen da heute doch deutlich seriöser, aber sie meinen exakt dasselbe.

Ich habe mir eine Zeit lang den Spaß gemacht, mir die morgendliche S-Bahnfahrt in mein Büro nach Frankfurt mit dem Erraten von Berufen zu verkürzen. Ich beobachtete meine Mitfahrer und versuchte anhand ihrer Kleidung, ihres Verhaltens und der Gespräche, die sie führten, herauszufinden, welcher Arbeit sie wohl nachgingen. Wenn ich mir sicher war, den richtigen Beruf identifiziert zu haben, verglich ich ihren Arbeitstag mit meinem. Keine Ahnung, warum ich das tat, aber es löste anfangs eine gewisse Befriedigung in mir aus: das Gefühl etwas Privilegiertes und im Vergleich zu meinen Mitfahrern ganz Außergewöhnliches zu leisten. Dieses Hochgefühl wich, je öfter ich diesen Abgleich vornahm, allerdings schnell der Erkenntnis, dass ich selbst im Unterschied zu diesen wirklich Berufstätigen einer recht sinnfreien Tätigkeit nachging: Ich war und bin ein Börsenhändler, der kein nützliches Produkt herstellt oder eine hilfreiche Dienstleistung anbietet, sondern der nichts weiter tut, als in einer virtuellen Welt mit großen Zahlen zu jonglieren. Fragen nach meiner eigenen beruflichen Tätigkeit beantworte ich deshalb eher ungern oder bezeichne mich eben eher einsilbig als »Berufsspieler« oder »Extremsportler«.

Trotzdem habe ich mich des Öfteren zu einer ausführlicheren Antwort verleiten lassen – und war dann in solchen Gesprächen immer wieder sehr über die enorme Ahnungslosigkeit erstaunt, die meine Fragesteller offenbarten. Die meisten tappten, was die Finanz- und Kapitalmärkte betrifft, völlig im Dunkeln. Ihr Wissen beschränkte sich auf wenige Begriffe, deren tiefere Bedeutung sie in keiner Weise durchdrungen hatten. Hier von Halbwissen zu reden, wäre eine echte Übertreibung. Was mich aber viel mehr überraschte: Mir wurde von vielen meiner Gesprächspartner für meine Tätigkeit, das Spielen an der Börse, eine skurrile Bewunderung zuteil. Wer nichts weiß, muss eben viel glauben – und dieser Glaube scheint schwer zu erschüttern. Keiner, mit dem ich über meine Arbeit sprach, fragte mich je, welche Rolle er selbst in meinem Spiel tagtäglich innehätte.

Niemand scheint sich dafür zu interessieren, woher im Erfolgsfall meine Entlohnung und die Boni meiner Kollegen kommen und wer dafür bezahlt. Unabhängige Händler wie ich scheinen für Otto Normalverbraucher Aliens zu sein, die auf ihrem eigenen Planeten arbeiten und von dort ihr vieles Geld zur Erde mitbringen. In vielen Gesprächen habe ich mich bemüht, einige Grundzüge des Finanzwesens näher zu erläutern. Doch selbst wenn ich meine Zuhörer mit der Tatsache konfrontiere, dass sie mit ihrem Geld und ihrem Ersparten, das sie »investieren«, vor allem mein Gehalt und die Prämien meiner Kollegen bezahlen, ernte ich in aller Regel ungläubige Verständnislosigkeit: »Jetzt übertreib mal nicht, so schlimm kann es ja wohl nicht sein.«

Volker, dachte ich in solchen Momenten oft, du bist im Tal der Ahnungslosen angekommen. Und wenn ich mich in der aktuellen Gegenwart umschaue, muss ich feststellen, dass ich mich noch immer dort befinde. Während der letzten drei Jahrzehnte hat sich der Nebel in Sachen Finanzen kaum gelichtet. Trotz Bergen von Büchern zu den Ursachen der Finanzkrise, die gerne gekauft, aber offensichtlich nicht gelesen werden, trotz Internet und einer Vielzahl anderer Medienkanäle – solange ich Sätze höre wie »Ich investiere in …« oder »Ich lege mein Geld an …«, hat die Mehrheit noch immer nichts begriffen.

Alle diese Sätze sind nette und verharmlosende Kuschelbegriffe, die das Risiko von Entscheidungen verschleiern sollen. Ich blicke noch immer viel zu oft in verständnislose Gesichter, wenn ich zu veranschaulichen versuche, dass es tatsächlich nicht den geringsten Unterschied zwischen investieren, anlegen und wetten gibt und dass der Erfolg solcher Wetten allein von Eintrittswahrscheinlichkeiten und unterschiedlichen Zeiträumen abhängt. Bei echter Transparenz müsste sich jedes Finanzprodukt für die Alterssicherung selbst als Wette oder Spekulation outen – aber wer würde es dann noch kaufen? Alle, die diese weichgespülten Begriffe benutzen, sind entweder Dienstleister wie Vermögensverwaltungen oder Finanzproduktentwickler wie Banken und Versicherungen, die ausschließlich ihre eigenen Profitinteressen verfolgen. Doch das mag niemand hören. Auch hege ich den Verdacht, dass noch immer viele glauben, sie hätten mit der Börse nichts am Hut, nur weil sie selbst keine Aktien besitzen. Irrtum! Auch mit Ihren Lebensversicherungen und Riester-Sparverträgen sitzen Sie mit am großen Spieltisch im globalen Finanzkasino. Natürlich nicht Sie selbst, aber Ihr Geld, das die Einsätze generiert, mit denen andere hier spielen.

Es ist schizophren: Die Bonuszahlungen an Spitzenbanker und deren Festgehälter werden zwar gerne lauthals kritisiert und missgünstig verachtet, aber insgeheim auch unglaublich bewundert. Ich habe das selbst immer wieder erlebt: Je höher der Bonus eines Händlers, desto größer fällt die Bewunderung seines sozialen Umfelds aus. Selbst entfernte Bekannte rühmen sich dann, einen solchen Großverdiener zu kennen. Big Money wirkt eben ziemlich betörend. Auf mich hat das schon immer den Eindruck gemacht, als würden Schafe die Erfolgsbeteiligung bewundern, die ihre Schlächter nach getaner Arbeit erhalten. Das Verrückte dabei ist, dass weder Schafe noch Anleger wissen, dass sie selbst die Opfer sind. Wie sollte man sonst erklären, warum es nach wie vor so viele Schafe gibt, die bereitwillig anderen ihr hart erarbeitetes Geld anvertrauen? Sie geben es Leuten, die sie weder persönlich kennen noch deren Fähigkeiten und berufliche Qualifikationen sie auch nur ansatzweise beurteilen können.

Das Vertrauen der Schafe in eine ganze Branche ist grenzenlos und trägt pathologische Züge. Das Image der Finanzbranche ist trotz der großen Krise nach wie vor so gut, und die Versprechen sind so glaubhaft, dass der Geldstrom, mit dem sie gefüttert wird, nicht abreißt. Die Politik spielt dabei gerne den Schäferhund, der die Herde in die Arme ihrer Schlächter treibt – mit Schauermärchen wie der Altersarmut, die nur erfunden wurden, um neue Geschäfte fürs globale Finanzkasino zu generieren. Reines Politmarketing! Würde die Politik Al tersarmut wirklich als Bedrohung für einen großen Teil der Bevölkerung ernst nehmen, müsste sie über eine intelligente Reform der Rentenversicherung nachdenken, anstatt die Finanzwirtschaft dabei zu unterstützen, neue Zockerprodukte auf den Markt zu werfen.

Auch wer heute noch eine Lebensversicherung abschließt, muss wirklich irre sein. Sie ist der Klassiker, das Allerheiligste der Gläubigen. Schon der Produktname suggeriert zwei Glaubenssätze, die sich in die DNA der Schafe seit Generationen eingeschrieben haben: Du kannst dein Leben versichern, und diese Versicherung hält ein Leben lang, was sie verspricht – eine Allianz fürs Leben eben. Die Wahrheit hinter diesen Glaubenssätzen dürfte der Versichertengemeinde gerade in Zeiten der Null-Zins-Politik ziemlich bitter aufstoßen, weil sich die großen Renditeprophezeiungen von dieser wundersamen Geldvermehrung als reine Luftschlösser erwiesen haben.

In einem Gespräch mit einem unerschüttert Gläubigen habe ich das einmal brutal formuliert: »Hör mal, du bist zu faul, dich mit der Materie wirklich auseinanderzusetzen. Deshalb verteilst du dein Geld an andere, die dir erzählt haben, dass mit diesem Vertrag ab sofort dein Geld für dich arbeitet. Und jetzt weinst du und fühlst dich betrogen, weil sich die Versprechen, an die du geglaubt hast, nicht eingelöst haben.« Diese Wahrheit wird ungern akzeptiert. »Moment mal«, höre ich dann als Einwand, »dass ich jetzt als blöder Kunde selbst schuld bin, ist mir zu einfach. Wenn ich zu Hause einen Rohrbruch habe, bestelle ich ja auch den Klempner und vertraue darauf, dass der seinen Job erledigt.« Richtig, in Notsituationen wie einem Wasserrohrbruch muss ich glauben. Und es gibt eine einzige Branche, wo ich Glauben in gewisser Weise akzeptiere: die Medizin. Zum Arzt gehe ich, wenn ich unter einem hohen Leidensdruck stehe und keine Zeit habe, mich selber schlauzumachen. In einem solchen Fall muss ich vertrauen, dass die vorgeschlagene Behandlung funktioniert und der Doktor weiß, wovon er spricht. In allen anderen Bereichen – besonders in der Finanzwirtschaft – gibt es diesen Zeitdruck nicht und damit keinen Grund, ein Finanzprodukt zu kaufen, das man nicht wirklich verstanden hat. Der Finanzmarkt ist keine Religion, sondern brutales Business.

Wenn man von Sachsenhausen aus über den Main auf die Banker-City von Frankfurt schaut, dann nimmt sich der stolze Kaiserdom, der jahrhundertelang als Symbol der kirchlichen Macht das Stadtbild dominierte, vor der Skyline der heutigen Finanzkathedralen fast wie eine kleine Kapelle aus. Die Banken haben übernommen. Wenn man die Frankfurter Stadtarchitektur als Parameter nimmt, lässt sich daran klar ablesen, wer aktuell die erfolgreicheren Hirten sind. Die Banken halten ihre Schafsherde durch alle Krisen zusammen, obwohl die Kollekte, die sie einsammeln, für die Gläubigen deutlich teurer kommt.

Im Zusammenhang mit dem Thema Lebensversicherungen habe ich erst kürzlich mit Kollegen folgendes Szenario diskutiert: Stellen Sie sich vor, Sie zahlen pro Monat 200 Euro an einen Vermögensverwalter, der ihr Geld gewinnorientiert anlegen soll. Die Bedingungen sind vertraglich klar geregelt, Sie wissen, welche Gebühren der Verwalter verlangt, und sind auch über mögliche Spekulationsrisiken informiert. Nun stellen Sie aber fest, dass ihr Vermögensverwalter Ihr Geld ganz bewusst in Finanzprodukte investiert, die garantiert – und zwar wortwörtlich garantiert – nur Verluste einfahren können. In diesem Fall, in dem der Vermögensverwalter schon vorher weiß, dass er Ihr Geld mit einer Negativrendite anlegt, müsste doch der Straftatbestand der Veruntreuung erfüllt sein?

Wenn Sie jetzt denken, ja klar, dann sollten Sie Kontakt zu Ihrem Anwalt aufnehmen und Ihre Lebensversicherung verklagen. Denn genau nach diesem Prinzip werden derzeit die monatlichen Beiträge von Millionen deutschen Lebensversicherungen und Rentensparplänen angelegt. Die Lebensversicherer sind vom Gesetzgeber gezwungen, einen hohen Prozentsatz der eingesammelten Versichertenbeiträge in Staatsanleihen zu investieren, und zwar quer über alle Laufzeiten verteilt. Ein nicht unerheblicher Teil dieses Kapitals fließt dabei in Anleihen, die bei Fälligkeit derzeit eine negative Rendite, also einen garantierten Verlust, abwerfen. Das bedeutet, dass Sie am Ende der Laufzeit solcher Anleihen inklusive aller (Null-)Zinsen Geld verloren haben. In meinen Augen ist hier längst der Tatbestand der Veruntreuung erfüllt.

Würde man nun den Lebensversicherer verklagen, würde der mit dem Verweis auf die Allgemeinen Geschäftsbedingungen wahrscheinlich sagen: »Sorry, wir sind hier leider nur Erfüllungsgehilfen des Gesetzgebers.« Na toll, der Gesetzgeber verabschiedet also Gesetze, die einer Lebensversicherung auferlegen, unter bestimmten Umständen ein garantiertes Verlustgeschäft zu generieren, bei dem am Ende nicht der Versicherte, sondern der Staat der Nutznießer ist, der von dieser Negativrendite profitiert. Ich bin kein Jurist, aber eine solche Klage, die im Sinne der Durchgriffshaftung vom Lebensversicherer auf den Tisch des Finanzministers wandern würde, müsste man spätestens vor dem Europäischen Gerichtshof gewinnen. Das wäre ein extrem spannender Fall, denn hier geht es nicht nur um Milliarden, sondern um das komplette System.

Ich maße mir nicht an, mit meinen Erfahrungen den entscheidenden Beitrag zur aufklärenden Erleuchtung der Allgemeinheit zu liefern. Ein wenig Licht kann im Tal der Ahnungslosen jedoch nicht schaden, um mit einigen offensichtlichen Missverständnissen aufzuräumen, die nach wie vor über die Akteure und den Sinn unseres Finanzsystems bei den allermeisten Menschen anzutreffen sind. Für mich ist dieses Projekt ein neues Spiel, das ich entgegen meiner in Jahrzehnten bewährten Philosophie begonnen habe, ohne die Risiken wirklich einschätzen zu können. Am wenigsten schreckt mich dabei der mahnende Hinweis, den keiner meiner Kollegen, mit denen ich über dieses Buch gesprochen habe, je zu erwähnen vergessen hätte: »Aber Volker du weißt ja, keine Namen oder nachvollziehbaren Zusammenhänge.«

Keine Sorge, ich halte nicht viel von den finsteren Enthüllungsstorys über die Nick Leesons dieser Welt, die Milliarden verzockt und ganze Banken in den Abgrund geschickt haben. Sie manifestieren nur den Mythos vom bösen Banker. Doch böse Banker gibt es nicht. Ein professioneller Spieler wird mit jedem neuen Spiel versuchen, die Grenzen des Systems, in dem er sich bewegt, auszureizen. Er tut das im Idealfall mit scharfem Verstand und kühlem Herzen. Selbst wenn er verliert, hat das mit Kategorien wie Gut oder Böse nichts zu tun.

Betrachten wir als Beispiel die Manipulationen um den ominösen Libor einmal aus der Sicht eines Spielers. Einfach erklärt wurde der Libor (»London Interbank Offered Rate«) 1986 als Referenzzins für Interbankgeschäfte eingeführt. Jahrelang wurde dieser Libor von einer Handvoll Banker festgelegt, die jeden Tag zur gleichen Zeit ihre Refinanzierungskosten für Kredite meldeten und aus dem Durchschnittswert den tagesaktuellen Libor taxierten. Stellen Sie sich vor, Sie würden auch zu diesem exklusiven Kreis gehören, der ohne jede Kontrolle diesen Zinssatz definiert: Wie stark wäre Ihre moralische Abwehrkraft, sich dem Gedanken auf einen satten Gewinn zu verweigern, wenn Sie den Libor nur um wenige Zehntel nach oben oder unten korrigieren könnten? Wir sind doch gerade so schön unter uns, und niemand wird unsere Entscheidung infrage stellen. Und woran würden Sie als Erstes denken, wenn Sie sich für diese Idee erwärmen könnten: an Ihren eigenen fetten Jahresbonus, an die Profite Ihres Instituts und an die Anerkennung durch Ihren Vorgesetzten oder an die Rückzahlraten, die sich für Millionen Immobilien-, Hypotheken- oder Studienkredite aufgrund dieser kleinen Manipulation verteuern würden?

»Den Libor zu manipulieren ist gleichbedeutend mit der Vergiftung der Wasserversorgung«, beschrieb die Financial Times einmal die Dimension dieses Skandals. Die Empörung über die bösen Brunnenvergifter ist sicher berechtigt. Viel relevanter scheint mir allerdings die Frage, wie man überhaupt auf die Idee kommen konnte, das Fixing für den Libor ohne jede Kontrolle in die Hände weniger Profizocker zu legen. Fairtrade gehört nach meiner Erfahrung nicht zu den herausragenden Wesensmerkmalen des Menschen, schon gar nicht im Finanzmarktdschungel, wo sich alle eindeutig an den Regeln des »survival of the fittest« orientieren. Fairplay kann es nur auf der Basis klarer Regeln geben. Im Fußball wird hitzig über Videobeweise und Torlinientechnik diskutiert, um mit maximaler Transparenz Fehlentscheidungen auf ein Minimum zu reduzieren, doch beim großen und für uns alle ungleich bedeutsameren Börsenspiel ist noch nicht einmal das Spielfeld korrekt vermessen.

Mich reizt die Idee, einige dunkle Stellen auf diesem Spielfeld besser auszuleuchten. Als nach wie vor aktiver Teil des Systems stellt sich mir allerdings die Frage, wie ich authentisch von meinen Erfahrungen berichten kann, ohne mich am Ende selbst um Kopf und Kragen zu reden. Die selbst verschuldeten Niederlagen sind für einen Spieler immer die denkbar schlechteste Variante.

Sagen wir einfach: Das Spiel beginnt.

Fluchtschlafen

Wenn man wie ich als Spielernatur geboren wird, ist es eine großartige Entdeckung, wenn man erkennt, dass es auch andere gibt, die ähnlich ticken. Diese Typen hatten nicht nur die gleiche Freude am Spiel wie ich, sie waren meist auch nette Zeitgenossen. Man verstand sich.

Während meines Studiums in den achtziger Jahren wohnte ich im Frankfurter Studentenviertel Bockenheim. Hier traf ich in den einschlägigen Kneipen und Cafés auf die unterschiedlichsten Spielertypen. Die Gruppe, denen ich die größte Hochachtung entgegenbrachte, waren die echten Brains, die spielten, um ihr Können unter Beweis zu stellen: Sie hockten tagelang vor ihren Schachbrettern und schwiegen sich an. Die zweite Kategorie waren die reinen Glücksspieler: Sie waren entweder zu faul, sich mit der Materie eines Spiels näher zu beschäftigen, oder sie waren schlicht zu blöd, aber spielsüchtig. Diese Spieler fokussieren sich gewöhnlich auf Spiele, für die weder Strategie noch besonderes Können erforderlich ist, also Roulette, Lotto oder Toto. Und dann gab es da noch eine dritte Gruppe, zu der ich mich sofort hingezogen fühlte. Hier ging es hauptsächlich um eine Mischung aus Können und Glück. Entscheidend war für mich, dass das Verhältnis beider Komponenten möglichst ausgeglichen war und sich im Spielverlauf pausenlos veränderte, damit es spannend blieb.

Es gibt nur ein Spiel für mich, das diese Voraussetzungen perfekt erfüllt: Backgammon. Ich habe bis heute kein anderes Spiel gefunden, bei dem die Regeln so klar und einfach sind und die komplette Spielsituation beiden Spielern jederzeit offen vor Augen liegt. Das Glück hängt bei Backgammon von den beiden Würfeln ab, mit deren Augen man die eigenen Steine Richtung Homebase zieht. Das Können besteht aus der Berechnung der Wurfwahrscheinlichkeiten beider Würfel und dem gleichzeitigen Einschätzen der aktuellen Spielsituation. Die Dynamik bringt der Verdopplungswürfel ins Spiel, mit dem der Gegner oder man selbst den Einsatz erhöht oder aufgibt. Je besser man wird, umso höher wird der Einfluss der Wahrscheinlichkeitsberechnungen, denn sie sind der einzige Weg, den Faktor Glück zu reduzieren. Auch die Komponente Kommunikation kann für einen Sieg entscheidend sein: Man kann versuchen, den Gegner mit Worten zu beeinflussen oder durch Schweigen. Man kann ihn mit Blicken fixieren oder den direkten Augenkontakt vermeiden, das hängt ganz von deinem Gegenüber ab. Ähnlich wie beim Pokern kommen auch beim Backgammon die psychologisch schwachen Spieler relativ schnell an ihre Grenzen, selbst wenn sie über hervorragende Rechenfähigkeiten verfügen. Die Mischung der einzelnen Fähigkeiten macht einen guten Spieler und den Reiz dieses Spiels aus.

Während meines Studiums hatte Frankfurt eine wahre Backgammon-Manie erfasst: Es wurde überall gespielt, und die meisten vergnügten sich aus reinem Spaß an der Freude. Doch es gab auch einige Spieler, denen diese Form des unterhaltsamen Zeitvertreibs nicht genug war. Sie suchten den härteren Wettkampf – und das geht bei Backgammon am besten über Geld. Die Geldspieler teilten sich damals grob in zwei Fraktionen: Die einen spielten aus Eitelkeit, besaßen ausreichend Kohle, wollten einfach nur zu den coolen Zockern gehören und bettelten um Anerkennung. Die anderen spielten, um auf diese Weise Geld zu verdienen, und beide Lager brauchten sich gegenseitig wie die Luft zum Atmen. Für mich bestand die Kunst zunächst darin, möglichst nur mit den Eitlen zu spielen. Ihnen das Geld abzunehmen, war ungleich leichter, als sich mit einem Geldspieler anzulegen.

Backgammon wurde in dieser Zeit für mich zur Passion, was man durchaus als höfliche Umschreibung von Sucht lesen kann. Es machte mir Spaß, war nicht ungesund und finanzierte mein Studium zu großen Teilen. Der einzige Nachteil: Das Spielen kostete Zeit, verdammt viel Zeit. Backgammon-Abende auf professionellem Niveau zogen sich häufig bis in die frühen Morgenstunden. Bei hohen Einsätzen wurde mit einem Buchhalter gespielt, der prozentual am Umsatz beteiligt war und den Geldbetrag verwaltete, den beide Spieler bereit waren, an einem Abend zu verlieren. So wurde sichergestellt, dass der Gewinner am Ende auch sein Geld erhielt und keine Streitereien entstanden. Durchschnittlich wurde an solchen Abenden um Einsätze von 500 Mark aufwärts gespielt, in manchen Nächten konnte es aber auch deutlich teurer werden. Trotz der hohen Spielsummen war die Zahlungsmoral unter den Backgammon-Spielern sehr gut: Keiner wollte sich die Blöße geben zu zeigen, dass es für ihn ein Problem war, hier und jetzt verloren zu haben.

Erst ein paar Jahre später wurde mir klar, dass diese Backgammon-Abende für einen Händler nicht die schlechteste Grundausbildung darstellen. Der Buchhalter hat in etwa die Funktion einer Clearingbank, welche die Geschäfte für die Börsenspieler abwickelt, die ihre Kurse ebenso hoch konzentriert verfolgen wie ein Spieler die Steine auf dem Brett. Und genau wie die Spieler versuchen auch die Banker, mit der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten ihre Siegchancen auszuloten. Schwierig, aber auch besonders reizvoll wurde die Sache immer dann, wenn ich beim Backgammon vielleicht gerade alle Spielpositionen und Wurfoptionen durchgerechnet hatte, mich auf der siegessicheren Seite fühlte und mein Gegner genau in diesem Augenblick den Verdoppler drehte. Ist das ein Bluff, mit dem er mich zur Aufgabe bewegen will? Ist mir bei meiner Spielanalyse ein Fehler unterlaufen? Steige ich aus, gehe ich gelassen mit, oder setze ich einen Konter, indem ich nun meinerseits den Einsatz verdoppele? Das psychologische Moment ist nicht nur beim Backgammon grandios.

Mein zweites Standbein war zu dieser Zeit der Autohandel. In den noch voll analogen achtziger Jahren bündelte sich in der mehrere Kilo schweren Wochenendausgabe der Frankfurter Rundschau das, was man heute im Internet als Autoscout24 und Immobilienscout24 kennt. Da es schon damals nicht einfach war, in Frankfurt eine bezahlbare Wohnung zu finden, spielten sich jeden Freitag gegen 14 Uhr vor dem inzwischen verschwundenen Rundschau-Haus in der Großen Eschenheimer Straße erschütternde Szenen im Kampf um den schnellsten Zugriff auf den druckfrischen Anzeigenteil ab. Die Cleveren arbeiteten im Team: Einer stellte sich für die Zeitung an, und ein anderer blockierte die nächstgelegene Telefonzelle. Eine Information ist nämlich wenig wert, wenn man den Deal nicht abschließen kann – und mobile, digitale Kommunikation war damals noch Zukunftsmusik.

Ich selbst hatte eine andere Strategie – einen Freund in der Anzeigenabteilung der Frankfurter Rundschau, der mir die Autoanzeigen schon am Donnerstagabend zuspielte. Ich hatte mich auf Cabrios sowie die Mittelklasse von VW, Opel und BMW spezialisiert, weil dieses Marktsegment am stärksten florierte. Ich kannte die durchschnittlichen Listenpreise für Gebrauchte und suchte mir auf dieser Basis die interessantesten Angebote aus. In der Regel ließ sich von der angegebenen Festnetznummer auf den Standort des Verkaufsobjekts schließen, und nicht selten war ich am frühen Morgen unterwegs, steuerte eine Telefonzelle in Hanau, Offenbach oder anderswo an und meldete mich gegen 6.30 Uhr auf das Inserat. Das brachte mir viele üble Beschimpfungen ein, aber auch einige wunderbare Schnäppchen. In den Kaufverträgen vereinbarte ich als spätesten Termin für die Ummeldung des Fahrzeugs immer den Montag der übernächsten Woche. Das hatte den Vorteil, dass ich die Wagen am folgenden Wochenende ohne Ummeldung weiterverkaufen konnte und außerdem ohne zusätzliche Kosten oder Bürokratie immer eine fahrtüchtige Karre am Start hatte.

In einem verstaubten Karton in meinem Archiv habe ich die Kaufverträge aus diesen Jahren aufbewahrt – es sind viele, sehr viele. Handelsvorteile durch Informationsvorsprung sind auch für Börsenspieler ein zentraler Faktor für erfolgreiche Deals, auch wenn dieser Vorteil im heutigen Hochfrequenzhandel auf wenige Hundertstelsekunden zusammengeschmolzen ist. Logisch, dass dabei die Grenzen zwischen Informationsvorsprung und dem berüchtigten Insiderhandel fließend sind.

In diese Grauzone fällt auch mein allererster eigener Trade. Es war an einem Tag im Frühling 1985, als ich einen Anruf von meiner Schwester bekam. Sie hatte damals bereits ihre Lehre bei der Deutschen Bank abgeschlossen und war als Beraterin im Privatkundengeschäft tätig. Als Student war auch ich Kunde dieser Bank und verfügte über ein Girokonto mit einem Guthaben von rund 3 000 D-Mark. Meine Schwester fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, schnell, sehr schnell, ein paar Mark dazuzuverdienen. BASF wollte an der Börse mit sogenannten Optionsscheinen Geld einsammeln, und für gute Kunden der Bank gab es diese Scheine schon ein paar Tage vor der Börseneinführung zu einem Vorzugspreis zu kaufen. Am Tag der Börseneinführung, so der Plan, könnte man die Papiere sofort mit einem kleinen Gewinn wieder abstoßen.

Für mich klang das nach Easy Money, und ich wollte sofort mit meiner ganzen Kohle in den Ring steigen. Als ich dann auch noch erfuhr, dass die Abbuchung des Kaufpreises für diese Optionsscheine von meinem Konto erst am Tag der Börseneinführung vollzogen würde, begann mein Hirn zu rattern: Wenn ich die Scheine nicht sofort bezahlen müsste und sie am ersten Handelstag, also bevor mein Konto mit dem Kaufpreis belastet würde, sowieso wieder verkaufen wollte, warum sollte ich dann nicht mehr davon kaufen, als ich mir bei meinem Kontostand, also meinem damaligen Risikokapital, eigentlich hätte leisten können? Ich fragte also bei der Deutschen Bank nach, ob ich auch Optionsscheine für 40 000 D-Mark kaufen könnte. Die Antwort: »Kein Problem.« Eine ausreichende Kontodeckung war nicht erforderlich, die Rechnung würde ja erst beglichen, wenn ich meine Optionen am Einführungstag mit einem schönen Gewinn wieder abgestoßen hätte.

Ich war euphorisch. Ich hatte gerade die Lizenz zum Gelddrucken bekommen und berechnete in meinem Kopf schon die glänzenden Renditechancen. Der Tag der Einführung kam, ein sonniger Tag, den ich nie vergessen werde. Ich war in aufgeregter Hochstimmung, doch dann zogen plötzlich finstere Wolken auf. Statt der erwarteten Kursexplosion sackte der Wert für meine Scheinchen schon am ersten Tag um mehr als 10 Prozent in den Keller – und das sollte für lange Zeit der höchste Kurs für meine Optionen bleiben. Die Konsequenz für mich: Mein Konto wurde mit 40 000 D-Mark plus zusätzlicher Gebühren belastet, und mir flatterte ein Kontoauszug von dunkelroten 37 200 D-Mark minus ins Haus. Knock-out in der ersten Runde. Und der Schlag, der mich traf, ließ mich wirklich taumeln wie einen schwer getroffenen Boxer. Einen Tag später erhielt ich die Aufforderung, sofort das Konto zu decken. Eine weitere Woche danach, die ich mehr oder weniger in Schockstarre verbracht hatte, wurden meine Optionsscheine an der Börse zwangsverkauft. Übrig blieb ein Verlust von 20 000 D-Mark. Ich war pleite. Meinen Eltern hatte ich von diesem Irrsinn natürlich nichts erzählt. Meine Schwester jedoch bekam Riesenärger und musste die Bank verlassen. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich in absehbarer Zeit aus dieser Nummer herauskommen sollte. Schließlich brauchte ich Kohle für meine anderen Aktivitäten, und das Leben war teuer.

In diesen bodenlos tristen Tagen entdeckte ich an mir das Phänomen des Fluchtschlafens – den Versuch, möglichst lange und zur Not mit Unterstützung von reichlich Alkohol in ein traumloses Koma zu fallen. Bloß nicht über diese Katastrophe nachdenken! An dem Tag, als ich die letzte Aufforderung von der Inkassoabteilung der Deutschen Bank bekam, mein Konto sofort auszugleichen, schlich ich mich zur Vorbereitung auf eine weitere tiefe Fluchtschlafnacht ratlos und schlechtgelaunt in eine Kneipe, bestellte ein Bier und lernte am Tresen meinen Retter kennen. Diesen Typen, der sich mir als Anwalt vorstellte, hatte ich noch nie zuvor gesehen. Gemessen an seinem leicht angeranzten Jackett schien er nicht eben erfolgreich zu sein. Ich kann mir bis heute nicht erklären, warum ich gerade ihm meine hochnotpeinliche Geschichte erzählte. Für einen Spieler wie mich gibt es nämlich nichts Schlimmeres, als über eine grausame Niederlage zu reden. Meine Verzweiflung muss also wirklich groß gewesen sein. Der Anwalt hörte sich gelassen die ganze Story an und begann zu grinsen. Scheiße, dachte ich, jetzt lacht der Kerl dich auch noch aus. Doch er legte mir ganz entspannt die Hand auf die Schulter und meinte, ich solle mal ganz ruhig bleiben und ihn übermorgen mit allen Unterlagen in seiner Kanzlei aufsuchen.

Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was dieser Anwalt mir anzubieten hatte. Aber da mir das Wasser bis zur Unterlippe stand, war ich bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen. Ich machte mich also auf den Weg in die Kanzlei, und als ich sie nach einer Stunde wieder verließ, war ich ein schuldenfreier Mann. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Aus purem Zufall hatte ich genau den Menschen gefunden, der exakt für meinen Problemfall die perfekte Lösung aus dem Ärmel zog: den sogenannten Differenzeinwand, meine rettende Klausel im Börsenrecht. Vor seiner Novellierung 1990 hatte es nämlich der Gesetzgeber noch für nötig gehalten, Privatleute vor waghalsigen Börsengeschäften zu schützen. Jener Differenzeinwand legte jedenfalls fest, dass Optionsgeschäfte nur unter Vollkaufleuten rechtsverbindlich waren. Nun ging ich damals zwar einem BWL-Studium im Schmalspurmodus nach, aber ein Vollkaufmann war ich deshalb noch lange nicht. Bingo. Das ganze Geschäft mit mir war null und nichtig. Ich hätte meinen Anwalt küssen können. Der Typ hatte nicht lange recherchieren müssen, sondern die Lösung griffbereit parat. Wahrscheinlich hatte er es schon mit ähnlichen Fällen zu tun gehabt, jedenfalls setzte er ein amtliches Schreiben auf. Die Bank musste den Schaden inklusive der Anwaltskosten tragen, und mein Kontostand war nach wenigen Tagen wieder mit 3 000 D-Mark im grünen Bereich.

Was macht ein normaler Mensch, der sich mit jeder Menge Dusel aus einer brenzligen Situation befreien konnte? Er freut sich und lässt in Zukunft die Finger von Dingen, die er nicht versteht. Was aber macht ein Spieler, der ein sicher verloren geglaubtes Match in der Nachspielzeit noch drehen konnte? Ich dachte für mich: Wenn sogar die große Deutsche Bank noch nie etwas vom Differenzeinwand gehört hat, dürfte es gewiss noch einige andere Banken und Sparkassen geben, denen diese Rechtslage unbekannt ist. Also reizte ich das Spiel mit dem Differenzeinwand mit ein paar anderen Banken aus. Liefen meine Optionsgeschäfte gut, freute ich mich, und auch die Bankberater machten diesem jungen und aufgeweckten »Kapitalanleger« Komplimente für seine klugen Deals. Wenn die Sache schiefging, saß ich nach kürzester Zeit meinem inzwischen deutlich weniger von meinem Geschäftstalent überzeugten Berater gegenüber und versuchte ihn betont relaxt auf ein für ihn böses Erwachen vorzubereiten.

Zu Beginn dieser Gespräche wähnten sich meine Gesprächspartner in der eindeutig stärkeren Position. »Also hören Sie«, begann ich in der Regel das Gespräch, »das ist jetzt leider ganz blöd gelaufen. Vor allem für Sie, denn ich werde sehr wahrscheinlich kein Geld überweisen, um den Negativbetrag auf meinem Konto auszugleichen.« Es bereitete mir immer ein besonderes Vergnügen, die Veränderung in Haltung und Gesichtsausdruck bei meinem Gegenüber zu beobachten. Noch bevor ein erster Widerspruch einsetzen konnte, fuhr ich fort: »Ich biete Ihnen an, meine Position zum tagesaktuellen Kurs zu verkaufen. Aber für die Differenz komme ich nicht auf beziehungsweise bitte Sie, mein Konto wieder auf den Stand vor Abschluss dieses Geschäftes zurückzusetzen.« Dann schob ich mein Schriftstück zur Differenzregel über den Tisch.

Zum Abschied schaute ich in ziemlich entgeisterte Gesichter, aber nach einer Woche war das Problem meist zu meinen Gunsten aus der Welt geschafft. Welch ein geniales Spiel – Volker im Wunderland! Ich hatte tatsächlich keine einzige Sekunde lang ein schlechtes Gewissen, im Gegenteil: Zu einer Zeit, zu der in Frankfurt gegen die Startbahn West gekämpft und an der Uni entsprechend hitzige wie kapitalismuskritische Debatten geführt wurden, spielte ich mit ein paar Banken das Spiel »Eat the Rich« und fühlte mich als moralischer Sieger. Ich kam mir vor wie Robin Hood, der den Banken das Geld abnahm, wobei nur ich der Bedürftige war, der davon profitierte. Dieses ganze Geschäftsmodell war allerdings ziemlich begrenzt: Zum einen war das auch viel Monkey-Business, wenn meine Spekulation mit null aufging, zum anderen konnte ich dieses Spiel bei jeder Bank nur einmal spielen und nicht sehr häufig wiederholen. Heute wäre ich wahrscheinlich schon nach dem ersten Mal auf einer Schwarzen Liste unerwünschter Kunden gelandet.

Damals war ich noch weit davon entfernt, selbst ein Banker und Händler zu werden, und letztlich verdankte sich mein Weg an die Börse einer schweren Niederlage beim Backgammon. Ich halte mich zwar für einen disziplinierten und sehr kontrolliert agierenden Spieler, doch in dieser Nacht war ich nicht auf der Höhe und beging gleich mehrere Fehler: Ich trat gegen einen wirklich starken Geldspieler an, ließ mich von ihm zu extrem hohen Einsätzen verleiten, trank schon während des Spiels Alkohol und hatte bis zum frühen Morgen 2 500 Mark in den Sand gesetzt. Der tiefe Fluchtschlaf, der sich daraufhin meiner bemächtigte, verhinderte, dass ich den auf 9 Uhr terminierten Wecker hörte. Als ich gegen 11.30 Uhr meine Augen wieder öffnete, schoss es mir wie ein Blitz durch den Kopf: »Scheiße, scheiße, scheiße, meine Diplomarbeit!« Damals war es üblich, dass am Tag X die möglichen Themen für die Abschlussarbeit im Institut auf eine Pinnwand geheftet wurden. Die Vergabe erfolgte nach dem Prinzip »first in, first out«.

Ich sprang aus dem Bett, war zwei Minuten später auf der Straße und trabte, von der vergangenen Nacht noch reichlich angeschlagen, Richtung Uni. Für mich blieb an diesem Tag nur der traurige Rest: zwölf von rund sechshundert Diplomarbeitsthemen, die hier am Morgen noch zur Auswahl gestanden hatten. Elf dieser Angebote waren böhmische Dörfer für mich – Themen, zu denen mir jede Vorstellung oder jedes Wissen fehlte. Also wählte ich die einzige Arbeit, deren Titel ohne Fremdworte auskam: »Die Preisbildung an Rohstoffmärkten am ausgewählten Beispiel von Kupfer und Aluminium.« Für mich war auch dieses Thema einerseits völlig fremd, andererseits kam es mir irgendwie vertraut vor. Ich ersetzte gedanklich »Rohstoffe« durch »Autos« sowie »Kupfer und Aluminium« durch »Opel und BMW« und hatte zumindest eine halbwegs klare Vorstellung, wie die Preisbildung funktionierte, eben durch Angebot und Nachfrage. Was ich damals nicht ahnte, war, dass mir mit diesem Thema gerade der Schlüssel für meine weitere Karriere in die Hand gelegt worden war.