PIPER

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Neuauflage einer früheren Ausgabe

Übersetzt aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka

ISBN 978-3-492-97654-1

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Grey Eminence«, Chatto & Windus, London 1941

© Mrs. Laura Huxley 1948

© Aldous Huxley 1941

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1982, 1994

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Erstes Kapitel

AUF DER STRASSE NACH ROM

Der Mönch hatte die Kutte hochgeschürzt, und seine nackten Beine waren schlammbespritzt bis zu den Knien. Die Straße glich nach den Regengüssen des Frühjahrs einem Morast. Er erinnerte sich des letzten Mals, als er sie gewandert und sie wie ein Kalkofen gewesen war. Das Gedicht fiel ihm ein, das er auf einer anderen seiner Fußreisen verfasst hatte.

Quand au plus chaud du jour l’ardente canicule

Fait de l’air un fourneau,

Des climats basanés mon pied franc ne recule,

Quoy que je coule en eau.[1]

Jener Sommer des Jahres 1618, als sie zu dritt die Straße nach Spanien eingeschlagen hatten! Der arme Bruder Zeno von Guingamp war in Toulouse am Hitzschlag gestorben. Und eine Woche später, in der Nähe von Burgos, war Pater Romanus an der Ruhr erkrankt. Nach drei Tagen war alles vorbei gewesen. Er war allein nach Madrid gehumpelt. Und allein würde er nun nach Rom hineinhumpeln. Denn Pater Angelus hatte bei den Kapuzinern von Viterbo zurückgelassen werden müssen, zu krank am Wechselfieber, um auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen. Gott lasse ihn bald genesen!

Ni des Alpes neigeux, ni des hauts Pirenées

Le front audacieux

N’a pu borner le cours de mes grandes journées,

Qui tendent jusqu'aux cieux.

Cher Seigneur, si ta main m'enfonça la blessure

De ce perçant dessein,

J’ay droit de te montrer ma tendre meurtrissure

Et descouvrir mon sein.[2]

»La blessure de ce perçant dessein«, wiederholte er vor sich hin. Es war eine besonders glückliche Phrase. Beinahe lateinisch in ihrer Prägnanz – wie eine dieser Wendungen des Prudentius …

Der Kapuziner seufzte tief. Diese Wunde, so überlegte er, war noch immer offen, und er, vom Widerhaken des göttlichen Plans gestachelt, eilte noch immer, fünfzehn Großmeilen täglich zurücklegend, über das Antlitz Europas. Wann würde dieser Plan zur Ausführung gebracht werden? Wann würde es einem zweiten Godefroy de Bouillon gewährt sein, Jerusalem zu erstürmen? Noch eine ganze Weile nicht, allem Anschein nach – nicht bevor diese Kriege nicht vorbei wären, nicht bevor die Gasa d'Austria nicht gedemütigt und Frankreich genügend erstarkt wäre, um die Völker auf dem neuen Kreuzzug anzuführen. Wie lange noch, o Herr, wie lange noch?

Er seufzte abermals, und die Traurigkeit seiner Gedanken spiegelte sich auf seinem Gesicht. Es war das Gesicht eines Mannes in mittleren Jahren, wettergebräunt, hager von selbstauferlegten Mühen und Entbehrungen, gefurcht und abgezehrt von der unaufhörlichen Arbeit des Geistes. Unter der breiten, intellektuellen Stirn waren die weit offenen blauen Augen ein wenig vorgewölbt und hatten etwas Starrendes. Die Nase hatte den kraftvollen Schwung eines Adlerschnabels. Ein langer, ungepflegter rötlicher und schon angegrauter Bart bedeckte Wangen und Kinn; aber der entschlossene Mund mit seinen vollen Lippen deutete auf eine entsprechende feste Formung der Kiefer darunter. Es war das Gesicht eines starken Mannes, eines Mannes von hartem Willen und machtvoller Intelligenz sowie unter der ein Vierteljahrhundert religiösen Lebens lang aufgezwungenen zweiten Natur – auch eines Mannes von machtvollen Leidenschaften und ungestümer Heftigkeit der Gefühle.

Barfuß – denn er hatte die Sandalen abgezogen und trug sie in der Hand – schritt er weiter durch den Schlamm dahin, eingesponnen in seine schwermütigen Gedanken. Dann erkannte er, sich sammelnd, jählings, was er da tat. Wer war er, dass er Gottes Wege bekrittelte? Seine Schwermut war ein Vorwurf gegen die Vorsehung, eine Auflehnung gegen den göttlichen Willen, dem zu gehorchen der einzige Zweck seines Lebens war. Und man musste ihm ohne Widerstreben gehorchen, freudig und von ganzem Herzen. Traurig zu sein war eine Sünde und als solche ein Hindernis zwischen seiner Seele und Gott. Er hielt an und stand, das Gesicht mit den Händen bedeckend, länger als eine Minute da auf der Straße still. Seine Lippen bewegten sich; er betete um Vergebung.

Als er weiterschritt, tat er es in einer Stimmung der Zerknirschung. Der natürliche Mensch, so dachte er, der alte Adam – welch eine nimmerruhende Feindseligkeit gegen Gott trug er doch in den Tiefen seiner Seele und seines Leibes mit sich! Welch eine starre Entschlossenheit zur Sünde! Und wenn die eine Versuchung überwunden war, welche Unerschöpflichkeit in der Kunst des Sündigens, welche Findigkeit im Entdecken von etwas Neuem und noch feiner gesponnenem Bösem, dem man sich ergeben konnte! Nur in stetiger Wachsamkeit lag ein Gegenmittel. Es galt, beständig auf dem Posten zu sein und auf der Hut vor den Kriegslisten des Feindes! Timeo Danaos et dona ferentes.[3] Doch da war auch der große Verbündete, der göttliche Freund, ohne dessen Hilfe die Besatzung unfehlbar dem Untergang preisgegeben war. Oh, bitte ihn herein! Öffne ihm Tür und Tor! Fege die Straßen, und schmücke die Stadt mit Blumengewinden!

Die Sonne kam hinter den Wolken hervor. Der Kapuziner blickte auf und berechnete aus ihrem Stand am Himmel, dass es schon ein wenig nach zwei Uhr sein musste. Rom war noch immer drei Großmeilen entfernt. Es blieb keine Zeit, sich zu verweilen. Er würde seine Vernichtung in dem essenziellen Willen im Weitergehen üben müssen. Nun, es wäre nicht das erstemal!

Langsam und laut sprach er das Vaterunser; dann wandte er sich dem Beginn seiner geistlichen Übung zu, dem Akt reiner Intention. Den Willen Gottes zu tun, den äußeren Willen, den inneren Willen, den wesentlichen Willen; ihn allein Gottes wegen zu tun und ohne Beziehung auf etwas, das er selbst begehrte oder erhoffte oder in dieser Welt oder im Jenseits gewinnen mochte … Sich bei allem, was er dachte und fühlte und tat, zu vernichten, sodass nichts übrig bliebe als nur ein Werkzeug des göttlichen Willens und eine durch Gottes Gnade mit jener göttlichen Substanz, die dasselbe war wie der göttliche, der essenzielle Wille, vereinte Seele! Er hielt sein Denken unentwegt auf diesen Entschluss gerichtet, während er die nächste Viertelmeile oder mehr zurücklegte. Dann kamen wieder Worte. »Mich Gott darzubieten, meine Seele auf sein Kommen vorzubereiten, wachsam und ehrfürchtig. Entblößt jeder anderen Absicht, jedes anderen Gefühls und Gedankens, jeder anderen Erinnerung, mich solcher Ausstrahlung göttlicher Liebe und Erkenntnis zuzuwenden, als Gott mir gewähren mag. Und, auch wenn er mir nichts gewähren sollte, auch wenn es sein Wille wäre, mich ohne Erleuchtung oder Trost zu lassen, mich ihm dennoch mit Dankbarkeit und in vollkommenem Glauben zuzuwenden. »Qui adhaeret Deo, unus spiritus est.«[4]

»Wer ihm anhanget«, wiederholte er, »wer ihm anhanget …«

Von dem Akt der Sammlung und Hinwendung ging er zu dem der Anbetung und Demut über. »Gott um Gottes willen und ohne einen Gedanken an mich selbst …« Denn was war dieses sein Selbst? Ein Nichts – aber ein aktives Nichts, der Sünde fähig und so auch fähig, sich vom All abzuschneiden. Ein aktives Nichts, das zu passivem Nichtsein vernichtet werden musste, wenn Gottes Wille geschehen sollte.

Er hatte hart daran gearbeitet, dieses aktive Nichts zu vernichten, und Gott, in seinem großen Erbarmen, hatte ihm viele Gnaden gewährt: Kraft, um wenigstens der gröberen Regungen seiner Natur Herr zu werden, wahrnehmbare Tröstungen, Visionen und Offenbarungen und, in gewissen Augenblicken, Zutritt zum Rande der göttlichen Gegenwart. Trotz alledem beharrte sein aktives Nichtsein noch immer; er war noch immer der Nachlässigkeit und Unvollkommenheit fähig, ja solcher ausgesprochener Schlechtigkeiten wie der Selbstgefälligkeit bei der Erinnerung an seine eigenen vollbrachten Werke und an Gottes ihm schon erwiesene Gnaden. Der alte Adam wusste, wie er sich sogar die Bemühungen der Seele, den alten Adam zu vernichten, zunutze machen konnte, und war imstande, auf diese Bemühungen stolz zu werden und dadurch deren Erfolg aufzuheben und seinen Widerstand gegen Gott zu verstärken. Ja, selbst die Gnaden Gottes konnten, wenn die Seele nicht unablässig auf der Hut war, in Ursachen des Strauchelns und schwerer Sünden und der Unvollkommenheit verkehrt werden. Der Sohn Gottes, der Fleisch gewordene Quell aller Gnade, wie hatte er seine Göttlichkeit verkündet? Durch Demut, durch Anbetung und Liebe Gottes.

»Liebe, Liebe«, wiederholte der Kapuziner. »Demut und Liebe. Demut des Nichts vor dem All. Liebe und Anbetung des Alls seitens des Nichts. Liebe …«

Seine bloßen Füße, hornig geworden wie die eines Wilden von den unaufhörlichen Märschen und Rückmärschen über die Höhen und Niederungen Europas, planschten durch die Pfützen, traten im Takt der wiederholten Worte ohne zu zucken auf die Steine.

»Liebe, die Liebe Christi, Liebe …« Es hieß, der Kardinal-Neffe habe sich beleidigt gefühlt durch das Benehmen des Gesandten Seiner Allerkatholischesten Majestät. »Die Liebe Christi, die Liebe Christi …« Diese Spanier richteten sich immerzu selber zugrunde durch ihre dumme Anmaßlichkeit. »Liebe, Liebe, Liebe …« Nun, desto besser für Frankreich! Er gewahrte auf einmal, dass die Worte, die er noch immer vor sich hin wiederholte, etwas von seinen Gedanken Getrenntes geworden waren; dass die Flamme, die er gehegt hatte, erloschen war.

»Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe; eins aber ist not.« Er schloss den Kardinal-Neffen und den spanischen Gesandten aus seinem Geist aus und stellte die Verbindung zwischen seinen Gedanken und seinen Worten wieder her. »Liebe, Liebe, Liebe, die Liebe Christi …« Das Flämmchen leuchtete wieder. Er hielt es stetig in Brand, während er die nächste Viertelmeile zurücklegte. Dann war es Zeit, zur Operation überzugehen – zur Zurückweisung zerstreuender Gedanken und dem Entschluss, sie aus dem Geist zu verbannen.

Der Kardinal-Neffe und der spanische Gesandte … Mehr als fünfundzwanzig Jahre waren vergangen, seit Pater Benet of Canfield ihn gelehrt hatte, wie man betete. Mehr als fünfundzwanzig Jahre – und sein Geist stand noch immer nicht völlig unter Beherrschung, die Teufel der Zerrüttung hatten, manchmal, noch immer Macht, sogar in das Heiligtum der Andacht einzudringen. Es gab keine endgültige Abhilfe außer der Gnade Gottes. Mittlerweile konnte man nur den Entschluss fassen, die ablenkenden Gedanken zu verbannen, wann immer sie den Weg durch die Verteidigungsanlagen fanden. Wenn man nicht nachließ in dem Ringen, wenn man sich hart und geduldig mühte, würde es einem zweifellos als Verdienst angerechnet werden. Gott kannte die Schwächen eines Menschen und die Anstrengungen, die der machte, um sie zu überwinden.

Ein aus der Stadt kommender Zug von Tragtieren bimmelte langsam an ihm vorbei. Die Maultiertreiber unterbrachen für einen Augenblick ihr Geplauder und lüpften ehrerbietig den Hut. Halb erblindet durch zu viel angestrengtes Lesen in Büchern und Schriftstücken, sah der Klosterbruder ihre Gebärde als eine verwischte Bewegung gegen den Himmel. Er erkannte deren Absicht und hob segnend die Hand; dann kehrte er abermals zu seiner Andacht zurück.

In der Form der Gebetsandacht, deren er sich zu bedienen pflegte, folgte den vorbereitenden Übungen ein Akt diskursiver Meditation. Heute war die Vollkommenheit, welche er sich zum Thema gewählt hatte, Liebe. Dem festgelegten Verlauf seines Diskurses folgend, wandte er sich vor allem der Betrachtung Gottes als des Quells der Liebe zu. Pater noster, qui es in coelis. Qui es in coelis. Gott, das ewige und unendliche Sein. Doch wenn ein endliches Wesen sich an das unendliche Wesen hingab, wurde das unendliche Sein als Liebe erfasst. So war das unendliche Wesen zugleich ein liebender Vater – aber so empörerischer und undankbarer Kinder, dass sie immerzu alles in ihrer Macht taten, um sich von seiner Liebe auszuschließen. Sie schlossen sich von seiner Liebe aus und schnitten sich durch diesen Akt von ihrer eigenen Seligkeit, ihrem eigenen Heil ab.

»Keinerlei Tugend und Güte«, wiederholte der Kapuziner im Flüsterton, »und auch nicht jenes ewig Gute, das Gott selbst ist, können einen Menschen jemals tugendhaft, gut oder glücklich machen, solange sie außerhalb der Seele bleiben.«

Er hob für einen Augenblick den Kopf. Aus der Lücke blauen, vom Regen gewaschenen Himmels zwischen den Wolken schien die Sonne herrlich hell. Wenn man sich aber dafür entschied, die Augenlider gegen das Licht zu schließen – so – ja, dann war man blind, dann wandelte man in Finsternis. Gott war Liebe; aber das konnte voll nur von einem Menschen erkannt werden, der selber Gott liebte.

Dieser Gedanke diente als Brücke zwischen dem ersten Abschnitt seiner Meditation und dem zweiten, zwischen Gott als Quell der Liebe und seinen eigenen Unzulänglichkeiten als Liebender Gottes.

Er liebte Gott ungenügend, weil er ungenügend losgelöst war von der Welt der Geschöpfe, in der er sein Werk zu verrichten hatte. Factus est in pace locus ejus.[5] Gott kann vollkommen nur von einem Herzen geliebt werden, das geheiligt wurde durch die göttliche Gegenwart, und Gott ist nur in einem Herzen gegenwärtig, das in Frieden ist. Er wird ausgeschlossen durch ängstliche Sorge, auch wenn diese Sorge eine Besorgnis um die Werke Gottes ist. Gottes Werk muss getan werden; wenn es aber nicht im Frieden vollkommener Abgeschiedenheit getan wird, führt es die Seele von Gott weg. Er selbst war dieser vollkommenen Losgelöstheit zu jener Zeit am nächsten gekommen, als sein Werk im Predigen und in geistlicher Unterweisung bestand. Nun jedoch hatte Gott ihn zu diesen schwierigeren Aufgaben in der Welt der großen Ereignisse berufen, und der Friede der Abgeschiedenheit war immer schwerer zu erlangen gewesen. Im WesentlichenWillen Gottes zu weilen, während man etwa mit dem Herzog von Lerma oder dem Prinzen von Condé verhandelte – das war in der Tat schwer. Und doch mussten diese Verhandlungen unternommen werden; sie waren eine Pflicht, und die zu erfüllen, war Gottes äußerer Wille. Vor solchen Aufgaben gab es kein Zurückweichen. Wenn Friede ihn floh, während er sie unternahm, so war seine eigene Schwäche und Unvollkommenheit daran schuld. Jener höchste Grad der Andacht – die aktive Vernichtung des Selbst und alles Geschaffenen im essenziellen Willen des Schöpfers – der war ihm noch immer nicht erreichbar. Dazu gab es kein anderes Mittel als die Gnade Gottes, und es gab keinen anderen Weg, sich die Gnade Gottes zu verdienen, als durch beständiges Gebet, beständige Demut, beständige Liebe. Nur so konnte Gottes Reich in ihm kommen, konnte Gottes Wille geschehen.

Es war Zeit, auf den dritten Abschnitt seiner Meditation überzugehen – nachzudenken über des Heilands Handlungen und Leiden in ihrer Beziehung auf die Liebe Gottes. Fiat voluntas tua.[6] Einmal in der Geschichte der Welt war Gottes Wille geschehen, vollauf und vollständig. Denn Gott war geliebt und angebetet worden von einem, der, selber göttlich, einer ihrem Objekt kommensurablen Devotion fähig war.

Das Bild Golgathas stieg vor dem geistigen Auge des Mönchs auf; das Bild des Kalvarienbergs, das ihn schon immer verfolgt hatte, seit man ihm als kleinem Kind zum erstenmal erzählt hatte, was böse Menschen Jesus angetan hatten. Er hielt das Bild in seiner Vorstellung fest, und es war wirklicher, lebhafter, als was er von der Straße zu seinen Füßen sah. »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« Mitleid und Liebe und Anbetung durchströmten sein ganzes Wesen wie mit einer fühlbaren Wärme, die zugleich eine Art von Schmerz war. Vorsätzlich wandte er sein geistiges Auge ab. Für einen solchen Akt des Gemüts und des Willens war die Zeit noch nicht gekommen. Er hatte erst noch diskursiv die Zwecke zu bedenken, für welche der Heiland gelitten hatte. Er dachte an die Sünden der Welt, seine eigenen inbegriffen, und daran, wie er mitgeholfen hatte, das Kreuz zu zimmern und die Nägel zu schmieden, die Geißel und die Dornenkrone zu flechten, den Speer zu schärfen und das Grab zu graben. Und doch, trotz alledem, liebte der Heiland ihn und hatte liebend gelitten, gelitten, gelitten; hatte gelitten, auf dass der Preis für Adams Sünde gezahlt würde; hatte gelitten, auf dass an seinem Beispiel die Kinder Adams lernten, wie das Böse in sich besiegen. »Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebet.« Wer liebte, dem wurde vergeben; wem vergeben wurde, der wurde des Vergebens fähig; wer selber vergab, vermochte seine Seele Gott zu öffnen; Gott die Seele öffnend, konnte man nun noch inniger lieben; und so vermochte die Seele ein wenig höher zu klimmen auf der ansteigenden Spirale, die zu völliger Gotteinung führte. Ama, et fac quod vis.[7]

»So du nur liebst«, murmelte er, leitete seine Andacht aus Meditation in Affektion über, verwandelte sie aus einem Akt des fortlaufenden Denkens in einen Akt des liebenden, selbstentsagenden Willens. »So du nur liebst.« Er nahm seine eigene Lieblosigkeit, nahm das bösartig aktive Nichts, das er selbst war, und brachte es als Brandopfer dar, auf dass es im Feuer von Gottes Liebe verzehrt würde.

Verliere dein Leben, um es zu gewinnen! Stirb, auf dass das Leben mit Christus in Gott geborgen sei! Stirb, stirb, stirb! Stirb am Kreuze der Abtötung des Fleisches, stirb in der beständigen und freiwilligen Entselbstung leidender und tätiger Vernichtung!

Stirb, stirb, stirb … In einem Akt reiner Zerknirschung erbat er Gottes Verzeihung dafür, dass er noch immer er selbst, Joseph von Paris, und noch nicht völlig das Werkzeug des göttlichen Willens war, auch handelnd noch nicht in Frieden, auch mitten im Tumult weltlicher Geschäfte noch nicht völlig abgeschieden.

Sterben … Hilf mir sterben, hilf mir lieben, auf dass mir geholfen werde, zu sterben! Er legte Lieblosigkeit auf einen inneren Altar und betete, dass sie verzehrt werden möge, dass aus ihrer Asche eine neu geborene Liebe steige.

Hinter ihm kam ein junger Reiter herangetrabt, bunte Federn am Hut, Silberbeschläge am Sattel, zwei Pistolen mit fein damaszierten Kolben in den Halftern. Der unterbrach sein Pfeifen, rief ein freundliches »Guten Tag!« Der Angerufene antwortete nicht, hob nicht einmal den Kopf.

»Wie, ist er taub?«, verwunderte sich der Reiter laut, als er mit dem Mönch auf gleiche Höhe kam. Dann sah er zum erstenmal das Gesicht unter der grauen Kapuze. Der Anblick dieser gesenkten Lider, dieser sich fast unmerklich im Gebet bewegenden Lippen, dieses Ausdrucks intensiver und wie auf einen Brennpunkt eingestellter Ruhe machte den jungen Mann beschämt verstummen. Er murmelte ein Wort der Entschuldigung, zog seinen Hut wie vor einem Bildstock am Weg und bekreuzigte sich; dann gab er dem Pferd die Sporen, und davongaloppierend ließ er den Mönch ungestört seinen Akt der Selbstopferung vervollkommnen.

Wie behutsam das Opfer vollbracht werden musste! Wie zart und zwanglos und allmählich! Es gab Gelegenheiten, wo Gewalt angewendet werden konnte, um das himmlische Königreich zu erobern, aber dies war nicht eine von ihnen. Gewaltsame Vernichtung des Ich würde ihren eigenen Zweck vereiteln, denn solche Gewaltsamkeit gehörte dem bloß menschlichen Willen an, und sie anzuwenden könnte den gegen den göttlichen Willen nur stärken. Diesen Akt der Selbstvernichtung musste ein Mensch irgendwie ohne Anstrengung ausführen, oder er musste ihn vielmehr mit sich ausführen lassen, passiv, vom Willen Gottes …

Was diesen Streit um das Veltlin betraf, so hatte Seine Heiligkeit natürlich mehr Grund, die engere Verbindung zwischen Spanien und Österreich zu fürchten, als den Franzosen darob zu zürnen, dass sie eine päpstliche Besatzung daraus vertrieben hatten. Der Kardinal-Neffe würde wahrscheinlich …

Der Mönch wurde sich abermals bewusst, dass Sorge um Gottes Werk sich wie eine verdunkelnde Wolke zwischen ihn und Gott geschoben hatte. Eine erste Regung leidenschaftlichen Selbstvorwurfs unterdrückend, der diese Verdunkelung nur vollständig machen müsste, verschob er sacht den Brennpunkt seiner inneren Schau und blickte an dem Kardinal-Neffen vorbei und über das Veltlin und Spanien und Frankreich hinweg auf den reinen Willen Gottes jenseits von und über und in diesem allem. Die Wolke entschwebte; er war wiederum dem Licht ausgesetzt. Geduldig, behutsam öffnete er sich dessen reinigenden und verwandelnden Strahlen.

Es verging Zeit, und endlich kam ein Augenblick, wo es ihm schien, dass er nun tauglich war, zum nächsten Stadium der Kontemplation weiterzugehen. Der Spiegel seiner Seele war gereinigt; der Staub und die Dünste, die sich gewöhnlich zwischen den Spiegel und das, was er widerspiegeln sollte, drängten, waren zur Ruhe gebracht oder aufgelöst. Wenn er nun seine Seele Christus zuwendete, würde die göttliche Form klar und ohne blasphemische Verzerrung gespiegelt; das Abbild des gekreuzigten Erlösers wäre in ihm, prägte sich seinem Willen, seinem Herzen, seinem Verstand auf, ein nachzuahmendes göttliches Muster, ein belehrender und belebender Geist.

Beharrlich hielt er das geliebte Bild hinter seinen halb geschlossenen Augenlidern fest; und diesmal gestattete er sich das Glücksgefühl jener bis zu körperlichem Schmerz gesteigerten inbrünstigen Anbetung, jener grenzenlosen Seligkeit und Qual des Mitleidens, von der er sich während des früheren, diskursiven Teils seiner Übung hatte abwenden müssen. Leiden, leiden … Tränen füllten seine Augen. Das Leiden des Gottessohns, Gottes selbst, der Mensch geworden war. Das Leiden, wie es der liebende Retter aller Sünder, und unter ihnen dieses schwärzesten, hatte erdulden müssen. Recede a me, quia homo peccator sum.[8] Und doch kam der Heiland und schloss diesen Aussätzigen in die Arme und kniete vor ihn hin und wusch ihm die Füße. Tu mihi lavas pedes?[9] Diese Füße, die in Schlechtigkeit dahinschritten, die ganz verkrustet sind vom Schmutz der Sünde und Unwissenheit? Ja, und der ihm nicht nur die Füße wäscht, sondern um des Sünders willen sich gefangennehmen, verurteilen, verspotten, geißeln und kreuzigen lässt.

Er kehrte zu dem Golgatha in seinem Herzen zurück, zu all dem Leiden, dem Leiden seines Gottes. Und die Vernichtung, die er erstrebt hatte, schien nun in einer Art von verzückter Hingabe und in Mitleid, Liebe und Schmerz vollbracht zu sein. Er war aufgesogen in eine selige Teilnahme an den Leiden Gottes, der Fleisch gewordem war – des Fleisch gewordenen Gottes und daher zugleich der reinen, essenziellen Gottheit, aus welcher der Gottmensch hervorgegangen war. Jener Leib am Kreuze war das sichtbar gemachte Unsichtbare. Golgatha war in das ungeschaffene Licht getaucht, durchstrahlt davon, gleichen Wesens mit ihm. Aufgesogen in seinen Quell und Urgrund, war der gekreuzigte Christus vernichtet in diesem Licht, und es war nichts mehr da, nur die leuchtende Verklärung von Liebe und Leid. Dann nahm das Licht, sozusagen sich rückverfestigend, wiederum in dem Gekreuzigten Gestalt an, bis eine neuerliche Verklärung Golgatha abermals in der Herrlichkeit, von der es umgeben war, aufgehen ließ.

Im Dahinschreiten maß der Leib des Mönchs mit den bloßen Füßen die Viertelmeilen und Minuten, die Meilen und Stunden. Im Inneren hatte seine Seele den Rand der Ewigkeit erreicht und schaute in einer Ekstase der Anbetung und Seelenpein das Mysterium der Fleischwerdung.

Ein Esel schrie; die Vorreiter einer Kutsche bliesen ihre Hörner; jemand rief laut, und es folgte ein jähes Erschallen weiblichen Gelächters.

Unter der Kapuze des Mönchs entstand ein fernes Bewusstsein dieser Dinge. Die Ewigkeit wich zurück. Zeit und Ich kamen wieder hereingeglitten, um deren Platz einzunehmen. Widerstrebend hob der Pater den Kopf und blickte umher. Seine kurzsichtigen Augen unterschieden ein paar Häuser und die Bewegungen von Menschen und Tieren auf der Straße vor ihm. Er senkte den Blick und wandte sich, um die Erschütterung dieser jähen Rückkehr aus der einen Welt in die andere zu dämpfen, wiederum einer diskursiven Meditation über das Fleisch gewordene Wort zu.

An der Milvischen Brücke war ein Trupp Soldaten postiert worden, damit sie alle von Norden hereinkommenden Reisenden überprüften. Der Kapuziner beantwortete ihre Fragen fließend, aber mit einer fremden Aussprache, die selbst schon Verdacht erregte. Er wurde ins Wachtzimmer geführt, damit er sich ausweise. Der diensthabende Offizier hob beim Eintritt des Mönchs die Hand an den Hut, stand aber nicht auf und entfernte auch nicht seine in Stiefeln steckenden Beine vom Tisch, auf dessen Kante er sie gestützt hatte. Die Arme über der Brust gekreuzt, stand der Reisende vor ihm und erklärte, dass sein Name Pater Joseph und sein Kloster in Paris sei; dass er von seinen Oberen gesandt worden sei, um an einer Versammlung des Generalkapitels seines Ordens teilzunehmen. Der Offizier hörte ihn an und reinigte sich dabei mit einem Zahnstocher aus vergoldetem Silber die Zähne. Als der Kapuziner geendet hatte, griff er abermals an den Hut, rülpste und sagte, dass er selbstverständlich nicht den geringsten Grund habe, an der Wahrheit der Worte des ehrwürdigen Vaters zu zweifeln, aber die Umtriebe gewisser Übeltäter, gewisser Briganten, gewisser (er vollführte eine nachdrückliche Gebärde mit dem Zahnstocher) Feinde Gottes und der Menschen, welche keine Skrupel hegten, ihre Schlechtigkeit unter der Franziskanerkutte zu verbergen, nötigten ihn, nach den Papieren des ehrwürdigen Vaters zu fragen. Der Kapuziner zögerte einen Augenblick und neigte dann einwilligend den Kopf. Er öffnete seine Kutte am Hals und langte in eine Innentasche. Das Päckchen, das er zum Vorschein brachte, war in blauen Seidendamast eingeschlagen und mit einem Weißseidenen Bändchen gebunden. Der Offizier zog die Augenbrauen hoch, als er es entgegennahm, und lächelte dann. Unterm Aufknüpfen des Bändchens bemerkte er in scherzendem Ton, es habe eine Zeit gegeben, wo er die Liebesbriefe seiner Mätresse in just solch einem Päckchen bei sich getragen habe. Nun jedoch, mit einer eifersüchtigen Ehefrau im Bett und seiner Schwiegermutter tatsächlich im selben Haus … Plötzlich wich das Lächeln auf seinem feisten Gesicht einer Miene des Erstaunens und diese einem Ausdruck der Bestürzung. Was er dem Päckchen entnommen hatte, war ein mit dem königlichen Wappen Frankreichs gesiegelter Brief, der in prächtigsten Schnörkeln an Seine Heiligkeit, Urban VIII., gerichtet war. Er blickte beklommen auf den Mönch und wieder auf die formidable Überschrift und das bedeutungsvolle Siegel; dann nahm er mit großem Geklirr und Gepolter die Füße vom Tisch, sprang vom Stuhl auf, schwang den Hut und vollführte einen devoten Kratzfuß.

»Verzeiht mir, ehrwürdiger Vater!«, sagte er. »Wenn ich nur gewusst hätte … Wenn Ihr bloß gleich anfangs klargemacht hättet …«

»Es ist auch ein Brief an Seine Eminenz, den Kardinal-Neffen, darunter«, sagte der Kapuziner. »Und ein anderer, wenn Ihr Euch die Mühe des Nachsehens nehmen wollt, an Seiner Allerchristlichsten Majestät Gesandten. Und schließlich ein Pass, mir ausgestellt und eigenhändig unterschrieben von Seiner Eminenz, dem Kardinal-Minister …«

Bei jedem Namen verneigte sich der Offizier ehrerbietig.

»Wenn ich nur gewusst hätte …« wiederholte er immer wieder, während der Mönch die Briefschaften einsammelte. »Wenn ich nur gewusst hätte …«

Er unterbrach sich, stürzte zur Tür und begann wütend nach seinen Leuten zu rufen.

Als der Kapuziner aus demWachtzimmer trat, gewahrte er, dass zu beiden Seiten seines Wegs über die Brücke eine Kompanie päpstlicher Pikeniere Spalier stand. Er blieb einen Augenblick stehen, erwiderte demütig den Gruß des Offiziers, hob segnend die Hand und eilte dann mit über der Brust gekreuzten Armen und gesenktem Kopf, und ohne nach rechts oder links zu blicken, lautlos auf seinen bloßen Sohlen zwischen der doppelten Reihe von Spießen in die Stadt hinein.

Zweites Kapitel

KINDHEIT UND JUGEND

Die bestimmenden Umstände eines jeden Ereignisses in irgendeinem Teil des Weltalls bestehen aus allen früheren und gleichzeitigen Ereignissen in allen Teilen des Weltalls. Menschen jedoch, die es sich zur Aufgabe machen, die Ursachen dessen, was sich um sie her abspielt, zu erforschen, lassen gewohnheitsmäßig die überwiegende Mehrheit gleichzeitiger und vorangegangener Ereignisse unbeachtet. In jedem besonderen Fall, so behaupten sie, seien nur sehr wenige der bestimmenden Umstände von praktischer Bedeutung. Wo es sich um einfache Ereignisse handelt, ist das wohl wahr. Nehmen wir zum Beispiel das kochende Wasser in einem Kessel. Wir wollen herausfinden, warum es kocht. Wir beginnen unsere Untersuchung, entdecken einen angezündeten Gasring und machen Versuche, die zu beweisen scheinen, das zwischen dem Kochen des Wassers und einem Steigen der Temperatur ein unveränderlicher Zusammenhang bestehe. Worauf wir behaupten, die »Ursache«, dass Wasser in Kesseln koche, sei eine benachbarte Wärmequelle. Diese Feststellung ist zwar roh, genügt aber für die meisten praktischen Zwecke. Bei einfachen Ereignissen können wir alle bestimmenden Umstände, bis auf einen oder höchstens ganz wenige, außer acht lassen und die Ereignisse doch genügend verstehen, um für unsere praktischen Zwecke mit ihnen zu schalten.

Das trifft jedoch nicht zu, wo es sich um komplexe Ereignisse handelt. Hier sind die bestimmenden, praktisch bedeutungsvollen Umstände viel zahlreicher. Die komplexesten Ereignisse, mit denen wir zu tun bekommen, sind Ereignisse der menschlichen Geschichte. Wenn wir zum Beispiel die bestimmenden Umstände des Ersten Weltkriegs feststellen wollen, sind wir gezwungen, auch für solche rein praktische Zwecke wie das Entwerfen einer künftigen Politik eine große Vielfalt von »Ursachen« in Betracht zu ziehen: vergangene und gleichzeitige, örtliche und ferne, psychologische, soziologische, politische und wirtschaftliche. Die vollständige Liste dieser praktisch bedeutungsvollen »Ursachen« aufzustellen und ihre relative Wichtigkeit und die Art ihrer Einwirkungen aufeinander zu erkennen, das ist eine äußerst schwierige Aufgabe. Tatsächlich ist sie so schwierig, dass sie die Fähigkeit des menschlichen Geistes auf seiner gegenwärtigen Entwicklungsstufe bei Weitem übersteigt. Aber leider hat die Unlösbarkeit eines Problems die Menschen niemals davon abgeschreckt, mit größter Zuversicht Lösungen zu verkünden. Die angewendete Methode ist immer dieselbe – übermäßige Vereinfachung. So werden, bis auf die unmittelbaren, alle Vorbedingungen des betrachteten Ereignisses unbeachtet gelassen, und Geschichte wird behandelt, als hätte sie erst gestern begonnen. Zugleich werden in Gedanken alle unbequemen Zusammengesetztheiten abgeschafft. Die Menschen werden zu bequemen Abstraktionen vereinfacht. Verschiedenheiten des Temperaments, der Begabung und der Beweggründe werden zu Gleichheit verflacht. Dem Ereignis wird so der Anschein verliehen, einfach genug zu sein, um eine Erklärung durch einige wenige »Ursachen«, ja, vielleicht nur durch eine einzige zuzulassen. Diese theoretische Schlussfolgerung wird dann als Leitgedanke für künftiges Handeln benützt. Selbstverständlich sind die Ergebnisse enttäuschend.

Übermäßiges Vereinfachen ist verhängnisvoll, und andererseits ist es unmöglich, alle praktisch bedeutsamen Ursachen komplexer Ereignisse ausnahmslos und richtig zu bestimmen. Sind wir also dazu verurteilt, unsere Geschichte nie zu verstehen und daher nie aus den Erfahrungen der Vergangenheit Nutzen zu ziehen? Die Antwort darauf ist, dass unser Verständnis zwar wahrscheinlich nie vollständig sein wird, wir aber doch genug für zumindest einige unserer praktischen Zwecke verstehen lernen können. Wir vermögen zum Beispiel genug über die Ursachen unserer jüngsten Katastrophen zu ermitteln, um (wenn wir das wollen) eine Politik einschlagen zu können, die zumindest etwas weniger selbstmörderisch ist als die in der Vergangenheit befolgte.

Keine Episode der Geschichte kann zu irgendeiner nachfolgenden völlig beziehungslos sein. Aber einige Ereignisse stehen für unsere praktischen Zwecke bedeutungsvoller miteinander in Beziehung als andere. Dieser Mönch zum Beispiel, den wir soeben an der Milvischen Brücke verlassen haben – er scheint, weiß der Himmel, weit genug von allem entfernt zu sein, was uns heute beschäftigt. In Wahrheit aber gehören, wie wir bei ein wenig näherem Einblick in seine Lebensgeschichte finden werden, seine Gedanken, Gefühle und Triebe zu den Voraussetzungen der die Welt, in der wir heute leben, bedeutsam bestimmenden Umstände. Die Straße, auf der seine bloßen, schwieligen Füße hinschritten, führte unmittelbar zu dem Rom Urbans VIII. In weiterer Ferne führte sie zum August 1914 und zum September 1939. In der langen Kette von Verbrechen und Wahnsinn, welche die gegenwärtige Welt an ihre Vergangenheit bindet, ist eines der verhängsnisvoll wichtigsten Glieder der Dreißigjährige Krieg.

Es gab viele, die daran arbeiteten, dieses Kettenglied zu schmieden; keiner mühte sich angestrengter als Richelieus Mitarbeiter François Leclerc du Tremblay, der Religion als Père Joseph de Paris bekannt und der anekdotischen Geschichte als l'Éminence Grise. Das aber ist keineswegs sein einziger Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit. Wäre Pater Joseph nichts anderes gewesen als ein Meister im Spiel der Machtpolitik, es bestünde kein zwingender Grund, ihn aus einer ganzen Anzahl von Konkurrenten herauszuheben. Jedoch das Reich dieses Mönchs war nicht, wie die Reiche gewöhnlicher Machtpolitiker, ausschließlich von dieser Welt. Nicht nur verstandesmäßig, sondern durch tatsächliche, unmittelbare Bekanntschaft wusste er einiges von der anderen Welt, der Welt der Ewigkeit. Er strebte leidenschaftlich danach, ein Bürger des himmlischen Königreichs zu werden, und war das auch in einigem Maß mit einem Teil seines Wesens. Als Einziger von allen Machtpolitikern war Pater Joseph in der Lage, aus den Tiefen seiner eigenen Erfahrung das endgültige, objektive Kriterium beizubringen, nach dem seine Politik beurteilt werden könnte. Er war einer der Schmiede eines der wichtigsten Glieder in der Kette unseres unheilvollen Schicksals, und zugleich war er einer von jenen, denen es gegeben ist, zu wissen, wie das Schmieden solcher Kettenglieder vermieden werden kann. Zwiefach lehrreich, auf dem Gebiet der Politik und dem der Religion, ist sein Leben überdies interessant als das seltsamste aller psychologischen Rätsel – das Rätsel eines Mannes, der leidenschaftlich darum besorgt war, Gott zu erkennen, der vertraut war mit den höchsten Formen christlicher Gnosis, mindestens die vorläuferischen Zustände mystischer Gotteinigung erlebt hatte und daneben in Hofkabalen und internationale Diplomatie verwickelt, eifrig mit politischer Propaganda beschäftigt und von ganzem Herzen einer Politik verschrieben war, deren unmittelbare Ergebnisse an Tod, Elend und sittlicher Entwürdigung überall im Europa des 17. Jahrhunderts deutlich zu sehen waren; einer Politik, unter deren ferneren Folgen die Welt noch heute leidet.

Der Frühling des Jahres 1625 hatte begonnen, als Pater Joseph auf seiner dritten Reise nach Rom südwärts stapfte. Seine Geschäfte dort waren diplomatischer und religiöser Natur. Im Auftrag der französischen Regierung war er gekommen, um über das Veltlin zu verhandeln und über die Pässe, die den unter spanischer Herrschaft stehenden Teil Italiens mit dem Habsburgerreich jenseits der Alpen verbanden. Im Auftrag seines Ordens war er gekommen, um die Erlaubnis zu erhalten, einige Missionen zu gründen. Aus eigenem war er gekommen, um mit dem Papst und dem Kardinal-Neffen über seinen Lieblingsplan eines Kreuzzugs gegen die Türken zu reden. Wo immer er in Rom hinginge, spräche er mit Autorität und würde mit Ehrerbietung und Aufmerksamkeit gehört. Dieser barfüßige Mönch war der vertraute Ratgeber und die rechte Hand des Kardinals Richelieu. Überdies war er, lange bevor Richelieu zur Macht kam, der Vertraute und Agent Marie von Medicis und mehrerer anderer hoher Persönlichkeiten von fast ebensolcher Bedeutung gewesen. Richelieu war erst ein Jahr Präsident des Staatsrats; Pater Joseph von Paris jedoch war seit mehr als zehn bei der römischen Kurie bekannt und geschätzt. Nun, im Jahre 1625, war er achtundvierzig und hatte noch dreizehn Jahre seines Lebens vor sich – dreizehn Lebensjahre, die auch Jahre stetig wachsender politischer Macht werden sollten. Es war ihm bestimmt, bevor die Hälfte dieser Zeit um war, seinen Platz unter den fünf oder sechs bedeutendsten Männern Europas einzunehmen – unter den zwei oder drei am allgemeinsten und heftigsten verabscheuten. Aber bevor wir den späteren Stadien dieser seltsamen Laufbahn nachgehen, wollen wir zu ihrem Beginn zurückkehren.

François Leclerc du Tremblay wurde am 4. November 1577 geboren, als ältester Sohn des Jean Leclerc, der Kanzler des Herzogs von Alençon und Premier Président des Requêtes au Parlement de Paris war, und der Marie de La Fayette, seiner Ehefrau, Auf der Vaterseite entstammte er einer hervorragenden Linie von Juristen und Verwaltungsbeamten. Die Familie seiner Mutter gehörte nicht zur noblesse de robe sondern zum Landadel. Claude de La Fayette, ihr Vater, war der Besitzer von vier Baronien, wovon eine seinem Enkel François hinterlassen wurde, der während seines kurzen Aufenthalts am Hof unter dem Namen eines Barons de Maffliers bekannt war. Claude de La Fayette und seine Gemahlin, Marie de Suze, waren Calvinisten, aber da sie mit sechs Töchtern und, trotz den vier Baronien, nur wenig Geld gesegnet waren, hatten sie Marie katholisch erziehen lassen, damit sie in ein Kloster eintreten und ihnen so die Auslagen für eine Mitgift ersparen könnte. Nebenbei sei bemerkt, dass solche Transaktionen im Frankreich jener Zeit keine Seltenheit waren. Religions- und Bürgerkriege mochten ausgefochten, Hugenotten abwechselnd massakriert und geduldet werden, aber die ganze Zeit behielten französische Familien unerschütterlich weiter ihren Vorteil im Auge. So erzogen in Landesteilen, wo Katholiken und Protestanten ziemlich gleich verteilt waren, Eltern ihre Töchter ohne eine bestimmte Religion. Sobald ein annehmbarer Freier auftauchte, konnte ein Mädchen immer noch geschwind in demjenigen Glauben unterwiesen und konfirmiert werden, zu dem sich der zukünftige Ehemann, wie es sich traf, bekannte. Keine sehr »heroische« Weise, Unterschiede des Bekenntnisses in einer gemischten Gemeinschaft auszugleichen; aber sie wirkte jedenfalls und förderte Frieden und Ruhe.

Es ist seit einiger Zeit Mode, zu glauben, dass die Ursachen von Zwistigkeiten meist, ja sogar ausnahmslos wirtschaftliche seien. Das ist bei Weitem nicht wahr. Viele Streitigkeiten sind ihrem Ursprung nach rein ideologisch. In solchen Fällen greifen Erwägungen wirtschaftlicher Vorteile oft auf die glücklichste Weise ein und mildern die Wut theologischen Hasses. Marie de La Fayette wurde vor dem Kloster durch eine entfernt Verwandte ihrer Mutter gerettet, durch keine geringere Persönlichkeit als die ehemalige Favoritin Franz' I., Anna, Herzogin von Étampes. Diese ausgediente königliche Konkubine war nun eine wohlwollende alte Dame von nahezu siebzig Jahren und eine gute Freundin der Leclercs. Sie war es, die die Heirat zwischen ihrer jungen Verwandten und Jean Leclerc einfädelte, sie war es, die Maries kärgliche Mitgift durch eine beträchtliche Verschreibung aus ihrer eigenen Tasche ergänzte. Die Ehe, welche sich als glücklich erwies, wurde im Jahre 1574 geschlossen, und das erste Kind kam, wie wir sahen, 1577 zur Welt und wurde auf den Namen François getauft. (Wer weiß, vielleicht war die Wahl dieses Namens als ein zartes Kompliment für die alte Herzogin gemeint?) Eine Schwester, Marie, kam im folgenden Jahr zur Welt. Charles, das jüngste von den drei Kindern der Leclercs, wurde erst 1584 geboren.

François entpuppte sich, als er über das erste Kindesalter hinaus war, als ein seltsamer und sehr bemerkenswerter kleiner Knabe. Aktiv und introvertiert zugleich, war er gern rege und tätig, hatte es aber auch gern, in Ruhe gelassen zu werden, um seinen Gedanken nachhängen zu können. Sogar in Gesellschaft anderer mit sich allein, lebte er in wer weiß was für einer eigenen Welt. Diese Abgeschiedenheit war jedoch nicht unvereinbar mit starken Gefühlen. Er liebte Vater und Mutter leidenschaftlich; er war seinem Heim, den Dienern der Familie, den Pferden und Hunden, den Tauben und zahmen Enten und den Falken aufs innigste zugetan. Heftige Regungen, Stürme verzehrender Leidenschaften, nicht nur der Liebe sondern auch des Hasses und Zornes, waren ein wichtiges Element jener eigenen Welt; aber sogar in seiner Kindheit tobten sie hinter einer eisernen Mauer von Selbstbeherrschung, von gewollter Zurückhaltung, und blieben unausgedrückt in Worten oder den zahllosen kleinen Handlungen, durch die ein nach außen gekehrtes Naturell seinen Gemütsbewegungen so leicht Luft macht. François »ließ sich gehen« nur in Situationen, in die andere Menschen nicht unmittelbar und nicht persönlich verwickelt waren. Er konnte glühend begeistert sein von Dingen oder Ideen ; aber er schrak vor allem zurück, was er als das Unanständige einer Äußerung gefühlvoller Vertraulichkeit mit anderen Menschen empfand.

An Verstand war der Knabe fast übernatürlich wach und frühreif. Im Alter von zehn Jahren wurde er von seinen Lehrern dazu ausersehen, eine stundenlange Leichenrede auf Ronsard zu halten, in lateinischer Sprache und vor einer großen und illustren Versammlung. Wenn die große und illustre Versammlung fähig gewesen wäre, ihn zu verstehen, hätte er eine gleich wirkungsvolle Rede auch auf Griechisch halten können, in einer Sprache, die er in fast ebenso frühem Alter wie John Stuart Mill erlernt hatte, und nach derselben gesprächsweisen Methode, die angewendet worden war, um Montaigne sein Latein zu lehren.

Hand in Hand mit seiner intellektuellen Frühreife ging ein nicht weniger außerordentliches Fortgeschrittensein in Religiosität. Im Alter von vier Jahren, so wird uns erzählt, wurde das Kind eines Tages an die Tafel gebracht, als seine Eltern eine Gesellschaft hervorragender Gäste bewirteten. Wir wollen versuchen, uns die Szene vorzustellen, sie aus dem telegrammartigen Kurzstil, worin Pater Josephs erster Biograf sie verzeichnete, in eine den beschriebenen Ereignissen ein wenig angemessenere Sprache zu übertragen.

Seiner stolzen, aber ziemlich besorgten Mutter zunächst sitzt der winzige Knabe, bereits in die Miniaturausgabe der Tracht eines Erwachsenen gekleidet, und sieht fast unziemlich »putzig« aus in seinem weinfarbenen Wams und der gestärkten Halskrause. Vom anderen Ende der Tafel her heißt sein Vater ihn aufstehen, und er gehorcht mit einem kindlich feierlichen Ernst, von dem alle entzückt sind. Man fragt ihn, was er zu tun gedenke, sobald er ein Mann wäre; ob er seine kleine Schwester gern habe; wann er reiten lernen werde. Zuletzt stellt ihm ein Stadtrichter eine zweideutige Frage. Die Unschuld der Antwort erweckt ein Gelächter, das zu verstehen der Knabe völlig unfähig ist. Tränen kommen ihm in die Augen; die Mutter nimmt ihn auf den Schoß und küßt ihn. Die Gäste wenden sich wieder dem Essen zu, und das Kind wird auf seinen Sessel gesetzt und erhält eine Süßigkeit, die es schweigend verzehrt. Seine Anwesenheit ist vergessen. Dann plötzlich, in einer Gesprächspause, ruft er über die Tafel seinem Vater zu, ob er ihnen allen etwas sagen dürfe. Marie will es ihm verbieten, aber Jean Leclerc ist nachsichtig; der kleine François möge ihnen erzählen, was er wolle. Das Kind klettert auf den Stuhl, auf dem es gesessen. Lächelnd bereiten sich die Gäste darauf vor, den Kleinen zu necken und ihm Beifall zu spenden. Nach den ersten paar Worten werden ihre Gesichter plötzlich ernst, und sie lauschen schweigend und tief betroffen. Der kleine Knabe erzählt ihnen eine Geschichte, die er kurz vorher von einem der Bediensteten des Hauses gehört hat, die Geschichte der Passion. Er erzählt von der Geißelung, von der Dornenkrone. Als er die Kreuzigung beschreibt, zittert seine Stimme, und auf einmal bricht er mit ununterdrückbarem Schluchzen zusammen. Seine Mutter nimmt ihn auf den Schoß und versucht, ihn zu trösten, aber für dieses Elend scheint es keinen Trost zu geben. Zuletzt muss sie ihn aus dem Zimmer tragen.

Das Kind ist des Mannes Vater. Diesem, durch die Geschichte vom Tode des Heilands so tief erschütterten kleinen Knaben war es bestimmt, Mitbegründer und für viele Jahre Guardian und geistlicher Ratgeber einer neuen reformierten Nonnenkongregation zu werden, der Filles du Calvaire, die vornehmlich die leidende Mutter am Fuße des Kreuzes verehrten. Es war ihm auch bestimmt, ein Staatsmann zu werden, der in der gefährlichsten Art von Machtpolitik aufging und allem Anschein nach völlig gleichgültig blieb gegen die entsetzlichen Leiden, für die seine Politik verantwortlich war. Das über Jesus in Tränen ausbrechende Kind, der selber meditierende Erwachsene, welcher andere lehrt, über die auf dem Kalvarienberg erduldeten Leiden zu meditieren – waren sie Vater und Bruder des Mitarbeiters Richelieus, des Mannes, der alles in seiner Macht tat, um den Dreißigjährigen Krieg zu verlängern? Das ist eine Frage, auf die wir an der richtigen Stelle eine Antwort zu finden versuchen müssen. Inzwischen gilt unsere unmittelbare Beschäftigung dem Leben eines Knaben im 16. Jahrhundert.

Im Alter von acht Jahren wurde François du Tremblay in eine Pensionatsschule nach Paris geschickt. Oder er kam vielmehr auf seinen eigenen Wunsch dahin, denn tatsächlich verlangte er, sein Elternhaus zu verlassen, weil er von seiner Mutter verwöhnt werde, qui en voulut faire un délicat. Abermals ist das Kind des Mannes Vater. Aus diesem kleinen Spartaner sollte im Mannesalter der streitbare Kapuziner werden, der eifrig alle Arten überpflichtiger Kasteiung auf sich nahm; er sollte heranwachsen zu dem tonsurierten, barfüßigen Politiker, der sich sogar auf der Höhe seiner Macht, sogar in der äußersten Schwäche von Krankheit und Erschöpfung beharrlich weigerte, für sich selbst von irgendeiner Milderung der franziskanischen Regel seines Ordens Gebrauch zu machen.

Im Collège de Boncourt lernte François noch mehr Griechisch und Latein und wurde gewiss so erbarmungslos geprügelt, eingeschüchtert und unterernährt wie andere kleine Knaben in den meisten Pensionatsschulen jener Zeit. Unter seinen Mitschülern und Freunden in Boncourt war einer, von dem wir in einem späteren Kapitel dieses Buchs noch recht viel hören werden, nämlich Pierre de Bérulle, künftiger Kardinal, Stifter der Gesellschaft des Oratoriums und einflussreichster Vertreter der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts blühenden französischen Schule der Mystik. Wie François, so war auch Pierre von frühreif ernster Veranlagung. Von Kindheit an war seine Frömmigkeit zugleich glühend und verständig, spontan und gelehrt gewesen. Mit zwölf Jahren, so berichtet eine junge Protestantin, die später Karmeliterin wurde, konnte er Theologie erörtern wie ein Doktor der Sorbonne. Mit achtzehn war er ein so mächtiger und scharfer Disputant, dass hugenottische Pastoren sich fürchteten, ihm in öffentlichen Glaubensgesprächen gegenüberzutreten.

Pierre war zwei Jahre älter als François, sogar noch intelligenter und nicht weniger frühreif. Überdies war er, gleich dem Jüngeren Knaben, bereits leidenschaftlich religiös und über seine Jahre ernst. Ihre Freundschaft war die Freundschaft zweier künftiger Theologen und Mystiker. Man kann sich diese beiden seltsamen Kinder vorstellen, wie sie abseits in einem Winkel des von hohen Mauern umgebenen Spielplatzes der Schule beieinanderhocken. Die anderen Knirpse spielen Ball oder tauschen diese einfältigen Witzeleien, die kleine Jungen so auserlesen komisch finden ; mit leidenschaftlichem Ernst und hohen Diskantstimmen disputieren Pierre und François über die tiefsten Probleme der Metaphysik und Religion.