Paul Auster

Das Buch der Illusionen

Roman

Deutsch von Werner Schmitz

Der Mensch hat nicht nur ein Leben.

Er hat viele Leben, eins am anderen, und das ist die Ursache seines Unglücks.

 

Chateaubriand

1 Alle dachten, er sei tot. Als 1988 mein Buch über seine Filme erschien, hatte man von Hector Mann seit fast sechzig Jahren nichts mehr gehört. Abgesehen von einer Hand voll Historiker und alten Filmfreaks schienen nur wenige Leute zu wissen, dass er überhaupt einmal gelebt hatte. Doppelt oder nichts, die letzte der zwölf kurzen Filmkomödien, die er am Ende der Stummfilmzeit produziert hatte, erlebte ihre Premiere am 23. November 1928. Zwei Monate später verließ er, ohne sich von einem seiner Freunde oder Mitarbeiter zu verabschieden, ohne einen Brief zu hinterlassen oder jemanden von seinen Plänen zu unterrichten, das von ihm gemietete Haus am North Orange Drive und ward nicht mehr gesehen. Sein blauer DeSoto stand in der Garage; der Mietvertrag galt noch für drei Monate; die Miete war vorausbezahlt. Lebensmittel lagerten in der Küche, Whiskey stand in der Hausbar, in seinen Schlafzimmerschränken fehlte nicht ein einziges Kleidungsstück. Dem Los Angeles Herald Express vom 18. Januar 1929 zufolge sah es so aus, als sei er lediglich zu einem kurzen Spaziergang aufgebrochen und werde jeden Augenblick zurückkommen. Aber er kam nicht zurück, und von da an war es, als sei Hector Mann wie vom Erdboden verschluckt.

Nach seinem Verschwinden zirkulierten ein paar Jahre lang diverse Geschichten und Gerüchte über sein Schicksal, aber bei diesen Mutmaßungen kam nie etwas heraus. Die plausibelsten – dass er Selbstmord begangen habe, dass er einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei – ließen sich weder beweisen noch widerlegen, da seine Leiche niemals gefunden wurde. Andere Berichte über Hectors Schicksal waren phantasievoller, optimistischer und passten besser zu den romantischen Implikationen eines solchen Falls. Zum Beispiel sollte er in sein Geburtsland Argentinien zurückgekehrt und dort Besitzer eines kleinen Provinzzirkus sein. Oder er sei in die Kommunistische Partei eingetreten und beschäftige sich unter falschem Namen damit, die Molkereiarbeiter in Utica, New York, zu organisieren. Oder er sei als Opfer der Wirtschaftskrise unter den Landstreichern gelandet. Wäre Hector ein größerer Star gewesen, hätten sich solche Geschichten zweifellos noch lange gehalten. Er hätte in den Dingen weitergelebt, die man sich von ihm erzählte, und wäre nach und nach zu einer jener Symbolfiguren geworden, die die Niederungen der kollektiven Erinnerung bewohnen, eine Metapher für Jugend und Hoffnung und die teuflischen Wendungen des Schicksals. Aber nichts von alledem geschah, denn tatsächlich hatte Hector eben erst angefangen, Hollywood seinen Stempel aufzudrücken, als seine Karriere so plötzlich wieder endete. Er war zu spät gekommen, um sein Talent voll zur Geltung zu bringen, und er war nicht lange genug geblieben, um einen dauerhaften Eindruck von dem zu hinterlassen, was er war und was er konnte. Noch ein paar Jahre vergingen, dann hatten die Menschen ihn vergessen. Bereits 1932, 1933 gehörte Hector einem erloschenen Universum an, und falls noch Spuren von ihm übrig waren, dann allenfalls in Form von Fußnoten in obskuren Büchern, die niemand mehr lesen wollte. Der Film hatte das Sprechen gelernt, die flackernden Stummfilme der Frühzeit waren in Vergessenheit geraten. Keine Clowns mehr, keine Pantomimen, keine hübschen Pagenköpfe, die zu den Rhythmen unhörbarer Orchester tanzten. Sie waren erst vor wenigen Jahren ausgestorben, wurden aber schon als prähistorisch empfunden, ähnlich wie die Wesen, die über die Erde streiften, als die Menschen noch in Höhlen lebten.

In meinem Buch war ich kaum auf Hector Manns Leben eingegangen. Die stumme Welt des Hector Mann war ein Werk über seine Filme, keine Biographie, und was ich an unbedeutenden Fakten über seine außerfilmischen Aktivitäten einstreute, hatte ich unmittelbar den üblichen Quellen entnommen: Filmenzyklopädien, Memoiren, Büchern über die Frühzeit Hollywoods. Ich schrieb das Buch, weil ich meine Begeisterung über Hectors Filme vermitteln wollte. Die Geschichte seines Lebens war für mich zweitrangig, und statt darüber zu spekulieren, was aus ihm geworden oder nicht geworden sein mochte, konzentrierte ich mich nahezu ausschließlich auf die Interpretation seiner Werke. In Anbetracht der Tatsache, dass er im Jahre 1900 geboren worden war und dass man ihn seit 1929 nicht mehr gesehen hatte, wäre es mir nie in den Sinn gekommen zu behaupten, dass Hector Mann noch am Leben sei. Tote erheben sich nicht aus ihren Gräbern, und wie ich es sah, konnte sich nur ein Toter so lange versteckt gehalten haben.

Vergangenen März war es elf Jahre her, dass das Buch bei der University of Pennsylvania Press erschien. Drei Monate später, kurz nachdem Filmzeitschriften und Fachjournale die ersten Rezensionen gebracht hatten, fand ich einen Brief im Briefkasten. Der Umschlag war größer und hatte ein anderes Format als die, die man gewöhnlich zu kaufen bekommt, und da er aus dickem, teurem Papier war, kam ich zunächst auf den Gedanken, es könne sich nur um eine Hochzeits- oder Geburtsanzeige handeln. Mein Name und meine Adresse standen in eleganter, schwungvoller Handschrift auf der Vorderseite. Falls die Schrift nicht von einem professionellen Kalligraphen stammte, dann zweifellos von jemandem, der großen Wert auf eine gefällige Erscheinung legte, von einem Menschen, der die alte Schule der Etikette und des gesellschaftlichen Anstands durchlaufen hatte. Die Briefmarke war in Albuquerque, New Mexico, gestempelt, aber aus der Adresse des Absenders auf der Rückseite konnte man schließen, dass der Brief anderswo geschrieben worden sein musste – vorausgesetzt, es gab einen solchen Ort überhaupt, und weiter vorausgesetzt, es gab eine Stadt solchen Namens. Die zwei Zeilen lauteten: Blue Stone Ranch; Tierra del Sueño, New Mexico. Vielleicht habe ich gelächelt, als ich das las, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Ein Name war nicht angegeben, und als ich den Umschlag aufriss, um den Text auf der Karte darin zu lesen, wehte mir ein feiner Hauch von Parfüm entgegen, ein kaum noch spürbarer Duft von Lavendelwasser.

Sehr geehrter Professor Zimmer, begann das Schreiben. Hector hat Ihr Buch gelesen und würde Sie gern kennen lernen. Haben Sie Interesse, ihn zu besuchen? Hochachtungsvoll, Frieda Spelling (Mrs. Hector Mann).

Ich las das sechs- oder siebenmal. Dann legte ich das Blatt beiseite, ging ans andere Ende des Zimmers und wieder zurück. Als ich den Brief wieder aufnahm, war ich mir nicht sicher, ob die Worte immer noch dastanden. Oder, falls ja, ob es noch dieselben Worte waren. Ich las die Zeilen weitere sechs- oder siebenmal, und da ich immer noch nicht schlau daraus wurde, tat ich den Brief erst einmal als Streich ab. Aber sogleich befielen mich Zweifel, und dann wiederum befielen mich Zweifel an meinen Zweifeln. Jeder Gedanke rief einen gegenteiligen Gedanken hervor, und kaum hatte dieser zweite den ersten verdrängt, erhob sich ein dritter und verdrängte den zweiten. Da mir nichts Besseres einfiel, stieg ich ins Auto und fuhr zur Post. Im Postleitzahlenverzeichnis stand jede einzelne Adresse der USA, und wenn Tierra del Sueño dort nicht zu finden war, konnte ich die Karte wegschmeißen und die Angelegenheit vergessen. Aber es war dort zu finden. Es stand in Band 1, Seite 1933, zwischen Tierra Amarilla und Tijeras, ein richtiger Ort mit Postamt und eigener fünfstelliger Postleitzahl. Das allein verifizierte den Brief natürlich nicht, verhalf ihm aber immerhin zu einiger Glaubwürdigkeit, und als ich wieder nach Hause kam, war mir klar, dass ich eine Antwort schreiben musste. Einen solchen Brief kann man nicht einfach ignorieren. Hat man ihn erst einmal gelesen, weiß man, dass man sich die Mühe machen und ihn beantworten muss, weil er einen sonst bis ans Lebensende verfolgen wird.

Ich besitze keine Abschrift meiner Antwort, weiß aber noch, dass ich sie mit der Hand geschrieben und mich bemüht habe, sie so kurz wie möglich zu halten, mich auf wenige Sätze zu beschränken. Ohne viel nachzudenken, übernahm ich den kategorischen, kryptischen Stil des Briefes, den ich bekommen hatte. Auf diese Weise fühlte ich mich geschützter, als könnte derjenige, der sich diesen Streich ausgedacht hatte – falls es denn ein Streich war –, mich dann nicht so ohne weiteres für einen Einfaltspinsel halten. Von der einen oder anderen Formulierung abgesehen, lautete meine Antwort etwa so: Sehr geehrte Frieda Spelling. Selbstverständlich würde ich Hector Mann gern kennen lernen. Aber woher soll ich wissen, dass er noch lebt? Soweit ich weiß, ist er seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen worden. Ich bitte um nähere Einzelheiten. Mit freundlichen Grüßen, David Zimmer.

ICH nehme an, wir alle möchten gern an Unmögliches glauben, uns einreden, dass Wunder wirklich geschehen können. Wenn man bedenkt, dass ich der Verfasser des einzigen Buches war, das jemals über Hector Mann geschrieben wurde, schien es nicht unwahrscheinlich, dass irgendjemand auf die Idee gekommen sein könnte, ich würde mich auf die Chance stürzen und tatsächlich glauben, dass er noch lebte. Aber ich war nicht in der Stimmung, mich auf irgendetwas zu stürzen. Zumindest dachte ich das. Mein Buch war aus einem Zustand großer Trauer heraus entstanden: das Buch lag nun hinter mir, aber die Trauer war immer noch da. Über Filmkomödien zu schreiben war nicht mehr als ein Vorwand gewesen, eine absonderliche Medizin, die ich über ein Jahr lang täglich zu mir genommen hatte, in der vagen Hoffnung, dass sie den Schmerz in meinem Innern betäuben möge. Und das tat sie auch bis zu einem gewissen Grade. Frieda Spelling (oder wer auch immer sich als Frieda Spelling ausgab) konnte das freilich nicht gewusst haben. Sie konnte nicht gewusst haben, dass meine Frau und meine beiden Söhne am 7. Juni 1985, nur eine Woche vor unserem zehnten Hochzeitstag, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Vielleicht hatte sie gesehen, dass mein Buch ihnen gewidmet war (Zum Gedenken an Helen, Todd und Marco), aber diese Namen konnten ihr nichts gesagt haben, und selbst wenn sie deren Bedeutung für den Autor geahnt hätte, konnte sie nicht gewusst haben, dass diese Namen ihm alles bedeuteten, was seinem Leben irgendeinen Sinn verliehen hatte – und dass, als Helen mit sechsunddreißig, Todd mit sieben und Marco mit vier Jahren umgekommen waren, ein großer Teil von ihm mit ihnen gestorben war.

Sie waren auf dem Weg nach Milwaukee gewesen, um Helens Eltern zu besuchen. Ich war in Vermont geblieben, um Aufsätze zu korrigieren und die Abschlussnoten für das eben zu Ende gegangene Semester abzuliefern. Das war meine Arbeit – Professor für vergleichende Literaturwissenschaft am Hampton College in Hampton, Vermont –, und daran kam ich nicht vorbei. Normalerweise wären wir am vierundzwanzigsten oder fünfundzwanzigsten alle zusammen geflogen, aber Helens Vater hatte gerade eine Tumoroperation am Bein hinter sich, und der Familienrat hatte beschlossen, dass sie und die Jungen ihn so bald wie möglich besuchen sollten. Das machte ebenso hektische wie komplizierte Verhandlungen mit Todds Schule erforderlich, da wir deren Einverständnis brauchten, dass er die letzten zwei Wochen des zweiten Schuljahrs verpassen durfte. Die Rektorin zögerte zunächst, war aber dann so verständnisvoll, dass sie schließlich nachgab. Auch dies zählte zu den Dingen, über die ich nach dem Unglück ständig nachdenken musste. Hätte sie unseren Wunsch abgelehnt, hätte Todd zwangsläufig bei mir zu Hause bleiben müssen und wäre nicht gestorben. Dann wäre wenigstens einer von ihnen verschont geblieben. Wenigstens einer von ihnen wäre nicht elf Kilometer tief vom Himmel gestürzt, und ich wäre nicht allein in einem Haus zurückgeblieben, in dem eigentlich vier Menschen wohnen sollten. Es gab natürlich auch anderes, andere mögliche Szenarios, über die ich nachgrübelte, mit denen ich mich quälte, und es schien, als wollte ich es niemals müde werden, mich immer wieder in diesen Sackgassen zu verrennen. Alles war miteinander verzahnt, jedes Glied in der Kette von Ursache und Wirkung war ein wesentlicher Teil dieser entsetzlichen Geschichte – vom Krebsgeschwür im Bein meines Schwiegervaters bis zum Wetter in Milwaukee in jener Woche und der Telefonnummer der Reiseagentur, bei der wir die Flugtickets gebucht hatten. Das Schlimmste war, dass ich darauf bestanden hatte, sie selbst nach Boston zu fahren, damit sie einen Direktflug nehmen konnten. Ich hatte nicht gewollt, dass sie von Burlington abflogen. Denn dann hätten sie erst mit einer achtzehnsitzigen Propellermaschine nach New York fliegen müssen, um dort den Anschlussflug nach Milwaukee zu nehmen, und ich hatte noch zu Helen gesagt, diese kleinen Maschinen gefielen mir nicht. Die seien zu gefährlich, sagte ich, ich könne die Vorstellung nicht ertragen, sie und die Jungen ohne mich mit so etwas fliegen zu lassen. Also ließen sie es sein – um mich zu beschwichtigen. Sie nahmen ein größeres Flugzeug, und das Schreckliche daran war, dass ich selbst sie in aller Eile dorthin brachte. An jenem Morgen herrschte starker Verkehr, und als wir endlich nach Springfield kamen und den Mass Pike runterfuhren, musste ich das Tempolimit schon sehr überschreiten, um noch rechtzeitig am Logan Airport anzukommen.

Was in diesem Sommer mit mir los war, habe ich nur noch bruchstückhaft in Erinnerung. Mehrere Monate lang ertränkte ich Trauer und Selbstmitleid in Alkohol, ging nur selten aus dem Haus, machte mir kaum die Mühe, etwas zu essen, mich zu rasieren oder die Kleider zu wechseln. Die meisten meiner Kollegen waren bis Mitte August in Urlaub; auf diese Weise blieben mir immerhin viele Besuche und die quälenden Formalitäten gemeinsamer Trauer erspart. Natürlich meinten sie es nur gut, und wann immer Freunde von mir vorbeikamen, bat ich sie ins Haus, auch wenn ihre Tränen und Umarmungen und ihr langes bedrücktes Schweigen mich nicht trösten konnten. Es war besser, allein zu sein, fand ich, besser, die Tage einsam in der Finsternis meines Schädels auszuweiden. Wenn ich nicht betrunken war oder im Wohnzimmer vor dem Fernseher auf dem Sofa lag, streifte ich im Haus umher. Ich ging ins Zimmer meiner Söhne, setzte mich auf den Fußboden und umgab mich mit ihren Spielsachen. Ich war nicht fähig, unmittelbar an sie zu denken oder sie mir irgendwie bewusst vors innere Auge zu rufen, aber wenn ich ihre Puzzles zusammensetzte, wenn ich ihre Legosteine nahm und immer kompliziertere und verschrobenere Bauwerke konstruierte, hatte ich das Gefühl, vorübergehend wieder in ihre Haut zu schlüpfen – ihr junges Geisterleben für sie fortzuführen, indem ich die Gesten wiederholte, die sie gemacht hatten, als sie selbst noch in ihren Körpern steckten. Ich las Todds Märchenbücher und ordnete seine Baseballkarten. Ich sortierte Marcos Stofftiere nach Spezies, Farbe und Größe, bei jedem Besuch in seinem Zimmer nach einem anderen System. Auf diese Weise verschwanden viele Stunden, schmolzen ganze Tage dahin, und wenn ich es nicht mehr aushielt, ging ich ins Wohnzimmer und holte mir den nächsten Drink. Die seltenen Nächte, in denen ich nicht auf dem Sofa wegdämmerte, verbrachte ich gewöhnlich in Todds Bett. In meinem eigenen Bett befiel mich nur immer der Traum, Helen läge neben mir, und jedes Mal wenn ich die Hand nach ihr ausstreckte, fuhr ich mit einem heftigen Ruck aus dem Schlaf, meine Hände zitterten, meine Lungen rangen nach Luft, als sei ich gerade noch dem Tod durch Ertrinken entronnen. Nach Einbruch der Dunkelheit konnte ich unser Schlafzimmer nicht betreten, aber tagsüber war ich oft und lange dort, stand vor Helens Kleiderschrank, berührte ihre Sachen, hängte mir ihre Jacken und Pullover um, nahm ihre Kleider von den Bügeln und breitete sie auf dem Boden aus. Einmal zog ich eins davon an, ein andermal stieg ich in ihre Unterwäsche und schminkte mir mit ihrem Make-up das Gesicht. Das war eine zutiefst befriedigende Erfahrung, aber nach einigen weiteren Experimenten fand ich heraus, dass Parfüm eine noch stärkere Wirkung entfaltete als Lippenstift und Wimperntusche. Es schien sie lebendiger zurückzuholen, ihre Gegenwart für längere Zeiträume heraufzubeschwören. Wie es der Zufall wollte, hatte ich ihr zum Geburtstag im März eine neue Flasche Chanel No. 5 geschenkt. Ich beschränkte mich auf täglich zwei kleine Spritzer und konnte den Vorrat so bis Ende des Sommers strecken.

Für das Herbstsemester ließ ich mich beurlauben, doch statt zu verreisen oder Hilfe bei einem Psychologen zu suchen, blieb ich weiter im Haus und versackte. Ende September oder Anfang Oktober war ich so weit, dass ich jeden Abend mehr als eine halbe Flasche Whiskey trank. Das hielt mich davon ab, allzu viel zu empfinden, nahm mir aber gleichzeitig jeden Gedanken an die Zukunft, und ein Mensch, der nichts mehr hat, auf das er sich freuen kann, kann ebenso gut auch tot sein. Mehr als einmal ertappte ich mich bei weitschweifigen Tagträumen von Schlaftabletten und Kohlenmonoxidvergiftung. Ich bin zwar nie so weit gegangen, tatsächlich etwas zu unternehmen, aber wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, muss ich schon damals begriffen haben, wie wenig noch dazu fehlte. Die Tabletten waren im Arzneischrank, und ich hatte die Flasche schon drei- oder viermal herausgenommen, hatte mir die Tabletten schon in die Hand geschüttet. Und wenn dieser Zustand noch länger angehalten hätte, dürfte ich wohl kaum die Kraft aufgebracht haben, weiter Widerstand zu leisten.

So standen die Dinge für mich, als plötzlich Hector Mann in mein Leben trat. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, war noch niemals auch nur über seinen Namen gestolpert, aber eines Abends kurz vor Winteranfang, als die Bäume längst alle Blätter verloren hatten und der erste Schnee zu fallen drohte, sah ich im Fernsehen zufällig einen Ausschnitt aus einem seiner alten Filme und musste lachen. Das mag nicht wichtig klingen, aber es war seit Juni das erste Mal, dass ich über irgendetwas gelacht hatte, und als meine Brustmuskeln so unerwartet in zuckende Bewegung gerieten und meinen Lungen dieses Rasseln auspressten, begriff ich, dass ich noch nicht ganz am Boden lag, dass in mir noch etwas war, das weiterleben wollte. Insgesamt konnte das höchstens ein paar Sekunden gedauert haben. Es war ein ganz normales Lachen, weder sonderlich laut noch anhaltend, aber es kam völlig überraschend, und die Tatsache, dass ich es nicht zu unterdrücken versuchte und mich auch nicht schämte, weil ich in den wenigen Augenblicken, die Hector Mann auf dem Bildschirm zu sehen war, meine Trauer vergessen hatte, zwang mich zu dem Schluss, dass in mir noch etwas war, von dem ich bis dahin gar nichts geahnt hatte, etwas anderes als nur der schiere Tod. Ich rede nicht von irgendeiner vagen Eingebung oder einer sentimentalen Sehnsucht nach dem, was hätte sein können. Ich hatte eine empirische Entdeckung gemacht, und die besaß das ganze Gewicht eines mathematischen Beweises. Wenn ich noch lachen konnte, bedeutete das, dass ich nicht vollständig abgestumpft war. Es bedeutete, dass ich mich nicht so gründlich vor der Welt abgeschottet hatte, dass nichts mehr zu mir vordringen konnte.

Es muss kurz nach zehn Uhr gewesen sein. Ich kauerte wie üblich auf dem Sofa, ein Glas Whiskey in der einen Hand, die Fernbedienung in der anderen, und zappte gedankenlos durch die Kanäle. Irgendwann stieß ich auf eine Sendung, die schon eine Weile lief, aber ich kam schnell dahinter, dass es sich um eine Dokumentation über Stummfilmkomiker handelte. All die vertrauten Gesichter tauchten auf – Chaplin, Keaton, Lloyd –, daneben aber auch Szenen aus raren Streifen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, weniger bekannte Gestalten wie John Bunny, Larry Semon, Lupino Lane und Raymond Griffith. Ich verfolgte das komische Geschehen mit einer Art gemessener Reserviertheit, nicht sonderlich aufmerksam, aber hinreichend gefesselt, dass ich nicht auf irgendeinen anderen Sender umschaltete. Hector Mann erschien erst ziemlich spät, und dann auch nur in einem einzigen Ausschnitt, einer zweiminütigen Szene aus Der Kassierer; der Film spielte in einer Bank, und Hector war in der Rolle eines fleißigen Angestellten zu sehen. Ich kann nicht erklären, warum mich das packte, aber wie er da im weißen Tropenanzug und mit schwarzem Oberlippenbärtchen an einem Tisch stand und dicke Geldstapel zählte, das hatte was; er arbeitete mit so rasender Effizienz, mit solch furiosem Tempo und manischer Konzentration, dass ich den Blick nicht von ihm lassen konnte. Eine Etage höher verlegten Arbeiter neue Dielenbretter im Büro des Bankdirektors. Auf der anderen Seite des Raums saß eine hübsche Sekretärin an ihrem Schreibtisch und polierte sich hinter einer großen Schreibmaschine die Fingernägel. Erst sah es so aus, als könnte nichts Hector davon abhalten, seine Arbeit in Rekordzeit abzuschließen. Dann aber begann ganz langsam in dünnen Rinnsalen Sägemehl auf sein Jackett zu rieseln, und wenige Sekunden darauf nahm er endlich auch das Mädchen wahr. Aus einem Element waren plötzlich drei geworden, und von da an sprang die Handlung hin und her im Dreivierteltakt von Arbeit, Eitelkeit und Begierde: dem Bemühen, das Geld zu Ende zu zählen, dem Wunsch, den geliebten Anzug sauber zu halten, und dem Drang, Augenkontakt mit dem Mädchen herzustellen. Dabei zuckte Hector ab und zu konsterniert mit dem Schnurrbart, als kommentierte er das Geschehen mit matten Seufzern oder beiseite gemurmelten Bemerkungen. Das Ganze hatte weniger mit Slapstick und Anarchie zu tun als vielmehr mit Charakter und Tempo; es war eine elegant inszenierte Mixtur von Gegenständen, Körpern und Gedanken. Jedes Mal wenn Hector beim Zählen den Faden verlor, musste er wieder von vorn anfangen, und das beflügelte ihn nur, sein Tempo zu verdoppeln. Jedes Mal wenn er zur Decke hochsah, um festzustellen, wo das Sägemehl herkam, geschah dies den Bruchteil einer Sekunde nachdem die Arbeiter das Loch oben mit einem neuen Brett geschlossen hatten. Jedes Mal wenn er zu dem Mädchen hinüberschielte, blickte sie gerade in die falsche Richtung. Und doch gelang es Hector bei alldem, die Fassung zu bewahren, indem er sich von derlei unbedeutendem Ungemach weder in seiner Entschlossenheit noch in seiner guten Meinung von sich selbst beirren ließ. Es war vielleicht nicht die erstaunlichste Slapstickszene, die ich je gesehen hatte, aber sie zog mich doch so an, dass ich mich vollkommen hineinversenkte, und beim zweiten oder dritten Zucken von Hectors Schnurrbart war es so weit: ich lachte, ich lachte tatsächlich laut auf.

Ein Sprecher kommentierte das Geschehen, aber da mich die Bilder so sehr fesselten, bekam ich nicht alles mit, was er sagte. Ich glaube, es ging um Hectors geheimnisvollen Rückzug aus dem Filmgeschäft und darum, dass man ihn für den letzten großen Komiker des Kurzfilms hielt. Die erfolgreicheren und innovativeren Komiker hätten sich in den zwanziger Jahren längst auf abendfüllende Filme verlegt, mit der Folge, dass die Qualität des Kurzfilms drastisch gesunken sei. Hector Mann habe dem Genre nichts Neues hinzugefügt, erklärte der Sprecher, doch sei er als talentierter Komiker mit außergewöhnlicher Körperbeherrschung anerkannt, ein bemerkenswerter Nachzügler, von dem man sicher noch Bedeutendes hätte erwarten können, wäre seine Karriere nicht so abrupt zu Ende gegangen. An dieser Stelle brach die Szene ab, und ich konzentrierte mich ganz auf die Ausführungen des Sprechers. Während Dutzende Fotos von Komikstars über den Bildschirm zogen, beklagte die Stimme den Verlust so vieler Filme aus der Stummfilmzeit. Nach Aufkommen des Tonfilms habe man die Stummfilme in den Archiven verrotten lassen, sie seien bei Bränden vernichtet und als Müll weggeworfen worden, und so seien Hunderte dieser Streifen für immer verschwunden. Aber die Hoffnung sei noch nicht ganz erloschen, fügte die Stimme hinzu. Gelegentlich tauchten alte Filme wieder auf, in den letzten Jahren habe man eine Reihe beachtlicher Funde gemacht. Man denke nur an Hector Mann, sagte der Sprecher. Bis 1981 seien weltweit nur drei seiner Filme bekannt gewesen. Spuren und Fragmente der anderen neun fänden sich in diversem Sekundärmaterial – in Presseberichten, Standfotos, Vorschauen –, aber die Filme selbst habe man für verloren gehalten. Dann aber sei im Dezember dieses Jahres im Büro der Cinémathèque Française in Paris ein anonymes Päckchen eingetroffen. Allem Anschein nach in Los Angeles aufgegeben, enthielt es eine nahezu makellose Kopie von Hampelmänner, dem siebten von Hector Manns zwölf Filmen. Im Lauf der nächsten drei Jahre bekamen größere Filmarchive auf der ganzen Welt acht ähnliche Päckchen: das Museum of Modern Art in New York, das British Film Institute in London, das Eastman House in Rochester, das American Film Institute in Washington, das Pacific Film Archive in Berkeley, und schließlich noch einmal die Cinémathèque in Paris. 1984 war Hector Manns Gesamtwerk auf diese sechs Organisationen verstreut, aber komplett zugänglich. Jedes Päckchen war in einer anderen Stadt abgeschickt worden, in so entfernt voneinander liegenden Orten wie Cleveland und San Diego, Philadelphia und Austin, New Orleans und Seattle, und da den Filmen niemals irgendein erklärendes Schreiben beigelegt war, war es unmöglich, den Stifter zu identifizieren oder auch nur eine Hypothese über ihn oder seinen Wohnort aufzustellen. Dem Leben und der Karriere des rätselhaften Hector Mann sei ein weiteres Geheimnis hinzugefügt worden, sagte der Sprecher; dennoch seien die so aufgetauchten Filme unschätzbar, und die Gemeinde der Filmfreunde könne nur dankbar sein.

Ich hatte kein Interesse an Rätseln und Geheimnissen, aber als ich den Nachspann der Sendung ablaufen sah, ging mir durch den Kopf, dass ich diese Filme gern mal sehen würde. Insgesamt waren es zwölf, verstreut auf sechs verschiedene Städte in Europa und den Vereinigten Staaten, und wer sie alle sehen wollte, würde einen beträchtlichen Teil seiner Zeit dafür opfern müssen. Mindestens ein paar Wochen, stellte ich mir vor, vielleicht aber auch einen oder anderthalb Monate. Zu diesem Zeitpunkt wäre es mir niemals eingefallen, dass ich eines Tages ein Buch über Hector Mann schreiben würde. Ich war nur auf der Suche nach etwas, das mich beschäftigen könnte, etwas, das mich auf harmlose Weise ablenken würde, bis ich wieder imstande war, meine Arbeit fortzusetzen. Fast ein halbes Jahr lang hatte ich mir dabei zugesehen, wie ich vor die Hunde ging, und mir war klar, dass ich, wenn ich dabei bliebe, sterben würde. Was ich unternahm oder was ich damit zu gewinnen hoffte, war nebensächlich. Inzwischen wäre jede Entscheidung ein Zufallsprodukt gewesen, aber an diesem Abend war mir ein Vorschlag gemacht worden, und zwei Minuten Film und ein einziges kurzes Lachen brachten mich zu dem Entschluss, um die Welt zu ziehen und mir Stummfilmkomödien anzusehen.

Ich war kein Filmkenner. Mit Mitte zwanzig, nach Abschluss meines Studiums, hatte ich als Literaturdozent angefangen, und seitdem hatte meine Arbeit ausschließlich mit Büchern zu tun gehabt, mit Sprache und dem geschriebenen Wort. Ich hatte eine Reihe europäischer Dichter übersetzt (Lorca, Eluard, Leopardi, Michaux), Rezensionen für Zeitschriften und Zeitungen verfasst und zwei Bücher über Literaturkritik veröffentlicht. Das erste, Stimmen aus dem Kriegsgebiet, beschäftigte sich mit den Zusammenhängen von Politik und Literatur und untersuchte das Werk von Hamsun, Céline und Pound mit Blick auf ihre profaschistischen Aktivitäten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Das zweite, Der Weg nach Abessinien, handelte von Schriftstellern, die das Schreiben aufgegeben hatten: eine Meditation über das Schweigen. Rimbaud, Dashiell Hammett, Laura Riding, J. D. Salinger und andere – Dichter und Romanciers von außerordentlichem Talent, die aus irgendwelchen Gründen plötzlich aufgehört hatten. Als Helen und die Jungen ums Leben kamen, hatte ich gerade ein neues Buch in Planung, in dem es um Stendhal gehen sollte. Nicht dass ich irgendetwas gegen das Kino gehabt hätte – es bedeutete mir nur nicht sehr viel, und nicht ein einziges Mal in über fünfzehn Jahren Lehr- und Schreibtätigkeit war es mir in den Sinn gekommen, mich darüber zu äußern. Ich mochte Filme wie jeder andere – als Zerstreuung, als belebte Tapete, als leichte Kost. Ganz gleich, wie schön oder hypnotisierend die Bilder gelegentlich sein mochten, sie befriedigten mich niemals so sehr wie das geschriebene Wort. Für mein Empfinden zeigten Filme zu viel, ließen der Phantasie des Betrachters zu wenig Spielraum; dazu kam der paradoxe Eindruck, dass Filme die Welt – die Welt in uns und außer uns – desto schlechter repräsentierten, je genauer sie die Wirklichkeit nachahmten. Das war auch der Grund, warum mir Schwarzweißfilme instinktiv immer lieber gewesen waren als Farbfilme, Stummfilme lieber als Tonfilme. Das Kino war eine optische Sprache, eine Methode, Geschichten zu erzählen, indem man Bilder auf eine zweidimensionale Leinwand projizierte. Der Zusatz von Ton und Farbe hatte die Illusion einer dritten Dimension erzeugt, den Bildern aber zugleich ihre Reinheit genommen. Jetzt brauchten sie nicht mehr die ganze Arbeit alleine zu leisten, aber statt den Film zur perfekten Mischform zu machen, zur besten aller möglichen Welten, hatten Ton und Farbe eben die Sprache geschwächt, die sie eigentlich verstärken sollten. Als ich an diesem Abend in Vermont in meinem Wohnzimmer saß und Hector und die anderen Komiker ihre Kunststücke machen sah, kam mir der Gedanke, dass ich eine untergegangene Kunstform beobachtete, ein völlig ausgestorbenes Genre, das niemals mehr ausgeübt werden würde. Und dennoch, trotz aller Veränderungen, die sich seither ergeben hatten, waren diese Werke so frisch und belebend wie damals, als sie zum ersten Mal gezeigt worden waren. Grund dafür war, dass sie die Sprache beherrschten, die sie da sprachen. Sie hatten eine Syntax des Auges, eine Grammatik der reinen Bewegung erfunden, und wenn man einmal von den Kostümen, den Autos und den kuriosen Möbeln im Hintergrund absah, konnte nichts von alldem wirklich alt werden. Hier wurden Gedanken in Handlung umgesetzt, hier drückte sich der menschliche Wille durch den menschlichen Körper aus, und dies war etwas, das zu jeder Zeit Gültigkeit besaß. Die meisten Stummfilmkomödien machten sich kaum die Mühe, eine Geschichte zu erzählen. Eher glichen sie Gedichten, nachgestellten Traumszenen, komplexen Choreographien des Geistes; und da sie längst überholt waren, sprachen sie uns Heutige wahrscheinlich sogar noch intensiver an als das Publikum ihrer Zeit. Wir sahen sie über einen breiten Abgrund des Vergessens hinweg, und die Dinge, die uns von ihnen trennten, waren in Wirklichkeit genau die, die sie für uns so fesselnd machten: ihr Stummsein, ihre Farblosigkeit, ihr ruckhafter, beschleunigter Rhythmus. All das waren Hindernisse, die uns das Sehen erschwerten; andererseits befreite es die Bilder von der Last, etwas darstellen zu müssen. Es stand zwischen uns und dem Film, und daher brauchten wir nicht mehr so zu tun, als ob wir die reale Welt betrachteten. Die flache Leinwand war die Welt, und sie existierte in zwei Dimensionen. Die dritte Dimension befand sich in unserem Kopf.

Nichts hielt mich davon ab, meine Koffer zu packen und am nächsten Tag abzureisen. Für das laufende Semester hatte ich mir freigenommen, und das nächste fing erst Mitte Januar an. Ich konnte tun, was ich wollte, konnte gehen, wohin meine Beine mich trugen, und falls ich mehr Zeit brauchen sollte, konnte ich auch einfach immer weitergehen, über den Januar hinaus, über den September hinaus, über alle September und Januare hinaus, so lange wie es mir gefiel. Denn auch dies zählte zur Ironie meines absurden, erbärmlichen Lebens: Der Tod von Helen und den Kindern hatte mich zum reichen Mann gemacht. Als Erstes kam das Geld von der Lebensversicherung, zu deren Abschluss Helen und ich uns kurz nach Beginn meiner Lehrtätigkeit in Hampton hatten beschwatzen lassen – das beruhigt ungemein, hatte der Mann gesagt –, und da sie in das Gesundheitsprogramm des Colleges integriert war und nicht viel kostete, hatten wir den niedrigen Monatsbeitrag gezahlt, ohne viel darüber nachzudenken. Als das Flugzeug abstürzte, hatte ich gar nicht mehr an diese Versicherung gedacht, aber keinen Monat später tauchte ein Mann bei mir auf und überreichte mir einen Scheck über mehrere hunderttausend Dollar. Wenig später einigte sich die Fluggesellschaft mit den Familien der Opfer, und da ich bei dem Absturz gleich drei Angehörige verloren hatte, bekam ich den größten Batzen aus dem Entschädigungstopf zugeteilt, einen gigantischen Trostpreis für einen willkürlichen Tod und das unerforschliche Walten Gottes. Helen und ich hatten immer Mühe gehabt, mit meinem Gehalt und den gelegentlichen Honoraren auszukommen, die sie mit ihrer freiberuflichen Schriftstellerei erzielte. Tausend Dollar zusätzlich wären uns jederzeit eine enorme Hilfe gewesen. Jetzt hatte ich das Tausendfache, und es bedeutete mir nichts. Als die Schecks bei mir eintrafen, schickte ich die Hälfte des Geldes an Helens Eltern, aber die sandten es umgehend zurück, dankten mir für die Geste, versicherten jedoch, dass sie es nicht haben wollten. Ich kaufte für Todds Grundschule neue Spielplatzgeräte, spendete Marcos Kindergarten zweitausend Dollar für Bücher und einen hochmodernen Sandkasten und bewegte meine Schwester und ihren Mann, einen Musiklehrer, dazu, einen größeren Geldbetrag aus dem Zimmer-Sterbefonds zu akzeptieren. Hätte es noch mehr Menschen in meiner Familie gegeben, würden auch sie etwas bekommen haben, aber meine Eltern lebten nicht mehr, und außer Deborah hatte ich keine Geschwister. Stattdessen stiftete ich, um einen weiteren Batzen loszuwerden, am Hampton College ein Stipendiat auf Helens Namen: das Helen-Markham-Reisestipendium. Die Idee war ganz einfach. Jährlich sollte einem Hochschulabsolventen ein Geldpreis für außerordentliche geisteswissenschaftliche Leistungen zuerkannt werden. Das Geld war zur Finanzierung von Reisen bestimmt, ansonsten waren keinerlei Bestimmungen, Bedingungen oder Ansprüche damit verbunden. Der jeweilige Preisträger sollte von einem turnusmäßig wechselnden Komitee aus Professoren verschiedener Fakultäten (Geschichte, Philosophie, Anglistik, Fremdsprachen) gewählt werden, und solange das Geld zur Finanzierung einer Auslandsreise verwendet wurde, konnten die Markham-Stipendiaten damit machen, was sie wollten; Rechenschaft war nicht erforderlich. Um das zu arrangieren, musste ein gewaltiger Kapitalbetrag angelegt werden, aber so groß dieser Betrag auch war (das Äquivalent von vier Jahresgehältern), er riss nur ein kleines Loch in mein Guthaben, und als mir schließlich nichts Sinnvolles mehr einfiel, was ich mit dem vielen Geld noch finanzieren konnte, besaß ich immer noch mehr, als ich jemals hätte ausgeben können. Es war eine groteske Situation, ein entsetzliches Übermaß an Reichtum, bis zum letzten Penny erworben durch Blut. Hätte ich meine Pläne nicht so plötzlich geändert, würde ich das Geld wahrscheinlich einfach irgendwie vergeudet haben, bis nichts mehr übrig gewesen wäre. Aber eines kalten Abends Anfang November setzte ich mir in den Kopf, selbst auf Reisen zu gehen, und ohne die nötigen Mittel dazu hätte ich ein so spontanes Vorhaben niemals verwirklichen können. Bis dahin war mir das Geld nur eine quälende Last gewesen. Jetzt betrachtete ich es als Heilmittel, als Medizin, mit der ich meinen endgültigen Zusammenbruch abwenden konnte. In Hotels zu leben, in Restaurants zu essen – das war ein kostspieliges Unternehmen, aber ausnahmsweise hatte ich diesmal keinen Anlass zur Sorge darüber, ob ich mir das, was ich tun wollte, überhaupt leisten konnte. Verzweifelt und unglücklich, wie ich war, war ich auch ein freier Mann, und da ich Gold in den Taschen hatte, konnte ich die Bedingungen dieser Freiheit selbst festlegen.