Buchinfo

Nebel wabert über die Grabsteine des Greyfriars Graveyard und außer Lucy hält sich zu dieser nachtschlafenden Zeit niemand mehr auf dem Friedhof auf – eigentlich nichts Besonderes, schließlich wohnt sie hier. Auch an die Geistererscheinungen, die jeden ihrer Schritte zu beobachten scheinen, hat sie sich längst gewöhnt. Als sich jedoch merkwürdige Geistervorfälle häufen und sogar Besucher attackiert werden, wird es selbst Lucy mulmig zumute. Irgendetwas oder irgendjemand scheint auf dem Friedhof sein Unwesen zu treiben. Zusammen mit ihrer besten Freundin Amelia folgt Lucy einer unheimlichen Spur, und was sie dabei herausfinden, lässt ihnen das Blut in den Adern gefrieren …

Autorenvita

© Terzo Algeri

Janine Wilk wurde am 07.07.1977 als Kind eines Musikers und einer Malerin in Mühlacker geboren. Schon von Kindesbeinen an war die Literatur sehr wichtig für sie, mit elf Jahren schrieb sie ihre ersten Geschichten. Mit Anfang zwanzig begann sie mit der Arbeit an ihrem ersten Buch und schon bald folgten die ersten Veröffentlichungen im Bereich Lyrik und Kurzprosa. Janine Wilk lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in der Nähe von Heilbronn.

Für meinen Mann Axel

Ich danke dir für deine Liebe,

deine unermüdliche Unterstützung

und all die Träume,

die wir miteinander teilen.

»Ich werde niemals die Nacht des 31. Dezember 2015 vergessen. Es war die Nacht, in der ich zum dritten Mal starb. Obwohl ich, was Makabres und Ungewöhnliches betrifft, schon ziemlich abgehärtet bin, haben die Ereignisse dieser Zeit mich völlig aus der Fassung gebracht. Selbst meine beste Freundin und ehemalige PSI-Chef-Ermittlerin Amelia Burnett rannte nur pausenlos im Kreis, hat sich die Haare gerauft und geschrien: »Das ist doch unmöglich. Unmöglich! Ich glaube es einfach nicht.«

Deswegen habe ich beschlossen, alles, was geschehen ist, detailliert aufzuschreiben. Wer diese Zeilen liest, wird sich wahrscheinlich schwertun, mir zu glauben, und nach Beweisen fragen, doch ich kann lediglich schwören, dass alles so geschehen ist, wie ich es hier berichte …«

Auszug aus

»Chronik der paranormalen Ermittlungstruppe Greyfriars Graveyard«
Eintrag: Lucy Mackay, 5. Januar

Die Glocke der Greyfriars Kirk schlug neun Mal. In der Dunkelheit waberten Nebelschwaden zwischen den Grabsteinen umher und tasteten sich gierig an den uralten Gemäuern der Mausoleen hinauf. Obwohl der Friedhof »Greyfriars Graveyard« mitten im Herzen der Stadt Edinburgh lag, wurden das Rauschen des Verkehrs und die Stimmen der Passanten von den massiven Friedhofsmauern verschluckt. Die moderne Welt schien voller Respekt vor diesem Ort zurückzuweichen und auf dem Gelände herrschte eine geradezu gespenstische Ruhe. Den vereinzelten Laternen an den Fußwegen gelang es weder die Finsternis noch die beklemmende Stimmung, die wie ein stiller Gruß des Todes über den Gräbern lag, zu vertreiben.

Lucys Zähne klapperten, allerdings nicht vor Angst, sondern weil ihr die beißende Kälte der Dezembernacht in die Glieder kroch. Wenn sie noch länger warten musste, würde sie auf der Stelle festfrieren! Sie blickte über ihre Schulter, und als sie sicher war, dass niemand sie beobachtete, schwang sie sich leichtfüßig auf einen Baum, der direkt gegenüber einer eindrucksvollen Gruft stand. Die Grabstätte glich einem kleinen Haus, besaß ein Kuppeldach und die spitzen Eisenstacheln des Eingangstores erinnerten an tödliche Speere.

Lucy kletterte behände auf einen stabilen Ast und ließ ihre Beine baumeln. Neben ihr lagen die Utensilien aus dem Gruselshop schon für ihren Einsatz bereit. Wo blieb nur Harris mit den Touristen? Sie hätten schon vor fünfzehn Minuten hier sein sollen.

Da Geduld leider nicht zu ihren Stärken gehörte und ihr immer noch kalt war, setzte Lucy sich nach kurzer Zeit wieder auf. Mit ausgestreckten Armen begann sie auf dem Ast zu balancieren und tastete sich Schritt für Schritt vorwärts, bis der Ast bedrohlich unter ihrem Gewicht zu schwanken begann. Ein Sturz aus dieser Höhe war nicht ungefährlich, doch gerade deshalb breitete sich in Lucys Körper ein aufgeregtes Kribbeln aus, durch das sie sich mit jeder Faser ihres Seins lebendig fühlte.

»Bist du verrückt geworden?«, zischte eine körperlose Stimme aus dem Inneren des Mausoleums. »Du weißt genau, wie ich es hasse, wenn du so etwas machst!«

Lucy grinste breit. »Hast du etwa Angst um mich, Amelia?« Sie wippte einige Male demonstrativ auf und ab, ohne jedoch das Gleichgewicht zu verlieren.

»Das hättest du wohl gerne!« Ihre beste Freundin stieß ein ironisches Schnauben aus. »Ich mache mir nur Sorgen, dass du mit diesem Blödsinn unseren Auftrag verpatzt und ich diese Woche mit meinen Ersparnissen auskommen muss – die belaufen sich nämlich auf genau null Pfund.«

Lucy seufzte ergeben auf. »Na schön! Ich will schließlich nicht, dass du auf deine geliebten ›Nessie Poos‹ verzichten musst.«

Die cremigen Schokoladen-Toffees, die nach dem schottischen Wassermonster Nessie benannt worden waren, wurden hauptsächlich von Touristen gekauft, doch Amelia war regelrecht süchtig danach und gab ihr gesamtes Taschengeld dafür aus. Permanent kaute sie eines der zähen Bonbons oder pulte sich, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, deren Überreste aus den Zähnen. Dank der Nessie Poos stand Amelia jedes Mal, wenn sie zum Zahnarzt gehen musste, wahre Höllenqualen aus.

Vorsichtig arbeitete Lucy sich rückwärts laufend zu ihrem Ausgangspunkt zurück, vergaß jedoch, dass hinter ihr die fast menschengroße Sensenmann-Puppe aus dem Gruselshop auf dem Ast lag. Ihr linker Fuß glitt an einem der Plastikknochen ab und Lucy kämpfte mit rudernden Armen um ihr Gleichgewicht.

»Oh, oh«, entfuhr es ihr gerade noch, dann rutschte sie ab. Vor Schreck stieß Amelia im Mausoleum einen spitzen Schrei aus, der einem echten Gespenst alle Ehre gemacht hätte. Reflexartig streckte Lucy die Hände aus und wie durch ein Wunder gelang es ihr in letzter Sekunde, nach einem der unteren Äste zu greifen und sich daran festzuhalten. Mit einem Ruck, der ein scharfes Brennen in ihre Schultern sandte, fing Lucy ihren Sturz ab.

»Wow, das war knapp«, murmelte sie atemlos.

Im düsteren Zwielicht der Friedhofsbeleuchtung konnte sie erkennen, dass ihre Beine etwa einen halben Meter über dem Fußweg baumelten, sodass sie sich problemlos fallen lassen konnte.

»Nix passiert«, rief sie. »Ich wollte dich nur ein bisschen erschrecken.« Ob Amelia das leichte Zittern in ihrer Stimme aufgefallen war?

Doch ihre Freundin hatte im Moment anscheinend ganz andere Sorgen. »Jetzt haben wir den Salat! Harris und die Touristen sind im Anmarsch.«

Lucy drehte sich zum schmiedeeisernen Tor des Haupteingangs um und tatsächlich scharte sich dort eine etwa zehnköpfige Touristengruppe um Harris, den Führer der offiziellen »Ghost-Tour« von Edinburgh.

Er hielt sich gerade eine Taschenlampe unter das Gesicht, was seine abschreckende Wirkung nicht verfehlte, da es sein Doppelkinn und die schwammigen Wangen äußerst unvorteilhaft betonte.

»Nicht ohne Grund glauben so viele Einwohner Großbritanniens an die Existenz von Geistern«, hallte seine Stimme über den Friedhof. »Denn wir wissen, dass diese Spukgestalten existieren, Ladys und Gentlemen. Die Welt der Toten ist uns Lebenden sogar näher, als Sie ahnen.«

»Schnell«, raunte Amelia, »zurück auf den Baum!«

Lucy griff nach dem nächstbesten Ast, um sich hochzuziehen, doch in ihrer Hektik rutschte sie ab. Sie musste sofort vom Weg runter, bevor die Touristen sie entdeckten!

»In keiner anderen Stadt in Schottland wird so oft von Geisterattacken berichtet wie in Edinburgh.« Die Stimme von Harris kam näher, während er seine einstudierte Rede abspulte. »Verehrte Besucher, Sie sind durch die düsteren Gassen unserer Altstadt gelaufen, Sie haben unsere Burg mit den Wehranlagen gesehen und die unzähligen Kirchen bewundert, die mit ihren spitzen Türmen in den grauen schottischen Himmel ragen. Überall in Edinburgh ist die Vergangenheit spürbar – eine Vergangenheit voller Verbrechen, Morde, Kämpfe, Hexenverbrennungen und skrupellosen Leichenhändlern …«

Endlich bekam Lucy den Ast zu fassen. Mit klopfendem Herzen und deutlich schwerfälliger als vorhin zog sie sich in die Höhe und kletterte alles andere als lautlos den Baum hinauf. Gerade noch rechtzeitig, denn nun erreichte Harris mit seiner Gruppe den ausgetretenen Pfad, der sie zu den wartenden Mädchen führen würde.

»Nun, Ladys und Gentlemen«, sagte Harris und machte eine ausladende Handbewegung, »befinden wir uns im Zentrum dieser dunklen Seite von Edinburgh: auf dem Friedhof Greyfriars Graveyard.«

Die Touristen drängten sich dicht aneinander wie eine verängstigte Schafherde. Kein Wunder, denn in der Nacht war Greyfriars Graveyard ein wahrhaft Furcht einflößender Ort. Als wären die Nebelschwaden, die Grabsteine und die Mausoleen, die mit Skeletten und Dämonen verziert waren, nicht schon schlimm genug, fuhr Harris unerbittlich mit seinen Schauergeschichten fort: »Es befinden sich etwas mehr als vierhundert Gräber auf diesem Friedhof, doch raten Sie mal, wie viele Tote hier tatsächlich begraben liegen.«

»Vielleicht um die Tausend?«, gab eine junge Frau unsicher zurück.

»Tut mir leid, aber damit liegen Sie leider völlig falsch.« Er machte eine spannungsvolle Pause und blickte in die Runde. »Wir stehen hier auf den Gebeinen von über dreihunderttausend Verstorbenen.«

Einige der weiblichen Besucher quietschten erschrocken auf und sahen zu Boden, als ob er sich jeden Moment auftun könnte, um sie ebenfalls zu verschlingen.

In den Schatten am Rand des Weges bewegte sich etwas.

Lucy konnte erkennen, wie sich eine körperlose Hand auf die Schulter eines pummeligen Jugendlichen legte.

»Hilfe«, schrie er auf. »Ein Geist!«

Sofort wandten sich alle zu ihm um, doch außer dem Jungen, der panisch seine Schulter abtastete, war nichts mehr zu sehen.

»Ein Großteil dieser Toten stammt aus der Zeit des schwarzen Todes – der Pest!«, erzählte Harris und setzte seinen Rundgang ungerührt fort.

Gleich würden sie am Mausoleum, in dem sich Amelia versteckt hielt, ankommen. Lucy griff nach der Sensenmann-Puppe und machte sich bereit.

»Auf diesem Hügel wurden die Erkrankten in ein Massengrab geworfen und lebendig verscharrt. Ob diese Seelen bei einem solch grauenvollen Tod wohl ihren Frieden gefunden haben? Ich glaube nicht, Ladys und Gentlemen …«

Erneut nahm Lucy eine Bewegung am Rand des Weges wahr, und einige Sekunden später kreischte ein etwa zehnjähriges Mädchen aus voller Kehle auf.

»Etwas … etwas hat mich an den Haaren gezogen. Ich habe es genau gespürt. Das war keine Einbildung!«

Harris, der schon auf die fünfzig zuging, lächelte sie mitfühlend an. »Die Geister von Greyfriars Graveyard mögen es nicht, wenn man ihre Ruhe stört. Wenn du dich vor ihnen fürchtest, kannst du an meiner Seite bleiben – an mich sind sie schon gewöhnt.«

Wie der Blitz eilte das Mädchen zu ihm und ergriff seine Hand.

Lucy saß auf ihrem Baum und schüttelte entnervt den Kopf. Die Geister von Greyfriars Graveyard – von wegen! Leider wusste Lucy als Tochter des Friedhofswärters nur allzu gut, dass sich an diesem Ort Dinge ereigneten, die einem durchaus die Haare zu Berge stehen ließen, doch die hatten nichts mit Harris’ Gruselshow zu tun.

»Nun werden wir gleich den gefährlichsten Bereich des Friedhofs betreten, der als das ›Gefängnis der Rebellen‹ oder auch als ›Covenanters Prison‹ bekannt ist. Wir wissen nicht mit Sicherheit, weshalb es diesen Namen trägt, doch was hier geschehen ist, muss unsere wildesten Fantasien übertreffen. Das kann man jedenfalls aus der Heftigkeit der Geisterattacken schließen.«

Harris hob seinen Zeigefinger. Das geheime Zeichen, dass Amelia und Lucy sich bereithalten sollten. »Ich möchte Sie noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Veranstalter der ›Ghost-Tour‹ keine Haftung für körperliche oder seelische Schäden übernimmt. Wer sich diesem Risiko nicht aussetzen möchte, sollte den Rundgang an dieser Stelle abbrechen!«

Einige der Touristen schienen schon zu bereuen, dass sie diese Tour gebucht hatten. In der Theorie klang eine Geistertour offenbar sehr viel verlockender, als sie in Wirklichkeit war. Keiner von ihnen gab sich jedoch die Blöße, Harris’ Angebot anzunehmen.

»Jetzt wird es ernst«, murmelte Lucy. Alles hing vom richtigen Timing ab.

Die Gruppe lief den Fußweg entlang und die wuchtige Gestalt von Harris hatte Lucys Baum bereits passiert, als ein grausiges Scharren und Stöhnen aus dem Inneren des Mausoleums erklang. Einige der Touristen griffen sich gegenseitig an den Händen. Ein verzweifeltes Schluchzen war zu hören, das durch das Echo im Mausoleum unwirklich und substanzlos wirkte.

»Ist das … ein Geist?«, fragte der Vater des Mädchens und schluckte schwer.

»Er kommt«, wimmerte die Stimme, die vor Panik immer schriller wurde. »Er wird uns alle holen! Niemand kann ihm entkommen …«

In diesem Moment ließ Lucy die Sensenmann-Puppe vom Baum fallen, sodass sie an ihrem geschwärzten Seil inmitten der Gruppe baumelte, als würde sie in ihrem Kapuzenmantel in der Dunkelheit schweben. Mithilfe eines zweiten Seils hob Lucy die knöcherne Hand der Puppe und ließ die täuschend echte Plastiksense warnend in Richtung der Touristen fahren. Einige stießen ängstliche Schreie aus, wichen zurück und stolperten über ihre eigenen Füße.

Lucy sah, wie das Mädchen an Harris’ Hand zu weinen anfing. Die Arme zitterte am ganzen Leib und rang panisch nach Atem.

Lucy überlegte nicht lange. Sie hob die andere Hand des Sensenmannes und winkte damit fröhlich in die Runde. »Hallöchen«, verlieh sie ihm eine melodiöse Fistelstimme. »Wissen Sie zufällig, wo hier der nächste Burger-Laden ist? Ich sterbe fast vor Hunger.«

Die Angst der Besucher wandelte sich augenblicklich in erleichtertes Gelächter. Die meisten stießen sich gegenseitig grinsend an, während andere schon ihr Handy gezückt hatten, um ein Foto vom schwebenden Sensenmann zu machen. Selbst das zehnjährige Mädchen lachte nun wieder und lugte neugierig unter den Kapuzenumhang der Puppe.

Harris warf einen wütenden Blick nach oben zu Lucys Versteck, denn anstatt einen Witz zu machen, hätte sie eigentlich einige unheilvolle Drohungen ausstoßen sollen, um die Gruselstimmung noch zu verstärken.

Lucy kümmerte das allerdings wenig und sie bat stattdessen das Mädchen mit ihrer melodiösen Sensenmannstimme, dass sie aufhören solle, unter sein Kapuzenkleid zu gucken, da er darunter buchstäblich nackt bis auf die Knochen sei.

»Ladys und Gentlemen«, nahm Harris den Faden wieder auf, »nach diesem kleinen Schrecken wollen wir uns jetzt wieder der Geisterwelt von Greyfriars Graveyard zuwenden. Gehen wir nun, wie bereits angekündigt, in das Gefängnis der Rebellen …«

Schwatzend und lachend folgten ihm die Touristen. Offenbar erwartete nun niemand mehr, tatsächlich auf einen leibhaftigen Geist zu treffen.

Nachdem sie außer Sichtweite waren, kletterte Lucy vom Baum herunter, wo Amelia schon auf sie wartete.

»Ich finde, heute habe ich mich selbst übertroffen«, meinte sie gut gelaunt. »Die haben sich fast in die Hose gemacht vor Angst.« Amelia verzog das Gesicht und fing wie auf Kommando an zu schluchzen: »Er kommt! Er wird uns alle holen

»Harris wird bestimmt hochzufrieden mit dir sein«, musste Lucy ihr recht geben.

Sie klemmte sich die Sensenmann-Puppe unter den Arm und die beiden schlugen den Pfad in Richtung Kirche ein. Unvermittelt trat vor ihnen eine männliche Gestalt in einem zerlumpten Mantel in den Lichtkreis einer Laterne und schnitt ihnen den Weg ab.

»Hallo, Spooky-Stevie!«, begrüßten die Mädchen den Ankömmling, der ihr Lächeln ebenso freundlich erwiderte.

»Du warst wie immer super, Amelia«, knüpfte der Obdachlose an das Gespräch der beiden an, »aber ohne mich wärt ihr verloren! Erst dank meiner meisterhaften Vorbereitung bringt ihr die Touristen zum Kreischen.«

Er grinste breit und entblößte dabei eine Zahnlücke, die jedes Mal, wenn er einen Seufzer ausstieß, ein pfeifendes Geräusch verursachte. Um von den Touristen beim Anschleichen nicht entdeckt zu werden und mit der Dunkelheit zu verschmelzen, hatte er sich das Gesicht und die Hände mit Kohle schwarz gefärbt.

»Zugegeben, ihr seid gut, aber Wilfred Mac William hier«, dabei deutete Lucy auf die Sensenmann-Puppe, »war mal wieder ohne Frage der Höhepunkt der heutigen Tour.«

»Wilfred Mac William?«, wiederholte Spooky-Stevie schmunzelnd. »Letzte Woche hast du ihn noch George Lukas genannt und ihm ein Leuchtschwert anstatt der Sense in die Knochenhand geklebt.«

Lucy lächelte versonnen. »Das war wirklich witzig!«

»Irgendwann schmeißt dich Harris deswegen noch raus«, prophezeite Amelia und zupfte an ihrer mit türkisfarbenen Federn und Glitzersteinen geschmückten Haarspange herum. Neben ihrer Schwäche für Nessie Poos besaß sie auch eine Vorliebe für knallbunte Klamotten und auffällige Haarutensilien. Lucy fand das ungeheuer praktisch, da sie Amelia selbst inmitten einer Menschenmenge relativ leicht ausmachen konnte.

»Das würde Harris sich niemals trauen!«, widersprach sie. »Immerhin ist mein Vater der Friedhofswärter und ohne dessen Zustimmung könnte er seine Ghost-Touren überhaupt nicht durchführen.«

Sie gingen weiter und passierten die Kirche, die wie fast jedes Gebäude in Edinburgh eine geschichtsträchtige Vergangenheit besaß. Sogar in die Kirchenfassade waren Grabsteine eingelassen, was dem Gotteshaus ein etwas Furcht einflößendes Aussehen verlieh. Auf einer Tafel war ein nach hinten geneigtes grusliges Skelett eingemeißelt, von dem Lucy jedoch steif und fest behauptete, es würde gerade Limbo tanzen.

»Harris hat mir unser Honorar übrigens schon heute Mittag gegeben«, erzählte Spooky-Stevie und putzte sich schniefend die Nase. »Wenn ihr mich zu meinem bescheidenen Heim begleitet, gebe ich euch euren Anteil.«

Amelia verzog bedauernd das Gesicht. »Tut mir leid, aber ich muss gleich heim. Ich habe meiner Mutter hoch und heilig versprochen, um zehn im Bett zu liegen, weil wir morgen diese doofe Chemiearbeit schreiben.«

Amelias Mutter war alleinerziehend, und um die Miete bezahlen zu können, arbeitete sie neben ihrem Job als Reinigungskraft abends als Bedienung in einem Pub in der »New Town« von Edinburgh. Deshalb vertraute sie darauf, dass Amelia sich erwachsen verhielt und die Regeln befolgte, was diese auch tat – meistens jedenfalls.

Amelia umarmte Lucy zum Abschied. »Bis morgen früh! Und bring bitte meinen Anteil mit in die Schule – ich brauche unbedingt einen frischen Vorrat an Buttertoffees.«

»Klar, wird gemacht!«

Während Amelia in Richtung Haupteingang flitzte, liefen Spooky-Stevie und Lucy gemeinsam den Berg hinab. Hier, auf dem nordwestlichen Teil des Friedhofs, befanden sich nur noch vereinzelte, teilweise kunstvoll gefertigte Grabsteine, sodass es an sonnigen Tagen weniger an einen Ort der Trauer erinnerte, sondern eher an einen Park mit extravaganten Skulpturen. Auf den freien Wiesenflächen wurde im Sommer sogar im Schatten der Bäume gepicknickt, da man von hier aus einen atemberaubenden Blick auf die Burg und die mittelalterlichen Hochhäuser der Altstadt hatte. Jetzt im Winter und bei Nacht war das natürlich nur schwer vorstellbar.

»Heute warst du ganz schön langsam!«, zog Lucy den Obdachlosen auf. »Ich hab dich genau gesehen, als du dich an die Touristen herangeschlichen hast.«

Sie stieß ihn freundschaftlich in die Seite, wozu sie sich allerdings auf die Zehenspitzen stellen musste. Für ihre dreizehn Jahre war sie relativ klein geraten, doch laut ihrem Vater machte Lucy dies durch ihre Lebhaftigkeit und ihre Kommunikationsfreude wieder wett. Er hatte dabei allerdings nicht exakt diesen Wortlaut benutzt. Soweit Lucy sich erinnern konnte, hatte er von »Hyperaktivität« und einer »zu frechen Klappe« gesprochen.

»Beleidige bitte nicht den Meister!« Stevie schniefte pikiert und zupfte seinen abgewetzten Schal zurecht. Früher hatte er als Taschendieb in den Straßen Edinburghs »gearbeitet«, doch mittlerweile zog er einen weniger kriminellen Beruf und ein ruhigeres Leben vor. »Zwar bin ich nicht mehr so fix wie zu meinen besten Zeiten, aber ich war immer noch schnell genug, um nicht entdeckt zu werden.«

Über sein wahres Alter schwieg Stevie sich aus, doch sein wettergegerbtes Gesicht und die kurz rasierten weißen Haare verrieten, dass er schon über fünfzig war. Lucys Vater hatte ihn eines Morgens nach einer verregneten Nacht schlafend in einem der Mausoleen entdeckt, da der Obdachlose einen trockenen Unterschlupf gesucht hatte. Stevie gefiel es dort so gut, dass er sich weder durch gutes Zureden noch durch die Polizei auf Dauer hatte vertreiben lassen. Er meinte, er benötigte viel dringender ein Dach über dem Kopf als die toten Seelen. Schließlich hatten er und Lucys Vater einen Kompromiss geschlossen: Stevie durfte bleiben, wenn er nachts ein Auge auf den Friedhof hatte und jugendliche Randalierer vertrieb, die ab und an einbrachen, um die Grabsteine mit Graffiti zu besprühen oder anderen Unsinn anzustellen. Somit lebte Stevie Seite an Seite mit den toten Einwohnern von Greyfriars Graveyard, was ihm den Spitznamen Spooky-Stevie eingebracht hatte.

Endlich erreichten sie das windschiefe Mausoleum, das ihm als Zuhause diente. Trotz der Bewegung und ihrer dick gefütterten Daunenjacke ließ die Kälte Lucy frösteln.

»Hinein ins traute Heim!«, verkündete er, wobei das Ende seines Satzes in einen Hustenanfall überging.

In dem winzigen Raum war gerade einmal genug Platz für eine Pritsche, ein Regal und einen improvisierten Küchenbereich – bestehend aus einem Campingkocher, zwei Töpfen und einem Vorrat Dosensuppen. An der Wand erinnerten lediglich zwei Gedenktafeln, deren Inschriften kaum noch zu entziffern waren, an den wahren Zweck des kleinen Häuschens. Die Besitzer waren schon vor einigen Jahrhunderten verstorben und es war zu bezweifeln, dass es noch irgendwo Angehörige gab, die um sie trauern wollten.

Lucy hüpfte auf der Stelle, um sich warm zu halten, wodurch ihr die schulterlangen dunkelbraunen Locken wirr ins Gesicht fielen. »Wie kannst du hier nur schlafen? Ich würde zu einem Eisklotz gefrieren.«

»Alles Gewöhnungssache«, wiegelte Stevie ab, während ihn erneut ein Hustenanfall schüttelte. Er zog seine Handschuhe aus und holte ein Buch aus dem Regal. Daneben befand sich ansonsten nur noch ein mit Malstiften verzierter Bilderrahmen, dessen vergilbtes Foto Stevie als jungen Mann mit seiner Frau und seiner etwa vierjährigen Tochter zeigte. Er sprach nicht oft über sie, doch Lucy wusste, dass die beiden einen tödlichen Autounfall gehabt hatten und Stevie über diesen schweren Verlust nie hinweggekommen war. Deswegen war er schließlich obdachlos geworden und auf die schiefe Bahn geraten.

»Richtig schlimm wird die Kälte erst, wenn der Wind aus der Bucht kommt. Dann macht mir immer meine Arthritis zu schaffen.«

Stevie klappte das Buch auf, das innen hohl war und seine gesamten Ersparnisse enthielt. Selbst auf die Schnelle konnte Lucy erkennen, dass es sich dabei um äußerst wenig Geld handelte.

Er drückte ihr vier Einpfund-Münzen in die Hand. »Hier bitte, euer Anteil!«

Lucy nahm lediglich zwei der Münzen und steckte sie sich in die Tasche, um sie am nächsten Tag Amelia zu geben. »Behalt den Rest, Stevie. Kauf dir davon Hustensaft oder einen neuen Schal.«

»Das kann ich nicht annehmen! Du hast dafür gearbeitet und dein Taschengeld ist auch nicht gerade üppig.«

»Damit komme ich schon aus«, gab sie schulterzuckend zurück. »Aber du achtest ein bisschen mehr auf deine Gesundheit, okay?«

Er nickte widerstrebend und fuhr sich mit dem Ärmel seines zerlumpten Mantels über den Mund. »Danke! Du hast das Herz auf dem rechten Fleck, Mädchen.«

Lucy spürte, wie ihre Wangen sich röteten. »Gar nicht!«, gab sie etwas ruppig zurück und deutete auf seinen Hals. »Dieses zerfledderte Etwas von einem Schal beleidigt nur mein modisch geschultes Auge.«

Stevie zwinkerte ihr zu. »Schon klar. Ich erzähle auch niemandem von deiner guten Tat, versprochen!«

»Das will ich hoffen.« Sie grinste und öffnete die Tür. Sofort drängte sich ein Schwall kalter Nachtluft herein. »Nachher bekomme ich noch einen guten Ruf, stell dir das mal vor! Dabei fühle ich mich in meiner Außenseiterrolle doch so wohl: Lucy Mackay, das Mädchen, das auf einem Friedhof lebt, mit einer Spinnerin befreundet ist und gruslige Augen hat.«

Anstatt über ihren kleinen Scherz zu lachen, musterte Spooky-Stevie sie mit ernster Miene.

Reflexartig wandte Lucy sich ab, wie immer, wenn sie das Gefühl hatte, angestarrt zu werden – selbst wenn es sich dabei um ihre Freunde handelte. Doch aufgrund ihrer unnatürlichen Augenfarbe kam Lucy sich missgestaltet und abstoßend vor. An guten Tagen hatte ihre Iris eine extrem hellblaue Tönung, oft genug wirkte sie jedoch fast farblos, was die meisten Menschen befremdlich und manchmal auch abweisend reagieren ließ. Das waren die Momente, in denen Lucys Schlagfertigkeit und ihr schwarzer Humor sie meistens im Stich ließen.

Allerdings schien sie seinen Blick falsch gedeutet zu haben und Stevie beschäftigten offenbar ganz andere Dinge. »Pass auf dich auf da draußen, Lucy!«

Mit einem unbehaglichen Gesichtsausdruck sah er über ihre Schulter hinaus auf die nebelumrankten Grabsteine. »Dieser Friedhof ist kein Ort, an dem sich ein dreizehnjähriges Mädchen aufhalten sollte. Weißt du, manchmal denke ich, dass …« Er stockte.

Sie wartete, doch als er nicht weitersprach, hakte sie nach: »Was denkst du manchmal?«

»Vielleicht hat Harris mit seinen Schauergeschichten gar nicht so unrecht? Womöglich ist dieser Friedhof tatsächlich ein Ort des Bösen. In letzter Zeit wache ich oft mitten in der Nacht auf und habe das Gefühl, dass ich nicht mehr alleine bin. Als ob etwas Bedrohliches in meiner Nähe wäre und ich mich so schnell wie möglich aus dem Staub machen sollte.«

Lucy wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Bisher hatte er sich immer über die Ghost-Tour lustig gemacht und noch nie war ihm auch nur die kleinste Andeutung über die Lippen gekommen, dass er seinen Wohnort als unheimlich empfand.

»Du lebst in einem Mausoleum, Stevie«, wandte sie ein. »Die meisten Leute würden Albträume kriegen, wenn sie hier schlafen müssten. So ein Gefühl ist bestimmt ganz normal.«

Er schien einen Augenblick zu zögern, dann stieß er die Luft aus.

»Aye, du hast ganz sicher recht!«, stimmte er ihr mit einem halbherzigen Lächeln zu. »Hoffentlich habe ich dir keine Angst eingejagt? Lass dich von meinem dummen Gerede bitte nicht beeindrucken!« Er wedelte mit den Händen in Richtung Tür. »Jetzt ab mit dir nach Hause! Sonst bekomme ich noch Ärger mit deinem Vater.«

Entschlossen marschierte Lucy mit »Wilfred Mac William« im Arm den Weg zurück, den sie mit Stevie gekommen war, und versuchte, das ungute Gefühl in ihrer Magengrube zu ignorieren. Hatte sie Stevies Sorgen nicht ernst genug genommen? Allerdings war eine Diskussion über die Geister in Greyfriars Graveyard nun wirklich das letzte Thema, über das Lucy sich unterhalten wollte, denn unweigerlich hätte sie dann zu einer Lüge greifen müssen. Es reichte schon, dass sie Amelia in ihr dunkles Geheimnis eingeweiht hatte.

Lucy rieb sich über ihre brennenden Augen und stellte fest, dass sie hundemüde und reif fürs Bett war. Dabei hatte sie eigentlich noch einen kurzen Blick in ihr Chemiebuch werfen wollen. Zwar schrieb sie zum Glück nicht ganz so schlechte Noten wie Amelia, aber auf die kommende Arbeit war sie nicht besonders gut vorbereitet.

Das Eingangstor war mittlerweile verriegelt, was bedeutete, dass die Ghost-Tour beendet war und der Friedhof völlig verlassen vor ihr lag. Bis zum alten Steinhaus des Friedhofswärters, in dem Lucy mit ihrem Vater wohnte, war es jedoch nicht mehr weit und schon jetzt konnte sie die schmiedeeiserne Außenlampe am Hintereingang sehen, deren warmer Lichtschein Lucy zu sich lockte.

Sie beschleunigte ihre Schritte, doch in diesem Moment nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Abrupt blieb Lucy stehen, trotzdem wagte sie es nicht, sich umzudrehen. Ihr Herz schlug bis zum Hals.

»Bitte nicht schon wieder«, flüsterte sie kaum hörbar. All ihr Mut schien sie mit einem Mal verlassen zu haben. »Bleibt weg von mir!«

Lucy war wohl die Einzige, die Harris’ Schauergeschichten bestätigen konnte und wusste, dass ein Fünkchen Wahrheit darin steckte. Vielleicht lag es daran, dass Lucy an einem Ort geboren worden war, der allein den Toten gehören sollte, denn seit ihrer frühesten Kindheit konnte sie die schattenhaften Umrisse von Personen sehen, die außer ihr niemand wahrzunehmen schien: Es waren die untoten Seelen von Greyfriars Graveyard.

Ihre Körper und Gesichter schienen von innen heraus zu leuchten, doch sie besaßen keinerlei Farbe, genau wie bei einem Schwarz-Weiß-Foto, weshalb Lucy sie auch »die Grauen« getauft hatte. Einige von ihnen wirkten völlig unversehrt, während andere grauenvolle Verstümmelungen aufwiesen, die Lucy regelmäßig Albträume bescherten. Die Umrisse dieser Gestalten zerfaserten zu den Rändern hin und anstatt Augen besaßen sie nur noch tiefe dunkle Höhlen. Trotzdem starrten die Grauen Lucy unverwandt an und es waren genau diese toten Blicke, die das Mädchen am grusligsten fand.

»Jetzt sei keine Memme!«, befahl sie sich selbst. Schließlich war Lucy kein kleines Kind mehr und sollte sich an den Anblick inzwischen gewöhnt haben.

Das Gespräch mit Spooky-Stevie kam ihr in den Sinn. Dass ein Mann wie er, der schon so viel erlebt und gesehen hatte, Greyfriars Graveyard plötzlich als Ort des Bösen bezeichnete, hatte Lucy wohl mehr verunsichert, als sie sich hatte eingestehen wollen.

Sie drehte den Kopf ein wenig zur Seite und versuchte, etwas zwischen den Bäumen und Gräbern zu ihrer Rechten auszumachen. Die Grauen zeigten sich verstärkt bei Dunkelheit, Kälte und Vollmond, weshalb Lucy heute Abend eigentlich mit der Gefahr hätte rechnen müssen. Wie immer hatte sie jedoch insgeheim gehofft, dass der Spuk endlich ein Ende gefunden hatte und sie diese unheimliche »Begabung«, wie Amelia sie zu nennen pflegte, inzwischen verloren hatte.

Trotz der Kälte sammelten sich Schweißperlen auf Lucys Stirn. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Auch die vibrierenden Schwingungen, die sie normalerweise bei solchen Erscheinungen spüren konnte, blieben aus. Ob sie sich die Bewegung vielleicht nur eingebildet hatte? Im Grunde war die Antwort auf diese Frage jedoch gleichgültig, denn Lucy durfte sich ohnehin nicht anmerken lassen, dass sie eine der untoten Seele von Greyfriars Graveyard wahrnehmen konnte.

Aus leidvoller Erfahrung wusste sie nämlich, dass manche der Grauen dann förmlich an ihr klebten und um jeden Preis ihre Aufmerksamkeit erringen wollten. Sie schienen einfach nicht begreifen zu wollen, dass Lucy weder mit ihnen reden noch etwas anderes für sie tun konnte. Mittlerweile hatte Lucy schon Übung darin, solche penetranten Geister zu ignorieren, und spätestens an ihrem Haus gelang es ihr jedes Mal, ihre unheimlichen Verfolger abzuschütteln. Zum Glück, denn ansonsten wäre sie wohl schon in einer geschlossenen Anstalt gelandet.

Lucy löste sich aus ihrer Erstarrung und mit zitternden Knien lief sie weiter den Pfad entlang. Das Licht der Hintertür schien mit einem Mal unendlich weit entfernt zu sein. Denn es waren nicht allein die Grauen, die Lucy derart in Angst und Schrecken versetzten. Es gab noch eine andere, weitaus schlimmere und bedrohlichere Art von untoten Seelen – und denen wollte Lucy keinesfalls begegnen.

Erneut nahm sie eine Bewegung zu ihrer Rechten wahr und dieses Mal war Lucy sicher, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Mit klopfendem Herzen blickte sie stur geradeaus und fixierte den Halbkreis aus Licht, den die gusseiserne Laterne in die Dunkelheit sandte und Lucy tröstende Sicherheit versprach. Ihre Schritte beschleunigten sich, mittlerweile rannte sie fast. Nur noch ein paar Meter …

Etwas berührte unvermittelt ihren Knöchel, sodass Lucy ins Straucheln geriet. Sie ließ die Sensenmann-Puppe abrupt fallen, ruderte mit den Armen, kämpfte um ihr Gleichgewicht und stürzte unsanft zu Boden. Zum Glück gelang es ihr noch, sich auf die Seite zu drehen und ihr Gewicht mit der Schulter abzufangen. Sie landete neben einem Grabstein, der direkt am Wegesrand windschief aus der Erde ragte.

Doch Lucy spürte den Schmerz des Sturzes kaum, denn Panik überflutete sie. Das Wesen hatte sie angefasst! Das bedeutete, dass es keiner der harmlosen Grauen war, sondern es zu den anderen Exemplaren gehörte, den wirklich bösen Geistern, die Lucy nicht nur verfolgten, sondern …

In diesem Augenblick schlabberte eine warme Zunge über ihre Wange und arbeitete sich hingebungsvoll zu ihrem linken Ohr vor. Lucy wollte den Kopf wegdrehen, doch eine verdreckte Pfote landete unsanft auf ihrem Kinn, um sie an Ort und Stelle zu halten.

»Bobby!«, nuschelte Lucy und schlug die Pfote weg. »Hör auf! Aus!«

Der kleine Skye Terrier mit dem schwarzen Fell ließ sich durch ihren Befehl nicht im Mindesten beeindrucken und trampelte schwanzwedelnd auf ihr herum. Bobby tat grundsätzlich nie, was man von ihm verlangte. Sich widerspenstig zu verhalten, war eines seiner Lieblingshobbys, genauso wie mit lautem Gebell kreischende Touristen über den Friedhof zu jagen, zwei bis drei Mal am Tag abzuhauen und Löcher in Grabstellen zu buddeln.

Lucy stieß einen Seufzer aus und ließ das ungestüme Begrüßungsritual widerstandslos über sich ergehen. Sie war viel zu erleichtert, weil sich ihre Befürchtungen als unbegründet erwiesen hatten, um ernsthaft sauer zu sein. Wahrscheinlich hatte Bobby nur ein Gebüsch am Wegesrand zum Wackeln gebracht und durch das Gespräch mit Spooky-Stevie war Lucy so auf der Hut gewesen, dass sie sprichwörtlich Gespenster gesehen hatte.

»Bobby! Wo steckst du schon wieder?« Das war eindeutig die Stimme ihres Vaters und er klang äußerst verärgert. »Komm her, Bobby! Hiiiier!«

Der Skye Terrier blickte auf und wackelte mit den Ohren. Lucy konnte ihm förmlich ansehen, wie es in seinem kleinen Köpfchen zu rattern begann. Sollte er gehorchen oder lieber wegrennen und mit seinem Herrchen noch ein wenig Fangen spielen? Schon drehte er sich um und wollte davonflitzen, doch Lucy hielt ihn blitzschnell fest und presste ihn an sich.

»Hab dich, du gerissener Gauner!«, flüsterte sie ihm ins Ohr und rief laut: »Hier ist er, Dad.«

Während ihr Vater immer noch hoffte, Bobby zu einem folgsamen Hund erziehen zu können, hatte Lucy den Kleinen längst durchschaut und wusste genau, wie er tickte.

Die Taschenlampe ihres Vaters leuchtete ihr in die Augen. »Was machst du denn um diese Uhrzeit noch hier draußen?«, fragte Tom Mackay verblüfft. »Ich dachte, du liegst schon im Bett.«

»Ich hatte noch etwas zu tun«, entgegnete sie ausweichend.

Sie rappelte sich auf, während Bobby sich in ihren Armen wand, um freizukommen.

»Hast du Harris wieder bei seinem Hokuspokus geholfen?« Ihr Vater schüttelte missmutig den Kopf. »Du weißt, dass ich das nicht gutheiße. Mir reicht es schon, dass diese Touren in Greyfriars Graveyard überhaupt stattfinden. Meine eigene Tochter sollte bei diesem Affentheater nicht auch noch mitmachen!«

Lucy musste sich ein gequältes Stöhnen verkneifen – über dieses Thema hatten sie schon unzählige Male diskutiert. Zwar wollte Tom Mackay seiner Tochter diesen kleinen Nebenverdienst nicht offiziell verbieten, doch immer wieder appellierte er an ihre Vernunft und Moral, da seiner Meinung nach ein Friedhof ein Ort der Ruhe und des Friedens sein sollte. Auch prophezeite er stets in unheilvollem Tonfall, dass irgendwann einer der Touristen vor Schreck noch einen Herzinfarkt bekommen würde. Aber auch Lucys Vater konnte nicht leugnen, dass Harris’ Touren profitabel waren und Geld in die chronisch leere Friedhofskasse brachten.

Zum Glück widmete er sich nun jedoch Bobby. »Siehst du das?« Tom Mackay hob die Leine in die Höhe, an der ein leeres Halsband baumelte. »Das ist böse, Bobby! Ein braver Hund macht so etwas nicht. Ich stand an der Straße wie ein Idiot, während du wie der Blitz weggerannt bist. Pfui!«

Beim Anblick der Leine wedelte Bobby erfreut mit dem Schwanz.

»Das hat keinen Sinn, Dad«, meinte Lucy. »Wenn du mit ihm schimpfst, bringt das überhaupt nichts. Genau wie bei mir«, fügte sie etwas spitz hinzu.

Ihr Vater fuhr sich entnervt durch seine rotblonden Haare. Wenn er sie länger trug, begannen sie sich genauso zu kringeln wie bei Lucy und auch die knubbelige Stupsnase hatte er ihr vererbt. Darauf beschränkten sich jedoch auch schon die Gemeinsamkeiten zwischen Vater und Tochter. Die beiden hätten kaum unterschiedlicher sein können, und seit Lucys Mutter vor knapp zwei Jahren verschwunden war, herrschte zwischen ihnen fast immerzu eine angespannte Stimmung.

»Niemand macht hier, was ich sage«, murrte er, während er zur Hintertür stapfte.

Im Flur empfing Lucy eine wohltuende Wärme. Sie zog Jacke, Schal und Handschuhe aus und folgte ihrem Vater ins Wohnzimmer, wo im Kamin ein gemütliches Feuer brannte. Mit einem unguten Gefühl in der Magengrube dachte Lucy an Spooky-Stevie, der sich draußen in dem eisigen Mausoleum wahrscheinlich gerade schlafen legte. Auch wenn sie in dem einfachen Steinhäuschen des Friedhofswärters nicht gerade luxuriös lebten, so hatten sie und ihr Vater es dennoch sehr viel besser als der Obdachlose.

»Magst du einen Tee, bevor du ins Bett gehst?«, fragte Tom Mackay.

Wegen der Deckenbalken musste ihr hochgewachsener Vater seinen Kopf in dem niedrigen Raum immer leicht schräg halten. Ein Problem, das Lucy leider völlig unbekannt war, denn sie hatte die Größe und den zierlichen Körperbau von ihrer Mutter.

Sie nickte zustimmend. Ein schöner heißer Tee würde den Schrecken, den ihr Bobby auf dem Friedhof gerade eingejagt hatte, sicher schnell wieder vergessen machen.

Tief in ihrem Inneren wusste Lucy jedoch, dass sie heute lediglich Glück gehabt hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihr tatsächlich wieder eines dieser teuflischen Geistwesen begegnete. Sie unterschieden sich sowohl in ihrem Aussehen als auch in ihrem Verhalten erheblich von den Grauen, weshalb ihre Freundin Amelia sie »Vexator« getauft hatte, was übersetzt so viel wie »böser Plagegeist« bedeutete. Ein Ausdruck, der Lucys Meinung nach nicht einmal im Ansatz den Schrecken beschrieb, den diese machtvollen Geister in ihr hervorriefen.

Während Bobby sich mit einem Seufzen vor dem Kamin niederließ, verschwand Lucys Vater im Durchgang zur Küche, wobei der Vorhang aus halbierten Kokosnussschalen ein dumpfes Scheppern verursachte. Lucy und ihre Mutter hatten ihn vor Jahren gebastelt und mit einem Stich im Herzen erinnerte Lucy sich daran, wie viel Spaß sie dabei gehabt hatte. Überall im Zimmer war die Gegenwart von Anne Mackay noch spürbar. Um dem trüben Wetter und den Grabsteinen vor den Fenstern eine fröhliche Atmosphäre entgegenzusetzen, hatte sie dem Wohnzimmer der Mackays einen »schottischen Karibikflair« verpasst. So stand in der Zimmerecke neben dem Rattansofa eine Fächerpalme, die mit ihren gelbgrünen Blättern jedoch recht kümmerlich wirkte, und auf die sonnengelbe Tapete hatte Lucys Mutter kirschrote Hibiskusblüten aufgemalt. Mit dem künstlichen Papagei, der über dem Kamin von der Decke baumelte, war sie dann allerdings ein wenig über das Ziel hinausgeschossen.

Lucy gefiel diese seltsame Mischung, aber ihr Vater sprach andauernd davon, das Haus endlich einmal von Grund auf zu renovieren und neu zu gestalten. Da sein Einkommen als Friedhofswärter jedoch recht mager ausfiel, fehlte ihnen dafür ohnehin das Geld.

»Was überlegst du denn so angestrengt?«

Ihr Vater hielt ihr eine Tasse hin und Lucy fiel auf, dass dunkle Ringe unter seinen grünen Augen lagen. Er wirkte ungewohnt angespannt, was für ihn völlig untypisch war. Ob ihn irgendwelche Sorgen plagten?

Sie nahm den dampfenden Tee dankbar entgegen und setzte sich aufs Sofa, während ihr Vater in seinem verschlissenen Ledersessel Platz nahm.

»Ich habe gerade an Mom gedacht.«

Sofort verdunkelte sich sein Gesicht. »Oh.« Er presste die Lippen zusammen.

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus und bis auf Bobbys winselnde Schlafgeräusche war es still im Zimmer.

Schließlich räusperte sich ihr Vater. »Lucy, das ist kein einfaches Thema für mich. Aber wenn du über sie sprechen willst, meinetwegen …«

Lucy blickte ihn erwartungsvoll an, doch dies war offenbar alles, was er dazu sagen wollte. So leicht ließ sie sich allerdings nicht abwimmeln.

»Glaubst du, es geht ihr gut?«

Ihr Vater hielt mitten in der Bewegung inne, wodurch etwas Tee über den Rand der Tasse auf seine Hose schwappte. Er stieß einen herzhaften Fluch aus.

»Keine Ahnung«, antwortete er knapp.

Vor fast zwei Jahren war Lucys Mutter ohne ein Wort des Abschieds verschwunden. Da ihre Kleider und einige ihrer persönlichen Dinge gefehlt hatten, ging die Polizei davon aus, dass Anne Mackay ihre Familie verlassen hatte. Lucys Meinung nach musste man nicht lange fragen, wer Schuld daran hatte, dass ihre Mutter derart verzweifelt gewesen war: Tom Mackay. Welche Frau wollte denn schon mitten auf einem Friedhof zwischen Grabsteinen und Mausoleen leben? Und als wäre der Furcht einflößende Wohnort noch nicht schlimm genug gewesen, war Lucys Vater selbst auch kein Ausbund an Fröhlichkeit und Unbeschwertheit. In seiner Freizeit saß er am liebsten in seinem Sessel, paffte an einer Pfeife und nippte genießerisch an seinem Whisky. Sein einziges Hobby galt der Ahnenforschung, doch alte Unterlagen zu durchforsten und Stammbäume der Mackays zu erstellen, war in Lucys Augen der absolute Gipfel der Langeweile. Immer wenn sie ihn danach fragte, was er an der Auflistung von Namen, Geburts- und Todesdaten so interessant fand, antwortete er: »Namen sind wichtig, Lucy. Am Ende ist das alles, was von uns übrig bleibt: unser Name und ein paar flüchtige Erinnerungen.«

Was sie ihrer Mutter jedoch wirklich übel nahm, war, dass sie Lucy nicht mitgenommen hatte. Wahrscheinlich hatte Anne Mackay geglaubt, dass es für ihre Tochter zu schwer gewesen wäre, sich von Amelia, ihren Freunden in der Schule und ihrem Vater zu trennen. Allerdings wäre Lucy für immer von den schrecklichen Geistern in Greyfriars Graveyard befreit gewesen – und dafür hätte sie alles aufgegeben.

»Denkst du, dass Mom wiederkommt?«, bohrte sie weiter.

Ihr Vater schwieg so lange, dass Lucy schon glaubte, er würde ihr überhaupt nicht mehr antworten. Schließlich sagte er nur ein einziges Wort, so leise, dass es kaum zu hören war: »Nein.«

Er hatte also die Hoffnung aufgegeben, sie konnte es nicht fassen.

»Du irrst dich«, widersprach Lucy aufgeregt. »Sie wird zurückkommen, davon bin ich überzeugt. Mom hat mich nicht vergessen und bestimmt meldet sie sich schon bald. Vielleicht schreibt sie mir zu Weihnachten sogar eine Karte?«

»Du musst der Wahrheit endlich ins Gesicht sehen, Lucy! Es hat keinen Sinn mehr, auf ein Lebenszeichen von ihr zu warten.«

Die Sanftheit in seiner Stimme stand in krassem Gegensatz zu dem, was er Lucy an den Kopf geworfen hatte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch Lucy schluckte sie hinunter und riss sich zusammen. An dem Tag, als ihre Mutter verschwunden war, hatte sie sich geschworen, stark zu sein und nie wieder zu weinen. Und daran würde sie sich halten!

Lucy knallte ihre Tasse auf den Tisch, sodass Bobby mit einem Ruck aus dem Schlaf erwachte.

»Du lügst! Sie kommt wieder, das weiß ich. Mom liebt mich!«

Sie rannte die schmale Treppe nach oben in ihr Zimmer und warf sich auf das Bett. Erst als sie mit der Faust mehrmals hintereinander auf ihr Kissen einhieb, wurde der unangenehme Druck, der sich wie ein dickes Tau um ihre Brust gewickelt hatte, weniger.

Nach einigen Minuten wich die Anspannung aus ihrem Körper und Lucy drehte sich auf die Seite, sodass sie das Foto auf ihrem Nachttisch sehen konnte. Es war kurz vor dem Verschwinden ihrer Mutter entstanden und zeigte Lucy mit ihren Eltern, als sie einen Spaziergang zum Arthur’s Seat unternommen hatten. Von dem grünen Berg, der sich über Edinburgh erhob und nur eineinhalb Kilometer vom Stadtzentrum entfernt lag, hatte man einen herrlichen Ausblick über die Stadt, die Meeresförde Firth of Forth und die südlichen Highlands. Trotz des etwas anstrengenden Aufstiegs lächelten sie alle drei glücklich in die Kamera. Dabei war ihr Vater noch wenige Minuten vorher so aus der Puste gewesen, dass Lucy und ihre Mutter ihn gemeinsam nach oben zerren mussten, während Bobby alle drei genervt angebellt hatte, weil sie so langsam vorwärtskamen. Die Erinnerung an diesen Tag vertrieb Lucys trübe Stimmung ein wenig und die Überzeugung erwachte wieder in ihr, dass ihre Mutter sich irgendwann bei ihr melden würde. Sollte ihr Vater doch anderer Meinung sein, das war ihr gleichgültig!

Obwohl sie sich weder umgezogen noch ihre Zähne geputzt hatte, kuschelte Lucy sich in ihre Decke und löschte das Licht.

Doch kurz bevor sie einnickte, sah sie eine der Grauen neben ihrem Bett auftauchen. Mit ihren leuchtenden Schlieren setzte sich die geisterhafte Gestalt von der Dunkelheit ab, sodass Lucy genau erkennen konnte, wie die Graue sich ihr Schritt für Schritt näherte. Es handelte sich um eine Frau in einem altmodischen dunklen Kleid, das ein Korsett besaß und recht unbequem wirkte. Mit ihrem freundlichen Lächeln und den gutmütigen Augen erinnerte sie Lucy ein wenig an »Mary Poppins«, das Kindermädchen aus dem Roman der Autorin P. L. Travers. Einen weniger schönen Anblick bot jedoch die Wunde an ihrem Kopf, aus der in einem dünnen Rinnsal Geisterblut hervorsickerte. Es war die erste und einzige Graue, die in das Haus der Mackays gelangen konnte. Lucy hatte sich in den vergangenen zwei Jahren jedoch an sie gewöhnt, denn seit dem Tag, an dem ihre Mutter verschwunden war, erschien »Mrs. Poppins« jede Nacht in ihrem Zimmer. Bis zum nächsten Morgen stand sie regungslos neben Lucys Bett und wachte mit vor dem Bauch gefalteten Händen über ihren Schlaf. Deshalb zweifelte Lucy nicht daran, dass Mrs. Poppins von ihrer Mutter geschickt worden war, gleich einem Abschiedsbrief, der allein für Lucy bestimmt war: Anne Mackay hatte ihr damit die Botschaft hinterlassen, dass sie sich um Lucy sorgte und sie genau wie ihre Tochter in Kontakt zur Geisterwelt stand.

CHRONIK DER PARANORMALEN ERMITTLUNGSTRUPPE
GREYFRIARS GRAVEYARD

Eintrag: Amelia Burnett, Chef-Ermittlerin

Aktenverzeichnis: M12/​W3/​T2/​Wie verbiegt man einen Löffel?

Werde heute erforschen, ob man einen Teelöffel per Gedankenkraft verbiegen kann. Musste meine freie Mitarbeiterin Lucy Mackay mühevoll dazu überreden, an dem wissenschaftlichen Versuch teilzunehmen. Wünschte wirklich, sie würde sich etwas enthusiastischer gegenüber unseren paranormalen Untersuchungen zeigen! Der Versuch wird bei Lucy auf dem Friedhofsgelände stattfinden, da die dort herrschenden übernatürlichen Schwingungen unterstützend wirken sollen.

Privater Nachtrag: Chemiearbeit von Mister Baker war die reinste Zumutung. Wenn ich könnte, würde ich unserem Lehrkörper für die Erstellung dieser unverschämt schweren Arbeit eine glatte 6 geben!! Bin ich etwa Marie Curie? Habe deswegen in der Pause etwas geweint und die doofe Streberin Emily Miller hat sich über mich lustig gemacht. Wollte daraufhin meinen PSI-Versuch vorverlegen und ihren Lieblingsfüller per Gedankenkraft zu einer rosa Metallbrezel verbiegen, bin jedoch gescheitert. Es gibt offenbar keine Gerechtigkeit in dieser Welt!

An einem sonnigen Herbsttag vor sieben Jahren hatte Lucy auf dem Friedhof ein Mädchen in einer neongrünen Strickweste und einem blinkenden Leucht-Haarreif entdeckt, das regungslos auf einem der Gräber lag. Amelia hatte ihr bereitwillig erklärt, dass sie nur schon einmal »probeliege«, falls sie demnächst bei einem ihrer paranormalen Experimente einen Unfall erleiden sollte. Daraufhin hatte Lucy hilfsbereit angeboten, dass sie Amelia gerne mit einem Strohhalm im Mund im großen Friedhofskompost vergraben könnte, damit das Probeliegen mit der Erde, den Würmern und dem Verwesungsgestank ein wenig realistischer wäre. Amelia hatte ernsthaft über ihren Vorschlag nachgedacht, was Lucy in der Überzeugung bestärkt hatte, dass Amelia ganz fantastisch unnormal war. Anstatt Lucy irritiert zu mustern oder sie als Freak zu beschimpfen, hatte Amelia nur gesagt: »Hey, coole Augenfarbe!«

In dem Moment hatte Lucy gewusst, dass dieses Mädchen wohl der einzige Mensch auf der Welt war, mit dem sie wirklich befreundet sein wollte. Allerdings übertrieb Amelia es manchmal mit dem Unnormalsein …