Tad Williams

Der letzte König von Osten Ard 2

Aus dem Amerikanischen von
Cornelia Holfelder-von der Tann
und Wolfram Ströle

Klett-Cotta

Wegen des großen Textumfangs erscheint Das Reich der Grasländer. Der letzte König von Osten Ard 2 in zwei Teilbänden.

Die Übersetzung der Kap. 1–​14 und 32–​43 entstand mit Unterstützung des Europäischen Übersetzerkollegiums Straelen und der Kunststiftung NRW.

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Empire of Grass.

The Last King of Osten Ard« im Verlag DAW Books, New York

© 2019 by Beale Williams Enterprise

© Karten by Isaac Stewart

Für die deutsche Ausgabe

© 2020, 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg

Illustration: © Max Meinzold, München

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98501-6

E-Book: ISBN 978-3-608-11608-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Widmung

Wer die ganze Widmung lesen will, findet sie in der Hexenholzkrone.

Für den, der das Buch gerade nicht zur Hand hat, fasse ich kurz zusammen: Die ganze Geschichte, Serie, Trilogie – wie immer man sie nennen will – ist meinen Lektorinnen (und Freundinnen) Betsy Wollheim und Sheila Gilbert gewidmet und meiner Frau (und besten Freundin) Deborah Beale. Ohne diese drei wäre mein Leben anders und viel weniger glücklich.

Zusammenfassung von Die Hexenholzkrone 1 und 2

Über dreißig Jahre sind in Osten Ard vergangen, seit der verheerende Sturmkönigskrieg endete – ein Krieg, der beinahe das Ende der Menschheit bedeutet hätte. König Simon und Königin Miriamel, beim Sieg über den Sturmkönig fast noch Kinder, herrschen jetzt auf dem Hochthron über die Länder der Menschen, aber sie haben den Kontakt zu ihren einstigen Verbündeten, den unsterblichen Sithi, verloren. Tanahaya, die erste Sithi-Gesandte seit Kriegsende, wird auf ihrem Weg zum Hochhorst, dem Sitz des Hochkönigspaars, aus dem Hinterhalt überfallen und durch Giftpfeile schwer verletzt.

Während der Gelehrte Tiamak, Ratgeber und enger Freund des Hochkönigspaars, zusammen mit seiner Frau Thelía das Leben der Sitha zu retten versucht, sind Miriamel und Simon auf einer Hochkönigsreise, die sie zuerst in das Nachbarland Hernystir und zu dessen König Hugo führt. Hugo und seine neue Geliebte, Gräfin Tylleth, irritieren das Hochkönigspaar mit ihrem Verhalten. Königinwitwe Inahwen warnt Graf Eolair, die Hand des Throns, dass Hugo und Tylleth den Kult der Morriga wiederbelebt haben, einer mörderischen alten hernystirischen Göttin.

Auch auf der Hochkönigsreise hat Prinz Morgan, Simons und Miriamels Enkel, nichts anderes im Kopf, als mit seinen Kumpanen Astrian, Olveris und dem alten Porto zu trinken und sich mit jungen Frauen zu amüsieren. Morgans Vater, Prinz Johan Josua – Simons und Miriamels einziges Kind – ist vor einigen Jahren an einer seltsamen Krankheit gestorben. Hinterblieben sind seine Kinder Morgan und die kleine Lillia, seine Witwe Idela und das immer noch trauernde Hochkönigspaar.

Wenn Tiamak gerade nicht die vergiftete Sithi-Gesandte pflegt, sammelt er Bücher für eine Bibliothek, die er zum Gedenken an Johan Josua errichten will. Als sein Gehilfe Bruder Etan die Habseligkeiten des verstorbenen Prinzen durchsieht, findet er ein verbotenes, verrufenes Buch: Abhandlung über die ätherischen Flüsterstimmen. Tiamak ahnt Böses, weil die Abhandlung einst dem Schwarzmagier Pryrates gehörte, der zusammen mit dem Sturmkönig die Vernichtung der Menschheit plante, was allerdings scheiterte.

Der Friede, der Simons und Miriamels Herrschaftszeit prägte, ist zunehmend bedroht. Im eisigen Norden, in der Höhlenstadt Nakkiga unter dem Berg Sturmspitze, ist die Nornenkönigin Utuk’ku aus einem langen magischen Schlaf erwacht. Ihr wichtigster Getreuer, der Zauberer Akhenabi, beordert Viyeki, den Großmagister der Bauleute, zu einer Audienz bei der Königin, die erklärt, dass sie einen neuen Angriff auf die Sterblichenlande plant. Bei einer bizarren Zeremonie wird Ommu, eine Dienern des Sturmkönigs, die beim gescheiterten Angriff der Nornen auf den Hochhorst umkam, von der Nornenkönigin wieder zum Leben erweckt.

In Elvritshalla, der Hauptstadt von Rimmersgard, treffen Simon und Miriamel ihren alten Verbündeten Sludig und dessen Frau Alva sowie ihre Qanuc-Freunde Binabik und Sisqi wieder. Sie lernen auch die Tochter des Trollpaars, Qina, und deren Verlobten Klein-Snenneq kennen.

Das Hochkönigspaar kommt gerade noch rechtzeitig nach Elvritshalla, um Abschied vom sterbenden Herzog Isgrimnur zu nehmen, der Simon und Miriamel zuletzt noch bittet, die Suche nach Prinz Josua (Miriamels Onkel, Simons Mentor und Johan Josuas einem Namenspaten) sowie dessen Frau Vara und den Zwillingskindern Derra und Deornoth wieder aufzunehmen – alle vier sind vor zwanzig Jahren auf ungeklärte Art verschwunden. Klein-Snenneq, der von Binabik zum Singenden Mann ausgebildet wird, lernt Morgan kennen und prophezeit, dass er für Morgan genauso wichtig werden wird, wie es Binabik für dessen Großvater, König Simon, war.

Auf einer Burg in Südrimmersgard, wo das Hochkönigspaar und sein Hofstaat auf der Rückreise übernachten, wird Simon bewusst, dass er seit langem nicht mehr geträumt hat. Zur Abhilfe gibt ihm Binabik einen Talisman. In dieser Nacht träumt Simon von seinem toten Sohn und von der Stimme des Mädchens Leleth, die er schon vor dreißig Jahren in Träumen gehört hat. Leleth sagt: »Die Kinder kehren zurück.« Nachdem Simon durch sein Schlafwandeln den ganzen Haushalt erschreckt hat, zerstört Miriamel den Talisman, und Simon verliert wieder die Fähigkeit zu träumen.

Noch weiter im Norden wird die Opfermutige Nezeru, Tochter des Nornenadligen Viyeki und seiner menschlichen Geliebten Tzoja, als Teil einer »Hand« genannten Gruppe von Nornenkriegern ausgeschickt, die Gebeine von Hakatri, dem Bruder des besiegten Sturmkönigs Ineluki, nach Nakkiga zu holen. Angeführt von Makho finden Nezeru und ihre Kameraden die Gebeine, die von den sterblichen Inselbewohnern verehrt werden, und entführen sie. Auf der Flucht vor den Inselbewohnern schafft es Nezeru nicht, ein Kind zu töten, und wird dafür von Makho streng bestraft.

Doch bevor die Hand die Gebeine nach Nakkiga bringen kann, trifft sie auf den Erzzauberer der Königin, Akhenabi, der die Gebeine übernimmt und die Hand mit dem neuen Auftrag, das Blut eines lebenden Drachen zu beschaffen, auf den Berg Urmsheim schickt. Als Unterstützung gibt er dem Trupp den versklavten Riesen Goh Gam Gar mit.

Auf dem Weg zum Berg Urmsheim begegnet die Hand dem Sterblichen Jarnulf, der einst Sklave in Nakkiga war und geschworen hat, die Nornen und ihre unsterbliche Königin Utuk’ku zu vernichten. Da die Hand ihren Echo – ihren ausgebildeten Nachrichtenübermittler – verloren hat, kann Jarnulf die Nornen überzeugen, ihn als Führer mitzunehmen, wobei er jedoch seine eigenen Ziele verfolgt. Der Trupp zieht zu dem Berg, der die letzte bekannte Heimstatt von Drachen ist, und unterwegs hört Jarnulf die Nornen darüber reden, dass ihre Königin die Sterblichen besiegen will, indem sie etwas namens »Hexenholzkrone« zurückerlangt.

In Zentralrimmersgard trifft die Nornenhand auf die königliche Reisegesellschaft, und Jarnulf kann Miriamel und Simon heimlich die Botschaft zukommen lassen, dass die Nornenkönigin nach der geheimnisvollen Hexenholzkrone sucht. Simon, Miriamel und ihre Ratgeber sind alarmiert: Sie haben genügend Anzeichen für die wiedererwachte Aggression der Nornen wahrgenommen, um Jarnulfs Botschaft ernst zu nehmen, obwohl sie noch nie von ihm gehört haben.

In Nabban kümmert sich eine Wranna namens Jesa um Serasina, die kleine Tochter von Herzog Saluceris und Herzogin Canthia, loyalen Verbündeten des Hochthrons. Allerdings leidet Nabban unter wachsenden Spannungen: Graf Dallo Ingadaris paktiert mit dem Bruder des Herzogs, Graf Drusis. Sie schüren die Angst vor den nomadischen Thrithingbewohnern, deren Lande an Nabban grenzen. Drusis beschuldigt Saluceris, zu feige zu sein, um die Barbaren in ihre Schranken zu weisen und tiefer in ihr Grasland zurückzutreiben.

Unterdessen überfallen Thrithingmänner eine nabbanaische Siedlung. An dem Überfall beteiligt sind der grauäugige Unver, ein adoptiertes Mitglied des Kranich-Clans, und sein Clanbruder Fremur. Bei der anschließenden Flucht rettet Unver Fremur das Leben, vielleicht auch deshalb, weil er sich Hoffnungen macht, Fremurs Schwester Kulva heiraten zu können.

Der hernystirische Ritter Aelin erreicht die königliche Reisegesellschaft mit Briefen für seinen Großonkel, den Grafen Eolair. Großkanzler Pasevalles, Eolairs temporärer Vertreter auf dem Hochhorst, schreibt von seinen Befürchtungen, Nabban betreffend, und Königinwitwe Inahwen von Hernystir berichtet, dass König Hugo und Gräfin Tylleth immer offener die Verehrung finsterer alter Gottheiten betreiben. Eolair schickt Aelin mit diesen schlechten Nachrichten zu einem vertrauenswürdigen Verbündeten, dem Grafen Murdo. Doch wegen eines Unwetters übernachten Aelin und seine Männer in einer Grenzfestung unter dem Befehl von Baron Curudan, einem Hauptmann der Elitetruppe König Hugos. In der Nacht sieht Aelin außerhalb der Festung schemenhaft ein großes Heer von Nornen, und er beobachtet, wie Curudan sich mit diesen schlimmsten Feinden der Menschheit trifft. Doch ehe Aelin und seine Männer losreiten und diesen Verrat melden können, werden sie von Curudans Soldaten festgesetzt.

In der Nornenstadt Nakkiga wird Viyeki mit seinen Bauleuten von Akhenabi auf eine geheime Mission in die Sterblichenlande geschickt, begleitet von einer kleinen Nornenstreitmacht. Tzoja erkennt, dass sie in Viyekis Abwesenheit in Lebensgefahr ist, denn Viyekis Frau Khimabu hasst sie, weil Tzoja ihm ein Kind – Nezeru – geboren hat, während Khimabu keines bekommen konnte. Tzoja weiß, sie muss fliehen, wenn sie überleben will.

Als Tzoja an ihre Zeit bei den Astalinischen Schwestern in Rimmersgard und an ihre Kindheit in Kwanitupul zurückdenkt, wird klar, dass sie in Wirklichkeit Derra ist, eins der verschwundenen Zwillingskinder des Prinzen Josua und seiner aus den Thrithingen stammenden Frau Vara. Tzoja flieht in Viyekis leerstehendes Festzeithaus an einem See in einer Höhle tief unter der Stadt.

Als die königliche Reisegesellschaft wieder auf dem Hochhorst ist, ersuchen Simon und Miriamel den Ratgeber Tiamak, Isgrimnurs letzte Bitte zu erfüllen und eine neue Suche nach Prinz Josua und dessen Familie einzuleiten. Tiamak schickt seinen Gehilfen Bruder Etan in den Süden, um herauszufinden, was vor zwanzig Jahren passiert ist.

Indessen erklettert Morgan, von Snenneq herausgefordert, den verrufenen Hjeldinsturm und kommt dabei beinahe um. Er glaubt, ganz oben im Turm den längst verstorbenen Pryrates gesehen zu haben, und nimmt Klein-Snenneq ein Schweigeversprechen ab.

Die Anzeichen für neue Angriffspläne der Nornen mehren sich, und Simon und Miriamel erkennen, dass diese uralten Feinde mit ihren magischen Kräften zu stark sind, um ihnen allein entgegenzutreten. Daher beschließen sie, Kontakt mit den Sithi aufzunehmen, speziell mit ihren alten Verbündeten Aditu und Jiriki. Auf Simons Drängen willigt Miriamel widerstrebend ein, Prinz Morgan mit Eolair und einem Trupp Soldaten in den Wald Aldheorte zu schicken, um die Sithi zu finden und ihnen die Gesandte Tanahaya zu übergeben, damit sich Sithi-Heilerinnen weiter um sie kümmern können.

Viyeki zieht von Nakkiga in Richtung der Sterblichenlande, begleitet von einer Nornenstreitmacht, die die Sterblichenfestung Naglimund anzugreifen plant. Viyeki erfährt, dass er und seine Bauleute das unter der Festung gelegene Grab des legendären Tinukeda’ya Ruyan Ve ausgraben und dessen magische Rüstung bergen sollen. Viyeki kann sich nicht vorstellen, wie das gehen soll, ohne einen neuen Krieg mit den Sterblichen zu verursachen. Die Tinukeda’ya oder »Wechselwesen« kamen einst mit den Sithi und Nornen nach Osten Ard, sind aber von anderer Art als diese Unsterblichen. In Osten Ard haben die Tinukeda’ya vielerlei Gestalt angenommen und verschiedene Aufgaben erfüllt.

Prinz Morgan und Graf Eolair können schließlich am Rand des Aldheorte tatsächlich Kontakt mit den Sithi aufnehmen. Die Unsterblichen haben ihre Siedlung Jao é-Tinukai’i verlassen, und ihre Matriarchin Likimeya ist, nachdem sie von Sterblichen angegriffen wurde, in einen tiefen, magischen Schlaf gefallen. Khendraja’aro aus dem herrschenden Sithi-Geschlecht namens »Haus der Tanzenden Jahre« hat sich selbst zum Protektor seines Volkes ernannt und weigert sich, den Sterblichen zu helfen, was zu Reibereien mit Likimeyas Kindern Jiriki und Aditu führt. Aditu ist schwanger, bei den Sithi eine Seltenheit. Der Kindsvater ist Yeja’aro, Neffe und militanter Anhänger Khendraja’aros.

In den Thrithingen tötet Unver seinen Rivalen um Fremurs Schwester Kulva im Zweikampf. Kulvas Bruder, Than Ordrig, will seine Schwester jedoch keinem Außenseiter geben und schneidet ihr stattdessen die Kehle durch. Unver tötet Odrig, flieht aus dem Kranich-Clan und kehrt in den Hengst-Clan seiner Mutter Vara zurück. Unver, so erfahren wir, ist in Wirklichkeit Deornoth, das andere Zwillingskind von Josua und Vara. Als Unver von seiner Mutter wissen will, warum er weggeschickt wurde und wo seine Schwester geblieben ist, erklärt ihm Vara, er sei auf Befehl ihres Vaters, des Thans Fikolmij, weggeschickt worden und Derra sei kurz danach weggelaufen.

Than Gurdig, Ehemann von Varas Schwester Hyara und Fikolmijs Nachfolger, greift Unver an, und in der allgemeinen Verwirrung tötet Vara ihren inzwischen alten und siechen Vater Fikolmij. Ein riesiger Krähenschwarm taucht aus dem Nichts auf und attackiert Gurdig und seine Männer, woraufhin viele Thrithingbewohner behaupten, Unver sei der neue Shan, der Herrscher über die gesamten Thrithinge. Unver tötet Gurdig und wird neuer Than des Hengst-Clans.

Hoch im Nordosten schaffen es Makhos Hand und Jarnulf, einen jungen Drachen zu fangen, aber der Mutterdrache taucht auf und es gibt einen Kampf, bei dem Handführer Makho von Drachenblut schwer verbrannt wird und ein anderes Mitglied der Hand umkommt. Die Übrigen machen sich daran, den jungen Drachen den Berg hinabzutransportieren.

Eolair und Morgan kehren von der Mission bei den Sithi in ihr Lager am Rand des Aldheorte zurück, aber ihr Begleittrupp wurde inzwischen überfallen. Alle Soldaten sind getötet worden, und es sind immer noch Thrithingbewohner vor Ort, um zu plündern. Eolair und Morgan werden getrennt, und der Prinz irrt allein durch den Aldheorte.

Auf dem Hochhorst werden Simon und Miriamel zu einer wichtigen Hochzeit in das von Unruhen zerrissene Herzogtum Nabban eingeladen. In der Hoffnung, die Präsenz des Hochkönigspaars werde zur Schlichtung des Konflikts zwischen Herzog Saluceris und dessen Bruder Drusis beitragen, nehmen sie die Einladung an. Wegen der wachsenden Nornengefahr und beunruhigender Nachrichten aus Hernystir können sie nicht beide reisen, also beschließen sie, dass Miriamel zu der Hochzeit fährt und Simon auf dem Hochhorst bleibt.

Großkanzler Pasevalles trifft seine heimliche Geliebte, Johan Josuas Witwe Idela. Als sie ihm einen Brief aus Nabban gibt, den er verloren hat, sieht Pasevalles, dass das Siegel erbrochen ist. Er befürchtet, dass Idela den Brief gelesen hat und stößt sie die Treppe hinunter. Als er feststellt, dass der Sturz sie nicht getötet hat, bricht er ihr das Genick.

Im Aldheorte erholt sich die Sitha Tanahaya endlich von ihrer schweren Vergiftung und ist nun wieder bei Jiriki und Aditu. Trotz ihrer Genesung sieht die Zukunft düster aus, denn es ist klar, dass die Nornenkönigin Utuk’ku einen Krieg gegen die Sithi und die Menschenwelt plant.

Vorwort

Als Tanahaya die Höhle betrat, die sie den Yásira nannten, war sie verwirrt. Alles fühlte sich falsch an. Einen Moment lang zweifelte sie sogar an sich und ihrer Entscheidung.

Die leuchtenden Flieger sind hier, dachte sie beim Anblick der dicht an dicht sitzenden Schmetterlinge, aber sie sind so langsam und so traurig! Der Stein über uns und um uns herum trennt sie von Sonne und Wind. Sie sind begraben wie die Sa’onsera selbst. Sie blickte auf die verhüllte Likimeya, die nicht tot war, aber auch nicht bloß schlief, und fühlte eine große Leere. Die ganze Welt ist aus den Fugen. Wie soll in solchen Zeiten irgendjemand wissen, was richtig und was falsch ist?

Die heiligen Schmetterlinge bedeckten die Wände und die Decke der Höhle wie eine Tapisserie aus lebenden Edelsteinen, in mehr Farben, als selbst die scharfäugige Tanahaya zählen konnte. Das leise Rascheln ihrer Flügel klang in der Stille wie sachter Wind, der die Baumwipfel liebkost.

Likimeyas Tochter Aditu kam herbei und nahm kurz Tanahayas Hand. »Jiriki ist auch hier«, erklärte Aditu, und ein federleichtes Trommeln ihrer Fingerspitzen auf Tanahayas Handfläche sagte: Nur Mut, wir sind bei dir. Dann führte sie sie tiefer in die Höhle, wo die übrigen Angehörigen des Hauses der Tanzenden Jahre versammelt waren.

»Komm, Tanahaya von Shisae’ron.« Khendraja’aro, der von einer bösen Narbe gezeichnete selbsternannte Protektor des Clans, wartete am anderen Ende der Höhlenkammer, gleich jenseits des Runds von Sonnenlicht, das seinen Weg durch die Höhlendecke fand. Er saß im Schneidersitz auf dem nackten Stein wie ein Kriegsanführer, und seine engsten Gefolgsleute, überwiegend junge Zida’ya, die nie etwas anderes kennengelernt hatten als das Exil im weiten Wald, flankierten ihn wie Leibwächter. »In Zeiten solcher Bedrohungen verlasse ich die Frontlinie nicht gern«, sagte Khendraja’aro. »Erkläre mir, wozu ich hier benötigt werde.«

Die Augen seiner Getreuen fixierten Tanahaya mit unverhohlenem Misstrauen, aber die meisten anderen Gesichter in der Höhle zeigten nichts als Aufmerksamkeit. Nur Aditus Bruder Jiriki und ein paar andere nickten Tanahaya grüßend zu.

»Wegen ebendieser Bedrohungen wollte ich Euch sprechen, Ältester Khendraja’aro.« Sie benutzte absichtlich nicht seinen selbstgewählten Titel »Protektor« und spürte, wie die Versammelten aufmerkten. »In solchen Zeiten können wir es uns nicht leisten, Verbündete zurückzustoßen.«

Khendraja’aros entstelltes Gesicht nahm einen kühleren Ausdruck an. »Verbündete zurückstoßen? Welche Verbündeten? Die Zida’ya haben auf dieser Welt keine Verbündeten.«

»Und wir brauchen auch keine!«, verkündete Yeja’aro, der junge Verwandte des Protektors, dem es von allen Versammelten am schwersten fiel, seine Gefühle hinter einer neutralen Maske zu verbergen. Auf Tanahaya wirkte er wie irgendein ernster, wütender Jüngling, aber sie wusste, es musste mehr an ihm sein, sonst hätte ihn die kluge Aditu nicht zum Vater ihres Kindes erwählt.

»Ich spreche von den Sterblichen«, sagte sie. Wieder kam in der Versammlung Unruhe auf, aber so kurz und kaum merklich, dass sie sich nur durch ein leises Flügelzucken der Schmetterlinge über ihnen verriet. »Den Sterblichen, die mich hierher zurückgebracht haben, damit unsere Heiler mich retten konnten.«

»Ja, natürlich«, sagte Khendraja’aro. »Aber du und die anderen habt mich doch nicht hierher gerufen, nur damit ich einer Dankzeremonie für unsere Heiler beiwohne – oder für die nichtsnutzigen Sterblichen.«

»Nein, Ältester Khendraja’aro. Wir haben Euch aus Höflichkeit hergerufen, damit ich Euch meine Entscheidung mitteilen kann. Ich werde nämlich in die Sterblichenlande zurückkehren, an den Ort, den sie den Hochhorst nennen – in unsere alte Festung Asu’a.«

Eine ganze Weile starrte Khendraja’aro sie nur mit verengten Augen an, als zweifelte er an seiner Wahrnehmung. »Nein«, sagte er schließlich. »Bei meinem Auftrag für unser Volk, das wirst du nicht tun.«

»Ich fürchte, Ihr habt da etwas falsch verstanden, Ältester Khendraja’aro, ich hatte einen Auftrag und zwar von Sa’onsera Likimeyas Kindern, Aditu und ihrem Bruder Jiriki. Dieser Auftrag ist noch nicht erfüllt.«

Die Gefolgsleute des Protektors atmeten zornig ein und strafften sich; Tanahaya schienen die damit verbundenen Geräusche so laut wie Gebrüll. Sie setzte ihre ganze Willenskraft daran, innerlich ruhiger zu werden.

»Ich bin der Protektor des Hauses der Tanzenden Jahre«, sagte Khendraja’aro steif. »Ich habe es damals nicht gebilligt, dass du zu den Sterblichen gehst, und ich billige es auch jetzt nicht. Mein Wort ist für dich Gesetz.«

Jetzt wurden auch andere unruhig, aber diese Unmutswelle schien von den älteren Sithi auszugehen, die, wie Tanahaya wusste, mehrheitlich Jiriki und vor allem Aditu als die wahren Erbfolger des Hauses Sa’onserei anerkannten und in Treue zu ihnen hielten. »Dein Wort ist nicht Gesetz, Khendraja’aro«, sagte Jiriki, aber sein Ton war milde und sorgsam neutral. »Unser Vater Shima’onari war der letzte Protektor – aber er ist tot, möge der Garten ihn aufnehmen. Unsere Mutter ist die verkörperte Sa’onsera, und wenn sie auch schwer verletzt und nicht bei Bewusstsein ist, lebt sie doch noch.«

»Belehre mich nicht über unsere Geschichte – du, der du die Neun Städte der glorreichen Tage unseres Volkes nicht gesehen hast«, sagte Khendraja’aro, und für einen Moment schien der Zorn mit ihm durchzugehen, ehe er sich wieder in den Griff bekam. »Aber es spielt sowieso keine Rolle. Ich beanspruche nicht alle Privilegien eines Oberhaupts des Hauses der Tanzenden Jahre. Aber jemand muss Protektor sein, und solange ich dem Clan in dieser Funktion diene, fälle ich die schwierigen Entscheidungen – und meine Entscheidung lautet, die verräterischen Sterblichen ihren eigenen Weg gehen zu lassen. Du wirst nicht in die Sterblichenfestung zurückkehren, Tanahaya, und du wirst nichts mehr mit den Sterblichen zu tun haben. Niemand aus unserem Haus wird je wieder etwas mit ihnen zu tun haben.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn es nichts Wichtiges mehr gibt, erkläre ich diese törichte, unnötige Versammlung hiermit für beendet.«

Mut, sagte sie sich. Was ist schon Khendraja’aros Ärger gegen die Raserei der Königin Utuk’ku und ihrer Unterlinge – gegen die mögliche Vernichtung aller? »Ihr missversteht mich immer noch, Ältester Khendraja’aro. Ich frage Euch nicht, ob ich es tun darf, ich informiere Euch, dass ich es tun werde. Aus Höflichkeit, wie ich schon sagte.«

Yeja’aro wäre aufgesprungen, aber Khendraja’aro gebot ihm, obwohl sein eigenes Gesicht jetzt deutliche Anzeichen von Wut zeigte, mit einer Geste Einhalt. »Keine lauten Worte hier«, befahl er Yeja’aro. »Und keine Drohungen. Nimm die Hand vom Schwertgriff, junger Verwandter, oder ich verbanne dich. Wir sind die Zida’ya, keine streitsüchtigen Sterblichen – und das hier ist der Yásira.« Als Yeja’aro sich fügsam wieder niederließ, wandte sich Khendraja’aro an Tanahaya. »Erkläre dich.«

Sie holte tief Luft und hatte plötzlich das sonderbare, schwindelerregende Gefühl, das hinter dieser Meinungsverschiedenheit mehr steckte, als irgendjemand hier ahnte. Sie blickte zu den Schmetterlingen über sich empor und zog Kraft aus ihrer Anwesenheit. Die leuchtenden Flieger haben hitzigere Streitigkeiten gesehen als diese, sagte sie sich. Und doch kommen sie immer noch zu uns. Und wir, die Kinder der Morgendämmerung, existieren immer noch. »Es ist ganz einfach, Ältester. Ihr mögt dem Haus der Tanzenden Jahre in den meisten Dingen gebieten – aber ich gehöre diesem Haus nicht an.«

Er machte eine wegwerfende Geste. »Das ist Wortklauberei. Du wurdest von deinem Herrn Himano zu uns geschickt. Das unterstellt dich meinem Gebot.«

»Erstens«, sagte sie, »ist Himano nicht mein gesetzlicher Herr, sondern mein selbstgewählter Meister – mein Lehrer, nicht mein Gebieter. Er ist ein Ältester wie Ihr, und wenn ich ihn auch zutiefst respektiere und seiner Hilfe viel verdanke, unterstehe ich doch nicht seinem Befehl.« Sie sah Jiriki an, und sein ernstes, gedankenvolles Gesicht war ihr eine gewisse Beruhigung. »Ich wurde von Himano ausgeschickt, um Jiriki und Aditu zu helfen, lange bevor Likimeya verwundet wurde und in ihren langen Schlaf fiel. Auf Wunsch Likimeyas ritt ich zur Hauptstadt der Sterblichen, wurde aber durch vergiftete Pfeile aus dem Hinterhalt daran gehindert, sie zu erreichen. Seither hat sich nichts geändert. Ich diene immer noch Aditus und Jirikis Interessen, nicht Euren.«

Khendraja’aro war sichtlich schockiert. »Ich verstehe solche Reden nicht.«

»Was ich nicht verstehe«, sagte sie und bekam jetzt etwas Angst vor ihrer eigenen Courage, »ist, warum Ihr, Ältester, und einige andere so fest entschlossen scheint, alles zu ignorieren, was nicht mit Euren Ansichten übereinstimmt. Ich wurde als Gesandte zu den Sterblichen geschickt, ob mit Eurer Billigung oder ohne sie. Ich wurde überfallen und als vermeintlich tot liegengelassen, und ich wäre auch mit Sicherheit gestorben, wenn sich nicht mehrere Sterbliche lange und intensiv bemüht hätten, mich am Leben zu erhalten, bis ich hierhergebracht werden konnte. Die Pfeile, die mich trafen, waren nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, schwarz wie die Hikeda’ya-Pfeile – aber offenbar nur so angemalt, nicht aus echtem Kuriosora-Schwarzholz.«

»Mir ist nicht klar, was du damit sagen willst«, sagte Khendraja’aro stirnrunzelnd.

Jetzt ergriff Aditu erstmals das Wort. »Sie will sagen, dass jemand uns – oder die Sterblichen – glauben machen wollte, die Hikeda’ya hätten unsere Gesandte überfallen.«

»Dann waren es eben Sterbliche und nicht Utuk’kus Leute.« Yeja’aro richtete sich auf und machte eine Geste, die besagte, das ist doch nur das Geräusch des Windes. »Was nur erst recht beweist, dass wir sie von uns fernhalten sollten und uns von ihnen.«

»Aber das Gift«, sagte Tanahaya. »Darüber müssen wir auch sprechen.« Sie wandte sich an eine zierliche, silberhaarige Sitha, die neben Aditu saß. »Älteste Kira’athu, erzählt doch bitte den übrigen Sa’onserei, was Ihr mir erzählt habt.«

Die Heilerin, die sich nie gestattete, in Hast zu verfallen, wartete ein Weilchen, ehe sie sprach. »Das Gift in Tanahayas Adern war … ungewöhnlich. So etwas habe ich noch nie gesehen. Von der Substanz selbst war in den Wunden nichts zu finden, aber die Erscheinungen, die sie verursachte, waren höchst eigentümlich. Einige waren wie die Symptome von Kei-vishaa und andere wie die des Krauts, das wir Reiterhaube nennen, die Sterblichen aber Eisenhut. Und da war noch etwas …«

»Das heißt doch nichts!«, sagte Yeja’aro, und einige der Versammelten reagierten mit Unmut auf seine ständigen Unterbrechungen. »Die Hikeda’ya haben im letzten Krieg Hexenholzstaub gegen die Sterblichen eingesetzt. Die Sterblichen kennen ihn und wissen, was er vermag.«

Kira’athu würdigte ihn keines Blicks. »Ja, die Hikeda’ya haben Kei-vishaa in der Vergangenheit gegen Menschen benutzt. Es ist schon denkbar, dass die Sterblichen seine Eigenschaften entdeckt haben, auch wenn es ihnen wohl sehr schwer fiele, mehr davon herzustellen, jetzt, da die Hexenholzbäume so gut wie verschwunden sind.«

Bei diesen Worten schien eine leise Welle der Unruhe durch die Schmetterlinge an Wänden und Decke zu gehen, ein Wispern, das von Tausenden sachte schlagenden Flügeln herrührte.

»Aber das Allerseltsamste an dem Überfall ist Folgendes«, fuhr die Heilerin fort. »Unter den Vergiftungszeichen an Tanahayas Körper fand ich welche, die weder von Kei-vishaa noch von Reiterhaube stammen. Zeig sie, Tanahaya von Shisae’ron.«

Tanahaya drehte sich um und zog ihre lose Tunika hoch – ungeachtet des Schmerzes, den die vom Zersetzungsprozess eingesunkenen und gerade erst verschorfenden Stellen verursachten.

»Seht ihr diese Male auf ihrem Rücken, wie Blumen?«, fragte Kira’athu die Versammelten. »Auch jetzt noch, mehrere Monde nach dem Überfall, fühlen sie sich heiß an. Die hat kein gewöhnliches Gift verursacht. Aber sie sehen aus wie die Male von etwas anderem – etwas, das normalerweise nur von außen in den Körper eindringt. Sie sehen aus wie die Wunden, die von Drachenblut hervorgerufen werden.«

Khendraja’aro wirkte immer noch wütend, aber sein Gesicht war auch eine Nuance blasser geworden. »Und was behauptest du, was das bedeutet, Heilerin?«

»Ich behaupte gar nichts, Protektor«, sagte Kira’athu. »Ich sage nur, was ich weiß.«

»Muss man das wirklich noch fragen?«, sagte Jiriki. »Es ist doch wohl offensichtlich, dass jemand, der sowohl an Kei-vishaa als auch an Drachenblut zu gelangen vermag, verhindern will, dass wir eine Gesandte zu den Sterblichen schicken. Das allein spricht doch schon dafür, die Gesandte abermals auszuschicken.«

Khendraja’aro schüttelte den Kopf, langsam, aber emphatisch.

»Das ist mir alles egal. Ich erlaube es nicht.«

»Und ich, Ältester, bitte, wie gesagt, nicht um Erlaubnis«, erklärte Tanahaya, so ruhig sie irgend konnte, obwohl ihr Herz raste. »Ich informiere Euch aus Höflichkeit, dass ich meine Mission wieder aufnehme und zu den Sterblichen reite. Und jetzt muss ich gehen, meine Vorbereitungen treffen.«

»Lass mich dir helfen, Herzensschwester.« Aditu stand auf, ihr Bauch so rund wie der Erntevollmond. »Du bist ja gerade erst dabei, wieder gesund zu werden.«

»Ich fürchte, ich werde nie wieder richtig gesund«, sagte Tanahaya. »Aber ich bin gesund genug, um meine Pflicht zu tun.«

Sie gingen Seite an Seite zum Höhlenausgang und blieben nur kurz stehen, um der schlafenden Likimeya in ihrem Grabtuch aus Schmetterlingsseide ihren Respekt zu erweisen. Die Schmetterlinge an Wänden und Decke hatten sich wieder beruhigt, und im Moment war es still in der Höhle, da die verbliebenen Zida’ya das Gesagte auf sich wirken ließen. Doch Tanahaya war sich sicher, dass es im Yásira nicht lange still bleiben würde, wenn sie erst einmal draußen war.

Erster Teil

Sommerneige

Du meine grausame Feindin, Sonne,

Tauchst in gleißendes Licht,

Was ich nie wieder sehen wollte:

Die stolzen Eichen von Hekhasor

Mit ihren Ästen wie Blitzen,

Die funkelnd blauen Wasser des Silberheimsees

Und den endlos weiten Himmel.

Geh weg, garstige Sonne! Du machst mich traurig.

– Shun’y’asu von der Blaugeistspitze

1

Der Altherz-Wald

Die Berührung dünner Finger erschreckte Morgan so fürchterlich, dass er in Panik von dem Ast sprang, auf dem er gesessen hatte, sich ein Knie und einen Ellbogen schmerzhaft an einem tieferen Ast anschlug und dann, indem er sich halb hinabschwang, halb wie ein Sack plumpste, unsanft landete. Noch auf Händen und Knien flüchtete er über den Waldboden, und sein Herzschlag dröhnte in seinen Ohren. Erst, als er ein paar Dutzend Schritt von dem Baum entfernt war, wagte er, sich umzudrehen.

Das silberne Mondlicht, das durch die uralten Bäume drang, erhellte nicht viel von dem Wesen, das ihn berührt hatte, aber doch genug, dass ihm klar war: So etwas hatte er noch nie gesehen. Das Wesen war kleiner als seine kleine Schwester, was ihm etwas von seiner Angst nahm, aber es war kein ihm bekanntes Tier, kein Bärenjunges, kein Affe. Seine aufgerissenen schwarzen Augen waren riesig, und kurz machte Morgan sogar Hände mit Fingern aus, ehe die Kreatur sich umdrehte und in die oberen Regionen des Baums entfloh.

Während der Mond wieder hinter den Bäumen verschwand, saß Morgan zitternd auf dem feuchten Boden und wartete, dass sein Herzschlag sich beruhigte. Ihm war zum Weinen zumute, aber er traute sich nicht, ein Geräusch zu machen. Er hatte keine Ahnung, aus welcher Richtung er gekommen und wie lange er gerannt war.

Ich habe mich verirrt, musste er erkennen. Im Aldheorte. Allein. Verirrt. Es traf ihn wie ein Schlag.

Er sehnte sich nach einem starken Getränk.

Er erwachte aus einem grauenhaften, finsteren Traum von Stolperwurzeln, krallenden Ästen und Schlingpflanzen, die nach ihm griffen und ihn zu Boden zogen wie rachsüchtige Geister. Aber da waren keine wütenden Phantome, sondern blauer Sommerhimmel, der durch die Äste über ihm leuchtete, und warme Morgenluft, erfüllt vom Duft von Grün.

Ihm blieb nur ein Augenblick, um erleichtert aufzuatmen und die reine Unschuld des Tages zu genießen, denn als er sich aus seinem Mantel zu befreien versuchte, verlor er das Gleichgewicht und fiel von dem Baum, auf dem er eingeschlafen war. Tiefere Äste bremsten seinen Fall, und er hatte zum Glück nur zwei Manneslängen über dem Boden gesessen, aber er wurde dennoch zerkratzt und zerstochen, ehe er unten aufschlug.

Zuerst konnte er nur daliegen, nach Luft schnappen und vorsichtig ausprobieren, ob nichts gebrochen war. So viel, dachte er, zu Bäumen als sicherem Ort. Usires sei Dank, dass ich nicht höher hinaufgeklettert bin!

Doch sein nächster Gedanke war: Was mache ich jetzt? Sucht mich jemand? Ist von den anderen überhaupt noch jemand am Leben? Ihm stand die Situation vor Augen, in der er Eolair zuletzt gesehen hatte, und Angst und Schmerz pressten ihm das Herz zusammen. Der arme alte Graf. Und Porto und der Troll Binabik und seine Familie. Aber er schob diese düsteren Gedanken weg. Er war ein Prinz, ermahnte er sich: Er durfte sich nicht von Angst oder Verzweiflung übermannen lassen. Und er hatte ja im Lager keine Toten gesehen außer den Erkynwachen, also war es doch möglich, dass Snenneq, Qina und die anderen überlebt hatten. Aber es war schwer zu glauben.

Er wollte dringend etwas Alkoholisches. Ein Krug Wein würde die körperlichen Schmerzen vertreiben und die angstvollen Gedanken auch. Wie hatte er nur so dumm sein können, seine Feldflasche im Lager zu lassen, als die Sithi ihn und Eolair mitgenommen hatten? Wahrscheinlich hatte Porto sie ausgetrunken. Wenn er noch lange genug gelebt hatte.

Morgan war hin- und hergerissen zwischen aufrichtiger Angst um den alten Ritter und dem Gedanken, dass der letzte Branntwein womöglich an jemanden vergeudet worden war, der gar nichts mehr davon gehabt hatte.

Als der erste Schock des Sturzes überwunden war, rappelte Morgan sich unsicher auf und begann einzusammeln, was mit ihm vom Baum gefallen war – sein Schwert, seinen Wasserschlauch und zuletzt seinen dunkelgrünen Mantel, in den er sich in einer besonders kalten Phase der Nacht gewickelt hatte. Er setzte sich unter die Buche und legte alles um sich herum auf den feuchten Boden. Dann löste er seine Tasche vom Gürtel und kippte ihren Inhalt auf den ausgebreiteten Mantel.

Sein Feuerbesteck fiel ihm als Erstes ins Auge, und er dankte Gott. Doch außer dem Kettenhemd und den Kleidungsstücken, die er trug, besaß er nicht viel: Schwert, Dolch und die Sachen aus der Gürteltasche – die Bestandsaufnahme ging erschreckend schnell.

Feuerstein und Stahl.

Das Buch Ädon seiner Mutter.

Etwas in Blätter Gewickeltes – er hatte keine Ahnung, was es sein könnte, betete aber, dass es essbar war.

Die spitzzackigen Sohleneisen, die ihm Snenneq für das Gehen auf Eis gegeben hatte, die aber hier im Sommerwald so nutzlos waren wie Zitzen an einem Eber.

Und noch etwas, das wirklich nützlich war. Jemand – sein Knappe Melkin oder vielleicht auch der Troll Snenneq – hatte ein paar Klafter dünnes Seil zu einem kompakten Bündel gewickelt und ganz unten in die Tasche gelegt. Er war demjenigen jedenfalls unendlich dankbar. Zumindest konnte er das Seil brauchen, um sich einen Unterschlupf zu bauen.

Oder um mich aufzuhängen, dachte er und sprach hastig ein Abbittegebet. Warum Gott auf Ideen bringen?

Danach wandte er seine Aufmerksamkeit dem in Blätter gewickelten Päckchen zu. Zuletzt etwas zu essen bekommen hatten er und Eolair im Lager des Sitha mit der Gesichtsnarbe, Khendraja’aro, und da hatte Morgan nicht viel zu sich genommen, obwohl alles sehr schmackhaft gewesen war. Es war schwer, sich jetzt nicht dafür zu verfluchen, so zurückhaltend gewesen zu sein, als Gelegenheit bestanden hätte, sich den Bauch vollzuschlagen. Aber wer hätte denn ahnen können, was passieren würde?

Was um Himmels willen soll ich in diesem Wald zu essen finden?

Zu seiner immensen Erleichterung entpuppte sich das Päckchen als Proviant, den ihm Porto oder sein Knappe Melkin mitgegeben hatte – Hartkäse, Brot und ein Apfel, alles in Weinblätter gehüllt. Aber woher kam dieser Apfel? Morgan konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt an einem Apfelbaum vorbeigekommen waren. Egal, die anderen Sachen würden sich noch eine Weile halten, aber der Apfel wurde bereits weich, also biss er hinein, und für einen Moment machte ihn der Geschmack fast schon glücklich.

Also bin ich doch nicht so töricht, wie mein Großvater meint, sagte er sich. Nicht lebensuntüchtig. Man sieht ja, was ich bei mir habe – Messer, etwas zu essen, Feuerstein und Stahl. In die Befriedigung drängte sich die Erinnerung an den Freund seines Großvaters, den Kammerherrn Jeremias, der Morgans lederne Gürteltasche missbilligt hatte.

»So was tragen Bauern und Pilger«, hatte Jeremias erklärt. »Und Ihr, Hoheit, seid weder das eine noch das andere.«

Nun, großer Streiter wider die Gürteltasche, dachte er, wer hat jetzt recht und wer nicht? Dann wurde ihm bewusst, dass er ganz allein im Wald saß, ohne die geringste Ahnung, wie er nach Hause kommen sollte, und mit jemandem debattierte, der gar nicht da war.

»Wenn man in einer richtig schlimmen Situation ist«, hatte ihm sein Großvater einmal erklärt, »muss man manchmal einfach weitermachen. Einfach immer weiter. Nicht nachlassen.« Jetzt, Jahre später, verstand Morgan den Sinn dieser Worte. Allein in der Zeit, in der er hier gesessen und auf seine wenigen Besitztümer gestarrt hatte, war die Sonne am Himmel höher gestiegen, stand jetzt nicht mehr unter jenem Ast dort, sondern darüber und eilte auf ihren Mittagspunkt zu, um dann wieder dem Dunkel entgegenzusinken.

Der Proviant in seiner Gürteltasche würde nicht lange reichen, und Morgan hatte keine Ahnung, was es im Aldheorte Essbares geben könnte außer ein paar Beeren. Ein Kaninchen hatte er nicht mehr gefangen, seit er als Junge mit anderen hochgeborenen Kindern vom Hochhorst gespielt hatte, sie wären auf Heldenreise. Er hoffte, dass er noch wusste, wie man eine Schlingenfalle herstellte.

Wenn du hier sitzen bleibst, wirst du verhungern, sagte er sich. Du musst was tun. Denk nach, Morgan, denk nach!