Toni der Hüttenwirt – 153 – In eigener Sache

Toni der Hüttenwirt
– 153–

In eigener Sache

Die Recherchen der Theresa

Friederike von Buchner

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-990-0

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Das Telefon im Flur des Pfarrhauses läutete.

Helene Träutlein eilte aus der Küche und wollte den Hörer abnehmen, wie sie es gewohnt war. Doch sie blieb vor dem Apparat stehen und vergrub die Fäuste in den Taschen der Schürze.

Pfarrer Zandler kam aus der Studierstube und sah sie streng an:

»Träutlein, lass die Finger davon! Wir haben einen Anrufbeantworter. Du weißt, was ich gesagt habe!«

Der Anrufbeantworter schaltete sich ein.

»Grüß Gott! Sie sind verbunden mit dem Pfarrhaus von Waldkogel. Im Augenblick ist niemand erreichbar. Die Vertretung von Pfarrer Heiner Zandler hat Pfarrer Egon Kunz von der Sankt Michael Gemeinde in Kirchwalden. Pfarrer Kunz nimmt Ihr Anliegen gern entgegen. Sie werden jetzt automatisch mit Pfarrer Kunz verbunden. Danke für Ihren Anruf.«

Wie schon seit drei Tagen blieb Helene Träutlein, die Haushälterin von Pfarrer Zandler, jedes Mal wie angewurzelt vor dem Telefon stehen.

»Gibt es noch etwas, Träutlein? Hast du nix in der Küche zu tun?«, herrschte sie der Geistliche an.

»Mei, Herr Pfarrer! Was sind Sie so grantig, seit Sie Urlaub machen. So kenne ich Sie nicht. Den ganzen Tag schließen Sie sich in Ihrer Studierstube ein und kommen nur zum Essen heraus. Des verstehe ich net. Wenn Sie schon Urlaub machen und net wegfahren, warum gehen S’ dann net ein bisserl wandern? Es ist so schönes Wetter draußen.«

»Träutlein, du bist meine Haushälterin und sonst nix, verstehst? Ich kann meinen Urlaub verbringen, wie ich will. Das musst du net verstehen. Sorge dafür, dass des Mittagessen pünktlich auf dem Tisch steht. Und jetzt lass mich in Ruhe!«

Er ging in die Studierstube zurück und schloss die Tür lauter als sonst. Fast kam es der langjährigen Haushälterin vor, als habe ihr Chef die Tür zugeknallt. Zu seiner Entschuldigung redete sie sich ein, ihm sei nur aus Versehen die Türklinke aus der Hand gerutscht. Aber irgendwie war Helene Träutlein nicht davon überzeugt.

In der Küche machte sie sich eine Tasse Kaffee. Sie setzte sich an den Tisch und dachte nach. Auf dem Küchenherd kochte ein Suppenhuhn langsam vor sich hin. Sie hatte beschlossen, dem Geistlichen einen kräftigen Hühnereintopf mit Gemüse zu kochen, denn es kam ihr vor, als würde er von Tag zu Tag blasser im Gesicht. Er aß auch nur drei Mahlzeiten. Essen konnte man das auch nicht nennen. Er aß sehr wenig, fast eine Kinderportion, und Kuchen lehnte er am Nachmittag ab.

Helene Träutlein seufzte tief. Sie machte sich Sorgen. Sie nahm an, dass der Pfarrer sich selbst geistliche Einkehr verordnet hatte und sich deshalb in seine Studierstube zurückzog. Wenn Helene aufstand, dann war er schon in seinem Zimmer. Wenn sie sich abends zurückzog, war er immer noch in seinem Studierzimmer.

»Da stimmt etwas nicht«, flüsterte sie vor sich hin.

Helene Träutlein überlegte genau. Es musste einen anderen Grund geben, für diesen sonderbaren Urlaub. Wenn der Pfarrer früher Urlaub gemacht hatte, dann war er entweder für einige Tage ins Kloster gegangen oder er war verreist. Dieses Mal erweckte er irgendwie nur den Anschein, in Urlaub zu sein. Niemand sollte wissen, dass er doch im Pfarrhaus war.

Einmal in der Woche kam Pfarrer Kunz, ein junger Geistlicher aus Kirchwalden, und hielt die Frühmesse ab. An den anderen Tagen fiel die Messe aus. Für die Sonntage gab es auch eine Regelung. Der Geistliche der Sankt Michaels Gemeinde hatte am letzten Sonntag die Sonntagsmesse gehalten und würde es in zwei Wochen wieder tun. Am kommenden Sonntag gab es keine Messe. An der Tür der schönen Barockkirche hing ein Aushang mit der Bitte an die Gläubigen, die Messe in Kirchwalden zu besuchen.

Das war an sich nicht verwunderlich. Nahm ein Geistlicher in der Region Urlaub, dann übernahm ein anderer Seelsorger die Gemeinde zusätzlich für diese Zeit. Seltsam war nur Pfarrer Zandlers Verhalten. Der sonst so freundliche und offene Geistliche, der immer für jeden da war, hatte sich total verändert. Er war mürrisch und ablehnend. Er sprach kaum ein Wort mit Helene und herrschte sie nur barsch an.

»Fast könnte man glauben, er sei krank«, sinnierte Helene Träutlein vor sich hin.

Je länger sie nachdachte, desto sicherer wurde sie, dass mit Pfarrer Zandler etwas nicht stimmte. Seine Launen hatten begonnen, als er vor drei Wochen nach Kirchwalden gefahren war, um angeblich etwas Persönliches zu erledigen. Helene Träutlein hatte sich schon damals gewundert.

Danach war er von Tag zu Tag seltsamer geworden, bis er sich in seinem Studierzimmer einschloss. Er hatte ihr das Versprechen abgenommen, niemanden zu verraten, dass er da war. Seither lief auch dieser Anrufbeantworter. Es war ihr untersagt, das Telefon abzunehmen.

Helene wurde nach dem Befinden von Pfarrer Zandler befragt, wenn sie einkaufen ging. Zum Glück war die Vorratskammer wohlgefüllt und sie musste nicht viel einkaufen, sonst wäre es aufgefallen, dass sie für zwei Personen kochte und nicht für eine. Helene Träutlein fühlte sich schlecht, wenn sie erzählte, es gehe ihm sicherlich gut im Urlaub, nach allem was sie wüsste. Niemand zweifelte an ihren Worten. Niemand kam auf die Idee, sie könnte lügen.

»Ich muss doch lügen, was soll ich sonst machen«, sagte Helene Träutlein und schnäuzte in ihr Taschentuch.

Sie fühlte sich so elend. Am liebsten wäre sie selbst in Urlaub gefahren, um weit weg zu sein. Aber das konnte sie nicht tun. In diesem Zustand wollte sie ihn nicht allein lassen. Sogar, dass er mit ihr vielleicht nicht mehr zufrieden war, ging ihr durch den Kopf. Das war nicht von der Hand zu weisen, da er nur noch das Nötigste mit ihr sprach. Er wollte sie vielleicht dazu bringen, dass sie selbst kündigte. Diese Gedanken waren nur ein Spiegel der Unsicherheit und Verzweiflung, in die Pfarrer Zandler die gute Haushälterin gestürzt hatte, mit seinem seltsamen und ungewöhnlichen Verhalten.

Helene trocknete sich die feuchten Augen. Sie trank den Kaffee aus. Sie beschloss auszuharren und so zu tun, als wäre nichts. Sie trat ans Küchenfenster, schaute hinauf auf den Gipfel des ›Engelssteigs‹ und wandte sich an die Schutzengel von Waldkogel. Sie glaubte fest daran, dass die Engel nachts vom Gipfel des Bergs über eine unsichtbare Leiter hinauf in den Himmel steigen. Dort hinauf brachten sie die Gebete, Wünsche und Sehnsüchte der Menschen, damit sich der Herrgott, sein Sohn Jesus, die Heilige Mutter Maria, alle Heiligen und Seligen den Nöten der Bedrängten annahmen. Und jetzt gehörte Helene Träutlein dazu. Ihr Herz war schwer. Sie fand, dass ihr Leben Tag für Tag mehr in Unordnung geriet. Sie log schon und wagte sich kaum noch zum Einkaufen.

Helene Träutlein sprach lange mit den Engeln. Doch es war ihr, als würde ihr Herz davon nicht leichter.

Ich werde Geduld haben müssen, sagte sie sich. Ich darf keine Wunder erwarten, jedenfalls nicht sofort. Es fiel ihr schwer, den Engeln zu vertrauen, denn ihr Herz war voller Kummer und Sorge.

Helene Träutlein ging zurück an den Herd und kochte das Mittagessen. Nach dem Essen wollte sie mit einem Großputz des Pfarrhauses beginnen. Sie wollte auf dem Dachboden anfangen und im Keller Schluss machen.

Sie war sicher, dass sie das auf andere Gedanken bringen würde. Außerdem hoffte sie, dass die Putzerei sie ermüden würde, damit sie abends gleich einschlafen könnte und sich nicht noch stundenlang grübelnd im Bett wälzen würde.

Wenn das auch nicht hilft, dann muss ich zum Doktor. Der Martin muss mir ein Schlafmittel verschreiben, sonst werde ich noch krank. So wenig Schlaf und die Sorgen um Pfarrer Zandler, das ist mehr als ich aushalten kann, dachte sie.

*

Es war früher Abend. Rolf Bayer und seine Frau Gaby saßen auf der Terrasse des kleinen Einfamilienhauses. Die Terrasse schloss sich ans Wohnzimmer an und führte über zwei Stufen in den Garten. Unterm Dach lag Theresas Schlafzimmer. Die Fenster waren weit geöffnet. Es drang klassische Musik heraus.

»Schon ein bisserl sonderbar, unser Madl, denke ich oft«, bemerkte Rolf und trank einen Schluck Bier.

»Tessy«, so wurde Theresa gerufen, »war immer etwas anders als Gleichaltrige. Seit sie weiß, dass wir sie adoptiert haben, ist sie noch ruhiger.«

»Rolf, das ist jetzt schon mehr als zehn Jahre her, seit wir ihr es an ihrem vierzehnten Geburtstag gesagt haben.«

»Ja, wie die Zeit vergeht. Ich bin froh, dass sie es so gut aufgenommen hat.«

»Das stimmt. Sie war ganz ruhig, dachte erst einmal nach, dann nickte sie und umarmte uns. Seither hat sie nie mehr davon gesprochen. Manchmal möchte ich in ihren Kopf hineinsehen und wissen, was sie wirklich darüber denkt, Rolf.«

»Das verstehe ich, aber das ist unmöglich. Wir haben ihr alles gesagt, was zu sagen ist. Wir wissen nicht, wer ihre Mutter ist und wer ihr Vater war. Nur der Geburtsort ist bekannt, Waldkogel in den Bergen. Einen anderen Anhaltspunkt gibt es nicht.«

»Rolf, ich an ihrer Stelle würde mir den Ort ansehen wollen. Davon will sie nichts wissen. Ihr gegenüber darf man nicht einmal den Ort erwähnen.«

»Das stimmt, Gaby. Vielleicht ist es ihre Art der Bewältigung. So kann sie sich besser damit abfinden, dass sie unser Madl ist, unser liebes Madl.«

»Sie war immer ein stilles und sehr braves Kind, Rolf. Nie hat sie uns Anlass zur Klage gegeben.«

»Des stimmt, Gaby. Manchmal war sie mir direkt unheimlich. Sie war immer sehr zurückhaltend. Es dauerte lange, bis sie zu jemand Vertrauen fasste.«

»Genau, sie war immer scheu und hat sich die Menschen genau angeschaut. Aber jetzt ist sie erwachsen. Meinst du nicht, dass es an der Zeit wäre, dass sie mal einen Burschen findet?«

»Schon, Gaby, in ihrem Alter waren wir schon verheiratet. Aber ein Bursche, der sich in unsere Tessy verliebt, der muss Ausdauer haben, denke ich. Sie muss ihm sehr am Herzen liegen, dass er den Mut hat, lange um sie zu werben. Sie ist kein Madl, welches es einem Burschen leichtmacht. Das haben wir erlebt.«

Theresas Eltern sahen sich an. Sie hatten schon die Erfahrung gemacht. Tessy hatte viele Einladungen zum Tanz und ins Kino abgelehnt. Sie ging lieber allein in ein klassisches Konzert.

»Ihr fehlt es vielleicht an Leichtigkeit, weil sie als Baby fortgegeben wurde, Rolf. Sie war bei mehreren Leuten, bis sie zu uns kam. Vielleicht hat sie deshalb die Scheu vor Menschen. Es hat sich tief in ihre Seele eingegraben, dass es besser ist, erst mal abzuwarten und keine Gefühle oder Hoffnungen zu investieren.«

»Gaby, das sind alles Spekulationen. Das gibt es auch bei leiblichen Kindern, dass sie zurückhaltender sind. Mache dir nicht so viele Gedanken, Gaby. Immerhin macht sie Fortschritte. Bisher ist sie immer mit uns in Urlaub gefahren. Dieses Jahr will sie allein fahren.«

»Sie verrät uns nicht, wohin sie fährt, Rolf.«

»Sieh es positiv, Gaby. Sie sagt, sie fährt ins Blaue, in den Süden. Das ist gut für sie. Vielleicht hat sie sich auch bisher zu behütet von uns gesehen. So gesehen, ist es ein Fortschritt, wenn sie allein in Urlaub fährt. Wann will sie losfahren?«

»Gleich nach Sonnenaufgang will sie sich auf den Weg machen.«

»Naja, sie wird sich eine weite Strecke vorgenommen haben, da muss das Madl früh fahren. Kluge Entscheidung, dann sind die Straßen noch leer.«

Rolf las weiter die Zeitung. Seine Frau Gaby hing weiter ihren Gedanken nach. Sie war innerlich unruhig. Warum wollte Tessy allein in Urlaub? Sie hatte die ganzen Jahre doch immer betont, dass sie gern mit ihren Eltern im Urlaub war. Dazu kam noch, dass sie ihr Urlaubsziel verheimlichte. Sie muss doch ein Ziel haben, dachte Gaby. Sie muss doch ein Hotelzimmer oder eine Pension oder eine Ferienwohnung gebucht haben. Es entsprach ihr so ganz und gar nicht, dass sie einfach ohne einen festen Plan in den Süden fahren wollte.

Gaby seufzte still. Sie hatte schon oft mit Rolf über ihre Bedenken gesprochen, aber er verstand sie nicht oder wollte sie nicht verstehen. So schwieg sie und versuchte ihr unruhiges Mutterherz irgendwie zu beruhigen.

Theresa kam aus ihrem Zimmer herunter.

»So, ich bin mit dem Packen fertig und habe meinen Koffer auch schon im Auto verstaut.«

Rolf Bayer ließ die Zeitung sinken.

»Hast du Straßenkarten dabei?«

»Papa, heute macht man das mit einem Navi oder gleich über das Smartphone.«

»Das ist mir bekannt. Aber was ist, wenn der Satellit ausfällt? Dann stehst du irgendwo und weißt nicht, wie du weiterfahren musst.«

»Dein Vater hat recht, Tessy. Nimm einen guten Straßenatlas mit. Wenn du ihn nicht benötigst, dann ist es auch gut. Brauchst du ihn aber, dann hast du ihn dabei.«

Rolf Bayer stand auf. Er ging zum Bücherschrank im Wohnzimmer und holte einen Satz Straßenkarten und einen dicken Atlas heraus. Er legte die Sachen auf den Tisch.

»Such dir die Karten aus, die du gebrauchen kannst.«

»Am besten du nimmt alle mit, Tessy. Wir brauchen sie nicht. Wir fahren erst in Urlaub, wenn du wieder zurück bist«, sagte ihr Mutter.