Marie von Ebner-Eschenbach: Oversberg / Unverbesserlich / Die Reisegefährten

 

 

Marie von Ebner-Eschenbach

Oversberg

Unverbesserlich

Die Reisegefährten

Drei Erzählungen

 

 

 

Marie von Ebner-Eschenbach: Oversberg / Unverbesserlich / Die Reisegefährten. Drei Erzählungen

 

Neuausgabe mit einer Biographie der Autorin.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Max Liebermann, Jäger in den Dünen, 1914

 

ISBN 978-3-8430-6558-0

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9850-2 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9851-9 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Oversberg

Aus dem Tagebuch des Volontärs Ferdinand Binder

Einundsiebzig Jahre alt ist unser Herr Generalinspektor, aber wetterfest und unermüdlich, hart wie Stahl und scharf wie der Nordwind im Dezember – und gescheit – und einen Blick! ... »Wissen Sie, wie Sie sind, Herr Verwalter, oder Herr Förster, oder Herr Kontrollor?« oder was der ist, mit dem er eben spricht. »So sind Sie!« und dann sagt er's einem aufs Haar.

Bei mir, als ich ihm vorgestellt wurde, bald nach meinem Eintritt in die Ökonomieverwaltung, hieß es: »Herr Binder, Kaufmannssohn aus Wien. Der Jüngste der Familie, Nesthäkchen, wohlhabend und wohl verhätschelt – wie?«

Das war am Abend des ersten Tages, den er damals in Neuhaus zubrachte auf seiner Inspektionsreise. Eine Woche später, beim Abschied, fragte er nicht mehr: »Wie?« Da tranchierte er schon meinen inneren Menschen mit wahrem Hochgenuß und legte mich gleichsam mir selber vor. Ich wurde sehr rot und sprach: »Ich habe nicht gewußt, Herr Generalinspektor, daß ich von Glas bin.« Er schmunzelte, klopfte mir mit seinen langen knochigen Fingern auf die Schulter, daß ich's bis in den Ellbogen spürte, und nannte mich »Finaud«, eine Auszeichnung, zu der mir sämtliche Herren gratulierten.

Seit meiner ersten Begegnung mit ihm haben wir noch zweimal die Ehre gehabt, ihn bei uns zu sehen. Im Herbste trifft er immer aus Böhmen ein, um die fürstlich Dehsdorfischen Domänen an der mährisch-schlesischen Grenze zu besichtigen, und uns allen scheint, daß er mit den Leistungen der Forst- und Ökonomieverwaltung noch nie so einverstanden war wie dieses Mal. Beim Abschiedsdiner im großen Saale des Amtshauses kamen nur feine Sorten aus dem fürstlichen Schloßkeller auf den Tisch, und der Förster sagte mir: »Nach der Qualität des Weines, den er uns vorsetzen läßt, ist die seiner Zufriedenheit mit den Erfolgen seiner Inspektion zu bemessen. Danken Sie Gott, daß Sie nicht Anno 89 hiergewesen sind, als die Borkenkäfer in unseren schönsten Nadelholzbeständen gehaust. In jenem unvergeßlichen Jahre brachte der Inspektor den Toast auf den Fürsten nach dem Rindfleisch statt nach dem Braten aus, und zwar mit Eigenbau – Sie können sich denken! Jetzt noch, meiner Treu, jetzt noch, wenn mir etwas Unangenehmes passiert, kommt mir der Geschmack in den Mund.«

Nun, heute konnte der Förster sich gütlich tun, schon vor dem großen Augenblick, in dem der Herr Generalinspektor aufstand, in seiner großen, ungewöhnlichen Höhe und Schmalheit, und seinen halb gefüllten Champagnerkelch auf das Wohl des Fürsten leerte, ungern genug, denn er ist seinem Geschmack und seiner Überzeugung nach Wassertrinker.

Wir stimmten in sein Hoch ein, und nun erhob sich der Herr Dechant, der zu Häupten der Tafel saß, schneeweiß und stattlich.

Ein Pfeiler der Kirche wird er oft genannt, doch scheint mir diese Bezeichnung unrichtig, denn er hat nichts Steinernes und nichts Ausschließendes wie der Pfeiler, dem es nur um das eine zu tun ist, dem er seine Stütze verleiht. Viel eher kommt der Herr Dechant mir vor wie ein Baum, der seinen Schatten und seine guten Früchte allen reichlich spendet, die nach Labung begehren; ja seine Zweige sogar über die Ausgestoßenen und Verfemten breitet, deren es auch gibt in unserer Gemeinde.

Der Dechant, wie gesagt, erhob sich und brachte einen Toast auf die Anwesenden aus, die dabei Abwesende wurden (im Geiste), weil's gar so lange dauerte. Wenn der Dechant spricht, seh ich immer einen schwer beladenen Wagen vor mir, der den Berg hinaufrumpelt. Der Fuhrmann schläft, die Pferde duseln, das Holzwerk knarrt und stöhnt – man gäb was drum, wenn man rufen dürfte: Hüh! – Er aber hört sich natürlich gern und schaut nach jedem Satz im Kreise herum mit sehr naiver und sehr harmloser Selbstzufriedenheit.

Als er endlich geschlossen hatte und wir in Jubel darüber ausbrachen, nahm er wieder Platz und fragte den Herrn Inspektor: »Haben Sie meinen lieben Fürsten kürzlich gesehen, ist er recht wohl? – Und die liebe Fürstin, und die lieben, lieben Kindlein auch? Kommt er bald, wie er mir mittels lieber Korrespondenzkarte vom 3. April versprochen hat?«

Der Inspektor beantwortete alles mit ja, bestellte die schönsten Grüße und setzte hinzu: »Er läßt Ihnen auch sagen, daß er einen alten Freund betrauert, den Herrn Oversberg.«

»Oversberg?«

»Erinnern Sie sich seiner nicht mehr? Vor zehn Jahren war er hier mit dem Fürsten. Die Freundlichkeit selbst; sich immer bedankt für jeden Gruß und für jeden guten Morgen und guten Abend, den man ihm gewünscht hat: Danke schön, danke verbindlichst, und den Hut gezogen vor jedem Tagelöhner.«

»Ich weiß schon, ich weiß schon, ich hab ihn schon!« rief der Oberförster plötzlich, und sein Gelächter durchschmetterte den Saal wie Zimbelschlag und Paukenschall: »Er war da mehrmals mit auf der Jagd. Sein Gewehr, das hat er getragen wie eine Gitarre. Ich habe Ihnen noch gesagt, Herr Verwalter: Ich bin neugierig, was er uns da aufspielen wird, und Sie haben noch gesagt: Ich auch.«

»Schau, schau«, versetzte der Verwalter, ein guter, alter Herr, der seine Reden immer mit »und« beschließt. »Ja, man sagt so manches – und, und.« Wir warteten ein Weilchen, es war aber schon aus. Ohne das geringste Bedürfnis, noch etwas hinzuzusetzen, wies er schweigend den Kragen seiner lichtgelben Galaweste, der mit tückischer Hartnäckigkeit zu den Ohren seines Eigentümers emporstrebte, an den einem Westenkragen gebührenden Platz zurück.

»Ein Jäger war er nicht, nein, aber ein Schütz«, begann mein Nachbar, der kleine, lebhafte Förster, der einen semmelfarbigen, so üppigen Haar- und Bartwuchs hat, daß sich jeder Pinscher vor ihm verstecken kann. – »Dreimal hab ich ihn anlegen gesehen, zweimal auf Marder, einmal auf ein Wiesel, und mir gedacht: Sapperment, was aufsteht, liegt.«

»Auf das Schädliche mag er geschossen haben«, sagte der Inspektor, »mit Hasenblut hat er seine Hände nie befleckt, und zwar – aus Nächstenliebe.«

Wieder ließ der Oberförster sein Gelächter ertönen, der Dechant aber schüttelte bedächtig den Kopf: »Ich muß um Entschuldigung bitten, meine Herren; Herr Albrecht Oversberg war durchaus kein Hase. Ich entsinne mich seiner jetzt deutlich und deutlicher. Die Umgebung, in welcher er vor mein inneres Auge tritt, bilden Rauch und Flammen. Aber nicht als der Höllenfürst erscheint er mir, sondern als ein guter, stiller Engel. Und stehen sehe ich ihn auf der Feuerspritze neben dem Kommandanten der Feuerwehr, unserem zur Zeit in Gott ruhenden Herr Bäckermeister Lepitcek. – An jenem Tage schrie dieser Gute wohl aus Leibeskräften, hatte aber seine Geistesgegenwart durchaus eingebüßt. Ihm wurde später die Rettung des halben Dorfes bei dem furchtbaren Brande als sein Verdienst zugeschrieben. Indessen war es einzig und allein dasjenige des Herrn Oversberg.«

»Herr Dechant«, fiel der Inspektor ihm ins Wort, »weil ich Ihnen erzähle, daß der Fürst an dem Oversberg einen Narren gefressen hat, avanciert der bei Ihnen gleich zu etwas Rechtem.«

Der Greis sah ihn vorwurfsvoll an und sagte, halb im Ernst und halb im Scherze: »Was hat er Ihnen getan? Gestehen Sie's.«

»Mir nichts und niemandem. Unterhalten höchstens hat er mich, war für mich ein Rätsel, das lösen zu wollen mir nie eingefallen ist.«

»Ein Rätsel Ihnen, einem solchen Menschenkenner? – Das machen Sie uns nicht weis.«

»Bei dem Oversberg, Hochwürden, hat meine Menschenkenntnis mich sitzen lassen. In den konnte ich mich nicht hineindenken. – Und Sie, meine Herren, könnten Sie's? Können Sie sich vorstellen, daß ein Mann das Faktotum abgibt auf einem Gute, das früher (freilich nicht lange) sein war, und die rechte Hand des neuen Herrn wird? Und wer ist Ihnen der? Der angetraute Gatte der ehemaligen Braut desselben ›Mannes‹ – einer vielgeliebten Braut, notabene.«

Nein, wahrlich, keiner von uns konnte sich da hineindenken. Es hätte sich sogar jeder verachtet, der imstande gewesen wäre, seine werte Persönlichkeit in eine solche Lage zu versetzen. Darauf schworen wir.

Der Dechant jedoch wollte erst hören, wie das Verhältnis, von dem die Rede war, sich gebildet hatte, bevor er sein Urteil darüber aussprach.

»Wie sich's gebildet hat? – Wenn ich auf den Uranfang zurück muß, komme ich auf den Onkel, von dem Oversberg das Gut Siebenschloß geerbt hat. Das ist nicht wenig langweilig, melde ich Ihnen im voraus.«

Er musterte uns durch die Bank einen nach dem andern und erquickte sich ein Weilchen an dem niederschlagenden Eindruck, den seine Verheißung gemacht, dann fuhr er fort: »Ich habe ihn gut gekannt. Siebenschloß grenzt an die fürstlichen Güter in Böhmen, die ich damals schon unter der Leitung meines Vaters verwaltete. Er war – der Onkel Oversberg nämlich – ein einsamer, alter Junggeselle, ein Gelehrter. In welchem Fach glauben Sie? – Im Käferfach. Sammlungen einen ganzen Saal voll hat er gehabt. Dazu die Kataloge verfaßt und weitläufige Korrespondenz geführt mit in- und ausländischen Berufsgenossen und wissenschaftlichen Vereinen. Viele Jahre allein, bis er brieflich auf einen längst vergessenen Jugendfreund stieß, einen pensionierten Oberstleutnant. Der bewegte sich in den Schmetterlingen. Seliges Wiederfinden! Der Gedanke, einander neuerlich zu verlieren, ausgeschlossen. – Eine Viertelstunde weit vom Herrenhaus steht eine verlassene Mühle, an einem einst wasserreichen, jetzt nur noch schwach rieselnden Bach. Blumige Wiesen, Erlen und Weiden, hinter dem Hause ein Wäldchen, an dessen Saum eine Eiche. Sehen muß sie der Deutsche, um zuzugeben, daß sowas vorkommen kann in mährischen Landen. Die Mühle wird adaptiert, restauriert, kriegt ein Türmchen aufgesetzt, dürfte sich für ein Schlößchen ausgeben, wenn sie wollte, und wird auch so getauft.«

»Genannt«, warf der Dechant dazwischen.

»Der Oberstleutnant zieht ein mit seinen toten Schmetterlingen, mit einem großen Porträt seiner seligen Frau Gemahlin und mit seiner lebensprühenden Tochter Lene. Ein Bild von einem Fräulein, und elegant, sage ich Ihnen – immer in Spitzen; verdreht Männlein und Weiblein die Köpfe, den ersten durch ihre Schönheit, den zweiten durch ihre Toiletten. Reger Verkehr entspannt sich zwischen dem Käferonkel und dem Schmetterlings-Oberstleutnant. In Bälde wird Albrecht Oversberg nach Siebenschloß zitiert. Eine Ehre, die ihm selten widerfährt. Könige und alte Junggesellen mögen ihre Erben nicht. Aber die Freunde haben ihren Plan. Albrecht soll sich in Lene verlieben und vice verso

»Versa«, berichtigte der Dechant, worauf der Inspektor sein spöttisches Räuspern vernehmen ließ, das nichts anderes heißt als: – Wenn Sie glauben, daß ich Sie um Ihre Kenntnisse beneide –, und weitererzählte: »Das war in den Osterferien. Onkel Oversberg, müssen Sie wissen, hatte den Neffen in Anwartschaft auf das berühmte Erbe Ökonomie studieren lassen, ihm aber keine Gelegenheit gegeben, die erworbene Weisheit praktisch anzuwenden. So war Albrecht mit unzureichenden Mitteln einen Pacht eingegangen, bei dem er sein bißchen Eigenes einbüßte. Später wurde er Professor an einer Ökonomieschule.«

»Richtig!« rief der Oberförster. »Derjenige, welcher bei der Praxis abgeblitzt ist, sucht sein Glück bei der Theorie«, und der Inspektor versetzte: »Wo immer er früher sein Glück gesucht, jetzt hatte er's gefunden. Es lachte ihn an aus den Augen des Fräuleins Lene und sprach zu ihm aus dem Munde des Onkels. Er soll das Fräulein heiraten, Siebenschloß übernehmen; der Oberstleutnant behält den ihm liebgewordenen Wohnsitz, die Freunde bleiben beieinander und Vater und Tochter auch. – Alles rollte wie auf Rädchen, die Alten jubilierten, die Verlobung wurde gefeiert. Wir waren auch geladen, mein Vater und ich, und halfen redlich mit, die Braut anschwärmen. Natürlich, sie war danach. ›Moosrosenknospe‹ nannte sie mein Nachbar zur Linken, ›Morgenröte‹ mein Nachbar zur Rechten. Der glückliche Unglückliche aber, der Bräutigam, mußte sich nach empfangenem Verlobungskuß und getauschtem Treueschwur losreißen und nach seiner Hochschule zurückkehren, um seinen Kurs zu Ende zu lesen. Zur Trauung sollte er wieder in Siebenschloß eintreffen. Indessen – was geschieht? Es zeigt sich, daß die Vertiefung ins Schmetterlingsfach dem Menschenverstand weniger abträglich ist als die ins Käferfach. Der Oberstleutnant fängt Ihnen nach und nach an zu merken, daß es nicht recht geheuer ist mit der Wirtschaft auf dem Gute. Sie ist unter der fünfzigjährigen Regierung eines Gelehrten auf eine schiefe Ebene geraten und rutscht abwärts, langsam, aber sicher. – Was tun? ... ›Öffnen Sie ihm die Augen, Sie sind praktische Ökonomen‹, sagt der Oberstleutnant, auf das äußerste bekümmert, zu meinem Vater und mir. ›Helfen Sie, reden Sie mit ihm!‹ – Wir reden. Er ist wie ein Bock. Warten sollen wir, bis sein Neffe kommt, der hat studiert, der wird's uns zeigen, bei dem können wir in die Schule gehen. Das war alles sehr fein gegeben, und wir haben gleichfalls fein repliziert, daß wir jede Gelegenheit, etwas zu lernen, gern ergreifen. Keine sechs Wochen später starb der alte Oversberg nach kurzer Krankheit. Sein Neffe kam zum Begräbnis und war so ergriffen, daß wir meinten: Dem hat am Ende ein guter Freund verraten, wie's bestellt ist mit seiner Erbschaft. Aber nein, das dämmerte ihm erst auf, als er sie antrat.

Was wahr ist, ist wahr; er hat nicht gesucht, sich ein X für ein U vorzumachen, nicht lange herumgewackelt zwischen dem ersten Zweifel und dem letzten – zu mir gesagt: ›Sie kennen die Verhältnisse. Wie steh ich? Ich will es wissen.‹ – Da habe ich ihn sich selbst von allem überzeugen lassen durch den Augenschein, und er ist natürlich von einer unangenehmen Überraschung in die andere geraten; und gänzlich niedergebrochen in der Kanzlei, beim Addieren der Rück- und Ausstände. Auf einmal legte er die Feder hin, stemmte die Ellbogen auf den Tisch, drückte das Gesicht in die Hände und blieb in dieser Position, bis ich ihn endlich mahnte: ›Nun, Herr Oversberg, belieben Ihre Gedanken Audienz zu geben?‹ Er guckt auf, schaut herum, ganz verloren, ich rufe ihn an: ›Kommen Sie zu sich, wo sind Sie?‹ Nun hat er ein Lächeln von besonderer Art gehabt, das ihm geblieben ist bis an sein Ende: ›Ich war bei einem Leichenbegängnis‹, gibt er zur Antwort ›welch ein Trauerzug – unübersehbar – ich habe meine Hoffnung begraben.‹

Was er sagen wollte, war nicht mißzuverstehen, und ich freute mich, daß er's von selbst begriff: kein Geld, keine Braut. Die Temperaturveränderung im Benehmen des Oberstleutnants gegen ihn konnte ihm, trotz aller seiner Unschuld in solchen Dingen, nicht entgehen, und er hatte sich ferngehalten von dem Schlößchen auf der Wiese während der ganzen Zeit, die wir brauchten, um ins reine zu kommen über den Stand seiner Angelegenheiten.

Was wird er jetzt wohl anfangen? dachte ich mir, wollte ihn aber nicht fragen.

Am nächsten Tage, es war um Johanni und sehr heiß, trieb mich die Neugierde wieder zu ihm. Unterwegs, in der Nähe seiner Wohnung, traf ich den Oberstleutnant und seine Tochter, die von der Schmetterlingsjagd heimkehrten. Er hatte ein paar Schwalbenschwänze auf dem Hut stecken, sie trug ein Spiritusfläschlein und einen Pinsel, um den Gefangenen damit auf die Köpfe zu tropfen, weil sie es nicht leiden konnte, das Ungeziefer an der Nadel zucken und flattern zu sehen.

Der Oberstleutnant winkte und rief mir schon von weitem zu, sehr aufgeregt, wie er seit einiger Zeit immer war: ›Guten Nachmittag! Kommen Sie, kommen Sie, machen wir eine!‹

Eine Partie Domino, meinte er. Ich sagte, daß ich bereit sei, und folgte ihm ins Haus.

Das Fräulein jedoch schickte er fort, mit vielerlei Aufträgen. Würde sie allem nachgekommen sein, bis zum Abend hätte sie zu tun gehabt.

Nun, wir setzten uns hin und spielten.

Mein Gegner war nicht bei der Sache, verlor nacheinander zwei Partien und stand im Begriff, auch die dritte zu verlieren. Er beugte seinen breiten Nacken, stützte seine Arme in die Seiten, schnaubte und zog die niedere Stirn in Falten, und hinter der saß Ihnen ein Eigensinn, ein unglaublicher, kein eiserner, sondern der von der unüberwindlichen, der zähen Art.«

»Wenn man diese Beschreibung hört, denkt man: der reine Zyklop«, sprach der Dechant, und der Inspektor, ärgerlich über die Unterbrechung, versetzte: »Kenn das Tier nicht.«

Er protzte einmal gern damit, daß er fremd war auf humanistischem Gebiete. Auch früher habe ich schon bemerkt, daß Gelehrte oft weniger stolz sind auf ihr Wissen als Ungelehrte auf ihre Unwissenheit.

»Gut also«, fuhr der Inspektor fort. »Glauben Sie mir – nicht, daß ich es jetzt sage, nein, damals, wie ich mir ihn recht betrachte, denke ich, er könnt einem angst machen, der Mann, mit seiner Aufgedunsenheit und seinem kurzen Atem. Früher war mir das nicht so aufgefallen, und verändert hat er sich ja seit dem Tode seines Freundes, und seitdem die Aussichten auf eine gute Partie für das Fräulein Tochter verschwunden sind ... Ist doch ein alter Mann, und gar viel dürfte über ihn nicht kommen, sonst wär's gefehlt – den Eindruck machte er mir. – Daß sein Appetit fort ist, gibt er selbst zu, und die halben Nächte schreibt er – er, dem das Schreiben – oder wie er sich ausdrückt: das Herumkratzen mit einem Stückchen Eisen auf dem Papier – Zähneknirschen macht. Und am Morgen trägt er selbst rekommandierte Briefe an seinen Vetter in Wien auf die Post und holt auch selbst die eintreffenden Antworten ab.

Er stierte noch immer ratlos seine Steine an. Ich unterdessen sah von meinem Platze aus durch das Fenster und erblickte Ihnen unten auf dem Fußsteig am Wiesenrande den geehrten Herrn Oversberg. Er schreitet einher, langsam, aber ohne sich aufzuhalten.«

Da interpellierte ich den Herrn Inspektor: »Darf ich fragen, ist er ein hübscher Mensch gewesen? Wie hat er ausgesehen?«

»Wie soll er ausgesehen haben? Nicht groß und nicht klein, nicht dick und nicht dünn; blaue Augen, braune Haare, braunen Backen- und Schnurrbart, das Gesicht, trotz seiner einunddreißig Jahre, noch wie Milch und Blut. An dem Tage mehr wie Milch, und zwar wie gestockte. Gut denn. Der Oberstleutnant streckt endlich die Hand aus und setzt seinen Stein an – ich will eben den meinen, meinen letzten, umschlagen – Domino hätte ich gemacht, da klopft es an die Tür, und Oversberg tritt ein. Er schien nicht gerade besonders angenehm überrascht, mich da zu finden, begrüßte mich ebenso kühl, wie er den Oberstleutnant warm und gerührt begrüßte, worauf ich Miene machte, mich aus Diskretion zu empfehlen.

Aber der Alte hielt mich fest: ›Bleiben Sie, bleiben Sie! Wir haben keine Geheimnisse, Herr Oversberg und ich. Was Herr Oversberg mir sagen kommt, darf die ganze Welt wissen. Wohl, wohl. Nehmen Sie Platz, Herr Oversberg!‹

So gibt er ihm einen Herrn Oversberg nach dem andern, und mit dem: Herr Schwiegersohn und: Lieber Herr Sohn ist es aus.

Mein guter Oversberg ging sofort auf den Ton ein, was blieb ihm übrig?

›Sie wissen alles, Herr Oberstleutnant‹, sagte er. ›Sie sind genau unterrichtet von der in meinen Verhältnissen eingetretenen Wendung.‹

›Wendung, ja, das ist es‹ – dieses Ausdrucks bemächtigte sich der Oberstleutnant mit großer Geschwindigkeit. – ›Eine Wendung zieht die andere nach, und so stehen wir nicht mehr wie früher, leider, leider. Ich bedaure – besonders wegen meiner Tochter. – Was uns betrifft, uns Männer, Gott im Himmel, ich habe meine Dorothea verloren und lebe und kann mich freuen über einen Schmetterling. Sie werden sich also hineinfinden; aber auch sie wird sich hineinfinden, wohl, wohl, in das Unabänderliche.‹

Das Fräulein zu sprechen wünsche er doch sehnlich, erwiderte Oversberg. Wenn er auch Siebenschloß nicht behaupten könne, ganz mittellos sei er nicht. Die Möglichkeit, das Gut nach seinem vollen Werte zu verkaufen und im Besitz eines kleinen Vermögens zu bleiben, habe sich ihm geboten. Er zog einen Brief aus der Brusttasche und überreichte ihn dem Oberstleutnant. Der setzte den Zwicker auf die äußerste Spitze seiner kleinen Nase, denn nur da fand dieser einen Halt, und las halblaut vor, was sein Vetter, Theodor von Siegshofen, ein reicher Großhändler in Wien, an Oversberg schrieb. In Schlangenwindungen kam er heran. Ein kurzer Aufenthalt, den er im vorigen Sommer bei seinem lieben Verwandten, dem Oberstleutnant, in Siebenschloß genommen, war ihm unvergeßlich. Die Luft so gesund, die Gegend so sympathisch. Er hatte allerdings keine Ahnung, ob Herr Oversberg daran denke, sich von dem Besitze zu trennen. In dem, wenn auch nicht wahrscheinlichen, aber doch möglichen Falle jedoch, daß er sich heute oder morgen oder übers Jahr dazu geneigt fände, bäte er ihn, sich seiner als eines ihm im Wort Stehenden zu erinnern.

Davon, daß der Großhändler seinen Besuch beim Oberstleutnant in Begleitung seines Sohnes abgestattet und daß dieser einzige, vielgeliebte Sohn sich sterblich in Fräulein Lene verliebt hatte und sie mit zärtlichen Briefen bombardierte, davon stand in dem väterlichen Schreiben natürlich nichts. Und wenn auch etwas gestanden hätte, mein guter, guter Oversberg würde doch nichts gemerkt haben.«

Wir lachten, am lautesten aber lachte der Kontrollor, der – ich wette darauf – selbst nichts merkte von einem Zusammenhang zwischen dem Besuche des Herrn von Siegshofen in Siebenschloß und diesem Briefe.

»Ich konnte«, begann der Inspektor von neuem, »mich nicht enthalten zu sagen: ›Dieser Antrag kommt a tempo; merkwürdig a tempo!‹

Den Oberstleutnant befiel eine kleine Verlegenheit, er wetzte auf seinem Sessel hin und her und sprach: ›Wohl, wohl. Jetzt aber heißt's überlegen. Was werden Sie antworten?‹ – ›Ich habe geantwortet.‹ – ›Sie haben?‹ – ›Worauf denn warten?‹ – ›Nun‹, meinte ich, ›schimmlig wäre Ihnen in acht Tagen die Sache nicht worden, und einem Kaufmann solche Eile zeigen ... Klugsein ist anders.‹

›Ganz recht, aber – jeder kann, was er kann, nicht mehr, nicht um das Geringste mehr. Ich kann die Ungewißheit nicht ertragen, ich muß mir die Wenn und Vielleicht abgewöhnen, die machen mich irre!‹ Indessen – immer sanftmütig und durchaus nicht wie einer, der irre ist – wandte er sich an den Oberstleutnant: ›Ich habe Herrn von Siegshofen Siebenschloß angetragen (angetragen auch noch!) um einmalhundertfünfzigtausend Gulden. Gibt er sie, und das kann man geben, dann bleiben mir nach meiner Berechnung zwanzigtausend Gulden, eher mehr als weniger.‹