Über das Buch

Jacquie ist endlich nüchtern und will zu der Familie zurückkehren, die sie vor vielen Jahren verlassen hat. Dene sammelt mit einer alten Kamera Geschichten indianischen Lebens. Und Orvil will zum ersten Mal den Tanz der Vorfahren tanzen. Ihre Leben sind miteinander verwoben, und sie sind zum großen Powwow in Oakland gekommen, um ihre Traditionen zu feiern. Doch auch Tony ist dort, und Tony ist mit dunklen Absichten gekommen. »Dort Dort« ist ein bahnbrechender Roman, der die Geschichte der Native Americans neu erzählt und ein Netz aufwühlend realer Figuren aufspannt, die alle an einem schicksalhaften Tag aufeinandertreffen. Man liest ihn gebannt von seiner Wucht und seiner Schönheit, bis hin zum unerbittlichen Finale.

Tommy Orange

Dort dort

Roman

Aus dem Englischen von Hannes Meyer

Hanser Berlin

Für Kateri und Felix

Die Figuren

TONY LONEMAN, einundzwanzig Jahre alt, aufgewachsen in Oakland, Cheyenne-Vorfahren. Angeborenes fetales Alkoholsyndrom, von ihm selbst das Drom genannt. Lebt bei seiner Großmutter Maxine und dealt für OCTAVIO Drogen.

DENE OXENDENE, ein junger Dokumentarfilmer, Angehöriger der Cheyenne and Arapaho Tribes. Aufgewachsen in Oakland. Sammelt für ein Filmprojekt in Gedenken an seinen Onkel Geschichten von Native Americans aus Oakland und Umgebung.

OPAL VIOLA VICTORIA BEAR SHIELD, Mitte fünfzig, Cheyenne. 1970, als sie elf Jahre alt war, nahm ihre Mutter sie und ihre Halbschwester JACQUIE RED FEATHER mit, als Native Americans die Insel Alcatraz besetzten.

EDWIN BLACK, ein junger Mann mit einer weißen Mutter, Karen, und einem indianischen Vater, Harvey, den er nie kennengelernt hat. Träumte früher davon, Schriftsteller zu werden. Hat einen Master in Vergleichender Literaturwissenschaft. Liebt das Internet. Absolviert ein Praktikum im Organisationskomitee des Big Oakland Powwow.

BILL DAVIS, Partner von EDWINS Mutter Karen. Lakota. Arbeitete seit langem als Wartungsarbeiter im Oakland Coliseum. Vietnam-Veteran, saß fünf Jahre in San Quentin ein, weil er einen Mann mit dem Messer angriff und verletzte. Verbrachte seine Zeit im Gefängnis mit Lesen: Raymond Carver, William Faulkner, Hunter S. Thompson, Oscar Zeta Acosta, Ken Kesey.

CALVIN JOHNSON, glückloser junger Mann, der bei seiner Schwester Maggie wohnt. Native American. Schuldet seinem Bruder Charles (der für OCTAVIO arbeitet) Geld für Drogen.

JACQUIE RED FEATHER, OPALS Halbschwester, arbeitet als Drogenberaterin und ist selbst seit kurzem nüchtern. Gab als junge Frau ein Kind zur Adoption frei, ihre verstorbene Tochter Jamie wuchs bei ihr auf. Kümmert sich um ihre drei Enkel.

ORVIL RED FEATHER, vierzehn, einer von JACQUIES Enkeln. Cheyenne. Ist ernsthaft interessiert an seinem kulturellen Erbe und will beim Powwow tanzen.

OCTAVIO GOMEZ, der Drogenhändler, für den TONY and Charles (CALVINS Bruder) arbeiten.

DANIEL GONZALES, OCTAVIOS Cousin.

BLUE, Leiterin des Powwow-Komitees am Indian Center. Tochter von JACQUIE RED FEATHER

THOMAS FRANK, Cheyenne, Drummer, arbeitete früher als Hausmeister am Indian Center. Soll als Teil einer Gruppe namens Southern Moon beim Powwow spielen.

Prolog

In den finsteren Zeiten

Wird da auch gesungen werden?

Da wird auch gesungen werden.

Von den finsteren Zeiten.

Bertolt Brecht

Indianerkopf

Bis Ende der siebziger Jahre wurde ein Indianerkopf, der Kopf eines Indianers, die 1939 von einem unbekannten Künstler angefertigte Zeichnung des Kopfes eines langhaarigen Indianers mit Federhaube, an alle amerikanischen Fernseher gesendet, wenn das Programm zu Ende war. Das Indian-Head-Testbild. Wenn man den Fernseher laufen ließ, hörte man einen 440-Hertz-Ton — mit dem man auch Instrumente stimmt — und sah den Indianer, umgeben von Kreisen, die an Fadenkreuze in Zielfernrohren erinnerten. Auf der Mitte des Bildschirms war eine Art Bull’s Eye mit Zahlen wie Koordinaten zu sehen. Der Kopf des Indianers befand sich direkt über dem Bull’s Eye, als müsste man nur eben zum Einverständnis hochnicken, um das Fadenkreuz auf das Ziel zu legen. Es war nur ein Test.

1621 luden Kolonisten Massasoit, den Häuptling der Wampanoag, nach dem Abschluss eines Geschäfts über ein Stück Land zu einem Festmahl ein. Massasoit kam mit neunzig Mann. Wegen dieses Mahls versammeln wir uns immer noch jeden November zu einem Festessen. Wir feiern es als Nation. Aber damals war es kein Thanksgiving-Essen. Es war ein Landgeschäftsessen. Zwei Jahre später fand ein anderes, ähnliches Festmahl statt, das ewige Freundschaft symbolisieren sollte. An jenem Abend starben zweihundert Indianer an einem unbekannten Gift.

Als Massasoits Sohn Metacomet Häuptling wurde, fanden keine gemeinsamen Essen von Indianern und Pilgervätern mehr statt. Metacomet, auch bekannt als King Philip, wurde zur Unterzeichnung eines Friedensvertrags gezwungen, laut dem die Indianer alle Waffen abgeben mussten. Drei seiner Männer wurden gehängt. Sein Bruder Wamsutta wurde, sagen wir mal, höchstwahrscheinlich vergiftet, nachdem er zum Plymouth Court beordert und festgenommen worden war. Was alles zum ersten offiziellen Indianerkrieg führte. Dem ersten Krieg gegen die Indianer. King Philip’s War. Drei Jahre später war der Krieg vorbei und Metacomet auf der Flucht. Gefasst wurde er von Benjamin Church, dem Hauptmann der ersten American Rangers, und einem Indianer namens John Alderman. Metacomet wurde enthauptet und zerstückelt. Gevierteilt. Die vier Teile wurden an Bäume gebunden, wo die Vögel sie zerrupfen konnten. Alderman bekam Metacomets Hand, die er in einem Rumkrug aufbewahrte und jahrelang überallhin mitnahm — sie den Leuten gegen Geld zeigte. Metacomets Kopf wurde der Plymouth Colony für dreißig Shilling verkauft, der damaligen Standardsumme für einen Indianerkopf. Der Kopf wurde auf eine Lanze gesteckt, durch die Straßen von Plymouth getragen und die nächsten fünfundzwanzig Jahre im Plymouth Fort ausgestellt.

1637 versammelten sich zwischen vierhundert und siebenhundert Pequot zum jährlichen Green Corn Dance. Die Kolonisten umstellten ihr Dorf, zündeten es an und erschossen jeden Pequot, der fliehen wollte. Das feierte die Massachusetts Bay Colony mit einem Festmahl am nächsten Tag, den der Gouverneur zu einem Tag der Danksagung erklärte. Thanksgiving-Feste wie dieses gab es überall nach »erfolgreichen Massakern«, wie wir sie wohl nennen müssen. Bei einer dieser Feiern in Manhattan sollen die Leute Köpfe der Pequot wie Fußbälle durch die Straßen geschossen haben.

Der erste Roman eines Native American, zugleich der erste Roman aus Kalifornien, wurde 1854 von einem Cherokee namens John Rollin Ridge geschrieben. The Life and Adventures of Joaquín Murieta handelt von einem angeblich echten mexikanischen Banditen dieses Namens aus Kalifornien, der 1853 von einer Gruppe Texas Rangers getötet wurde. Sie mussten beweisen können, dass sie Murieta getötet hatten, um an die 5000 Dollar zu kommen, die auf seinen Kopf ausgeschrieben waren, also schnitten sie ihn ab. Bewahrten ihn in einem Whiskeykrug auf. Auch die Hand seines Gefährten Three-Fingered Jack nahmen sie mit. Die Rangers gingen mit Murietas Kopf und Jacks Hand auf Tournee durch Kalifornien und nahmen einen Dollar Eintritt.

Der Indianerkopf im Krug, der Indianerkopf auf der Lanze waren wie Flaggen, die weithin zu sehen sein sollten. Genau wie das Indian Head Test Pattern an schlafende Amerikaner gesendet wurde, wenn wir in unseren Wohnzimmern die Segel setzten zur Fahrt über die ozeanblaugrünen Funkwellen hin zu den Ufern, den Bildschirmen der neuen Welt.

Der rollende Kopf

Eine alte Geschichte der Cheyenne handelt von einem rollenden Kopf. Eine Familie war von ihrem Lager weg an einen See gezogen — Mann, Frau, Tochter, Sohn. Am Morgen, wenn der Mann mit dem Tanzen fertig war, bürstete er seiner Frau das Haar und bemalte ihr das Gesicht rot, dann ging er auf die Jagd. Und als er wiederkam, war ihr Gesicht sauber. Nachdem das ein paarmal geschehen war, beschloss er, ihr zu folgen und zu beobachten, was sie tat, während er fort war. Er fand sie im See mit einem Wassermonster, einer Art Schlangenwesen, eng umschlungen. Der Mann zerstückelte das Monster und tötete seine Frau. Das Fleisch brachte er seinem Sohn und seiner Tochter nach Hause. Sie merkten, dass es anders schmeckte. Der Sohn, der noch gestillt wurde, sagte: Das schmeckt genau wie meine Mutter. Seine große Schwester belehrte ihn, es sei bloß Rehfleisch. Während sie aßen, rollte ein Kopf herein. Sie rannten davon, aber der Kopf folgte ihnen. Der Schwester fiel ein, wie dicht die Dornen dort waren, wo sie gespielt hatten, und mit ihren Worten erweckte sie die Dornen hinter sich zum Leben. Aber der Kopf drang hindurch und kam immer näher. Dann fiel ihr ein, wo Steine auf komplizierte Weise aufgehäuft worden waren. Die Steine erschienen, als sie von ihnen sprach, aber sie hielten den Kopf nicht auf, also zog die Schwester einen Strich über den Boden, eine Schlucht tat sich auf, und der Kopf konnte sie nicht überwinden. Doch nach langem Regen füllte die Schlucht sich mit Wasser. Der Kopf schwamm hinüber, und als er auf der anderen Seite war, wandte er sich um und trank das ganze Wasser aus. Der rollende Kopf wurde verwirrt und betrunken. Er wollte mehr. Mehr von irgendetwas. Mehr von allem. Und er rollte immer weiter.

Für die Zukunft sollten wir uns aber unter anderem eins merken: Niemand hat jemals Köpfe Tempeltreppen runtergerollt. Das hat Mel Gibson sich ausgedacht. Das haben wir aber vor Augen, wenn wir den Film gesehen haben: Köpfe, die Tempeltreppen runterrollen, in einer Welt, die die wahre Welt der Indianer im Mexiko des 16. Jahrhunderts darstellen soll. Mexikaner, bevor sie Mexikaner wurden. Bevor Spanien kam.

Wir wurden von allen anderen definiert und werden hinsichtlich unserer Geschichte und unseres aktuellen Zustands als Volk nach wie vor verleumdet, so leicht die Fakten auch im Internet nachzulesen sind. Wir haben die traurige, bezwungene Indianersilhouette vor Augen, die Köpfe, die Tempeltreppen hinunterrollen, Kevin Costner, der uns rettet, John Waynes Revolver, der uns niederstreckt, einen Italiener namens Iron Eyes Cody, der uns in Filmen spielt. Da ist der müllbetrauernde, weinende Indianer in dem Werbespot (auch Iron Eyes Cody) und der verrückte, waschbeckenwerfende Indianer, der der Erzähler des Romans war, die Stimme von Einer flog übers Kuckucksnest. Da sind die Logos und die Maskottchen. Der Abklatsch eines Abklatsches eines Bildes eines Indianers in einem Schulbuch. Von den obersten Spitzen Kanadas und Alaskas bis hinab zum äußersten Ende Südamerikas wurden Indianer entfernt und auf ein gefiedertes Bild reduziert. Unsere Köpfe prangen auf Flaggen, Trikots und Münzen. Unsere Köpfe waren, natürlich bevor wir als Volk auch nur wählen konnten, erst auf dem Penny — dem Indian Cent — und dann auf dem Buffalo Nickel — Münzen, die wie die Wahrheit über historische Ereignisse auf der ganzen Welt und wie das Blut all der Gemetzel heute nicht mehr im Umlauf sind.

Massaker als Prolog

Manche von uns wuchsen mit Geschichten über Massaker auf. Geschichten darüber, was mit unserem Volk vor nicht allzu langer Zeit passiert war. Was das für uns bedeutete. In Sand Creek, so hörten wir, jagten sie uns mit Haubitzen in die Luft. Freiwilligenmilizen unter Führung von Colonel John Chivington kamen, um uns zu töten — wir waren hauptsächlich Frauen, Kinder und Alte. Die Männer waren auf der Jagd. Sie ließen uns die Amerikaflagge hissen. Wir hissten sie und dazu noch eine weiße. Die weiße Fahne flatterte zur Kapitulation. Wir standen unter beiden, als sie kamen. Sie töteten uns nicht bloß. Sie zerrissen uns. Verstümmelten uns. Brachen uns die Finger, um unsere Ringe zu stehlen, schnitten uns die Ohren ab, um an unser Silber zu kommen, skalpierten uns, weil sie unser Haar wollten. Wir versteckten uns in hohlen Baumstämmen und vergruben uns im Sand am Flussufer. Der Sand färbte sich rot vor Blut. Sie rissen uns ungeborene Babys aus dem Bauch, nahmen, was erst werden sollte, unsere Kinder, bevor sie Kinder waren, Babys, bevor sie Babys waren. Sie zerschlugen weiche Babyköpfe an Bäumen. Dann nahmen sie unsere Leichenteile als Trophäen mit und stellten sie in der Innenstadt von Denver auf einer Bühne aus. Colonel Chivington tanzte mit abgeschnittenen Teilen von uns in den Händen, mit Schamhaar von Frauen, er tanzte betrunken, und die vor ihm versammelte Menge machte es noch schlimmer, denn sie fiel ein in seinen Jubel, sein Lachen. Es war ein Fest.

Scharf, gebieterisch

Uns in Städte zu bringen sollte der letzte Schritt unserer Assimilierung sein, unserer Absorption, Auslöschung, die Vollendung einer fünfhundertjährigen Völkermordkampagne. Aber die Stadt erschuf uns neu, wir machten sie uns zu eigen. Wir verloren uns nicht im Gewirr hoher Gebäude, im Strom anonymer Massen, im pausenlosen Verkehrslärm. Wir fanden einander, gründeten Indian Center, holten unsere Familien und Powwows nach, unsere Tänze, unsere Lieder, unsere Perlenarbeiten. Wir kauften und mieteten Häuser, wir schliefen auf den Straßen und unter Freeways; wir studierten, gingen zur Armee, bevölkerten Indianerbars im Fruitvale in Oakland und im Mission District in San Francisco. Wir lebten in Güterwaggondörfern in Richmond. Wir machten Kunst und machten Kinder und ebneten die Wege zwischen den Städten und den Reservaten und zurück. Wir kamen nicht zum Sterben in die Stadt. Die Bürgersteige und Straßen, der Beton, sie absorbierten unsere Schwere. Glas, Metall, Gummi und Kabel, die Geschwindigkeit, das Getümmel — die Stadt nahm uns auf. Damals waren wir noch keine urbanen Indianer. Das Ganze war Teil des Indian Relocation Act, der wiederum Teil der Indian Termination Policy war, die genau das war und ist, wonach sie sich anhört. Sollen sie aussehen und sich verhalten wie wir. Sollen sie wir werden. Und auf diese Weise verschwinden. Aber das war nicht alles. Viele von uns kamen aus freien Stücken, um von vorne anzufangen, um Geld zu verdienen, um etwas Neues zu erleben. Manche kamen in die Städte, um dem Reservat zu entfliehen. Wir blieben, nachdem wir im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten. Auch nach Vietnam. Wir blieben, weil die Stadt wie Krieg klingt, und den Krieg lässt man nicht zurück, wenn man einmal dort war, man kann ihn nur im Zaum halten — was einfacher ist, wenn man ihn um sich sieht und hört, das pfeilschnelle Metall, unaufhörlich die Zündungen ringsumher, die Autos, die auf den Straßen und Freeways hin und her schießen. Die Ruhe des Reservats, der kleinen Städte längs der Highways, der Dörfer — diese Stille lässt einem das brennende Gehirn nur noch lauter lärmen.

Viele von uns sind urban geworden. Weil wir in Städten leben oder weil wir im Internet leben. Im Hochhaus der unzähligen offenen Browserfenster. Früher nannten sie uns Bürgersteigindianer. Verstädterte, oberflächliche, unauthentische, kulturlose Flüchtlinge. Äpfel. Ein Apfel ist außen rot und innen weiß. Doch wir sind, was unsere Vorfahren taten. Wie sie überlebten. Wir sind die Erinnerungen, die wir nicht mehr haben, die in uns leben, die wir spüren, die uns so singen und tanzen und beten lassen, wie wir es tun, Empfindungen aus Erinnerungen, die unerwartet in uns aufflackern und uns durchtränken wie Blut eine Decke, Blut aus einer Wunde von einer Kugel, die uns ein Mann in den Rücken geschossen hat, wegen unserer Haare, unseres Kopfes, weil ein Kopfgeld ausgesetzt war oder auch nur, um uns loszuwerden.

Als sie zum ersten Mal mit ihren Kugeln kamen, hielten wir nicht inne, obwohl die Kugeln doppelt so schnell waren wie der Schall unserer Schreie, auch als sie mit heißer Geschwindigkeit unsere Haut aufrissen, unsere Knochen und Schädel zerschlugen, unsere Herzen durchbohrten, wir bewegten uns weiter, auch als wir sahen, wie die Kugeln unsere Körper durch die Luft wirbeln ließen wie Fahnen, wie die vielen Flaggen und Gebäude, die anstelle von allem aus dem Boden wuchsen, was dieses Land für uns ausmachte. Die Kugeln waren Vorahnungen, Geister aus Träumen einer unausweichlichen Zukunft. Die Kugeln flogen weiter, nachdem sie uns durchschlagen hatten, wurden zu Versprechen dessen, was kommen würde, die Geschwindigkeit und das Töten, die scharfen, gebieterischen Linien von Grenzen und Gebäuden. Sie nahmen alles und zermahlten es zu Staub, fein wie Schießpulver, sie schossen siegreich in die Luft, und die Kugeln flogen ins Nichts falsch geschriebener Geschichte, die besser vergessen wäre. Die verirrten Kugeln und Konsequenzen schlagen auch heute noch in unsere arglosen Körper ein.

Urbanität

Urbane Indianer: die erste in der Stadt geborene Generation. Wir ziehen schon lange von Ort zu Ort, aber das Land zieht mit uns wie Erinnerungen. Ein urbaner Indianer gehört zur Stadt, und Städte gehören zur Erde. Alles hier bildet sich in Beziehung zu allem anderen, was lebt oder nicht lebt. Alles ist miteinander verwandt. Kein Prozess, der einer Sache ihre Form gibt, sei es ein chemischer, ein synthetischer, ein technologischer oder sonst irgendein Prozess, macht sein Ergebnis zu etwas anderem als einem Produkt der lebenden Erde. Gebäude, Freeways, Autos — entstammen sie denn nicht der Erde? Wurden sie etwa vom Mars oder vom Mond geliefert? Nur weil sie hergestellt oder verarbeitet wurden oder weil wir sie bedienen? Sind wir denn etwas anderes? Haben wir uns denn nicht auch aus etwas völlig anderem gebildet, Homo sapiens, Einzeller, kosmischer Staub, unbegreifliche Prä-Urknall-Quantentheorie? Städte bilden sich auf die gleiche Weise wie Galaxien. Urbane Indianer fühlen sich im Schatten eines Innenstadtgebäudes zu Hause. Die Skyline von Oakland, die Redwoods der Oakland Hills sind uns heute vertrauter als jeder heilige Bergzug, als alle tiefen Wälder. Wir kennen das Rauschen des Freeway besser als das der Flüsse, das Heulen von Zügen in der Ferne besser als das der Wölfe, wir kennen den Geruch von Benzin, frisch beregnetem Beton und verbranntem Gummi besser als den von Zedern oder Salbei oder selbst Frybread — das gar nicht traditionell ist, genauso wenig wie Reservate, aber nichts ist ursprünglich, alles kommt von etwas anderem, das vorher da war und einst nichts war. Alles ist neu und dem Untergang geweiht. Wir fahren mit Bussen, Bahnen und Autos auf, über und unter Betonebenen. Indianer sein hat nie eine Rückkehr aufs Land bedeutet. Das Land ist überall und nirgends.

Teil I

Bleiben

Wie ist es möglich, daß ich heute nicht dein Gesicht

morgen kenne, das schon da ist oder hinter dem entsteht, das du zeigst, oder hinter der Maske, die du trägst, und das du mir erst dann vorführen wirst, wenn ich es nicht erwarte?

Javier Marías

Tony Loneman

Das Drom hat sich mir zum ersten Mal im Spiegel gezeigt, als ich sechs war. An dem Tag sagte mein Freund Mario beim Hangeln am Klettergerüst auf dem Pausenhof: »Wieso sieht ’n eigentlich dein Gesicht so aus?«

Ich weiß nicht mehr, was ich gemacht habe. Bis heute nicht. Ich erinnere mich an verschmiertes Blut auf dem Stahl und den Geschmack von Metall im Mund. Ich weiß noch, dass meine Grandma Maxine mich auf dem Flur vor dem Büro des Direktors an der Schulter gerüttelt hat, ich hatte die Augen zu, sie machte dieses Pschsch, das sie immer machte, wenn ich etwas erklären wollte, aber nicht sollte. Ich erinnere mich noch, dass sie mich kräftiger am Arm gezerrt hat als je zuvor, und dann an die stille Fahrt nach Hause.

Zu Hause vor dem Fernseher, bevor ich ihn angeschaltet hatte, sah ich mein Gesicht in der dunklen Spiegelung. Zum allerersten Mal. Mein Gesicht, wie es alle anderen sahen. Als ich Maxine fragte, erzählte sie mir, dass meine Mom getrunken hat, als ich bei ihr im Bauch war, und sie erklärte mir ganz langsam, dass ich fetales Alkoholsyndrom habe. Ich verstand nur Drom, und dann war ich wieder vor dem abgeschalteten Fernseher und starrte es an. Mein Gesicht spannte sich über den Bildschirm. Das Drom. Ich wollte das Gesicht dort wieder zu meinem machen, aber es ging nicht.

Die meisten Leute müssen sich keine Gedanken darüber machen, was ihr Gesicht bedeutet, nicht so wie ich. Das eigene Gesicht im Spiegel, die meisten wissen gar nicht mehr, wie es überhaupt aussieht. Das da vorne am Kopf, das nimmt man nicht wahr, so wie man den eigenen Augapfel mit dem eigenen Augapfel nicht sieht, so wie man nicht riecht, wie man riecht, nur ich, ich weiß genau, wie mein Gesicht aussieht. Ich weiß, was es bedeutet. Meine Augenlider hängen runter, als wäre ich fertig, als wäre ich high, und mein Mund steht die ganze Zeit offen. Zwischen den einzelnen Teilen in meinem Gesicht ist zu viel Platz — Augen, Nase und Mund stehen so weit auseinander, als hätte sie ein Säufer beim Griff nach dem nächsten Schluck da hingeklatscht. Die Leute gucken mich an und dann schnell weg, wenn sie sehen, dass ich es merke. Auch das ist das Drom. Meine Kraft und mein Fluch. Das Drom ist meine Mom und warum sie trank, es ist Geschichte, die in einem Gesicht landet, es ist alles, was ich schon gepackt habe im Leben, obwohl es mich die ganze Zeit fertigmacht, seit ich es damals auf dem Bildschirm sah, wo es mich anstarrte wie ein scheiß Verbrecher.

Ich bin jetzt einundzwanzig, das heißt, ich kann trinken, wenn ich will. Ich will aber nicht. Ich hab als Baby bei meiner Mom im Bauch genug abgekriegt, so sehe ich das. Hab mich da drinnen besoffen, ein kleines Säuferbaby, nicht mal ein Baby, eine kleine Scheißkaulquappe an einer Schnur, die im Bauch vor sich hin treibt.

Sie haben mir gesagt, dass ich dumm bin. Nicht so, nicht wortwörtlich, aber ich bin auf jeden Fall durch den Intelligenztest gefallen. Unterste Perzentile. Niedrigste Stufe. Karen hat mir gesagt, dass es alle möglichen Arten von Intelligenz gibt. Sie ist meine Beraterin, ich gehe immer noch einmal die Woche zu ihr ins Indian Center — zum ersten Mal musste ich damals nach der Sache mit Mario in der Vorschule hin. Karen hat gesagt, ich soll mir keine Gedanken darüber machen, was sie mir über meine Intelligenz erzählen. Sie hat mir erklärt, dass Leute mit FAS ein breites Intelligenzspektrum haben, dass der Intelligenztest verzerrt, dass ich eine gute Intuition habe und Bescheid weiß, schlau bin, wenn es drauf ankommt, was ich zwar schon wusste, aber als sie es sagte, war das trotzdem ein gutes Gefühl, als hätte ich es doch nicht so richtig gewusst vorher, als musste sie es erst aussprechen.

Ich bin schlau auf die Art, dass ich weiß, was die Leute denken. Was sie wirklich meinen, wenn sie sagen, dass sie etwas anderes meinen. Das Drom hat mir beigebracht, am ersten Blick der Leute vorbeizuschauen, auf den zweiten zu warten, den direkt danach. Man muss bloß eine Sekunde länger warten als normal, dann erwischt man ihn, dann sieht man, was sie im Sinn haben da hinten. Ich weiß, wenn mich einer linkt. Ich kenne Oakland. Ich weiß, wie es aussieht, wenn einer Stress will, wann ich lieber die Straßenseite wechsle, wann ich auf den Boden schaue und weitergehe. Ich weiß auch, woran man Schisser erkennt. Das ist easy. Man sieht es ihnen an, als hätten sie ein Schild in der Hand, auf dem steht: Opfer. Die glotzen, als hätte ich ihnen schon was getan, also kann ich es auch tun.

Maxine hat gesagt, ich bin eine Medizinpersönlichkeit. Sie meinte, Leute wie ich sind selten, und wenn es mal einen von uns gibt, sollen wir auch anders aussehen, weil wir eben anders sind. Man soll uns respektieren. Nicht, dass mich irgendwer jemals respektiert hätte, außer Maxine. Sie sagt, wir sind Cheyenne. Dass Indianer schon immer zu diesem Land gehören. Dass das alles hier mal unseres war. Alles. Scheiße. Anscheinend wussten die damals nicht so recht Bescheid, sonst hätten sie die weißen Männer nicht einfach so kommen und sich von ihnen alles wegnehmen lassen. Das Traurige ist ja, dass die Indianer damals wahrscheinlich ahnten, was passiert, aber nichts machen konnten. Sie hatten ja keine Gewehre. Und dann noch die Seuchen. Das hat mir Maxine erzählt. Sie haben uns mit ihrem Weißendreck und ihren Weißenseuchen umgebracht, uns von unserem Land vertrieben und in irgendwelche Scheißecken gepfercht, wo kein Scheiß wächst. Ich fände es schlimm, wenn mich jemand aus Oakland vertreiben würde, hier kenne ich mich aus, von West Oakland nach East Oakland bis nach Deep East und zurück, mit dem Rad oder Bus oder den BART-Trains. Es ist mein Zuhause, ein anderes hab ich nicht. Irgendwo anders würde ich es nicht packen.

Manchmal kurve ich einfach mit dem Rad durch die Stadt und gucke mir alles an, die Leute, die verschiedenen Gegenden. Wenn ich Kopfhörer aufhabe und MF Doom höre, kann ich das den ganzen Tag machen. Das MF steht für Metal Face. Doom ist mein Lieblingsrapper. Er trägt eine Metallmaske und nennt sich selbst einen Erzschurken. Vor Doom kannte ich nur, was im Radio lief. Irgendwer hat im Bus auf dem Platz vor mir seinen iPod liegenlassen. Da war nichts als Doom drauf. Ich wusste, dass ich ihn mag, als ich hörte: »Got more soul than a sock with a hole.« Bei ihm wusste ich immer sofort, was er meint. Also, dass es der Socke Charakter gibt, wenn sie ein Loch hat, dass sie durchgewetzt ist, eine Seele hat, und dann hört sich soul an wie sole, und durchs Loch kann man die Fußsohle sehen. Eine kleine Sache, aber mir gab sie das Gefühl, ich bin nicht blöd. Nicht schwer von Begriff. Nicht niedrigste Stufe. So wie das Drom mir meine Seele gibt, weil das Drom ein durchgewetztes Gesicht ist.

Meine Mom sitzt im Knast. Manchmal telefonieren wir, aber sie erzählt immer irgendeinen Scheiß, bei dem ich mir wünsche, ich hätte gar nicht erst angerufen. Zum Beispiel, dass mein Vater in New Mexico ist. Dass er nicht mal weiß, dass es mich gibt.

»Dann sag dem Wichser, dass es mich gibt«, hab ich gesagt.

»Tony, ganz so einfach ist das nicht«, hat sie gesagt.

»Willst du mir sagen, dass ich’s nicht kapiere? Meinst du, ich kapier das nicht, verdammt! Nur wegen dir bin ich so!«

Manchmal werde ich wütend. Das passiert meiner Intelligenz manchmal. Egal wie oft Maxine mich von einer Schule nahm, weil ich wegen einer Prügelei suspendiert wurde, es ging immer so weiter. Ich werde sauer, und dann vergesse ich mich. Mein Gesicht wird heiß und hart wie Metall, und dann ist es aus. Ich bin ziemlich groß. Und stark. Zu stark, sagt Maxine. Ich finde, mein großer Körper ist der Ausgleich für mein Gesicht. So komme ich damit klar, dass ich wie ein Monster aussehe. Mit dem Drom. Und wenn ich aufstehe, wenn ich mich so groß mache, wie ich kann, verdammt groß, dann geht mir keiner auf den Sack. Dann hauen alle ab, als hätten sie ein Gespenst gesehen. Vielleicht bin ich eins. Vielleicht weiß nicht mal Maxine, wer ich bin. Vielleicht bin ich das Gegenteil von einer Medizinpersönlichkeit. Vielleicht mache ich irgendwann was, und dann kennt mich jeder. Vielleicht werde ich dann erst lebendig. Vielleicht können mir dann endlich alle ins Gesicht sehen, weil sie es müssen.

Alle werden glauben, es ging ums Geld. Aber wer will verdammt noch mal kein Geld? Wichtig ist, warum man Geld braucht, wie man es kriegt und was man dann damit macht. Geld allein hat noch nie wem was getan. Das machen die Leute. Ich deale Gras, seit ich dreizehn bin. Hab ein paar Typen kennengelernt, weil ich immer draußen unterwegs war. Die dachten wahrscheinlich, ich deale sowieso schon, weil ich immer an den Straßenecken rumhing und so. Vielleicht auch nicht. Wenn sie gedacht hätten, ich deale, hätten sie mich eher vermöbelt. Wahrscheinlich hatten sie Mitleid mit mir. Scheißklamotten, Scheißfresse. Das meiste von dem Geld gebe ich Maxine. Sie lässt mich bei sich in West Oakland wohnen, am Ende der Fourteenth Street, und ich will ihr helfen, wenn ich irgendwie kann. Das Haus hat sie damals gekauft, als sie noch Krankenschwester in San Francisco war, jetzt braucht sie selber eine, aber kann sich keine leisten, auch wenn sie ein bisschen Geld von der Social Security kriegt. Ich muss alles Mögliche für sie machen. Einkaufen. Mit ihr Bus fahren, um ihre Medizin zu holen. Ich helfe ihr jetzt auch die Treppe runter. Ich kann kaum fassen, dass ein Knochen so alt werden kann, dass er einem im Körper zersplittert, in tausend Teile wie Glas. Seit ihrem Hüftbruch helfe ich ihr noch mehr.

Maxine lässt sich von mir zum Einschlafen vorlesen. Mir macht das keinen Spaß, weil ich langsam lese. Manchmal wuseln die Buchstaben vor mir herum wie Käfer. Wechseln einfach den Platz, wie es ihnen passt. Aber manchmal halten die Wörter auch still. Dann muss ich abwarten, ob sie sich wirklich nicht bewegen, und brauche noch länger, als wenn sie herumwuseln und ich sie wieder zusammensetzen kann. Maxine will ihre Indianersachen hören, von denen ich nicht immer alles verstehe. Trotzdem gefallen sie mir, denn wenn ich was verstehe, dann so, dass es wehtut, aber irgendwie auch guttut, weil man etwas spürt, was man sonst nicht gespürt hätte und was einen weniger einsam macht, so dass es hinterher weniger wehtut. Einmal benutzte sie das Wort erschütternd, nachdem ich was von Louise Erdrich vorgelesen hatte, ihrer Lieblingsautorin. Es ging darum, dass das Leben einen bricht. Dass wir aus genau dem Grund hier sind und dass man sich unter einen Apfelbaum setzen und den Äpfeln beim Fallen zuhören und sich angucken soll, wie sie sich ringsherum aufhäufen und ihre ganze Süße verschwenden. Damals wusste ich nicht, was es bedeutet, und Maxine hat es mir angesehen. Sie hat es mir aber auch nicht erklärt. Und später haben wir den Abschnitt und das ganze Buch noch mal gelesen, und da habe ich es verstanden.

Maxine kennt mich und durchschaut mich besser als jeder andere, sogar besser als ich selbst, als wüsste ich nicht richtig, was ich der Welt von mir zeige, als würde ich meine eigene Realität zu langsam begreifen, mit all dem, was um mich herumwuselt, mit den Leuten und wie sie mich ansehen und mit mir umgehen, und dann dauert es, bis ich weiß, wie ich alles zusammensetzen muss.

Und alles, die ganze Scheiße, in die ich reingeraten bin, ist so gekommen, weil diese weißen Jungs aus Oakland Hills auf dem Parkplatz vor einem Schnapsladen in West Oakland direkt auf mich zumarschiert sind, als hätten sie keinen Schiss vor mir. Wie sie sich die ganze Zeit umgeguckt haben, war klar, dass sie Angst hatten, dort zu sein, aber vor mir hatten sie keine Angst. Als würden sie denken, ich mache schon nichts, so wie ich aussehe. Als wäre ich zu schwer von Begriff dafür.

»Hast du Schnee?«, hat mich der Typ mit der Kangol-Mütze gefragt, der so groß war wie ich. Ich hätte fast losgelacht. Koks Schnee nennen — weißer geht’s nicht mehr.

»Kann ich besorgen«, sagte ich, obwohl ich mir da nicht so sicher war. »Kommt in einer Woche wieder, selbe Zeit.« Ich wollte Carlos fragen.

Carlos ist verdammt unzuverlässig. Am Abend, als er es besorgen wollte, rief er mich an, er würde es nicht schaffen, und ich sollte es selber bei Octavio abholen.

Ich fuhr mit dem Rad zur BART-Station Coliseum. Octavio wohnte in Deep East Oakland in einer Seitenstraße der Seventy-Third Avenue, gegenüber von der ehemaligen Eastmont Mall, bevor es da so schlimm wurde, dass sie ein Polizeirevier daraus machten.

Als ich ankam, rannten die Leute gerade aus dem Haus, als hätte es Stress gegeben. Ich blieb einen Block entfernt auf dem Rad sitzen und sah zu, wie die Säufer im Schein der Straßenlaternen herumtaumelten, Motten im Licht.

Irgendwann sah ich Octavio, und der war mal richtig abgefuckt. Ich muss immer an meine Mom denken, wenn ich so jemanden sehe. Wie sie wohl drauf war, wenn sie soff, während ich in ihrem Bauch war? Hat es ihr gefallen? Hat es mir gefallen?

Obwohl er krass lallte, war Octavio ziemlich klar im Kopf. Er legte mir den Arm um die Schultern und ging mit mir nach hinten in den Garten, wo er unter einem Baum eine Hantelbank stehen hatte. Ich schaute zu, wie er mit einer Hantelstange ohne Gewichte trainierte. Ihm fiel anscheinend nicht mal auf, dass was fehlte. Ich rechnete damit, dass er irgendeine Bemerkung zu meinem Gesicht machen würde. Tat er aber nicht. Er erzählte von seiner Grandma, dass sie ihn gerettet hatte, als seine Familie nicht mehr da war. Dass sie ihn mit einem Dachsfell von einem Fluch befreit hatte und alle, die keine Mexikaner oder Indianer waren, Gachupins nannte, was eigentlich eine Krankheit war, die die Spanier den Ureinwohnern brachten, als sie in Amerika ankamen — und dass sie immer gesagt hatte, dass die Spanier selbst die Krankheit waren. Dann sagte er, dass er nicht hatte werden sollen, was er geworden war, was auch immer er damit meinte, ein Säufer, ein Dealer oder etwas anderes.

»Ich würde mein Herzblut für sie geben«, sagte Octavio. Sein Herzblut. Genauso ist es bei mir mit Maxine. Er sagte, dass er jetzt nicht sensibel oder so klingen wollte, aber sonst hätte ihm nie einer richtig zugehört. Mir war klar, dass es nur daran lag, dass er dicht war. Und dass er sich wahrscheinlich an nichts davon erinnern würde. Aber seitdem gehe ich immer direkt zu Octavio.

Wie sich herausstellte, hatten die trotteligen weißen Jungs aus den Hügeln Freunde. In dem Sommer verdienten wir gutes Geld. Und als ich einmal was bei ihm abholte, winkte Octavio mich rein und sagte, ich soll mich hinsetzen.

»Du bist doch Native, oder?«, fragte er.

»Ja«, sagte ich und fragte mich, woher er das wusste. »Cheyenne.«

»Erklär mir mal, was ein Powwow ist!«

»Wieso?«

»Mach einfach.«

Maxine war mit mir zu Powwows rund um die Bay gegangen, seit ich klein war. Früher habe ich selber getanzt.

»Wir putzen uns indianermäßig raus, mit Federn und Perlen und so. Wir tanzen. Singen und hauen auf so eine große Trommel, kaufen und verkaufen Indianerzeug, Schmuck und Klamotten und Deko«, sagte ich.

»Okay, aber warum?«, fragte Octavio.

»Geld«, sagte ich.

»Nein, im Ernst, warum machen die das?«

»Keine Ahnung.«

»Was soll das heißen, keine Ahnung?«

»Geld verdienen eben, Arschloch«, sagte ich.

Octavio legte den Kopf schräg und starrte mich an, nach dem Motto: Vergiss nicht, wen du vor dir hast.

»Und deshalb gehen wir auch zu dem Powwow«, sagte er.

»Zu dem im Coliseum?«

»Genau.«

»Um Geld zu verdienen?«

Octavio nickte, drehte sich um und nahm etwas in die Hand, was ich nicht sofort als Pistole erkannte. Es war klein und ganz weiß.

»Was soll das denn sein?«, fragte ich.

»Plastik«, sagte Octavio.

»Funktioniert die?«

»Kommt aus einem 3D-Drucker. Willst du mal sehen?«, fragte er.

»Sehen?«

Hinten im Garten zielte ich mit beiden Händen auf eine Pepsidose an einer Schnur, die Zunge draußen, ein Auge zugekniffen.

»Hast du überhaupt schon mal geschossen?«, fragte er.

»Nee«, sagte ich.

»Pfeift ein bisschen in den Ohren.«

»Soll ich?«, fragte ich, und bevor ich eine Antwort bekam, spürte ich meinen Finger schon abdrücken und das Wummern durch meinen Körper gehen. Einen Augenblick lang wusste ich nicht, was los war. Das Abdrücken brachte das Wummern, und mein ganzer Körper wurde ein Wummern und Fallen. Ich duckte mich, ohne es zu wollen. Es gab ein Fiepsen, von innen und außen, ein einziger Ton, der in der Ferne oder tief drinnen schwebte. Ich schaute zu Octavio hoch und sah, dass er den Mund bewegte. Ich sagte: Was?, hörte mich aber nicht mal selbst.

»Und so nehmen wir das Powwow aus«, hörte ich Octavio schließlich sagen.

Mir fiel ein, dass am Eingang zum Coliseum Metalldetektoren stehen. Maxines Gehhilfe, die sie seit ihrem Hüftbruch braucht, hatte einen davon ausgelöst. Wir waren an einem Mittwoch dort gewesen — am Ein-Dollar-Abend — und hatten uns die A’s gegen die Texas Rangers angeguckt, zu denen Maxine als Mädchen in Oklahoma immer gehalten hatte, weil es dort kein eigenes Team gab.

Bevor ich ging, gab Octavio mir einen Flyer für das Powwow, auf dem die Preisgelder für die verschiedenen Tanz-Kategorien standen. Vier für fünftausend. Drei für zehn.

»Gutes Geld«, sagte ich.

»Normalerweise würde ich so was nicht machen, aber ich schulde jemandem was«, sagte Octavio.

»Wem denn?«

»Geht dich nichts an.«

»Alles okay?«

»Geh nach Hause«, sagte Octavio.

Am Abend vor dem Powwow rief Octavio mich an und sagte, dass ich die Kugeln bunkern sollte.

»Im Gebüsch, echt jetzt?«, fragte ich.

»Ja.«

»Ich soll die Kugeln in die Büsche hinterm Eingang schmeißen?«

»Steck sie in eine Socke.«

»Kugeln in eine Socke stecken und ins Gebüsch schmeißen?«

»Hab ich das nicht gesagt?«

»Kommt mir bloß so …«

»Was?«

»Nichts.«

»Alles klar?«

»Wo krieg ich die Kugeln her, welche Sorte?«

»Walmart, .22er.«

»Könnt ihr die nicht auch einfach drucken.«

»Das geht noch nicht.«

»Okay.«

»Eins noch«, sagte Octavio.

»Ja?«

»Hast du noch so Indianerscheiß zum Anziehen?«

»Was soll das denn heißen, Indianerscheiß?«

»Keine Ahnung, was die da eben anhaben, Federn und so Zeug.«

»Hab ich.«

»Das ziehst du an.«

»Passt mir kaum noch.«

»Aber zur Not?«

»Ja.«

»Zieh es zum Powwow an.«

»Okay«, sagte ich und legte auf. Ich holte meine Tracht raus und legte sie an. Ich ging ins Wohnzimmer und stellte mich vor den Fernseher. Nirgendwo sonst im Haus konnte ich mich ganz sehen. Ich schüttelte mich und hob einen Fuß. Ich sah auf dem Bildschirm die Federn flattern. Ich streckte die Arme aus, senkte die Schultern und ging auf den Fernseher zu. Ich zog den Kinnriemen fest. Ich sah mir ins Gesicht. Das Drom. Ich sah es nicht. Ich sah einen Indianer. Ich sah einen Tänzer.

Dene Oxendene

Dene Oxendene rennt die kaputte Rolltreppe an der Fruitvale Station mit Zwei-Stufen-Schritten hoch. Als er oben ankommt, sieht er, dass es der Zug vom Gleis gegenüber ist, der gerade einfährt. Ein einzelner Schweißtropfen läuft ihm aus der Mütze seitlich ins Gesicht. Er wischt ihn mit dem Finger weg, zieht die Beanie vom Kopf und schüttelt sie aus, wütend, als käme der Schweiß aus ihr und nicht aus seiner Haut. Er schaut am Gleis entlang, atmet aus und sieht die Luft aufsteigen und verschwinden. Er riecht Zigarettenrauch und will eine rauchen, bloß dass Zigaretten ihn müde machen. Er will eine Zigarette, die belebt. Er will eine Droge, die funktioniert. Trinken lehnt er ab. Er kifft zu viel. Nichts funktioniert.

Dene schaut sich die Graffiti auf der anderen Seite der Gleise an der Wand unter dem Überhang des Bahnsteigs an. Das eine sieht er schon seit Jahren überall in Oakland. Den Namen hat er sich an der Middle School auch ausgedacht, aber selbst nie so richtig was damit angefangen: Lens.

Als Dene zum ersten Mal jemanden taggen sah, saß er im Bus. Es regnete. Der andere saß hinten. Dene sah, dass er gemerkt hatte, dass Dene ihn anschaute. Eins der ersten Dinge, die Dene übers Busfahren in Oakland lernte, war, nicht zu starren. Man schaut eigentlich nicht mal hin, aber auch nicht ganz weg. Man nimmt respektvoll zur Kenntnis. Man schaut und schaut nicht. Man will um jeden Preis vermeiden, dass die Frage kommt: Was guckst du? Darauf gibt es keine richtige Antwort. Wenn man sie hört, ist es schon zu spät. Dene wartete ab und sah, wie der Junge drei Buchstaben aufs beschlagene Busfenster malte: emt. Er wusste sofort, dass das »empty« bedeutete. Ihm gefiel, dass es in die Kondensation am Fenster geschrieben wurde, in den leeren Zwischenraum zwischen den Tröpfchen, und dass es nicht von Dauer sein würde, genau wie Tags und Graffiti.

Der Triebwagen und dann der Rest des Zuges erscheinen, kommen um die Kurve auf den Bahnhof zu. Manchmal packt einen der Selbsthass ganz plötzlich. Eine Sekunde lang weiß er nicht, ob er vielleicht springt, dort runter auf die Gleise, damit das rasende Gewicht Schluss mit ihm macht. Wahrscheinlich würde er zu spät springen, von der Seite des Zuges abprallen und sich nur das Gesicht zermatschen.

In der Bahn muss er an die Kommission denken. Er stellt sie sich so vor, dass sie aus fünf Metern Höhe auf ihn runterstarren, lange, aufgebrachte Gesichter wie von Ralph Steadman, alte weiße Männer, nichts als Nasen und Roben. Sie werden alles über ihn wissen. Ihn mit ihrem bodenlosen Wissen über sein Leben zutiefst hassen. Sie werden ihn sofort als unqualifiziert erkennen. Sie werden ihn für weiß halten — was nur zur Hälfte stimmt — und ihm deshalb den Anspruch auf ein Stipendium für indigene Kunst absprechen. Dene sieht nicht wie ein Native aus. Er ist auf unklare Weise nicht-weiß. Über die Jahre wurde er häufig für einen Mexikaner gehalten, er wurde gefragt, ob er Chinese, Koreaner, Japaner oder einmal auch Salvadorianer sei, aber meistens kam die Frage so: Was bist du eigentlich?

In der Bahn starren alle auf ihre Handys. In sie hinein. Er riecht Pisse und glaubt zuerst, es kommt von ihm. Er hat schon ewig Angst, irgendwann herauszufinden, dass er sein Leben lang nach Pisse und Scheiße gestunken hat, ohne es zu wissen, dass alle Angst hatten, ihn darauf anzusprechen, wie bei Kevin Farley aus der fünften Klasse, der es dann später in der elften herausgefunden und sich umgebracht hat. Er schaut nach links und sieht einen auf seinem Platz zusammengesackten Alten. Der Alte wacht auf, setzt sich gerade hin und tastet herum, ob seine Sachen noch da sind, obwohl keine zu sehen sind. Dene geht in den nächsten Wagen. Er bleibt an der Tür stehen und schaut aus dem Fenster. Die Bahn schwebt neben den Autos auf dem Freeway. Ihre Geschwindigkeiten sind verschieden: Die der Autos sind kurz, zusammenhanglos, sporadisch. Dene und die Bahn gleiten als eine Bewegung, eine Geschwindigkeit die Gleise entlang. Die ungleichen Geschwindigkeiten haben etwas Dramatisches, wie ein Moment in einem Film, in dem man etwas spürt, was man sich nicht erklären kann. Etwas, was zu groß ist, um es zu begreifen, unter und in einem, zu vertraut, um es zu erkennen, und die ganze Zeit direkt vor Augen. Dene setzt seine Kopfhörer auf, stellt sein Handy auf Shuffle, überspringt ein paar Songs und bleibt bei »There There« von Radiohead hängen. Die Hookline lautet: »Just ’cause you feel it doesn’t mean it’s there.« Bevor es zwischen Fruitvale und Lake Merritt unter die Erde geht, schaut Dene rüber und sieht kurz vor dem Abtauchen an der Mauer wieder das Wort, den Namen, Lens.

Auf die Idee mit dem Tag Lens war er auf einer Busfahrt nach Hause gekommen, an dem Tag, als sein Onkel Lucas sie besuchte. Kurz vor seinem Halt schaute er aus dem Fenster und sah es aufblitzen. Irgendwer hatte ihn oder den Bus fotografiert, und aus dem Blitz, dem blau-grün-violett-pinken Nachleuchten kam der Name. Kurz vor seinem Halt schrieb er mit Marker Lens auf die Lehne vor sich. Als er hinten ausstieg, sah er, wie sich die Augen des Busfahrers vorne im breiten Spiegel verengten.

Als er nach Hause kam, sagte ihm Norma, seine Mutter, dass sein Onkel Lucas aus Los Angeles komme und er aufräumen helfen und den Tisch decken solle. Dene wusste von seinem Onkel nur noch, dass er ihn früher immer hoch in die Luft geworfen und erst kurz über dem Boden wieder aufgefangen hatte. Er hatte nichts dagegen gehabt, aber es hatte ihm auch nicht besonders gefallen. Doch er konnte es immer noch spüren. Das Kribbeln im Bauch, die Mischung aus Angst und Spaß. Das unwillkürliche Auflachen in der Luft.

»Wo war er denn die ganze Zeit?«, fragte Dene seine Mutter beim Tischdecken. Norma antwortete nicht. Später beim Essen dann fragte Dene seinen Onkel, wo er gewesen sei, aber Norma antwortete für ihn.

»Er hat Filme gemacht«, sagte sie und schaute Dene mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wie es aussieht.«

Sie aßen das Übliche: Hackfleisch, Kartoffelbrei und grüne Bohnen aus der Dose.

»Ich weiß nicht, ob es so aussieht, dass ich Filme gemacht habe, aber es sieht auf jeden Fall so aus, als würde deine Mutter glauben, ich hätte sie all die Jahre angelogen«, sagte Lucas.

»Tut mir leid, Dene, falls ich den Eindruck erweckt habe, das große Indianerehrenwort meines Bruders wäre nichts wert«, sagte Norma.