Anni Lechner

Ihr Held aus Kindertagen

Ich habe dich immer geliebt

Heute wirst du für alles bezahlen

Anni Lechner: Band 26, Ihr Held aus Kindertagen ... und zwei weitere spannende Romane

Copyright © by Anni Lechner

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf.

Überarbeitete Neuausgabe © 2017 by Open Publishing Verlag

Covergestaltung: Open Publishing GmbH – Mathias Beeh

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

eBook-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara

ISBN 978-3-95912-235-1

Ihr Held aus Kindertagen

Marcus Schmidt öffnete das Zugfenster und blickte mit leuchtenden Augen zu den Bergen hinüber. Er kannte jeden der ehrwürdigen Gipfel, vom Rothörndl angefangen über den Hallberg und bis hin zum Grankogl. Ein unbeschreibliches Gefühl durchströmte ihn. Nach langen Jahren in der Ferne kehrte er endlich wieder in seine Heimat zurück. Seit er mit vierzehn Jahren das Grantal verlassen hatte, um zuerst in Murnau das Gymnasium und später die landwirtschaftliche Hochschule in Weihenstephan zu besuchen, war er nur noch an hohen Feiertagen nach Hause gekommen. Er hatte die Ferien genützt, um Geld zu verdienen, damit es seinen Eltern nicht gar so schwer wurde, ihn auf die Schule zu schicken. Doch jetzt war es vorbei. Jetzt würde er ... Marcus kam nicht dazu, den Gedankengang zu Ende zu führen, denn plötzlich klang eine keifende Frauenstimme auf.

»Mach das Fenster zu, es zieht!«

Marcus drehte sich zu der Frau um. »Sie werden schon nicht erfrieren«, antwortete er mit sanfter Stimme, schloss aber das Fenster, um seine Ruhe zu haben. Er wollte seine Rückkehr nicht durch einen Streit mit einer Touristin verderben, die er nach dieser Fahrt nie mehr sehen würde.

Die Frau rümpfte zunächst die Nase, versuchte aber dann ein Gespräch mit ihm zu beginnen. »Sie sind nicht von hier?«

»Warum meinen Sie das?«

»Sie sprechen so ganz anders als die Einheimischen, fast wie ein intelligenter Mensch.«

»Ein vergelts Gott für das Kompliment. Es tät mich freuen, wenn ich’s zurückgeben könnt«, spottete Marcus jetzt in seinem gewohnten Dialekt. »Und noch was! Ned jeder, der Hochdeutsch kann, ist auch intelligent. Dafür gibt’s unter denen, die so reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, genug gescheite Leute. Und das ned bloß in Bayern. Ich war ein halbes Jahr in Niedersachsen oben und hab dort genauso Menschen getroffen, die ihr Plattdeutsch reden und trotzdem kommode Leut sind.«

Die Frau krauste erneut die Nase. »Kommott, was heißt das schon wieder?«

»Auf alle Fäll das, was Sie ned sind«, erwiderte Marcus mit einem Lächeln, das im Widerspruch zum scharfen Ton seiner Worte stand. Da der Zug in den Bahnhof einfuhr, nahm er seine beiden Koffer und stellte sie auf den Gang.

Die Frau zeigte auf den kleinen roten Koffer im Gepäckfach über ihren Sitz. »Ein Kavalier sind Sie ja gerade nicht.«

Marcus langte nach oben und holte den Koffer herab, ohne sie einer Antwort zu würdigen. Dem geringen Gewicht des Koffers nach konnte sie außer ihrer Zahnbürste höchstens noch etwas Unterwäsche eingepackt haben. Ihren Blick, der ihn auffordern sollte, sich weiter ihres Koffers anzunehmen, übersah er geflissentlich. Seine eigenen Koffer waren durch seine Bücher schwer genug.

Der Zug hielt in dem hübschen, kleinen Bahnhof von Feldach an. Der Lautsprecher verkündete, dass man die Endstation erreicht hätte und alle Passagiere aussteigen sollten. Es waren nicht viele Menschen bis Feldach im Zug geblieben. Die Frau aus Marcus` Abteil drängte sich trotzdem durch die Leute und stieß in ihrer Hast ein kleines Kind beiseite. Die Mutter des Kindes fing sofort zu schimpfen an.

»Ja hat man denn so was schon erlebt. So eine Wettergeiß, so eine elende. Wenn’s der beim Sterben auch so pressiert wie jetzt, muss der Boandlkramer schier Überstunden machen.«

Die Dränglerin drehte sich mit wütender Miene um. »Sie impertinente Person ...«

Mehr hörte Marcus nicht, denn er machte, dass er davonkam. Hier hatten sich anscheinend zwei Giftnudeln gesucht und gefunden. Während er den Bahnsteig entlangging, überlegte er, wie er am besten ins Grantal kam. Ein Taxi kostete Geld, und er wollte überflüssige Ausgaben vermeiden. Daher beschloss er, quer durch den Ort zur Straße ins Grantal zu gehen und dort sein Glück als Anhalter zu probieren. Er kam jedoch nicht einmal bis zum Bahnhofsgebäude, da entdeckte er seine Eltern.

Resi Schmidt eilte auf ihren Sohn zu und fasste seine Hand ungeachtet der Tatsache, dass Marcus seine Koffer noch nicht abgestellt hatte. »Dass du bloß wieder da bist, Bub«, flüsterte sie ergriffen. Dann betrachtete sie ihn mit einem prüfenden Blick und schüttelte den Kopf. »Du bist ganz blass, Marcus. Du hast wohl zu wenig gegessen in der Stadt.«

Es war für Marcus unmöglich gewesen, ihr zu erklären, dass Weihenstephan keine Großstadt war, sondern nur ein Vorort Freisings. Für seine Mutter war eigentlich alles, was sich außerhalb des Grantales befand, fremd und eben ‘die Stadt’. Sie war außer sich vor Freude, ihren Sohn heil wieder zu sehen und ließ sich auch durch das Räuspern ihres Mannes nicht davon abbringen, Marcus wie ein kleines Kind zu streicheln.

Konrad Schmidt war so mager, wie seine Frau stämmig und einen guten halben Kopf kleiner als Marcus. Er hatte sein ganzes Leben lang hart gearbeitet, damit es sein Sohn einmal besser als er haben sollte. Jetzt, wo es so weit war, konnte er seinen Stolz nicht verbergen.

»Grüß dich, Marcus. Oder muss ich Herr Doktor zu dir sagen?«

»Untersteh dich, Vater«, drohte ihm sein Sohn lachend. Er drückte beide an sich und atmete tief durch. »Es freut mich, dass ihr gekommen seid, um mich abzuholen. Es ist halt doch etwas ganz anderes, heimzukommen, als bloß auf die Feiertag vorbei zu schauen.« Ganz wohl war ihm bei diesen Worten jedoch nicht. Wenn er sein Studium nicht umsonst gemacht haben wollte, würde er das heimische Grantal wieder verlassen müssen. Der Gedanke tat ihm weh, denn er liebte seine Heimat.

»Das war doch selbstverständlich, dass wir dich abholen. Du kannst dich doch als Doktor ned an die Straß stellen und Autos aufhalten wie ein Landstreicher«, erwiderte die Mutter mit Nachdruck.

In dem Augenblick kam die Frau aus dem Zug vorbei und hörte zufällig mit. »Sie sind Arzt?«, fragte sie Marcus mit weit aufgerissenen Augen.

Dieser drehte sich lächelnd zu ihr um. »Ich bin kein Mediziner, sondern Doktor der Agrarwissenschaften, wenn Ihnen das etwas sagt. Und wenn ned, ist es mir auch wurscht.«

Die Andere schluckte und machte, dass sie weiter kam. Marcus Mutter schüttelte verwundert den Kopf.

»So kenn ich dich gar ned. Sonst bist du doch alleweil höflich zu den Leuten.«

»Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es zurück«, erklärte Marcus achselzuckend. »Die Frau hat mich schon im Zug genervt. Bei der ist Höflichkeit verschwendet.«

»Recht hast du. Als Doktor kannst du dir ned alles gefallen lassen«, stimmte ihm der Vater zu. Kurz darauf kam ein großer, wuchtig gebauter Mann mit kantigem, sonnengebräuntem Gesicht auf die kleine Gruppe zu.

»Onkel Sebastian. Das ist aber eine Überraschung«, rief Marcus aus.

Sebastian Kerschbaumer war zwar nicht mit ihm verwandt, beanspruchte aber als Marcus Taufpate die familiäre Anrede. Obwohl sein kurz geschnittenes Haar bereits eisgrau leuchtete, wirkte er jünger als Konrad Schmidt, dem er ein gutes Jahrzehnt voraushatte. Er schlug Marcus lachend auf die Schulter und begrüßte ihn mit dröhnender Stimme.

»Habe die Ehre, Herr Doktor. Ich hab mir denkt, du freust dich, wenn du abgeholt wirst. Darum hab ich deine Eltern eingeladen und nach Feldach gekarrt. Sobald dein Gepäck verstaut ist, können wir heimfahren.«

Resi und Konrad Schmidt griffen sofort zu Marcus Koffern, um sie zum Auto zu tragen. Er nahm sie ihnen jedoch sofort wieder ab.

»Das wäre ja noch schöner. Die Koffer sind doch viel zu schwer für euch.«

Sebastian Kerschbaumer nickte zufrieden, als er es hörte. »So ist es richtig, Marcus. Man soll Vater und Mutter ehren. Aber mir kannst du ruhig einen Koffer geben.«

Marcus überlegte kurz und reichte ihm schließlich den leichteren der beiden Koffer.

*

Eine gute halbe Stunde später hielt Kerschbaumers großer Wagen vor einem kleinen Bergbauernhof ihm oberen Teil des Grantales an. Kerschbaumer stieg aus, ging um das Auto herum und öffnete Marcus` Mutter die Tür.

»So, da wären wir«, meinte er gemütlich. »Ich lass euch jetzt allein, damit ihr Zeit für euch habt. Es gibt sicher einiges zu erzählen. Marcus, wenn du in den nächsten Tagen einmal Zeit hast, tät’s mich freuen, wenn du bei mir in Untergran vorbeischauen könntest.«

»Das tu ich gern, Onkel Sebastian«, antwortete Marcus. »Noch einmal vergelts Gott fürs Abholen.«

»Hat leicht sein können«, sagte Kerschbaumer, während er Marcus` Koffer aus dem Kofferraum herausnahm. Er wog sie kurz in der Hand und drehte sich dann lachend zu Marcus um. »Du wirst mir so ein Lauser sein. Gibt mir das leichte Köfferl zum Tragen, während er selbst eine Ladung Ziegelsteine herumschleppt. Du glaubst wohl, ich halt überhaupt nix mehr aus.«

»Gott bewahre!«, erwiderte Marcus lachend. »Aber ich seh ned ein, warum ich mein junges Kreuz schonen soll.«

Kerschbaumer sah sich mit einem nicht ganz ernst gemeinten Seufzer zu Marcus` Vater um. »Da seht ihr, was so ein Doktortitel ausmacht. Der Lauser hebelt mich mit einem einzigen Satz aus. Da muss man sich direkt vorsehen.« Er zwinkerte Marcus zu und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps. »Also, bis bald. Wir zwei müssen doch auch einen Schluck auf den frischgebackenen Herrn Doktor trinken.«

»Ich komm, so bald ich kann«, versprach Marcus.

Kerschbaumer stieg wieder ins Auto und fuhr los. Marcus sah ihm nach, bis er hinter einem vorspringenden Felshang verschwunden war. Dann nahm er seine Koffer auf und ging auf sein Elternhaus zu. Das Gebäude war uralt und aus einem Holz gebaut, das im Lauf der Zeit so hart wie Stein geworden war. Das flache, weit vorspringende Dach war mit Schieferplatten gedeckt, die durch Felsbrocken beschwert waren.

Marcus erkannte auf dem ersten Blick, dass das Haus frisch gestrichen worden war. Auch die grünen Fensterläden glänzten mit neuer Farbe, ebenso der kleine Balkon über der Eingangstür.

»Ihr habt ja einiges repariert, seit ich das letzte Mal daheim war«, sagte er verwundert zu seinem Vater.

»Der Kerschbaumer hat halt gemeint, dass wir das Haus herrichten sollen«, erwiderte Konrad Schmidt.

»Das hat sicher einen Haufen Geld gekostet.«

»Der Kerschbaumer hat’s uns derweil ausgelegt. Wir können’s zurückzahlen, wenn du einmal gut verdienst.«

»Dann muss ich schauen, dass ich bald einen Job krieg.« Marcus fühlte eine gewisse Enttäuschung in sich. Er hatte gehofft, wenigstens ein paar Monate hierbleiben zu können. Doch wie es aussah, würde er sich relativ bald auf die Suche nach einem Arbeitsplatz machen müssen. Ihm blieb jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn die Mutter öffnete die Haustür und führte ihn als Erstes in ein kleines, aber gut eingerichtetes Badezimmer.

Jetzt erst merkte Marcus, dass er das Häuschen mit dem Herzchen vermisst hatte, das seit fast einem Jahrhundert hinter dem Stallteil des Gebäudes gestanden hatte.

»Der Kerschbaumer hat gemeint, dass du als Doktor doch ein bisserl mehr Komfort gewohnt bist, und hat uns das Geld für das Bad vorgestreckt«, berichtete die Mutter stolz.

Marcus wurde die Sache allmählich ein wenig unheimlich. Überall, wo er hinsah, hatte Kerschbaumer seine Hände im Spiel. Er wunderte sich auch nicht mehr, als er kurz darauf seine Kammer betrat und statt des alten, aber urgemütlichen Stübchens ein modern eingerichtetes Zimmer mit warmem und kaltem Wasser und einer eigenen Toilette vorfand. Marcus hielt diesen Aufwand für die paar Wochen im Jahr, die er hier verbringen würde können, für mehr als übertrieben. Er tröstete sich jedoch damit, dass seine Mutter das Zimmer an Feriengäste vermieten und damit ein bisschen Geld verdienen konnte. Trotzdem ärgerte er sich darüber, wie sehr Kerschbaumer in sein Leben eingriffen hatte.

Eigentlich war es schon immer so gewesen, überlegte er. Er erinnerte sich daran, wie der Lehrer in der Volksschule seine Eltern beschworen hatte, ihn auf die höhere Schule zu schicken. Auch hier hatte Kerschbaumer den Ausschlag gegeben.

»Natürlich geht der Marcus ins Gymnasium und wird danach studieren«, hatte sein Patenonkel damals bestimmt. »Wenn einer einen gescheiten Kopf aufhat, so muss man ihn fördern.«

Als Marcus jetzt darüber nachdachte, kam ihm der Verdacht, dass Kerschbaumer ihn mehr gefördert hatte als nur mit ein paar guten Ratschlägen. Wenn er es genau betrachtete, hätten es sich seine Eltern trotz aller Sparsamkeit nicht leisten können, ihn so lange auf die Schule zu schicken.

»Du hast dem Kerschbaumer schon einiges zu verdanken«, erklärte ihm schließlich der Vater am Abendbrottisch.

»Einen besseren Menschen wie ihn findest du auf der ganzen Welt ned«, stimmte die Mutter in das Loblied auf seinen Patenonkel ein. »Seit du damals als Bub seiner Gloria das Leben gerettet hast, hält er große Stücke auf dich.«

Marcus konnte sich an Kerschbaumers Tochter kaum mehr erinnern. Ihre Eltern waren bereits über vierzig Jahre alt gewesen, als sie zur Welt gekommen war. Entsprechend freudig hatten sie das nicht mehr erhoffte Kind begrüßt, obwohl es ihnen vom ersten Tag an Sorgen bereitete. Gloria war mit jeder Kinderkrankheit, die es gab, geschlagen worden, und hatte zudem eine schwache Lunge, die das hiesige Klima nicht vertrug. Soweit Marcus wusste, lebte sie jetzt schon seit Jahren in einem Sanatorium am Genfer See. Ihr Vater war reich genug, um ihr diesen Luxus bieten zu können. Trotzdem fiel es Marcus schwer, sich vorzustellen, dass eine Tat, die bereits mehr als ein Jahrzehnt zurücklag, Kerschbaumer noch immer dazu brachte, sich ihm und seinen Eltern gegenüber so großzügig zu zeigen.

*

Gloria Kerschbaumer saß auf der Terrasse des Seecafés und las mit gekrauster Stirn den letzten Brief ihres Vaters. Es war schier unglaublich, was er von ihr forderte. Es war weniger die Tatsache, dass sie jetzt, wo ihre Gesundheit es ihr erlaubte, wieder nach Hause kommen sollte. Darauf hatte sie gewartet, seit sie in das Sanatorium gebracht worden war. Nein, sie sollte sich mit einem jungen Mann treffen, sich in ihn verlieben und ihn so bald wie möglich heiraten.

Ich weiß nicht, wie der Papa sich das vorstellt, dachte sie kopfschüttelnd. Liebe ist doch keine Ware, über die man bedenkenlos bestimmen konnte. Sie verstand zwar die Sorgen ihres Vaters wegen seines Besitzes. Trotzdem durfte er nicht so ohne Weiteres über ihren Kopf hinweg bestimmen. Sie war kein kleines Kind mehr, sondern mit ihren zwanzig Jahren eine erwachsene Frau. Außerdem war ihr Vater noch nicht so alt und hatte noch genug Zeit, sie als seine Nachfolgerin anzulernen. Es ärgerte sie, dass er nicht genug Vertrauen in sie zeigte, sondern sie mit einem Mann seiner Wahl verheiraten wollte.

»Dr. Marcus Schmidt«, flüsterte sie mit verächtlich geschürzten Lippen. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie sich an einen Bauernjungen dieses Namens erinnerte. War er nicht das Patenkind ihres Vaters gewesen? Sie glaubte, ja. Außerdem hatte er sie in ihrem letzten Winter daheim, als sie sich im Schneesturm verlaufen hatte, gefunden und heimgebracht.

Es fiel Gloria schwer, ihre ablehnende Haltung gegenüber Marcus beizubehalten. Irgendwie war er als Kind ihr Held gewesen. Ihn aber deswegen heiraten zu müssen, war jedoch zu viel. Sie faltete ärgerlich den Brief zusammen, verstaute ihn in ihrer Handtasche und rief den Kellner, um zu zahlen.

Der Mann starrte verwirrt auf die noch volle Cappuccinotasse und den nur einmal angebissenen Erdbeerkuchen. »Hat es Ihnen nicht geschmeckt, Mademoiselle?«

»Ich habe in meinen Gedanken ganz vergessen, meinen Cappuccino zu trinken. Jetzt ist er leider kalt geworden«, entschuldigte sich Gloria.

»Ich bringe Ihnen gerne einen neuen – auf Kosten des Hauses natürlich«, bot der Kellner an.

»Das ist lieb von Ihnen. Aber ich muss jetzt leider gehen. Mein Bus fährt gleich ab.« Gloria drückte ihm eine Banknote in die Hand und ging, ohne auf das Wechselgeld zu warten.

Der Kellner sah ihr kopfschüttelnd nach und sagte sich, dass die junge Dame eben wohl an etwas sehr Schönes gedacht haben musste.

Gloria ging mit raschen Schritten durch den Ort. Als sie die Haltestelle des Postbusses erreichte, hatte sie noch ein wenig Zeit. Sie blieb vor einem Geschäft stehen und sah ins Schaufenster. Erst nach einer Weile erkannte sie, dass sie ihr eigenes Spiegelbild anstarrte.

Bis jetzt hatte sich Gloria nie große Gedanken über ihr Aussehen gemacht. Doch jetzt, wo ihr Vater von ihr forderte, Marcus zu heiraten, achtete sie genauer darauf. Sie fand, dass sie schlank und zierlich gebaut war, ohne jedoch knabenhaft zu wirken. Als sie an ihre Brust griff, war dort zwar nicht zu viel, aber ausreichend vorhanden. Ihr Gesicht war weder breit noch schmal und wurde von zwei großen Augen beherrscht, die wie grüne Bergseen im Sonnenlicht schimmerten. Ihre Nase war kurz und wohl geformt, ihr Mund rot und sanft geschwungen. Gloria hätte sich keine direkte Schönheit genannt, doch mit ihren langen, silberhellen Haaren und den dunklen Augenbrauen, die in einem gewissen Kontrast dazu standen, hielt sie sich für hübsch genug, um auch selbst einen Bräutigam finden zu können.

Die Ankunft des Busses beendete ihre Gedanken. Gloria stieg ein, erstand beim Fahrer ein Billett und setzte sich auf einen freien Platz. Während der Bus die paar Kilometer nach Saillon sur Vise zurücklegte, dachte sie daran, wie lange sie sich von ihrem Vater ein eigenes Auto gewünscht hatte. Am Geld hatte es sicher nicht gelegen, dass dieser Wunsch unerfüllt geblieben war. Ihr Vater hielt sie jedoch noch immer für schwach und zerbrechlich und keiner irgendwie gearteten Anstrengung für fähig. Dabei war sie schon seit vier Jahren so gut wie geheilt und hätte längst nach Hause zurückkehren können, wenn es die Besorgnis ihres Vaters nicht verhindert hätte.

Das Sanatorium von Saillon sur Vise lag auf einem Südhang hoch über dem Genfer See mit einem herrlichen Ausblick auf den See und die umliegenden Berge. Selbst heute, wo Gloria sich über ihren Vater ärgerte, konnte sie sich dem Zauber der herrlichen Landschaft nicht entziehen. Es war wunderschön hier. Trotzdem fühlte sie Heimweh nach dem Grantal und dem Hof ihres Vaters. Doch war ein Dr. Marcus Schmidt ein arg hoher Preis dafür, wieder nach Hause zu dürfen.

Als Gloria das Sanatorium betrat, kam ihr Dr. Noel Gaspard entgegen. Er sah sie und eilte an ihre Seite.

»Hallo, Gloria. Es ist schön, dass ich dich treffe. Hast du einen Moment Zeit für mich?«

»Selbstverständlich.« Gloria blieb stehen und lächelte ihm zu. Noel Gaspard gehörte zu den jüngeren Ärzten des Sanatoriums und hatte sich während ihrer Krankheit rührend um sie gekümmert. Sie war ihm dankbar dafür, wunderte sich aber, ihn heute so nervös und flattrig zu erleben.

Er nahm ihren Arm und führte sie in den Leseraum. Er wirkte dabei wie jemand, der nicht genau weiß, ob er sich das, was er vorhatte, auch trauen durfte. »Ich habe gehört, dass du uns verlassen willst«, begann er leise.

»Mein Vater wünscht, dass ich nach Hause komme«, antwortete Gloria.

Dr. Gaspard fasste nach ihrer Hand. »Ich dachte, es würde dir hier bei uns gefallen. Du hast in den letzten Jahren als freiwillige Pflegerin mitgearbeitet und dich liebevoll um unsere Patienten gekümmert. Daher war ich der Meinung, du hättest die Absicht, länger zu bleiben.« Er schwieg für einen Moment und sah sie mit großen, bettelnden Augen an.

»Ich empfinde sehr viel für dich, Gloria. Ich hoffte, du würdest es merken, denn ich hatte nicht den Mut, es dir zu sagen. Aber jetzt muss ich es tun. Bitte bleib. Es würde mich glücklich machen.«

Gloria war überrascht und gerührt zugleich. Sie hatte nie gedacht, dass sie dem jungen Arzt etwas bedeuten könnte. Er war immer freundlich zu ihr gewesen, aber auch sehr korrekt. Für einen Augenblick überlegte sie sogar, ob sie dadurch dem Drängen ihres Vaters entkommen könnte. Sie betrachtete Dr. Gaspard und fand, dass er mit seiner hochgewachsenen, schlanken Gestalt gediegen aussah. Sein dunkles Haar war bereits etwas gelichtet, aber dies unterstrich nur seinen seriösen Ausdruck, ebenso sein beherrschtes, längliches Gesicht mit dem kräftigen Kinn und der leicht gebogenen Nase. Trotzdem empfand sie nur eine gewisse Sympathie für ihn, die meilenweit von den Gefühlen entfernt war, die sie in ihren Träumen erlebt hatte. Da war es vielleicht wirklich besser, sich diesen Marcus Schmidt anzusehen. Das Grantal war wenigstens ihre Heimat, während sie sich hier doch immer ein wenig fremd gefühlt hatte.

Gloria wollte dem jungen Arzt nicht wehtun, konnte ihm jedoch auch keine Hoffnungen machen, die sich nie erfüllen würden. »Sie sehen mich ein wenig überrascht, Herr Doktor Gaspard. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich für Sie mehr wäre als eine Ihrer Patientinnen. Daher habe ich mir auch nie Gedanken gemacht ...«

»Können Sie nicht versuchen, mich zu lieben?«, bat der junge Arzt eindringlich.

»Liebe lässt sich nicht befehlen«, erwiderte Gloria leise. Es galt weniger dem jungen Arzt als ihrem Vater, der genau das von ihr verlangte. Sie hielt es allerdings für besser, sich der Herausforderung in der Heimat zu stellen, als ihr durch eine Ehe ohne Liebe zu entgehen. »Es tut mir leid, Doktor. Ich verehre Sie und Ihre Kunst. Doch genau das verhindert, dass ich etwas anderes als einen großen Arzt in Ihnen sehe«, sagte sie abschließend.

Während Dr. Gaspard traurig zu seinen Patienten zurückkehrte, ging Gloria auf ihr Zimmer. Beinahe mechanisch öffnete sie ihren Schrank und sortierte die Kleider aus. Sie wollte einige schlichte Kleider aus grauem und blauem Stoff, die sie nur in der Klinik getragen hatte, zurücklassen. Dr. Gaspard mochte es vielleicht gefallen haben, sie so zu sehen. Sie hatte jedoch nur deshalb im Sanatorium ausgeholfen, weil sie es nicht mehr ausgehalten hatte, weiterhin als Patientin zu gelten, obwohl sie so gut wie geheilt gewesen war. Jetzt, wo ihr Vater sie rief, hielt sie nichts mehr hier zurück.

Gloria freute sich trotz des Briefes ihres Vaters auf die Heimat. Was diesen Dr. Schmidt betraf, würde ihr schon etwas einfallen. Sie hatte es kaum gedacht, als ihr Blick noch einmal auf die Kleider fiel, die sie eben aussortiert hatte. Ein spitzbübisches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie die farblosesten davon in einen der Koffer packte. Die hübschen Sachen wie die Jeans, die sie zwar gekauft, aber nur selten getragen hatte, wanderten in einen anderen Koffer. Wenn ihr Vater meinte, sie würde sich klaglos in seinen Willen fügen, sollte er sich getäuscht haben.

*

Die erste Nacht in der Heimat war für Marcus himmlisch. Er schlief lange nicht ein, weil er dem lang entbehrten Plätschern des Wassertroges lauschte, das durch das offene Fenster zu ihm hereindrang. Der Bergwald rauschte in einem steten, nie erlöschenden Ton, ohne störend zu wirken. Marcus schmeckte den Geruch des Waldes auf seiner Zunge und fühlte sich so frei wie seit vielen Jahren nicht mehr. Als er schließlich doch einnickte, träumte er von den mächtigen Bergriesen, die das Grantal umgaben, und von dem Wald, der die Jahrhunderte überdauert hatte. Er fühlte sich eins mit den riesigen Tannen, die ihre Wurzeln in die steinige Erde getrieben hatten, und spürte die tiefe Sehnsucht in sich, seine Heimat nicht mehr verlassen zu müssen.

Am nächsten Morgen stand er vor Tau und Tag auf und arbeitete bereits im Stall, als seine Eltern erschienen. Die Mutter starrte kopfschüttelnd auf die speckige kurze Lederhose und die derben Bergschuhe, die er angezogen hatte, und sagte: »Aber, Marcus, du kannst doch als Doktor ned so herumlaufen wie ein Holzknecht.«

»Außerdem ist die Stallarbeit nix für dich«, pflichtete ihr der Vater bei. »Geh lieber in die Stube und warte, bis wir fertig sind. Wenn du willst, kann die Mama mit dir hineingehen und dir einen Kaffee kochen.«

»Für was haltet ihr mich, für euren Buben oder für einen zahlenden Feriengast?«, fragte Marcus lachend. »Ihr habt euch jahrelang krumm gearbeitet, damit ich studieren hab können. Jetzt werde ich euch wohl in meiner Freizeit unter die Arme greifen dürfen.« Damit nahm er die Mistgabel und begann auszumisten.

Die Mutter sah ihm gerührt zu, während der Vater etwas in den Bart murmelte, was sich wie »So was gehört sich für einen Akademiker ned«, anhörte.

Marcus achtete nicht darauf, sondern arbeitete weiter. Da sein Vater keine Entmistungsanlage besaß und noch alles mit der Hand gemacht werden musste, war es eine schweißtreibende Tätigkeit. Marcus fühlte sich jedoch glücklich, endlich wieder einmal seine Kräfte erproben zu können. Nachdem er dem Vater noch geholfen hatte, die Kühe auf die Weide zu treiben, wusch er Gesicht und Oberkörper am Brunnentrog. Das Wasser war so kalt, dass er eine Gänsehaut bekam, dafür aber auch herrlich erfrischend. Marcus fühlte sich wie neugeboren, als er ins Haus ging, sich umzog und an den Frühstückstisch setzte.

Die Mutter hatte extra die bessere Wurst vom Metzger in Untergran geholt. Martin schnitt sich jedoch ein Stück von der selbst gemachten und im Kamin geräucherten Leberwurst ab und aß sie mit Genuss. Darauf hatte er lange Monate verzichten müssen.

Der Vater seufzte, als er es sah. »Ich weiß ned, aber man merkt dir alleweil noch den Bauernbuben an.«

»Ich bin ja auch einer«, erklärte Marcus mit vollem Mund.

Seine Mutter ruckte etwas unruhig auf ihrem Platz hin und her. »Ein gewisser Unterschied zwischen einem Doktor und einem Bauern sollte schon sein. Wir haben dich ned auf die Schule geschickt, damit du wie ein Holzknecht daherkommst.«

»Aber auch ned, um meine Wurzeln zu verleugnen«, konterte Marcus lächelnd. »Mama, Papa, ich bin halt froh, wieder einmal daheim sein und mich ganz ungezwungen geben zu können. Den Doktor muss ich wieder früh genug spielen.«

»Du sollst ihn ned spielen. Du bist einer«, wies ihn der Vater mit einer gewissen Strenge zurecht.

Marcus begriff, dass die beiden alten Leute sich ihr eigenes Bild davon machten, wie sich ein Akademiker zu benehmen hatte. Die Art, wie er sich jetzt gab, passte auf alle Fälle nicht dazu. Um sie zufriedenzustellen, hätte er Schriftdeutsch reden und sich von hinten und vorne bedienen lassen müssen. Doch genau das wollte er zu Hause nicht tun.

»Ich schau heute Vormittag einmal zum Kerschbaumer hinunter«, sagte er, um vom Thema abzulenken.

»Das ist recht von dir«, stimmte ihm die Mutter sofort zu. »Du musst dich aber auch richtig bei ihm bedanken. Schließlich hat dein Pate viel für dich getan. Vergiss das ned.« Es klang ein Unterton durch, den Marcus nicht zu deuten wusste.

Während des restlichen Frühstücks bemühte er sich, keinen Anstoß mehr zu erregen. Er fand zwar das Gold umrandete Tellerchen, das ihm die Mutter statt eines Holzbrettchens vorgesetzt hatte, ebenso übertrieben wie die teure Tasse. Auch hätte ihm das Frühstück mit einem einfachen Besteck mit Holzgriffen, wie es die Eltern verwendeten, sicher nicht schlechter geschmeckt als mit der Gabel und dem Messer aus einer teuren Kollektion. Doch da es den Eltern Freude machte, wollte er nichts sagen. Nachdem sie fertig waren, half er der Mutter trotz deren Protestes, den Tisch abzuräumen. Danach machte er sich auf den Weg nach Untergran, das im Unterschied zu Obergran, in dem seine Eltern lebten, aus einem Ort mit einer alten Kirche, einem großen Hotel und mehreren Geschäften bestand. Es gab auch hier mehrere Bauernhöfe. Zum größten Teil gehörte das Land jedoch zu Kerschbaumers Hof, den man ruhig schon ein Gut nennen konnte.

Marcus wusste aus Briefen seiner Eltern, dass Kerschbaumer auch am Hotel und den meisten Geschäftshäusern beteiligt war. Auch der neue Skilift am Granberg zählte zu seinem Eigentum. Sein Pate musste reich sein, wenn er seiner einzigen Tochter den Aufenthalt in einem Schweizer Sanatorium bezahlen konnte, dachte Marcus ohne Neid. Auf dem Weg genoss er das idyllische Bild, das der Ort mit den ihn umgebenden Bergen bot, und lauschte den Glocken der Kirche, die dem heiligen Korbinian geweiht war. Dies war seine Heimat, und er wollte verflucht sein, wenn er das jemals vergessen würde.

Ein Traktor kam ihm entgegen. Wegen des Schutzverdecks konnte er nicht sehen, wer ihn fuhr. Kurz vor ihm blieb das tuckernde Ungetüm stehen, und ein junger Mann sprang mit einem Jubelruf herab.

»Marcus, du bist es wirklich. Ja, servus, du alte Fischhaut. Dich hab ich ja schon lang nimmer gesehen.«

Marcus brauchte einen Moment, bis er den kräftig gebauten Burschen mit dem breiten, offenen Gesicht und den von der Sonne ausgebleichten Haaren als einen seiner ehemaligen Schulfreunde erkannte. Dann schlug er dem anderen auf die Schulter und lachte ihn fröhlich an. »Grüß dich, Kaspar. Wie geht’s dir denn so?«

»Ich kann ned klagen. Das Vieh ist gesund und meine Mutter auch. Außerdem haben wir vor zwei Jahren drei Fremdenzimmer eingerichtet, die in der Saison keinen einzigen Tag leer stehen. Es geht mir eigentlich bloß noch eine Bäuerin ab, dann wäre mein Glück vollkommen.« Er zwinkerte Marcus dabei zu und gab ihm einen leichten Schlag gegen die Schulter. »Lass es dir fei ja ned einfallen, der Kreuzeder Cilly schöne Augen zu machen. Sonst muss ich dir einen Binkel aufpflanzen, an dem du deinen Hut aufhängen kannst.«

Marcus schreckte die halb im Spaß gemeinte Drohung nicht im Geringsten. Er brauchte jedoch eine kurze Weile, um sich an Cilly Kreuzeder zu erinnern. Falls ihn sein Gedächtnis nicht im Stich ließ, war sie schon damals, als er das Grantal verlassen hatte, ein hübsches Mädchen gewesen. Allerdings hatten sie und Kaspar Hofbauer sich damals wie Katz und Hund befetzt. Es amüsierte Marcus, dass sein Freund jetzt so eifrig hinter dem Mädchen her war.

»Was macht die Cilly denn eigentlich?«, fragte er.

»Die arbeitet in der Stadt als Sekretärin bei der Firma Neumann«, berichtete ihm Kaspar bereitwillig. »Jetzt spottet sie zwar noch darüber, weil ich ihr den Hof mache. Aber irgendwann werden wir uns schon einig werden.«

»Wenn du jedem Burschen, der sie nur anschaut, mit Prügeln drohst, hast du einiges zu tun«, meinte Marcus lachend.

»Ich hab vor keinem Angst«, erwiderte Kaspar selbstbewusst. »Außerdem ist die Cilly ein gescheites Madl. Die fällt auf keinen Windhund herein. Bloß bei dir wär’s vielleicht was anderes. Darum warn ich dich ja rechtzeitig.«

Marcus spürte, dass es seinem Freund durchaus ernst damit war. Gleichzeitig ärgerte er sich ein wenig darüber. Die Zeit, in der man den Streit um ein Mädchen mit Fäusten austrug, musste doch auch hier im Grantal längst der Vergangenheit angehören. Außerdem mochte er es nicht, wenn man ihm sagte, was er zu tun und zu lassen hatte.

»Ich werde mir Cilly anschauen, schon um zu sehen, ob ich dir für deine freundlichen Worte ned ein paar blaue Augen verpassen muss«, sagte er zu Kaspar.

Dessen fröhliche Miene zeigte ihm, dass ihm sein Freund die offenen Worte nicht übel nahm. »Anschauen kostet nix. Mehr könnte aber teuer kommen«, spottete Kaspar und schwang sich wieder auf seinen Traktor. »Also bis bald, Marcus. Ich hoffe, du lässt dich einmal beim Wirt sehen. Ich tät gern eine Halbe mit dir trinken.«

»Die Gelegenheit kommt sicher.« Marcus winkte dem anderen zum Abschied zu und ging weiter. Kurz darauf kam er am Hotel vorbei, das erst vor Kurzem im alpenländischen Stil mit viel Holz umgebaut worden war. Gleich daneben befand sich die Gastwirtschaft, der die Einheimischen auch heute noch den Vorzug gaben, weil sie einfach gemütlicher als das Hotelrestaurant war, das doch mehr dem Geschmack der Feriengäste entsprach.

Der Kerschbaumerhof lag ein Stück von der Hauptstraße entfernt am Ortsrand. Trotzdem schien er die ganze Umgebung zu beherrschen. Auch hier war viel renoviert worden, fand Marcus. So wirkte das Haupthaus mit seinem ausladenden, hellroten Ziegeldach, dem umlaufenden Altan aus dunklem Holz und der Lüftlmalerei an der Vorderseite fast schon ein wenig protzig. Hier lebte jemand, der nicht auf den Pfennig schauen musste. Die übrigen Hofgebäude waren als Zweckbauten nach neuesten Erkenntnissen errichtet worden. Marcus hätte gern in den großen Stall geschaut. Die Sitte verbot es jedoch, es ohne die Erlaubnis des Besitzers zu tun.

Marcus trat vor die Haustür und drückte die Klinke nieder. Neben der Tür befand sich zwar eine Klingel, doch nur ein Ortsfremder würde sie benützen. Wie erwartet war die Tür unversperrt, und er kam in den gefliesten Flur. Sechs Türen führten davon ab, und Marcus wusste für einen Moment nicht, bei welcher er anklopfen sollte. Da öffnete sich eine davon, und eine Frau kam heraus. Das Licht im Flur war nicht so hell, dass er sie erkennen konnte.

»Grüß Gott, ich hätte gern mit dem Kerschbaumer geredet«, begann er, um durch einen verblüfften Ausruf unterbrochen zu werden.

»Bei Gott, der Marcus!«

Jetzt war es an ihm, überrascht zu sein. »Das bin ich«, antwortete er zögernd und kniff die Augen zusammen. »Und wer bist denn du?«

»Kennst du mich denn nimmer?«, fragte sie verwundert. »Ich bin doch die Irmi, die bei der alten Hoferin aufgewachsen ist.«

Marcus schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Die Irmi, natürlich. In dem düsteren Licht da herinnen hab ich dich wirklich ned erkannt.«

Irmi trat jetzt an einen Lichtschalter und drückte ihn. Angenehm helles Licht durchflutete den Flur und ließ einen geschmackvollen Garderobenständer und mehrere Bilder mit ländlichen Motiven erkennen.

Marcus konnte jetzt auch Irmi betrachten. Sie war zwei Jahre jünger als er und mit ihm in die Schule gegangen. Ihre Haut in der Farbe von Milchkaffee und ihre krausen Haare wiesen darauf hin, dass sie die Tochter eines farbigen US-Soldaten war, der vor etwas mehr als zwanzig Jahren bei einem Manöver ins Grantal gekommen war. Irmis leichtsinnige Mutter hatte sich mit ihm eingelassen und neun Monate darauf Irmi geboren. Als die Mutter kurz danach in die Stadt gezogen war, um dort Arbeit und einen Mann zu finden, hatte sie das Kind bei der Großmutter zurückgelassen. Während Marcus sie betrachtete, fand er, dass sie trotz ihrer dunkleren Haut weniger exotisch aussah, als man es bei ihrem Vater hätte erwarten können. Das einfache Dirndlkleid, das sie trug, passte ihr ausgezeichnet, und ihr Gesicht war mit den großen, braunen Augen und dem ausdrucksvollen Mund durchaus hübsch zu nennen.

»Sakra, du hast dich fei herausgemacht, Madl!«, rief er anerkennend.

Irmis Gesicht wurde bei diesen Worten noch etwas dunkler, als es von Natur aus war. »Es freut mich, dass ich dir gefalle«, raunte sie mehr für sich gedacht.

»Was wahr ist, ist wahr«, antwortete Marcus lachend. »Irgendwie freut’s mich, dass ich an meinem ersten Tag daheim dir und dem Kaspar begegnet bin. Euch zwei hab ich von allen am meisten gemocht.«

»Dem Kaspar bist du begegnet?«, fragte Irmi seltsam atemlos. »Hat er dich auch gewarnt, der Cilly schöne Augen zu machen?«

»Freilich! Ich glaub, das tut er bei einem jedem«, sagte Marcus lachend. »Dabei kann ich mir irgendwie ned vorstellen, dass die zwei zusammenpassen könnten. Die Cilly war schon als Dirndl alleweil ein bisserl hochnäsig, und der Kaspar ist halt einmal ein Bauer, ehrlich und gradaus. Dass er ein lieber Kerl ist, merkt man erst auf dem zweiten Blick.«

»Ja, er ist wirklich ein lieber Kerl«, antwortete Irmi mit einem Seufzer, der Marcus aufmerksam machte.

»Sag bloß, du hast was für den Burschen übrig?«

Irmi zeigte erregt auf ihr Gesicht und ihre Haare. »Aber er ned für mich, weil ich ned so ausschau wie die anderen Madln.«

»Dann ist er ein Depp! Du bist nämlich wirklich hübsch.«

»Außerdem ist die Irmi geschickt, arbeitsam und freundlich, wie heutzutage selten ein Madl.« Von beiden unbemerkt war der Kerschbaumer hereingekommen. Der Bauer nickte dem Mädchen kurz zu und streckte dann Marcus die Rechte entgegen.

»Es freut mich, dass du gleich heute vorbeischaust. Es zeigt, dass du keine Zeit verlierst. Aber komm doch herein. Irmi, bring uns eine Flasche Wein, aber eine aus dem rechten Eck des Kellers. Für den Marcus muss es schon was Gutes sein. Den Sauerampfersaft kann meinetwegen der Gemeinderat saufen, wenn er wieder einmal was von mir will.« Er lachte dazu dröhnend, fasste Marcus um die Schulter und schob ihn ins Wohnzimmer.

Kurz darauf kam Irmi mit einer Flasche guten alten Naheweins und zwei funkelnden Gläsern herein.

»Bring uns noch eine kleine Brotzeit, dann lässt du uns allein«, trug Kerschbaumer ihr außerdem auf, dann wandte er sich Marcus zu. »Na, was sagen denn deine Eltern so zu dem neugebackenen Herrn Doktor?«

»Heute früh haben sie mich geschimpft, weil ich im Stall mitgearbeitet habe«, antwortete Marcus lachend.

»Das kann ich mir vorstellen. Deine Leute sind nämlich sehr stolz auf dich. Ich übrigens auch, aber ich halt dich gewiss ned von der Arbeit ab. Nur wenn man zu seinen Wurzeln steht, steht man auch im Leben, sag ich mir immer. Und für einen diplomierten Agrarier ist es gewiss ned schlecht, wenn er weiß, wie Kuhmist riecht.«

Irmis Rückkehr unterbrach das Gespräch für einen Augenblick. Als sie ging, blickte ihr Kerschbaumer mit einem zufriedenen Nicken nach. »Du wirst dich vielleicht wundern, weil das Madl auf meinem Hof arbeitet. Aber als es aus der Schule gekommen ist, wollte ihr niemand eine Lehrstelle geben, weil sie schwarzes Blut in den Adern hat. Als ob das keine Menschen wären. Da hab ich sie halt genommen, und ich sage dir, ich hab’s keinen Moment bereut. Flinker und aufmerksamer als die Irmi kann keine Weiße sein.«

»Sie schaut aber auch fesch aus«, wandte Marcus ein.

Kerschbaumer runzelte die Stirn, als er es hörte. »Vergaff dich ned in sie, sonst müsste ich sie doch wegschicken.« Es klang wie eine Warnung.

Marcus überlegte, ob sein Pate an dem Mädchen interessiert war. Irmi hatte eigentlich weniger wie eine Geliebte als wie eine Hausmagd gewirkt.

Kerschbaumer schien ihm die Gedanken von der Stirn abzulesen, denn er hob abwehrend die Hände. »Denk nix Böses von der Irmi und mir. Wir haben wirklich nix miteinander. Außerdem wäre ich viel zu alt für sie. Ich hätte nix dagegen, wenn es was mit ihr und dem Hofbauer Kaspar werden tät. Sie wäre ein Glücksgriff für den Burschen. Aber der ist halt einmal in die Cilly vernarrt, die nix von ihm wissen will.«

Er schwieg und schenkte erst einmal die Gläser nach, bevor er weitersprach. »Aber lassen wir jetzt einmal die anderen Leute außen vor und reden über dich. Du hast ja jetzt dein Studium fertig und musst dich dem Leben stellen.«

In Kerschbaumers Stimme schwang ein Unterton mit, der Marcus aufmerksam werden ließ. »Ich habe mir schon ein paar Gedanken gemacht«, antwortete er zögernd. »Ich weiß bloß noch ned, ob ich jetzt in den Staatsdienst treten soll oder mir was in der Privatwirtschaft suche.«

»Du wirst doch ned einer von diesen vertrockneten Sesselfurzern werden wollen«, rief Kerschbaumer aus. »Nein, Bub, das wäre gewiss nix für dich. Weißt du, ich hab mir darüber auch schon so meine Gedanken gemacht. Ich bin nimmer der Jüngste und spür, wie meine Kräfte allmählich nachlassen. Wenn mich ned irgendwann der Schlag treffen soll, muss ich kürzertreten. Aber dafür brauche ich einen Mann, auf den ich mich hundertprozentig verlassen kann, eine rechte Hand, wie man sagt. Meiner Ansicht nach bist du das.« Er blickte Marcus dabei auffordernd an.

Dem jungen Mann schwindelte es bei diesem Angebot. Gleichzeitig warnte ihn irgendetwas in ihm davor, es anzunehmen. Gut, er könnte dann hier im Grantal bleiben. Er wusste jedoch nicht so recht, ob er unter der Fuchtel seines Paten arbeiten wollte.

Sein Pate wurde ungeduldig. »Du sagst nix dazu?«

»So was muss gut überlegt werden«, antwortete Marcus ausweichend. »Du weißt, ich halt viel von dir, Onkel Sebastian, aber ...«

»... du möchtest natürlich wissen, was einmal sein wird, wenn ich meinen Betrieb abgebe«, unterbrach ihn Kerschbaumer, als hätte er ihm das Stichwort dafür geliefert. »Schließlich hab ich meinen Sechzigsten schon hinter mir, und meine Gloria wird meinen Betrieb gewiss ned selbst weiterführen können. Aber grad deswegen will ich dich an meiner Seite haben. Du sollst später einmal das Ganze für mein Dirndl verwalten.«

»Da wird die Gloria sicher ihre eigene Meinung dazu haben. Vielleicht heiratet sie auch einmal! Ich weiß zwar ned genau, wie es ihr geht. Aber meine Mutter hat einmal erwähnt, dass sie auf dem Weg der Besserung sein soll«, wandte Marcus ein.

»Laut dem letzten Bericht von ihrem Arzt ist von ihrer Lungenkrankheit nix übrig geblieben«, erklärte Kerschbaumer. »Die Gloria ist zwar sehr zart, und ich nenn sie alleweil mein Zwergerl, weil sie grad einmal eins sechzig groß ist. Aber an ihr ist alles dran, was zu einer Frau gehört. Sie kann auf alle Fälle heiraten und Kinder kriegen. Was meinst du, wie ich mich auf ein Enkerl freue.« Kerschbaumer sah Marcus dabei mit leuchtenden Augen an.