Mit 49 Zeichnungen
von
Raimund Frei
Stehn’S, bitte, auf!
Lachen. Schmunzeln. Kopfschütteln.
Ein Strafrichter erinnert sich.
© 2019 Ferdinand Schönbacher
1. Auflage
Autor: Ferdinand Schönbacher
Zeichnungen: Raimund Frei
Gestaltung: Simon Schmiedbauer weitere Mitwirkende: Katharina Edelsbrunner
Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel
ISBN: |
978-3-99084-592-9 (Paperback) |
|
978-3-99084-593-6 (Hardcover) |
|
978-3-99084-594-3 (e-Book) |
Printed in Austria
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhalt
Vorwort
Das Defizit
(Schieds-) Richter sind auch nur Menschen
Ärztliche Hilfe
Reifenwechsel
Die Kapfenberger
Na und?
Der Liebhaber
In 25 Jahren um die Welt
Muttertag
Doppler
Amtstag
Ehebruch
Die Leibspeise
(Miss-)Verständnis
Wie konnte das nur passieren
Der verpfändete Reisepass
Blond schon, aber …
Der Venezianische Spiegel
AEIOU
Maier
Zufrieden
Karl(a)
Der Sonnenkönig
Die Sch… - Ampel
Sankt Florian, schau oba!
Normal per Du
Eheliche Pflicht
Strenger Winter, milder Richter
Kiebitz, halt's Maul
Zeuge Werner H.
Arzt im Dienst
„Seine“ Dame
Glückszahlen
Nudelgericht
Vorwort
Es muss mir wohl etwas gefehlt haben. In der Pension. Denn schon nach kurzer Zeit begann ich, Erinnerungen aufzuschreiben, die mich nicht nur zum Kopfschütteln, sondern auch zum Schmunzeln und zum Lachen brachten. Meine Enkelin Kathi, damals noch Jus-Studentin, brachte mein Geschreibsel zu Papier und mich auf die Idee, ein Buch daraus zu machen. Als Jahre später mein Freund und Kollege Reimund Frei nicht nur die „Buch-Idee“ gut fand, sondern daranging, Geschichte für Geschichte zu illustrieren, war es für mich nur noch eine Frage der Zeit, die Idee Wirklichkeit werden zu lassen. Und diese Zeit dauerte gut 10 Jahre, bis es endlich so weit war.
In einem Vorwort eines mir nicht mehr erinnerlichen Buches hatte ich gelesen, ein Buch ohne Vorwort sei wie ein Bild ohne Rahmen. Also entschloss ich mich, insbesondere auch um Reimunds Zeichnungen nicht der Rahmenlosigkeit preiszugeben, zu einem solchen, das ich nun nutze, um zu einigen mich persönlich und den Strafrichter als solchen betreffenden Vorurteilen Stellung zu nehmen.
Anlässlich meiner Pensionierung hat mich der Redakteur einer Grazer Zeitung im Zuge eines Interviews mit dem Vorwurf – zumindest habe ich es als Vorwurf empfunden – konfrontiert: „Sie haben den Ruf, ein lehrer-, frauen- und ausländerfeindlicher Richter gewesen zu sein.“
Lehrerfeindlich? Meine Mutter: Lehrerin, meine Ex-Gattin: Lehrerin, meine Lieblingscousine – ich habe allerdings nur eine –: Lehrerin, ihr Gatte: Lehrer, fünf meiner Maturakollegen: im Lehrberuf (vom Hauptschullehrer bis zum Universitätsprofessor). Sie alle haben eines gemeinsam: Sie (be)lehren und haben ihre berufsbedingten Eigenarten. Wie jede andere Berufsgruppe auch. Wie auch wir Juristen, wie auch wir Strafrichter. Ist der Hinweis, auf eine solche Eigenart, selbst wenn sie eigenartiger ist als andere Eigenarten, feindlich?
Frauenfeindlich? Kann es frauenfeindlich sein, einen Beschuldigten deshalb nicht zu verurteilen, weil er zu Gunsten einer Fahrzeuglenkerin auf seinen ihm nach der Straßenverkehrsordnung zustehenden Vorrang nicht verzichtet hat?
Ausländerfeindlich? Im Laufe der Jahre musste ich vermehrt feststellen, dass Ausländern offensichtlich – von wem auch immer – Behörden, Polizei und Gerichte als Feindbilder ein- oder vorgeredet werden. Nicht anders ist es für mich erklärbar, dass Ausländer als Beschuldigte oder Zeugen ihrer Verantwortung bzw. Aussage voranstellen, dass ihnen in Österreich ohnehin nicht geglaubt werde, weil sie Ausländer seien. Und wenn die Schülerin einer Grazer Mittelschule – ich habe über Jahrzehnte Schulen betreut – nach einem Verhandlungstag, an dem fast ausschließlich Fälle mit Ausländerbeteiligung verhandelt wurden, enttäuscht fragt: „Wir haben uns auf diesen Gerichtstag so gefreut, aber waren wir heute wirklich bei einem österreichischen Gericht?“, dann ist das wohl kein Hinweis auf eine Ausländerfeindlichkeit des Richters, sondern zeigt lediglich, dass in Österreich die Begehung von Straftaten nicht Inländern vorbehalten ist.
Immer wieder wird die harte, raue, derbe Sprache des Strafrichters kritisiert, fast immer in Gegenüberstellung zu dem in seiner Ausdrucksweise vorbildlichen Zivilrichter. Dazu zitiere ich einen Kollegen, der meinte: „Die einen haben sich für die Bibliothek, die anderen für das Leben entschieden.“
Im Übrigen ist in dem im Molden Verlag erschienen Buch „Der rote Advokat“ von Heinz Damian nachzulesen, dass auch Zivilrichter anders können, wenn sie wollen und wenn es passt. Damian, von Beruf Rechtsanwalt, schreibt über eine Berufungsverhandlung vor einem niederösterreichischen Kreisgericht: Der Konzipient einer Wiener Rechtsanwaltskanzlei, der „offensichtlich lange Zeit in Norddeutschland gelebt hatte und deshalb der dortigen Aussprache huldigte, was an sich schon von Anfang an das sichtliche Missfallen des Senates erregte, begründete (als Beklagtenvertreter) weitläufig und ausführlich, warum das Urteil der ersten Instanz aufgehoben werden müsse. Schließlich stand der Präsident des Gerichtes, der den Vorsitz führte, auf und ging aus dem Verhandlungssaal. Offensichtlich musste er einem menschlichen Bedürfnis nachgehen. Der Vizepräsident des Gerichtshofes, der beisitzender Richter war, sagte daraufhin zum Beklagtenvertreter: „Passen S‘ auf, Herr Doktor, der Präsident geht jetzt brunzen, und wann er z’ruckkommt, werden Sie mit Ihrer Berufung scheißen gehen.“
Trotz oder gerade wegen Fehlens solcher Kraftausdrücke in meinem Buch hoffe ich, dass die eine oder andere Geschichte Sie, werte Leserin, werter Leser, zu einem Schmunzeln oder gar Lachen verleiten kann.
Da mein Buch keine erfundenen Geschichten, sondern ausschließlich Erinnerungen an tatsächlich Erlebtes beinhaltet, habe ich die Namen betroffener Personen und zum Teil auch Örtlichkeiten verändert. Sollte trotzdem der eine oder die andere glauben, sich wiederzuerkennen, dann ist das durchaus erwünscht.
F. Schönbacher
Das Defizit
„Prellerei“, herrschte ihn der Richter an. So schwer es ihm fiel, so gut gelang es ihm, Empörung über die Schandtat und Strenge gegenüber dem Missetäter zu demonstrieren. „Prellerei! Verstehn'S das?! Wenn'S wenigstens wie bisher… Gehört sich zwar auch nicht, ist genauso eine Gaunerei, auch wenn es den Opfern, den von Ihnen geprellten Gastwirten, Taxifahrern und Geschäftsleuten nicht gar so weh getan hat. Aber diesmal…“ Der Richter, den vorwurfsvollen Blick unablässig auf den Beschuldigten gerichtet, schüttelte den Kopf. „Jemanden zu betrügen, der ohnehin aus der letzten Lok, ich meine aus dem letzten Loch pfeift… Was haben Sie sich dabei bloß gedacht?!“
Gesenkten Hauptes saß er da, der kleingewachsene, untergewichtige, vom Alkohol gezeichnete Beschuldigte, flankiert von zwei Gendarmen, die ihn zur Verhandlung vorgeführt hatten, jeder um die 190 cm groß, der eine deutlich über, der andere knapp unter hundert Kilogramm schwer, zwischen denen er noch gebrechlicher wirkte, als er ohnehin war.
Sie kannten sich schon seit mehr als sechs Jahren, der Richter und der inzwischen nicht ganz sechzig Jahre alte Beschuldigte Adolf K. Damals hatte der Beschuldigte, nachdem alkoholisierungsbedingt seine Leistungsfähigkeit systematisch abgenommen hatte und letztlich auf Null gesunken und er am Arbeitsplatz nur mehr sporadisch erschienen war, zunächst seine Arbeit, demzufolge er sich noch intensiver dem Alkohol zuwandte, und in weiterer Folge seine Frau verloren, die ihn, den wertlosen Schmarotzer, wie sie ihn abfällig bezeichnete, aus der Wohnung warf, sodass er eine Zeit lang auch ohne festes Dach über dem Kopf dastand.
Keiner war dem anderen böse. Der Richter nicht dem Beschuldigten, obgleich dieser ihm immer wieder Arbeit machte, die er ihm durch sein zur Gewohnheit gewordenes Ignorieren von Gerichtsbriefen unnötigerweise noch erschwerte, was so wie im gegenständlichen Fall, den Einsatz der Gendarmerie zu seiner Vorführung notwendig machte. Und der Beschuldigte nicht dem Richter, wenngleich dieser ihn schon mehr als zweidutzendmal wegen mehrfacher Zech- und Fuhrlohnprellereien sowie diverser Ladendiebstähle verurteilt und ihm so zu etlichen, mitunter allerdings gar nicht so unerwünschten Aufenthalten hinter Gittern verholfen hatte.
Da saß er also. Und wenn er nicht zu Boden schaute, suchten seine Blicke, ohne den Kopf wesentlich zu heben, Hilfe und Verständnis in den auf ihn gerichteten Augen des Richters oder des Gekreuzigten, der eingezwängt von zwei überdimensionalen Kerzen barrieregleich zwischen Richter und Beschuldigtem am Verhandlungstisch stand.
Wie der Richter den Beschuldigten so anschaute – gerade noch zwei Knöpfe im oberen Brustbereich hielten, unterstützt von einer Sicherheitsnadel, das schon Wochen getragene Hemd zusammen, über dem bartbestoppelten Gesicht klebten strähnig Haare auf der verschwitzten, im Lauf der Jahre auf Kosten der Haare immer großflächiger gewordenen Stirn – , fühlte er sich an seine Mittelschulzeit in einem obersteirischen Stiftsinternat erinnert, wo der Besitz von Seife zwar nicht untersagt, deren Verwendung bei der allabendlichen Körperpflege sogar geduldet, bei der morgendlichen jedoch strikte verboten war, und Entgegenhandeln so manche Ohrfeige, begleitet von der überlauten Erinnerung des Erziehers “Wie oft soll ich das noch sagen, Morgenwaschen ist Erfrischungswaschen, Er-fri-schungs-wa-schen!“, und das Versiegen der ohnehin nur an einem Abend pro Woche sprudelnden Warmwasserquelle für Wochen, ja Monate zur Folge hatte.
„Sie wissen ja“, ließ sich der Richter in die Gegenwart zurückfallen und setzte mit gespielt ernstem Blick und ebensolcher Stimme fort: „Sie wissen ja, was Sie diesmal angestellt, was heißt da angestellt, was Sie verbrochen haben und was Ihnen die Staatsanwaltschaft zur Last legt: Prellerei, begangen dadurch, dass Sie ohne gültigen Fahrschein, also ohne das mit vier Schilling*) festgesetzte Entgelt zu leisten, Ihre Beförderung mit der Bahn von Kapfenberg-Hauptbahnhof nach Kapfenberg-Nord listig erschlichen und solcherart die Österreichischen Bundesbahnen um sage und schreibe vier Schilling geschädigt haben.“ Der Richter hielt wie drohend vier Finger seiner linken Hand, vom Zeige-, über Mittel- und Ring- bis zum kleinen Finger, dem Beschuldigten entgegen. „Haben'S g'hört, um vier Schilling haben Sie die ÖBB geprellt! Dafür verlangt der Staatsanwalt“ – der Richter blieb, obwohl es ihm immer schwerer fiel, bei seinem strengen Blick und ließ den Daumen seiner rechten zur Faust geformten Hand kreisend nach oben zeigen – „die Höchststrafe, einen Monat Arrest. Kein Wunder bei Ihren Vorstrafen. Einen Monat, Herr K., verstehn'S?“
Der Beschuldigte zuckte mit den Achseln, ja eigentlich mit dem ganzen Körper, hob seinen bis dahin gesenkten Kopf und schaute über den am Kruzifix seine Pflicht erfüllenden Gekreuzigten hinweg dem Richter stumm mit immer feuchter werdenden Augen ins Gesicht.
Der Richter ersparte dem Beschuldigten eine Verantwortung: „Stehn'S, bitte, auf und vernehmen'S das Urteil!“
Der Beschuldigte erhob sich umständlich und machte rasch zwei Schritte nach vor. So als sei es ihm gelungen, sich aus den Fängen der beiden Gendarmeriebeamten in den Schutz des Richters gerettet zu haben, warf er einen bedauernden, aber auch überlegenen Blick auf den Gekreuzigten, der sich seiner Umklammerung durch die scheinbar unbarmherzigen Kerzen-Riesen nicht entziehen konnte, und wartete auf „seinen Monat“.
„Im Namen der Republik“, verkündete der Richter mit einer dem Beschuldigten bislang nicht bekannten Strenge das Urteil, „wird der Beschuldigte Adolf K. von der gegen ihn erhobenen Anklage, das mehrere hundert Millionen Schilling umfassende Defizit der Österreichischen Bundesbahnen um weitere vier Schilling erhöht zu haben, freigesprochen.“
Stille.
„Haben'S das Urteil verstanden?“ Da war sie immer noch, diese ungewohnte Strenge im Blick und in der Stimme des Richters. „Kapiert?“
Mit der von ebenso verständnisvollem wie heftigem Kopfnicken begleiteten Gegenfrage, ob er nun gleich für den einen Monat in den Häfen müsse oder vielleicht ein Strafaufschub bis zur kalten Jahreszeit möglich wäre, bewies der an sich gerichtserfahrene und hafterprobte Beschuldigte, nichts, aber schon gar nichts kapiert zu haben.
*) 0,29 Euro
(Schieds-) Richter sind auch nur Menschen
Sein Verhältnis zu Schiedsrichtern war ein gestörtes, mehr noch, der Richter hatte – gelinde ausgedrückt – eine ausgeprägte Abneigung gegen jene Richter auf dem Fußballfeld, die mit ihren unanfechtbaren (Fehl-) Entscheidungen den Verlauf und Ausgang eines Spieles umdrehen, Spielern, Funktionären und Anhängern ihre Besonnenheit rauben und so manchen Verein gnadenlos in die nicht verdiente Bedeutungslosigkeit versenken konnten.
Fühlte er sich als aktiver Kicker – zuerst in Schüler- und Jugend-, dann in Hobbymannschaften – von der Mehrzahl der Schiedsrichter benachteiligt, ja verfolgt – zu oft hatten sie seiner Meinung nach gegen ihn gepfiffen, ihn sogar ein paar Mal wegen zu heftiger Interventionen des Feldes verwiesen – , so wurde er als regelmäßiger Besucher von Fußballspielen (von der untersten bis in die höchste Spielklasse) und Anhänger eines Grazer Fußballvereines mit schwarz-weißen Klubfarben immer wieder Opfer der Pfeifenmänner, die es mit ihren Fehlpfiffen ganz offensichtlich auf ihn abgesehen hatten, was in ihm in geradezu vorprogrammierter Regelmäßigkeit den Adrenalinspiegel in ungeahnte Höhen steigen ließ und seinen Gerechtigkeitssinn zu dem unausgesprochenen Gelübde nötigte, nie jemanden zu verurteilen, der sich, von schiedsrichterlichen Fehlpfiffen provoziert, zu unbedachten, seiner Art und seinem Wesen widersprechenden Äußerungen oder gar Handlungen gegen einen Schiedsrichter hinreißen ließ.
Und so kam es, wie es kommen musste: Angeklagt der vorsätzlichen Körperverletzung eines Schiedsrichters (in einem unterklassigen Meisterschaftsspiel) durch Versetzen von Schlägen, die eine Kopfprellung und eine von einer Blutunterlaufung begleitete Schulterprellung nach sich zogen, stand Robert L., ein vierundzwanzigjähriger, unbescholtener Maschinenschlosser, vor dem Richter.
Der Anzeige hatte der Richter entnommen, dass der ihm nicht unbekannte (richtiger: wegen seiner Fehlpfiffe und seiner provokanten Überheblichkeit bestens bekannte) Schiedsrichter Harald W., der mit dem Ausschluss zweier Spieler und der Verhängung dreier Elfmeter die 2: 0 Führung der Heimmannschaft in eine 2: 3 Niederlage verwandelt hatte, nach dem Schlusspfiff auf dem Weg in die rettende Kabine von einer Mehrzahl aufgebrachter Anhänger abgefangen, bedrängt und mangels allzu intensiven Ordnerschutzes auch tätlich angegriffen und dabei verletzt wurde. Warum von den laut Anzeige über zwanzig an den Tätlichkeiten Beteiligten nur eine Person und da ausgerechnet Robert L. unter Anklage gestellt worden war, ging nachvollziehbar weder aus der Anzeige noch aus dem Bestrafungsantrag der Staatsanwaltschaft hervor.
Die mannhafte Erklärung des Beschuldigten, sich schuldig zu fühlen, überraschte den Richter zwar, änderte aber nichts an seiner Einstellung. War es das Gelübde, an das er sich gebunden fühlte, war es die Person des Schiedsrichters, die unangenehme Erinnerungen in ihm wachgerufen hatte, er war jedenfalls nicht gewillt, der Anklage folgend den Beschuldigten zu verurteilen.
„Sagen Sie mir“, forderte der Richter den Beschuldigten auf, „warum Sie sich schuldig fühlen!“
„Weil ich den Schiedsrichter verletzt habe.“
„Sie haben den Schiedsrichter verletzt? Wie wollen Sie denn das wissen, wenn doch zwanzig oder mehr…“
„Weil ich es weiß, Herr Rat“, fiel der Beschuldigte dem Richter ins Wort.
„Und warum wissen Sie das?“
„Weil ich ihn getroffen hab.“
„Getroffen?“
„Ja, mit einer Eisenstange getroffen.“
„Mit einer Eisenstange?“, wunderte sich der Richter. „Von einer Eisenstange steht in der Anzeige aber kein Wort.“
„Es war aber eine Eisenstange. Die ist so dagelegen und ich…“
„Aber die anderen haben ja auch…“
„Ja schon, Herr Rat, aber verletzt hab ich ihn, nur ich“, bestand der Beschuldigte auf seine Tat. „Und ich möcht auch haben, dass Sie mich bestrafen, Herr Rat.“
„Wie soll ich Sie denn schuldigsprechen und bestrafen, wenn ich mir bei der Vielzahl von möglichen Tätern nicht sicher bin, dass gerade Sie, Herr L., den Schiedsrichter verletzt haben. Sie waren halt auch dabei, aber verletzen wollten Sie den Schiedsrichter ja nicht, oder?“, bot sich der Richter helfend an.
„Doch, doch, Herr Rat, ich war damals fuchsteufelswild auf den Schiedsrichter, weil er uns, unsere Mannschaft halt, um den Sieg geprellt hat. Zwei von unserer Mannschaft hat er ausgeschlossen, drei Elfer gegen uns verhängt, und fort war unsere 2: 0 Führung. Und vierzehn Tage vorher hat uns schon sein Bruder…“
„Einer allein kann ja gar nicht so…“, schaltete sich der Richter dazwischen, dem auch der Bruder des Harald W. kein Unbekannter war.
Der Beschuldigte ließ ihn aber nicht ausreden. „Wild war ich. Ich hatte so eine Wut. Heute tut es mir leid und ich hab mich bei ihm auch entschuldigt.“
„Das verstehe ich ja“, gab der Richter nicht auf, „aber wie wollen Sie denn wissen, dass Sie es waren, der den Schiedsrichter…“
„Weil ich gesehen hab“, unterbrach der Beschuldigte den Richter, „weil ich genau gesehen hab, wie meine Stange den Schiedsrichter am Kopf gestreift und dann seine Schulter voll getroffen hat.“
„Getroffen hin, getroffen her, aber dass der Schiedsrichter durch Sie so verletzt wurde, wie es im Bestrafungsantrag heißt, steht noch lange nicht fest“, hielt der Richter schon etwas grantig dagegen.
„Ich weiß es aber“, bockte der Beschuldigte, „ich hab ja gesehen, wie der Schiedsrichter nach meinem Schlag zusammengezuckt und dann zu Boden gegangen ist. Zuerst war ich richtig stolz auf mich, aber jetzt…“
„Aber jetzt tut es Ihnen leid. Das haben wir schon gehört.“
Der Richter gab auf.
„Verzichten'S auf die Einvernahme des Schiedsrichters?“, wollte der Richter wissen, der dem Schiedsrichter Harald W. den Triumph der nunmehr unabwendbaren Verurteilung des Beschuldigten keinesfalls gönnen wollte.
„Ja, sicher, Herr Rat. Nur entschuldigen möchte ich mich noch einmal, weil…“
„Weil?“
„Weil ich mir nicht sicher bin, ob er meine Entschuldigung angenommen hat. Er hat nur gesagt, dass er richtig gepfiffen hat und dass er weiß, was er tut, weil er selber Fußballer war.“
„Da hat er wahrscheinlich mit Medizinbällen Köpfeln trainiert. Und jetzt stehn'S, bitte, auf! Entschuldigen können'S sich immer noch und so oft Sie wollen.“
Und der Richter verurteilte schweren Herzens, aber mit reinem Gewissen den Beschuldigten, der alles wollte, nur nicht freigesprochen werden.
Nach der ausführlichen Urteilsbegründung, in welcher der schiedsrichterlich strapazierte Richter auf ein Dutzend selbst erlebter und erlittener Schiedsrichter-Fehlentscheidungen einging, und die auffallend niedrige Geldstrafe mit dem bisherigen ordentlichen Lebenswandel des Beschuldigten, seinem umfangreichen und reumütigen Geständnis und insbesondere damit rechtfertigte, dass nicht so sehr der Schiedsrichter Opfer des Beschuldigten, sondern vielmehr der Beschuldigte Opfer des Schiedsrichters geworden war, trat ein Mann, der der Verhandlung vom Anfang bis zum Schluss aufmerksam beigewohnt und den der Richter für den Berichterstatter einer Zeitung gehalten hatte, an den Verhandlungstisch. „Peter B.“, stellte er sich eine Verbeugung andeutend vor, wies darauf hin, dass er das der Verhandlung zugrunde gelegene Fußballspiel als offizieller Schiedsrichter-Beobachter gesehen habe und beurteilte die damalige Leistung des Schiedsrichters Harald W. mit den Worten „Der hat, unter uns gesagt, um die Dresch gebettelt“, um halb vorwurfsvoll, halb um Revidierung bemüht, abzuschließen: „So schlecht, wie Sie, Herr Rat, die Schiedsrichter heute hingestellt haben, sind sie aber auch wieder nicht. Sie sind halt auch nur Menschen. Aber…“
„Wie wir Richter“, dachte der Richter hörbar, „auch wir sind nur Menschen.“
„Aber warum war bei der Verhandlung keiner von den Ordnern da? Die…“
„Die sind sicher durch noble Zurückhaltung aufgefallen, oder? Außerdem haben sie, wie der Anzeige zu entnehmen ist, nichts gesehen und nichts gehört, weshalb…“
„Zurückhaltung? Nichts gesehen? Nichts gehört? Dass ich nicht lache!“, quälte sich der Schiedsrichter-Beobachter zu einem Bitternis und Enttäuschung nicht verbergen könnenden Lächeln. „Die einen haben sich verdrückt und die anderen haben ihre Ordner-Schleife heruntergerissen und sind zusammen mit der Meute auf den Schieri losgegangen.“
„Sind – vielleicht – halt auch nur Menschen, die Ordner“, stoppte der Richter den sichtlich Aufgebrachten.
„Vielleicht.“
Ärztliche Hilfe
Aus der unterschiedlichen Auffassung über die Rechtmäßigkeit, Korrektheit und Fairness, sein Fahrzeug in einer Parklücke abzustellen, die ein anderer besetzt hält, um seiner Gattin beim Einparken einweisend zur Seite zu stehen, entwickelte sich zwischen dem Besetzer und dem die Besetzung ignorierenden Einparker eine Diskussion, die in eine immer lauter werdende Streiterei ausartete und letztlich in Handgreiflichkeiten gipfelte, im Zuge derer ein Streitteil angeblich verletzt wurde, was den unverletzt gebliebenen Kontrahenten, den zweiunddreißig Jahre alten technischen Angestellten Hubert S., vor den Strafrichter brachte.
Streit um den Parkplatz? Ja!
Beschimpfungen? Ja!
Handgreiflichkeiten? Ja!
Verletzung? Ganz entschieden nein!
Wie oft der Richter auch auf die ärztliche Verletzungsbestätigung hinwies, der Beschuldigte blieb bei seiner jegliche Verletzung ausschließenden Verantwortung: „Wir haben gestritten, haben uns auch gegenseitig geschupft, gestoßen, an der Kleidung erfaßt und gerissen, aber verletzt – nein!“
Der Beschuldigte beharrte auf seinem „Nein“ und wiederholte mehrmals, dass weder er noch sein Kontrahent bei dieser im Rückblick gesehen unnotwendigen Auseinandersetzung verletzt worden sei, was den Richter aber nicht davon abhielt, den Beschuldigten zu verurteilen, wobei er den Schuldspruch primär auf die ärztliche Verletzungsbestätigung stützte, aus der eine zwar geringfügige, aber wegen der beschriebenen Blutunterlaufungen und Schwellungen nicht ganz unerhebliche und daher strafrechtlich nicht ignorierbare Verletzung hervorging.
Der Beschuldigte nahm seine Verurteilung unter Verzicht auf ein Rechtsmittel mit der Zusicherung auf umgehende Bezahlung der über ihn verhängten Geldstrafe zur Kenntnis.
Am späten Vormittag des folgenden Tages erschien der Verurteilte mit nicht zu übersehendem Unterarmgips beim Richter, wies die Einzahlungsbestätigung seiner Geldstrafe vor, erkundigte sich, ob der Richter auch am Nachmittag erreichbar sei, zeigte sich recht gesprächig, wich aber der Frage des Richters nach Umfang und Ursache seiner am Vortag noch nicht vorhandenen Verletzung hartnäckig aus.
Ein paar Stunden später stand der Beschuldigte abermals dem Richter gegenüber. Diesmal ohne Gips. Lachend schlug er sich demonstrativ mehrmals auf den Stunden zuvor eingegipsten Unterarm und beantwortete die am Vormittag unbeantwortet gelassene Frage nach seiner Verletzung mit der aufschlussreichen Erklärung: „Sie haben mich gestern verurteilt, Herr Richter. Ich habe das Urteil angenommen und die Geldstrafe sofort bezahlt. Aber Sie haben mich zu Unrecht verurteilt, weil mein Kontrahent nicht verletzt war. Und weil Sie darauf hingewiesen haben, über die mich belastende ärztliche Bestätigung nicht hinwegzukommen, musste ich Ihnen heute den Wert einer solchen Bestätigung aufzeigen. Ich war heute Vormittag bei meinem Hausarzt und ersuchte ihn um seine ärztliche Hilfe in Form eines eingegipsten Unterarms. Das Ergebnis meines Ersuchens haben Sie gesehen.“
Der Verurteilte zeigte sich verständnisvoll: „Sie können nichts dafür, Herr Richter.“ Und ließ, sich freundlich verabschiedend, einen nachdenklichen Richter zurück.