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Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Erste Auflage 2019

© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main, 2019

www.groessenwahn-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-95771-262-2

eISBN: 978-3-95771-261-5

Eibe Meiners

Die unsichtbare Anna

Roman

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IMPRESSUM

Die unsichtbare Anna

Autor
Eibe Meiners

Seitengestaltung
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schrift
Constantia

Covergestaltung
Marti O´Sigma

Coverbild
© Marti O´Sigma
Familienfoto aus dem privaten Archiv

Lektorat
Thomas Pregel
www.thomaspregel.de

Druck und Bindung
Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
August 2019

ISBN: 978-3-95771-262-2
eISBN: 978-3-95771-261-5

Inhalt

1. Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

2. Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

3. Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

4. Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

5. Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

BIOGRAPHISCHES

1. Teil

1

Du da! Kannst du mal stehenbleiben und mir ein bisschen zuhören? Mama hat zwar immer gesagt, ich darf keine fremden Leute ansprechen – aber das ist so schwer, wenn es nichts als fremde Leute mehr auf der Welt gibt. Ich komme mir schon so vor, als ob ich gar nicht mehr da wäre, weil ich niemanden zum Sprechen habe und meine Stimme nicht hören kann.

Ich habe zwar meine Schwester zu Hause und die unsichtbare Anna, aber meine Schwester ist verstummt, die unsichtbare Anna hat noch nie gesprochen, und wenn ich als Einzige von uns dreien mal etwas sage, geht das so ins Leere hinein, dass ich mir die Ohren zuhalten möchte, so gespenstisch fühlt sich das an.

Ach, es ist so schön, dass du stehengeblieben bist und ich ein bisschen in dich hineinreden kann. Ich werde auch versuchen, dir viele lustige Dinge zu erzählen, damit du dich nicht langweilst. Sicher könntest du, anstatt mir zuzuhören, dich auch vor einen Fernseher setzen, und dein Fernseher ist viel spannender als ich. Dafür bin ich meistens viel hübscher als ein Fernseher, ich sehe nur gerade jetzt ein bisschen gruselig aus, weil die ganzen Tränen von Charlotte in meinem Haar und meinem Pullover stecken und weil ich in den letzten Tagen vergessen habe, mich zu waschen.

Weißt du, was gut wäre? Wenn man morgens nach dem Aufwachen gleich im Bett schon duschen könnte: Man stellt sich auf das Kopfkissen, stellt den Regen ein und wäscht sich, dann kriecht man unter die Bettdecke, lässt sich trocknen und schläft noch ein bisschen. Wenn ich so eine Bettdusche hätte, wäre ich jetzt hell und duftig wie ein Stück Seife und würde nicht als Auspuffrohr durch die Straßen laufen.

Charlotte hat auch aufgehört zu duschen, weil sie so schrecklichen Liebeskummer hat. Es ist gut, dass ich die unsichtbare Anna habe. Sie passt jetzt auf meine Schwester auf und hält sie fest, sonst hätte ich mich gar nicht hierher nach Grohede getraut.

Ich heiße übrigens auch Anna, das ist praktisch, weil du dir nicht so viele Namen merken musst, wenn ich von uns dreien erzähle. Ich bin aber jemand ganz anderes als die unsichtbare Anna. Wenn du mich mit der unsichtbaren Anna verwechselst, verwechsle ich dich mit einem Maulwurf; du kannst ja mal darüber nachdenken, ob dir das gefällt.

Kennst du die unsichtbare Anna eigentlich zufällig? Du hast ja auch noch kein Wort gesagt. Huhu! Sag mal was! Schade, dann sag ich etwas für dich: »Guten Tag, liebe Anna, das ist ja wirklich unglaublich interessant, was du mir da alles berichtest.« – »Danke! Es freut mich, dass du mir zuhörst. Ich kann dir auch noch eine Menge mehr erzählen!«

2

Es gibt zwei Gefühle, die besonders gefährlich sind: Das eine ist die Liebe und das andere ist der Fernseher. Ich kann dir sagen, es gibt Typen, die vergessen vor dem Fernseher alles, und irgendwann kann man die in ihrem Fernsehsessel nur noch auf den Friedhof schieben. Soll ich dir mal einen guten Rat geben? Du solltest nicht mehr als sieben Stunden täglich vor dem Fernseher verbringen! Ich weiß, das ist ganz, ganz schwer, aber vielleicht hast du ja noch eine Mama, die für dich den Fernseher ausschaltet.

Noch gefährlicher ist die Liebe. Puhhh – was mir da schon alles zugestoßen ist! Ich wollte mir das ja schon abgewöhnen, wie das Fingernägelkauen oder das Nasebohren, aber ich bin immer wieder auf dieses dumme Verliebtsein hereingefallen.

Da gab es zum Beispiel so eine Verkäuferin im Supermarkt, die war wunderschön, weil sie mir immer ein Stück Salami von der Theke schenkte. Als ich aber zu ihr sagte »Ich liebe dich«, hat die mich nur ausgelacht, und ich habe den ganzen Tag lang geweint.

Der unsichtbaren Anna ist so etwas auch schon passiert, aber sie wurde nicht einmal ausgelacht, als sie sich in unseren Briefträger verliebte. Sie duftete nach Zimt und nach Vanille, sie sprang um ihn herum, um auf sich aufmerksam zu machen, aber er tat so, als ob sie gar nicht da wäre. Das hätte sie beinahe vernichtet.

Am Schlimmsten aber hat es meine Schwester erwischt. Du glaubst ja nicht, was dieser schreckliche Liebeskummer mit Charlotte gemacht hat: Im Schlafzimmer haben wir einen Schrank, darin wohnt sie jetzt, und sie will da auch gar nicht mehr herauskommen. Manchmal klettern die unsichtbare Anna und ich hinein, damit meine Schwester nicht immer so allein da drinnen ist, und das wird dann so eng, dass man kaum noch atmen kann. Außerdem wäre es gut, wenn in solchen Schränken ein Klo eingebaut wäre. Gestern Abend habe ich in der Küche eine Tasse fallen lassen, und da hat Charlotte sich vor Schreck in die Hose gemacht, das passiert jetzt immer, wenn Krach im Haus ist. Das ist das größte Übel: Meine Schwester macht sich in die Hose, und es ist gar nicht lustig, sie auszulachen, weil sie so in ihren Tränen versackt ist. Alle Unterhosen, die sie hat, sind schon aufgebraucht. Ich habe sie in eine Badewanne geworfen und Wasser in die Wanne gelassen. Aber die Unterhosen werden nicht sauber, obwohl ich alles, was wir an Seife haben, hineingeschüttet habe. Ich habe vorhin ein paar neue gekauft.

Hast du vielleicht eine Unterhose für meine Schwester übrig? Bring mal welche mit, ja? Es kann ruhig eine kleine sein. Charlotte isst jetzt so wenig und wird bald so dünn, dass man mit ihr eine Tür abschließen kann. Ich weiß gar nicht, welche Charlotte ich schlimmer finden soll: die von früher, die mich immer geärgert und gehauen hat, oder die Charlotte von jetzt, die im Schrank steckt und heult.

Kannst du mir mal sagen, wie man so einen Liebeskummer am besten los wird? Wenn man so schrecklich alt ist wie du, hat man doch bestimmt schon tausend Krankheiten gehabt, so etwas wie Masern oder Husten oder Schnarchen oder so ein Zeug, und bestimmt war da auch Liebeskummer dabei. Dagegen muss es doch ein Mittel geben!

Ich glaube, ich erzähle dir mal, wie Charlotte in diese fürchterliche Liebe hineingeraten ist: Es waren einmal zwei Schwestern, eine große, die war … na ja, ziemlich nett, und eine kleine, die war das artigste und klügste Mädchen, das du dir vorstellen kannst … Ach, nein, das geht ja gar nicht, so kann ich nicht anfangen! Uns beide gibt es ja immer noch, da kann man nicht mit »Es war einmal« beginnen. Also … also, da war dieser Typ aus unserer Schule, dieser Blödian, der wollte mit Charlotte … Puhhh, das geht auch nicht, ich muss ja noch erzählen, wie die unsichtbare Anna entstanden ist, das war, als wir diesen schrecklichen Film gesehen haben … Nein, da fehlt ja noch … früher … vor langer Zeit … Ach, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll! Weißt du was? Ich fange bei meiner Geburt an! Zwar dauert das dann tagelang, bis ich mich zu Charlottes Liebe vorwärtserzählt, aber so vermeide ich, dass ich etwas Wichtiges vergesse, und du guckst mich nicht irgendwann doof an, weil du nichts verstanden hast.

3

Es ist gar nicht so einfach, etwas von meiner Geburt zu erzählen, weil ich mich nicht erinnern kann, dabei gewesen zu sein, und meine Schwester und meine Mama redeten davon so unterschiedlich, als wäre ich zwei Mal auf die Welt gekommen. Mama sagt immer, ich sei mit einem Kaiserschnitt auf die Welt gekommen, und das fühlt sich großartig an, da kann ich mir so richtig vorstellen, wie die ganzen Grafen, Herzöge und Könige aus Deutschland in einem Kreis um Mama herumstanden und Beifall klatschten, als ich da war.

Bei meiner Schwester hört sich das nicht so schön an. Charlotte behauptet immer, ich hätte bei meiner Geburt den Notausgang genommen, und das kommt mir vor, als wäre ich in so einem gammligen Hinterhof mit verrotteten Autoreifen gelandet.

Jedenfalls war ich irgendwann zu Hause. Ab jetzt kannst du mir alles glauben, was ich sage, weil ich überall dabei gewesen bin und mich erinnern kann. Mein Zuhause ist schrecklich weit weg von hier, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Ich musste seit heute Morgen mindestens drei Tage lang laufen, um hierher nach Grohede zu kommen. Das muss ich immer, wenn ich zu Menschen kommen will, denn unser Haus steht ganz allein in der Landschaft: An der einen Seite führt eine bucklige Steilküste zum Meer hinunter, an den anderen Seiten ist es von zottigen Weizenfeldern umgeben. Eine Straße ist da auch, da fahren manchmal Autos vorbei, so etwas ist schon nett, da kommen wir uns nicht so allein vor.

Mama hat einen komischen Beruf, sie ist Py … Psyk … Psyt … Keine Ahnung, wie das Wort geht!

Als ich noch sehr klein war, hatte Mama mir und Charlotte ein Buch mit Bildern von Gegenständen gegeben, und ich sollte die Wörter sagen, die zu den Gegenständen gehörten. Wenn ich richtig geraten hatte, sollte ich ein Schokoladenstück bekommen, wenn ich ein falsches Wort gesagt hatte, bekam Charlotte eines. Aber Charlotte behauptete bei jedem Bild, dass ich falsch geraten hätte. Wenn ich auf ein Haus zeigte und sagte »Haus«, rief Charlotte: »Nein! Das ist ein Wohnwagen.«; wenn ich auf ein Auto zeigte und sagte »Auto«, rief sie: »Du bist aber dumm, das ist ein Fahrrad!«; wenn ich auf eine Kuh zeigte und »Kuh« sagte, rief Charlotte: »Selber Kuh! Das ist ein Frosch!«, und so hat Charlotte alle Schokoladenstücke gegessen, und ich war traurig, weil ich nichts gewusst und nichts bekommen hatte. Mama bemerkte Charlottes Lügerei erst, als ich fragte, warum wir Froschmilch trinken. Sie hat dann die richtigen Wörter mit mir geübt, aber manchmal passiert es mir noch heute, dass ich die falschen Wörter sage, die Charlotte mir beigebracht hat. Vielleicht sogar schon in der Zeit, in der ich mit dir gesprochen habe.

Früher dachte ich, dass ich die normalste Mama der Welt hätte und dass jede Mama so wäre wie meine eigene. Dann stritten wir in der Schule darum, wer die beste Mama habe, und da merkte ich, dass es doch noch andere Sorten von Mamas gibt. Die beste Mama hat Andreas, die fährt ihn an jedem Tag zur Schule, in den Pausen steht sie am Zaun des Schulhofes, passt auf ihn auf, und nach dem Unterricht holt sie ihn ab. Wenn er eine schlechte Note bekommt, ruft sie bei den Lehrern an und schimpft so lange, bis er eine bessere Note kriegt. Meine Mama schimpft nie mit den Lehrern, sondern immer nur mit mir, wenn ich eine schlechte Note kriege.

Dann gibt es Mamas, die haben noch einen Papa dabei. Das schien mir zunächst vorteilhaft zu sein: Wenn man von der Mama einen Bonbon haben will und keinen kriegt, kann man zum Papa gehen und bekommt von ihm einen. Oder umgekehrt. Nachteil ist, dass man nicht nur von der Mama, sondern auch noch vom Papa gehauen werden kann. Martina erzählte sogar, dass gar nicht sie, sondern nur ihre Mama vom Papa gehauen wird und dass die sich dann immer auf dem Klo einschließt und heult. Da war ich froh, dass ich keinen Papa habe, denn wenn meine Mama heulte, musste ich mitheulen. Meine Mama heulte allerdings lieber im Bett als auf dem Klo, und ich kriegte das immer mit, weil mein Bett neben ihrem steht. Ich wachte in der Nacht auf, zusammengekrümmt lag sie neben mir, hatte ihr Kissen an die Brust gedrückt und wimmerte. Ich wusste lange nicht, wie ich das Heulen von meiner Mama wegkriegen sollte; wenn ich sie drückte, streichelte und küsste, wurde es nur schlimmer. Irgendwann fand ich heraus, wie es ging: Wenn ich wollte, dass sie damit aufhörte, sagte ich ihr, dass sie mir eine Gutenachtgeschichte vorlesen sollte. Mit Wasser in den Augen kann man nämlich nicht vorlesen. Dann setzte sich Mama neben mich, schaltete die Nachttischlampe ein, öffnete mein Märchenbuch, und schon bei den ersten Worten ging ihr Heulen in Lesen über. Oft las sie die Geschichte gar nicht zu Ende, sie hatte das Buch aufgeschlagen auf den Beinen, macht darüber einen schiefen Rücken und schlief im Sitzen ein. Ich machte dann die Nachttischlampe aus und krabbelte auf ihr Bett. Da schlief ich dann, während Mama irgendwann auf mein Bett kippte und schnarchte. Diesen Trick habe ich auch schon bei meiner heulenden Schwester versucht, aber sie will mir nicht vorlesen, das geht wohl auch schwer, wenn man immer im Schrank steckt.

Hast du auch noch eine Mama, die dir vorliest? Wenn sie mal krank ist, musst du ihr sagen, dass sie das tun soll, dann geht es ihr bald besser. Du muss natürlich aufpassen: Manche Mama ist hinterhältig beim Vorlesen und fragt am Ende wie eine Lehrerin, worum es in der Geschichte geht, und dann sollst du selbst die Geschichte noch mal aufsagen. Am besten ist, du gibst deiner Mama nur Bilderbücher zum Vorlesen, die haben nicht so viele Seiten, da musst du nicht so genau hinhören.

Manche Mamas haben komische Angewohnheiten. Meine Mama setzte sich jeden Morgen, wenn sie uns weckte, mit einem Heft ans Bett und schrieb auf, was wir geträumt hatten. Ein Typ aus unserer Schule fragte mich dann, ob ich das Heft mit Charlottes Träumen mal mitbringen könnte. Das machte ich, und ich tauschte bei dem Typen Charlottes Träume gegen einen Pfefferminzbonbon. Was dann passierte, muss wohl sehr lustig gewesen sein, weil in der Schulpause alle ihre Mitschüler über Charlotte lachten. Ich hörte, dass in ihren Träumen lauter Nackte vorkamen.

»Ach, was habe ich nur für zwei schreckliche Kinder!«, rief Mama. Das wunderte mich, ich rannte durch das Haus und suchte überall, weil ich das zweite schreckliche Kind noch nie gesehen hatte.

4

Puhhh, jetzt habe ich ja doch schneller erzählt, als ich dachte. Wenn ich ein Buch wäre, wären wir jetzt erst auf Seite drei, und ich habe schon fast die Hälfte von dem ganzen Kram erzählt, den ich im Kopf habe.

Wenn ich nämlich genau darüber nachdenke, fängt die Geschichte von Charlottes Liebeskummer mit dem Erscheinen der unsichtbaren Anna an, und diese wiederum beginnt im Milchreis. Mama rief uns eines Tages zum Mittagstisch und sagte: »Ich möchte mit euch etwas Wichtiges besprechen.« Dann erzählte sie noch ein paar weitere Dinge, ich habe aber nicht mehr hingehört, weil ich mich so darüber freute, was es zum Essen gab: Milchreis mit Zucker und Zimt. So etwas bekomme ich sonst nur zum Geburtstag. Leider isst Charlotte das auch sehr gerne, sie ist schrecklich gierig, sie isst ganz schnell, damit sie möglichst viel von dem Milchreis abbekommt. Ich esse auch ganz schnell, aber meine Schwester isst schneller, weil sie einen größeren Mund hat. Charlotte kann mit einem einzigen Happs den ganzen Milchreis wegessen, und ich kriege nichts davon ab. Auf der ganzen Welt ist immer zu wenig Milchreis da, das kennst du vielleicht auch von deinem Zuhause, und bestimmt hast du auch eine Schwester, die dir den Milchreis wegisst. Am besten ist es, du holst dir schon einen Happen weg, bevor ihr mit Essen anfangt. Das ist vielleicht nicht einfach, da steht die Mama am Herd, sie rührt in dem Essen herum und lässt dich nicht an den Topf. Dann musst du zur Haustür gehen und klingeln. Während deine Mama zur Tür geht, um nachzuschauen, läufst du in die Küche, holst dir den ersten Reis heraus, dann hast du einen Vorteil gegenüber deiner Schwester. So werde ich es machen, wenn ich groß genug bin, um an den Reistopf heranzukommen.

Damals hatte ich auch erstmal einen Haufen Reis gegessen und einen großen Vorsprung vor Charlotte bekommen, die diesmal nicht so schnell war. Irgendwann sagte Mama: »Ihr werdet also einige Zeit lang allein sein.« »Was? Warum denn?«, fragte ich. »Weil ich verreisen werde, das habe ich doch gerade erklärt! Pass doch mal auf, wenn man mit dir redet!« »Anna hat nur Milchreis im Kopf«, sagte Charlotte. Das war wieder gelogen, ich nahm ein Stück Milchreis in die Hand und bewarf meine Schwester damit. Da fasste Mama mich am Arm und schrie: »Anna, hör auf mit dem Blödsinn!« Das war wieder typisch: Charlotte hatte mit dem Streit angefangen, aber ich wurde ausgeschimpft. So war das bei uns.

»Hör jetzt zu!«, sagte Mama. »Solange ich nicht da bin, wird deine Schwester sich um dich kümmern.« »Was? Welche Schwester denn?« »Das möchte ich auch mal wissen«, sagte Charlotte, »ist das eine Schwester aus dem Krankenhaus? Oder aus dem Kloster? Wann kommt die denn?« »Das ist ja nicht zu glauben, was ich für schlimme Töchter habe. Charlotte, du bist alt genug, um für Anna Verantwortung zu übernehmen.« »Diese blöde Verantwortung kann ich selbst für mich übernehmen, dazu brauche ich Charlotte nicht.« »Anna hat recht«, sagte meine Schwester. Da musste ich aufpassen: Wenn Charlotte und ich derselben Meinung waren, hatte eine von uns beiden unrecht. »Charlotte, du weißt genau, dass das nicht wahr ist«, sagte Mama, »in der nächsten Zeit musst du für deine Schwester die Mutter sein.« »Wenn du mir ein ordentliches, sauberes und artiges Mädchen übergeben würdest, ginge das vielleicht. Aber Anna? Die hast du nicht richtig erzogen. Die kannst du keinem zumuten. Außerdem lügt sie dauernd.« »Das ist nicht wahr! Ich habe noch nie gelogen.« »Haha! Die nächste Lüge!« »Du lügst selber dauernd!« »Das stimmt, aber wenigstens lüge ich nicht so dumm wie du, dass ich eine Minute später dabei ertappt werde.«

Mit Charlotte durfte man nicht streiten – dabei gewann sie immer. Ich nahm noch einmal ein bisschen Milchreis vom Teller und warf damit nach ihr. Da langte Mama zu mir herüber und zog meinen Teller an sich. »Mama, Mama, was soll das?« »Wenn du mit dem Essen nur Quatsch machst, muss ich es dir wegnehmen. Dazu ist es zu schade.« »Halt! Halt! Ich bin doch noch gar nicht satt!« Charlotte zeigte mir einen Vogel. »Darf ich Annas Teller haben?«, fragte sie. Mama reichte ihr meinen Milchreis. Charlotte schaufelte sich sogleich einen großen Bissen heraus und steckte ihn in den Mund. »Ohhh, schmeckt der gut!«, rief sie. »Danke, Anna, dass ich deinen Milchreis haben darf.« Ich war sprachlos. Dass es so viel Gemeinheit auf einem Haufen geben kann, hast du das schon mal erlebt? Ich glaube nicht, dass das möglich ist.

Ich wollte nicht zusehen, wie Charlotte meinen Milchreis aß. Ich sprang vom Stuhl und lief aus der Küche. Ich hörte Mama noch nach mir rufen, aber ich wollte von Mama nichts wissen, es war alles ihre Schuld. Immer war sie auf Charlottes Seite, nie auf meiner. Wenn Charlotte und ich stritten, sagte Mama zu mir, ich solle nicht so herumschreien; wenn das Glas mit der Schokocreme plötzlich leer war, wurde immer ich beschuldigt, die Creme gegessen zu haben; und wenn ich in Charlottes Zimmer einen Pfefferminzbonbon gefunden hatte, klaute Mama ihn mir und gab ihn meiner Schwester. An all diese Ungerechtigkeiten dachte ich, ich konnte das Haus nicht ertragen, in dem ich wie eine Sklavin gehalten wurde, ich riss die Haustür auf und rannte ins Freie. Ich trat mit aller, aller Kraft gegen die Wand des Hauses, sodass Mama und Charlotte im Inneren noch mächtig von meinem Tritt abbekamen. Da hörte ich einen Vogel auf dem Dach lärmen, ich nahm einen Stein und schmiss ihn nach dem Vogel. Leider traf ich nicht, sonst hätte ich mich besser gefühlt.

Dann aber fiel mir noch etwas Besseres ein: Vor dem Zaun unseres Hauses führt eine Straße vorbei, auf der fahren viele Autos entlang, die nach Grohede oder aufs Land wollen. Ich stellte mich an den Zaun, schniefte kräftig und spuckte auf die Straße. Dann schaute ich zu, wie die Autos durch meine Spucke fuhren und sie in die ganze Welt trugen: Nach Grohede fuhren sie, nach Frankreich, nach Russland, nach China. All diese Länder sind jetzt mit meiner Spucke beklebt, und die Typen, die da wohnen, müssen Gummistiefel tragen. Und bald fährt eines der Autos nach New York, lässt meine Spucke auf der Straße kleben, der amerikanische Präsident, der dort wohnt, tritt hinein, dass es quietscht, und dann schimpft er: »Oh, wenn ich diese verdammte Anna erwische!«

Ich freute mich über die bespuckte Straße dermaßen, dass ich mich über Mama und meine Schwester gar nicht mehr ärgerte. Ich ging in das Haus zurück. In der Küche sah ich auf meinem Platz einen Teller mit Milchreis stehen. Mama hatte endlich erkannt, dass sie mich ungerecht behandelt hatte, in großer Reue und mit Tränen im Gesicht hatte sie mir diesen Teller fertiggemacht. Aber ich ließ den Teller stehen, da musste sich Mama schon mehr anstrengen, wenn ich wieder gut zu ihr sein sollte. Als ich aber später in die Küche zurückkehrte, war der Teller leergegessen. Oh, ich wusste, wer das war, und du weißt es sicherlich auch! Ich werde diesen Namen nie wieder in den Mund nehmen, irgendwie muss Charlotte ja bestraft werden.

Ich wollte mich über dieses Biest bei Mama beklagen. Sie war im Schlafzimmer und packte die Koffer. Ehe ich etwas sagen konnte, rief sie schon: »Anna, hast du meinen roten BH gesehen?« »Nein, Mama.« »Hilf mir doch bitte mal beim Suchen.« »Das kann doch Charlotte machen.« »Schiebe doch nicht immer alles auf deine Schwester.« »Bestimmt hat Charlotte deinen roten BH geklaut.« »Der ist ihr viel zu groß.« Das stimmte. Ich hatte mal gesehen, wie Charlotte vor dem Spiegel stand und versuchte, sich die BHs von Mama anzuziehen, aber sie rutschten ihr immer hinunter. Das fand ich sehr lustig, ich erzählte es dann in der Schule, und da freuten sich alle, besonders die Jungen aus Charlottes Klasse.

Diese Erinnerung gefiel mir so sehr, dass ich dann wirklich Mama beim Suchen half. Damit hatte ich auch eine Ausrede, Charlottes Zimmer zu durchwühlen. Es ist immer aufregend, was Charlotte so alles versteckt hält. Ein paar Zigaretten waren in einem Mensch-Ärgeredich-nicht-Spiel verborgen, ihre Bierflaschen standen im Regal hinter den Büchern, und unter ihrem Kopfkissen fand ich mal ein Heft voller Bilder, in denen ein paar Nackte komische Dinge taten.

Diesmal fand ich allerdings nichts. Plötzlich stand meine Schwester in der Tür. »Was hast du in meinem Zimmer zu suchen? Weißt du nicht, dass Spione erschossen werden?« »Ich suche nach Mamas rotem BH« »Was willst du mit einem BH? Du hast doch noch gar keine Titten!« »Du doch auch nicht!« Ich war überrascht, wie wütend Charlotte wurde, sie holte mit der Hand aus, gerade noch konnte ich meinen Arm heben, so traf mich ihr Schlag nicht ganz so fest. »Au!«, schrie ich und stolperte einige Schritte zur Seite. Ich rieb mir Tränen aus den Augen.

Charlotte schaute ihre Hand an, dann rieb sie die Hand an der Hose ab. »Verdammt, du redest auch immer ein Zeug«, sagte sie. »Also? Sag schon, was willst du mit dem BH?« »Mama sucht ihn.« »Ach, du lieber Gott! Die macht sich doch lächerlich, wenn sie in ihrem Alter noch so etwas tragen will.« »Mama ist nicht alt. Sie ist höchstens drei Jahre älter als du.« »Von Alter hast du gar keine Ahnung. Du weißt ja nicht einmal, wie man sich in deinem eigenen Alter benimmt.« »Wo hast du denn jetzt den BH?« Charlotte seufzte wie ein Nilpferd. Sie zog ihren Pullover aus, und ich sah, dass sie den roten BH selbst gerade anhatte. Ich war plötzlich sehr traurig, weil Charlotte abscheulich erwachsen aussah und gar nicht mehr wie ein richtiges Mädchen. Aber dann schob sie den BH bis zum Bauch hinunter, zwei weiße Tennissöckchen fielen heraus, und sie sah wieder wie meine Schwester aus. Charlotte drehte den BH von hinten nach vorn, öffnete ihn nach einigem Fummeln und gab ihn mir. »Sag ihr nicht, dass ich ihn hatte. Denk daran, dass ich in der nächsten Zeit deine Mama sein werde.« »Das gefällt dir wohl mittlerweile.« »Es kann ja eines Tages mal passieren, dass ich wirklich Mama werde. Da ist es gut, wenn ich an dir ein bisschen üben kann.«

Ist das nicht schrecklich? Eine Schwester, die an dir Mama spielen will, stell dir das mal vor. Die steckt dir den Schnuller in den Mund, die zieht dir Windeln an, die pudert dir den Popo und der ist es ganz egal, ob du vielleicht schon fünfzig oder hundert Jahre alt bist. Dann tut sie dir vielleicht noch die Brust in den Mund und du bist ganz enttäuscht, weil in der Brust nur Milch und kein Kakao drin ist. Und Charlotte kam dann noch auf viel schlimmere Ideen, ich fiele in Ohnmacht, wenn ich davon jetzt berichten würde – ich erzähle lieber von Mama weiter.

Sie freute sich sehr, als ich ihr den BH brachte. »Wo war er denn?«, fragte sie, und ich sagte: »Eine böse Hexe hat ihn geklaut.« »Ach, Anna, kannst du nicht einmal ernst bleiben?« Warum fragen mich die Leute das immer? Ich bin sehr ernst. Zum größten Quatschmacher der Schule hat die Lehrerin mal gesagt »Nimm dir mal an Anna ein Beispiel«, damit er ruhiger wurde. Ich nehme mir auch immer an mir selbst ein Beispiel. Vielleicht mache ich das mal als Beruf, dass ich für andere ein gutes Beispiel bin.

Nachdem ich Mama den BH gegeben hatte, schloss sie den Koffer und zog sich ihren Mantel an. »Wohin fährst du denn?«, fragte ich. »Hast du denn beim Essen wirklich nicht zugehört? Ich muss zu meiner Cousine. Sie ist krank geworden« »Zu Tante Charlotte?« »Ja. Was guckst du so komisch? Du kennst sie doch gar nicht.« »Leute, die Charlotte heißen, sind immer verdächtig.« »Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du dich mit deiner Schwester vertragen würdest. Versprichst du mir das?«

Ich hasse es, irgendetwas versprechen zu müssen. Ich habe Mama schon hundert Mal versprochen, dass ich die Hausaufgaben mache, aber die Hausaufgaben haben sich von mir nicht machen lassen. Die Hausaufgaben waren da, aber sie wollten nicht in mein Schulheft hinein. Ich konnte gar nichts dafür, aber am Ende hieß es, ich hätte mein Versprechen gebrochen. Man soll nichts versprechen, dass überfordert einen nur.

»Huhu! Anna! Versprichst du mir das?« »Ich verspreche – dass ich es versuche.« So muss man reden, wenn man etwas versprechen soll. »Gib mir einen Kuss.« Ich küsste Mama, und nun war das Versprechen fest gemacht. Ich habe mich bis heute daran gehalten.

Mama zog ihren Mantel an, dann ging sie zur Tür, Charlotte trug ihr den Koffer hinterher. »So, ihr beiden«, rief Mama, »ich muss jetzt gehen!« Wir liefen zu ihr, umarmten und küssten sie. Mama erzählte noch viel, was wir tun sollten und was wir nicht tun sollten, das habe ich aber vergessen. Wir umarmten und küssten sie noch ein zweites Mal, dann begleiteten wir sie zum Auto. Sie stieg ein, noch einmal rief sie »Tschüss, Anna! Tschüss, Charlotte! Pass gut auf Anna auf!« Ich schrie: »Das ist nicht nötig. Ich werde auf Charlotte aufpassen!« Charlotte zeigte mir einen Vogel, und dieses eine Mal hatte sie recht: Hätte ich das doch bloß nicht gesagt! Jetzt muss ich wirklich auf meine Schwester aufpassen, und das ist so mühsam, weil ich oft gar nicht weiß, was ich mit ihr machen soll. Selbst wenn ich ihr einen Kuss gebe und ihr sage, dass ich sie liebe, geht es ihr nicht besser.

5

Mama wurde immer kleiner mit ihrem Auto. Ich stand noch lange da, hielt mich an den Zaunlatten fest. Hinter mir stand das Haus voller Charlotte, und ich war allein auf der ganzen Welt.

Dann sah ich einen Punkt auf der Straße. Zuerst schien es mir, als wollte Mama zurückkommen, aber dann war es doch nur ein rotes Käferauto, das unserem Haus entgegen raste.

Ich kehrte in unser Haus zurück, ich kann dir sagen: Nie hätte ich gedacht, dass es da drin so gruselig ist, wenn Mama nicht mehr da ist. Die Stühle, das Geschirr, ihr Arbeitszeug, die ganzen Dinge, die immer von ihr hin und her bewegt werden, waren nun tot und sind es bis heute. Das gruseligste aber war, dass von allen Zimmertüren die Schlüssel verschwunden waren. Ich fand meine Schwester in der Küche. »Wo sind denn die Schlüssel für die Zimmer?«, fragte ich. »Schlüssel sind etwas für Erwachsene. Kinder machen damit nur Blödsinn.« »Das ist nicht wahr! Ich habe noch nie Blödsinn mit einem Schlüssel gemacht!« »Zwischen Sinn und Blödsinn kannst du gar nicht unterscheiden. Außerdem habe ich vor fünf Jahren gesehen, wie du an einem Zimmerschlüssel geleckt hast. Wenn du dir so etwas nicht abgewöhnst, kommst du irgendwann in die Klapsmühle.« »Wenn Schlüssel nicht aus Eisen, sondern aus Milchreis bestünden, würdest du auch an Schlüsseln lecken.« »Nein, danke, Anna. Milchreis habe ich heute wirklich genug gegessen. Er hat sehr gut geschmeckt. Ganz, ganz lecker.«

Wenn du nun glaubst, dass Charlotte nicht noch gemeiner werden konnte, dann irrst du dich noch mehr als ein Irrgarten. Wenn es um Gemeinheiten ging, war meine Schwester so schlau wie Einstein und Kolumbus auf einem Haufen. Nun sah ich erst, was sie in der Küche trieb. Alle Dinge, die grässlich schmecken, wie Bohnen, Rosenkohl oder Spargel, räumte sie unten in das Küchenregal an Stellen, die ich gut erreichen kann. Dinge, die gut schmecken, wie die Schokocreme, räumte sie ganz weit hinten in das oberste Fach des obersten Hängeschrankes. Sie musste selbst schon auf einen Stuhl steigen, um dort hinzukommen. Charlotte ist so faul wie drei Esel, aber wenn sie eine Gemeinheit begehen kann, ist ihr keine Mühe zu groß.

»Halt! Halt! Was machst du denn da?«, rief ich. »Da komme ich an die Sachen doch nicht heran.« »Zeig mir erst einmal deine Hausaufgaben, dann entscheidet sich, ob du Kakao oder Schokocreme bekommst.« »Was?« »Deine Hausaufgaben, ich möchte sie sehen.« Das war ungeheuerlich, Charlotte hatte sich nie mit meinen Hausaufgaben beschäftigt. »Was gehen dich meine Aufgaben an?« »Mama hat gesagt, dass ich auf dich aufpassen muss.« »Seit wann hörst du auf das, was Mama sagt?« »Seit sie nicht da ist. Was ist nun mit den Hausaufgaben? Heraus damit!«

Ich rannte hinaus und knallte die Küchentür zu, dass das ganze Haus explodierte. Dann lief ich ins Schlafzimmer und warf mich auf mein Bett. Ich hatte Hunger, aber hier ging es um etwas Wichtigeres. Es war schon schlimm, dass Mama und die Lehrer immer hinter meinen Hausaufgaben her waren, nun fing auch noch meine Schwester damit an. Wenn das so weiterging, kamen noch die Polizei, der Bürgermeister, der amerikanische Präsident und alle anderen Leute hinter meinen Hausaufgaben hergerannt, da wollte ich lieber verhungern. Die armen Kinder in Afrika verhungern auch alle, weil sie keine Hausaufgaben machen. Niemand würde mehr verhungern, wenn es keine Schule und keine Schwestern gäbe. Es war gut, dass ich das Verhungern schon oft geübt hatte, weil ich Mamas Essen nicht immer mochte. Ich tastete über meine Brust, und da merkte ich schon, dass ich bereits bis auf die Rippen abgemagert war, und im Bauch hatte ich nicht einmal mehr Knochen, stattdessen fühlte ich ein Hungerloch, das war so groß, dass da ein Säugling hineinpasste.

Plötzlich hörte ich Schüsse. Charlotte hatte den Fernseher angemacht.

6

Wenn alles knallt und schießt und explodiert, ist es nicht schön zu verhungern. Der Magen ist leer, aber die Ohren sind voll. Ich lag auf dem Bauch und drückte das Kissen über den Kopf, um den Lärm leiser zu machen. Ich weiß nicht, wie lange ich so dalag – irgendwann gab es eine Hauptexplosion, dann wimmerte irgendeine Musik, dann war es still. Nun konnte ich schlafen oder sterben oder beides. Ich dachte lange darüber nach und konnte mich nicht entscheiden. Was findest du denn besser?

Ich übte das Totsein erst mal zur Probe: Ich legte mich auf den Rücken, streckte wie Jesus die Arme weit aus, schob die Zunge aus meinem rechten Mundwinkel und schielte bis zu den oberen Rändern meiner Augen. Jetzt konnte ich in Ruhe sterben.

Da wurde die Schlafzimmertür geöffnet und meine Schwester trat herein. »Was ist mit dir denn los?«, fragte sie, als sie mich sah. »Ich verhungere gerade«, sagte ich. »Pfui Teufel«, sagte Charlotte, »da bin am Ende ich diejenige, die das Bett sauber machen muss. Ich finde es besser, wenn du am Leben bleibst.« Ich freute mich darüber, dass sie das sagte. Charlotte hat immer wieder mal zufällige Momente im Leben, in denen sie sehr lieb sein kann. »Ich finde es auch schöner, wenn du lebst, als wenn du tot wärest«, sagte ich.

Als sie nun vor mir stand, musste sie etwas Lustiges an mir gefunden haben, ich sah ihr Lächeln auf mich herabscheinen.

»Ich habe Abendbrot gemacht«, sagte Charlotte, »willst du nicht in die Stube kommen?« »Wenn ich jetzt esse, kann ich ja nicht mehr verhungern.« »Du musst nicht essen. Du setzt dich neben mich auf das Sofa und schaust dir das Brot einfach nur an. Wer sagt denn, dass Brot immer gegessen werden muss?« Auf die Idee war ich noch nie gekommen. Aber sie war richtig. Mama hatte mich mal zu einer Gemäldeausstellung mitgenommen, und ich hatte mich schrecklich gelangweilt. Wenn statt der gemalten Bilder gestrichene Brote ausgestellt worden wären, wäre die Ausstellung besser gewesen. Vielleicht kannst du ja mal Brote streichen und sie in einem Museum aufhängen. Da komme ich bestimmt und gucke sie mir an.