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Nr. 2795

 

Ockhams Welt

 

Der Geheimdienstchef der Liga ist auf der Jagd – er verfolgt den meistgesuchten Dieb der Galaxis

 

Wim Vandemaan

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Längst sind die Terraner in ferne Sterneninseln vorgestoßen, wo sie auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte getroffen sind, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1517 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Milchstraße steht weitgehend unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals. Dessen Richter behaupten, nur sie könnten den Weltenbrand aufhalten, der sonst unweigerlich die Galaxis zerstören würde.

Perry Rhodan und die Besatzung des Fernraumschiffes RAS TSCHUBAI haben in der fernen Galaxis Larhatoon in Erfahrung gebracht, dass das eigentliche Reich der Richter die Jenzeitigen Lande sind. Mit Atlan steht dem Terraner der einzig geeignete Pilot für den Flug dorthin zur Verfügung, doch nur ein Richterschiff vermag diesen Flug auch durchzustehen. Perry Rhodan, Atlan und der ehemalige Arkon-Imperator Bostich entwickeln daher einen Plan zur Eroberung der CHUVANC, des Raumers von Richter Chuv, der sich im Arkonsystem aufhält.

Attilar Leccore, der Chef des Terranischen Liga-Dienstes, spielt derweil ein gefährliches Spiel: In der Maske eines onryonischen Kommandanten soll er die von ihm entführte Ordische Stele wiederbeschaffen. Diese befindet sich auf OCKHAMS WELT ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Attilar Leccore – Der Direktor des TLD agiert unter anderem in der Gestalt eines Onryonen.

Findar Hospallen – Der Wertschätzer ist auch als TLD-Agent tätig.

Cythor Govveryd – Der Sicherheitsberater der CLOSSOY beschützt seinen Vorgesetzten.

Bacoon Jicarilla – Der Maven agiert auf Ockhams Welt.

Yemaya Shango – Die Kybernopsychologin dient als Ankerperson für ein unglaubliches Lebewesen.

Honwayde – Ein Kollektiv mit sporadischer Intelligenz.

Prolog

 

Ich wollte fliegen.

Ich meine nicht fliegen mit einem Gravo-Pak am Gürtel oder mit einer dieser Fittichprothesen, deren unteres Ende man sich um die Arme legt, um – dem Kraftverstärker sei Dank – in die Lüfte aufzusteigen und zu schweben, die Beine im Lenkgestell.

Ich möchte kein Anhängsel sein, kein Passagier.

Ich habe immer fliegen wollen, wie man in Träumen fliegen lernt, wenn man merkt, dass die Schwerkraft einen aus ihrem Bann entlässt und das Abheben leicht wird, weil einen nichts mehr hält.

Ich habe das immer gewollt, so weit ich zurückdenken kann.

Lange vor der Diagnose.

Die mir gesagt hat: Es ist zu spät.

Jetzt schon zu spät.

1.

Manores: Im Regen

22. April 1517 NGZ

 

Es war später Nachmittag. Dichte schieferblaue Wolken, zu schwer für den Himmel, verhüllten die Sonne seit einer Stunde. Stumme Blitze erleuchteten die Wolkenlandschaft über Manores, der Hauptstadt von Allema im System von Fracowitz' Stern.

Die Familien, die sich im Lyonesse-Park aufhielten, sortierten ihre Habseligkeiten und packten sie ein. Ballgroße robotische Gehilfen klaubten Essensreste zusammen, falteten Decken, schlossen Picknickkörbe, aktivierten ihren Antigrav und brachten das Gepäck auf Kurs.

Über die Wiese, durch die sich ein schmaler Pfad wand, sauste eine anscheinend herrenlose orangenfarbene Frisbeescheibe. Sie flog, wie der Mann bald einsah, in einem großen Kreis. Irgendwer musste vergessen haben sie einzufangen.

Der Mann mochte 1,80 Meter groß sein; die Nase war schmal und spitz, die Augen von einem koboldhaften Grün, das Haupthaar vom Rot eines nachglühenden Impulsantriebs. Wolliger roter Bart.

Die Scheibe glitt auf ihn zu, hielt eine Armlänge vor seinem Gesicht an und fragte ihn: »Willst du mit mir spielen?«

Der Mann zog die Brauen zusammen. »Wem gehörst du denn?«

»Niemands Knecht, niemands Herr«, antwortete die Frisbeescheibe.

»Du bist also ein freischaffendes Sportgerät?«

Die Scheibe pendelte ein wenig nach links, nach rechts, dann hielt sie an. »Ja. Obwohl – da ich fliegen kann und reden, könnte ein Unbedachter mich ebenso gut für einen Engel halten.«

»Ein naheliegender Gedanke«, gab der Mann zu.

Ein fernes Murmeln erklang, der Donner des allmählich heranziehenden Gewitters.

Die Scheibe erhöhte ihre Rotationsgeschwindigkeit. Der Mann hörte ein leises Sirren. »Glaubst du nicht an Engel?«

Der Mann beschirmte seine Augen. Vor dem dunklen Gewölk bewegte sich etwas – ein blassblaues Objekt. »Ich habe nie darüber nachgedacht«, sagte er.

»Dann denke jetzt«, schlug die Frisbeescheibe vor. »Denken kann auch älteren Herren noch ein attraktives Antlitz machen.«

»Sehr tröstlich.«

»Würdest du einen Engel erkennen, wenn du einen sähest?«, fragte die Scheibe. »Könnte ein Engel nicht jede Gestalt annehmen? Könnte er nicht als Mensch erscheinen? Als Blitz und Donner?«

»Als Frisbeescheibe?«

»Exakt! Man könnte Engel Gestaltwandler nennen.«

»Da wir von Blitz und Donner reden«, sagte der Mann, »ich denke, es ist Zeit, dass ich mich irgendwo unterstelle.« Er schaute sich um. Die Familien, die Paare, die anderen Spaziergänger hatten sich längst vor dem nahenden Unwetter in Sicherheit gebracht. Von irgendwo klang das erwartungsängstliche Lachen eines Kindes.

Aus den Wolken hing wie ein feiner, grauer, leicht gebauschter Schleier der Regen. Er rauschte heran.

Auch das blassblaue Objekt näherte sich. Der Mann sah, dass es einem Bumerang ähnelte.

»Dich unterstellen? Das solltest du tun«, stimmte die Frisbeescheibe zu. »Ich komme mit dir.«

»Das ist sehr freundlich«, sagte der Mann. »Aber ich bin nicht hier, um mit einem freischaffenden Sportgerät theologische Diskussionen zu führen.«

»Wie bedauerlich«, sagte die Scheibe. »Zumal für dich.«

Nun zog der blassblaue Bumerang über sie dahin. Der Mann legte den Kopf in den Nacken und schaute dem Tesqirenschiff nach.

»Das ist das Schiff, das GERECHTIGKEIT IST DIE GEBÄRMUTTER DES FRIEDENS heißt«, sagte die Scheibe.

»Mag sein«, sagte der Mann.

»Jedes ihrer Schiffe scheint mir wie das Bruchstück einer großen Predigt«, sagte die Scheibe. »Kennte man alle Namen ihrer Schiffe, wüsste man, woran das Tribunal glaubt.«

»Spricht da ein Fan?«

»Es spricht ein demütiges freischaffendes Sportgerät, wie man mich zu bezeichnen beliebte.«

Ein erster Regentropfen traf den Mann an der Stirn wie eine überreife Frucht. Der Mann schaute sich um, konnte aber keinen Unterstand entdecken.

»Soll ich dir einen Schirm rufen?«, bot die Scheibe an.

Der Mann nickte.

Das Tesqirenschiff wurde kleiner und kleiner und verschwand schließlich.

»Der Schirm ist gleich hier«, teilte die Frisbeescheibe mit. »Kein besonders intelligentes Exemplar.«

»Demnach kein verkappter Engel«, spöttelte der Mann.

»Wer sagt, dass Intelligenz ein Wesensmerkmal von Engeln ist?«

»Es gab eine Zeit, da war Intelligenz jedenfalls kein Wesensmerkmal der Dinge«, sagte der Mann.

»Finstere Zeiten«, bemerkte die Scheibe.

Der Mann zuckte leicht mit den Achseln.

Der Schirm traf ein, stülpte sich vom Kopf bis in Hüfthöhe über den Mann und teilte ihm mit, dass er die Faraday-Funktion aktiviert hatte. Sollte sein Schützling es wünschen, könnte er das Gewitter vor Ort erleben und nun ohne jede Gefahr.

Ein schwerer Tropfen schlug auf die Frisbee-Scheibe ein und brachte sie für einen Augenblick ins Taumeln. »Du bist ja jetzt in guten Händen«, sagte die Scheibe. »Ich mache mich auf den Weg.«

»Andere Engel suchen?«

»Andere Engel finden«, sagte die Scheibe und zischte los.

Plötzlich stand er mitten in einem grünen Regen.

Er rief das Display seines Multikoms auf, gab eine kurze Tastenkombination ein und wartete das Ergebnis der Überprüfung ab. Demnach war der Regenschirm ein wirklich simples Gerät – nicht sehr intelligent, und es stand auch mit keiner anderen Institution in Kontakt als der Parksicherheit.

Der Mann stand da wie in sich selbst versunken. Der Schirm hatte sich auf transparent geschaltet; auf der Innenseite bot er einige Informationen über den Park an.

Der Mann blinzelte dem Feld Lyonesse zu.

Der Schirm erzählte mit sonorer Stimme: »Lyonesse ist in der alt-terranischen Mythologie ein sagenhaftes Land zwischen Land's End und den Scilly-Inseln. Bitte beachte, dass Land's End der frühere Name der Stadt Manores war. Das versunkene Land Lyonesse galt als die Heimat des Ritters Tristan.«

Der Mann kniff die Augen ein wenig zusammen. Jemand kam durch den Regen auf ihn zu, ohne Schirm, bloß mit einer transparenten Kapuze über Kopf und Schultern.

Er blieb knapp vor dem Mann stehen.

»Tristan, wie ich vermute?«, fragte der Mann lächelnd.

Sein Gegenüber mit der Wetterfolie sah ihn verständnislos an. »Attilar, wie ich vermute?«

Der Mann, den der Ankömmling Attilar genannt hatte, nickte.

»Kompliment für die Maske«, lobte der Neuankömmling.

Attilar Leccore machte eine bescheiden-abwehrende Geste. »Ich werde es weitergeben.«

»Interessantes Wetterprogramm, nicht wahr. Hast du das Tesqirenschiff gesehen, Attilar?«

Der Schirm des Mannes blendete das Geräusch des Regens aus und verstärkte dafür die Worte des Ankömmlings.

Leccore nickte. »Es ist die GERECHTIGKEIT IST DIE GEBÄRMUTTER DES FRIEDENS, oder?«

Jetzt nickte der andere Mann. Er hieß Findar Hospallen und war TLD-Agent – einer der vielen Tausend Mitarbeiter seines Direktors Attilar Leccore. »Jedenfalls hat man mir noch keinen anderen Tesqirenraumer gemeldet.« Die Kapuze bedeckte sein Gesicht wie eine zweite Haut; die verrinnenden Regentropfen malten durchsichtige Hieroglyphen darüber.

Am Rand der Wiese tauchte eine weitere Gestalt auf; sie durchschritt den Regen, ohne nass zu werden. Es war der geistesgegenwärtige Jercy Fracowitz, gekleidet nach der Mode seiner Epoche, des frühen 25. Jahrhunderts. Er trug einen Poncho über dem ansonsten bloßen Oberkörper, dazu einen Kilt mit einem von Kristallfäden durchwirkten Karomuster. Er ging barfuß.

Attilar Leccore war sich sicher, dass sein Kostüm bis ins kleinste Detail sorgfältig ausgestaltet war, dass, wer nah genug hinsah, am unteren Rand des Rockes keinen billigen Saum sehen würde, sondern eine Webkante.

Findar Hospallen bemerkte das Holo nun auch und winkte ihm zu.

Die Geistesgegenwärtigen waren wenige Jahre nach dem Abzug TRAITORS aus dem Allema-System aufgetaucht.

Sie waren bewegliche Holoprojektionen des Gründervaters Jercy Fracowitz. In ihren ersten Jahren waren sie durch die Straßen der Hauptstadt patrouilliert und hatten ihre Bewohner ermuntert, die Wunden zu heilen, die der Stadt von der Kolonne und ihren Truppen geschlagen worden waren.

TRAITOR war Geschichte, Allema mit seinen Bankhäusern, mit seinen Bildungs- und Forschungseinrichtungen, den großen Theatern und Arenen eine blühende Metropole im weiteren Zentrumsbereich der Milchstraße geworden – und der ebenso malerisch gewandete wie luftdurchlässige Jercy Fracowitz zu ihrem vielgestaltigen Wahrzeichen.

Vor einigen Tagen war Allema, die Hauptwelt des Allema-Bundes mit seinen 145 Welten in 125 Sonnensystemen, ganz in den Mittelpunkt der galaktischen Aufmerksamkeit gerückt: Es hatte einen Anschlag auf die Ordische Stele gegeben, die das Atopische Tribunal in Manores errichtet hatte.

Dabei war die Stele beschädigt und außer Betrieb gesetzt worden – so die amtliche Version, der sich auch die Onryonen angeschlossen hatten.

Tatsächlich irrten die Ämter. Oder wussten es besser, ohne es zu verraten. Die Ordische Stele war entwendet und durch ein Replikat ersetzt worden. Das erbeutete Original hatten die Diebe abtransportiert – alles nach dem Plan Attilar Leccores.

Allerdings hatte es eine bedeutende Abweichung vom Plan gegeben: Boyton Holtorrec, der Oberkommandierende der Onryonen im System von Fracowitz' Stern, war getötet worden.

Attilar Leccore hatte seine Stelle einnehmen müssen.

Dies alles waren Verwicklungen, von denen Findar Hospallen nichts wusste und nichts zu wissen brauchte.

»Warum hast du mich herbestellt?«, fragte der Agent, der in seinem zivilen Beruf als Wertschätzer des Bankhauses Fracowitz tätig war.

»Du wirst dich bitte als Wertschätzer nach Terrania rufen lassen. Arrangier etwas. Tatsächlich gehst du als mein persönlicher Kurier. Du nimmst Kontakt auf mit der Solaren Premier. Falls Cai Cheung aus ernsten Gründen verhindert ist, kontaktierst du Resident Arun Joschannan.«

»In dieser Reihenfolge?«, fragte Hospallen sachlich.

»Das spielt keine Rolle. Cheung oder Joschannan soll den Maven davon in Kenntnis setzen, dass die Onryonen der entwendeten Ordischen Stele nachjagen.«

»Muss ich wissen, wer oder was ein Maven ist?«

Leccore zögerte kurz. »Die Rede ist von Maven Bacoon Jicarilla. Mehr musst du nicht wissen. Sollte die Premier oder der Resident Zweifel an deinen Befugnissen haben, dürfte dir der Name helfen.«

Findar Hospallen fuhr sich kurz durchs Haar. »Es wird weder den Maven noch jemand sonst erstaunen, dass die Onryonen das Täuschungsmanöver schließlich durchschaut haben und auf die Jagd gehen. Aber die Chance der Onryonen, die Ordische Stele zu finden, dürfte denkbar gering sein.«

»Es wird den Maven erstaunen, wen Matan Addaru Jabarim auf den Fall angesetzt hat.«

»Der Atope selbst hat einen Detektiv bestimmt?«

Leccore nickte.

»Und wer ist dieser unerbittliche Jäger?«

»Ich«, sagte Attilar Leccore.

Hospallen lachte leise auf. »Du?«

»Ich. Das muss der Maven wissen. Weder Cheung noch Joschannan brauchen Details zu kennen.«

»Weswegen Hospallen auch keine Details zu kennen braucht«, ergänzte der Wertschätzer. »Unterrichte ich Andrasch Mikael?«

Leccore schüttelte den Kopf. »In diesem Fall nicht.« Er sah, dass Findar Hospallen auf eine Erklärung wartete. »Mein Stellvertreter wird zurzeit andere Sorgen haben.« Er wies vage nach oben, in die Richtung, in die vor einigen Minuten das Bumerangschiff des Tesqiren Ayqoy verschwunden war. »Vor etwa sechs Stunden hat Ayqoy mir den Auftrag des Atopen persönlich überbracht.«

»Gut«, sagte Hospallen. »Dann dürfte die Stele in Sicherheit sein – wo immer sie im Detail ist. Du wirst die Onryonen hinhalten oder in die Irre führen.«

Der Regen hörte beinahe so schlagartig auf, wie er eingesetzt hatte.

Findar Hospallen musterte das freundliche, harmlose Gesicht des Direktors, der sich über den wolligen Bart strich. »Oder?«

»Ich gedenke, den Auftrag zu erledigen. Zur denkbar vollsten Zufriedenheit Matans.«

»Weil?«

Der Regenschirm hob sich von Attilar Leccore fort, faltete sich zusammen und fragte, ob es seiner noch bedürfe.

Leccore ließ ihn heimkehren.

Der Duft von nassem Gras stieg ihm in die Nase. Aus einem Blaufarnwäldchen glitten drei weitere Regenschirme hervor, aufgespannt. An jedem Griff hing ein jauchzendes Kind, Mädchen oder Junge. Die kleine Gesellschaft trieb hüfthoch über den Boden dahin; die Schirme sangen zu dritt ein Lied, demzufolge ein Löffel voll Zucker helfen würde, noch die bitterste Medizin zu schlucken – eine dieser verqueren erzieherischen Ideen, die zu begreifen Leccore noch immer Schwierigkeiten hatte, obwohl er bereits so lange in Menschengestalt unter Menschen lebte.

»Ich werde den Auftrag erledigen«, setzte er an, »weil der Richter mir eine Belohnung versprochen hat, die ich mir nicht entgehen lassen kann.«

Findar Hospallen hob ein wenig überrascht die Augenbrauen. »Man ist also bestechlich?«

Die Kinder an den fliegenden Regenschirmen glitten außer Sicht.

»Man ist für ein Löffelchen Zucker nicht ganz unempfänglich.«

Hospallen nickte. »Wann soll ich fliegen?«

»Überstürz nichts. Die Reise soll gut begründet sein. Aber je eher der Maven Bescheid weiß, desto besser wird er sich vorbereiten können. Ich muss die Stele zurückholen. Aber ich kann dem Maven und seinen Leuten ein wenig Zeit verschaffen.«

»Wie viel Zeit?«

»Vier Monate. Maximal fünf. Der Atope wird in spätestens einem halben Jahr andere Suchkommandos beauftragen. Ich will Erfolg haben. Früher, als Matan Addaru Jabarim es für möglich hält.«

»Was genau soll der Maven tun?«

»Ich kann ihm nichts befehlen«, sagte Leccore. »Er soll eben das Richtige tun.«

»Dann mache ich mich jetzt auf den Weg?«

Attilar Leccore nickte.

Findar Hospallen wandte sich ab, da sagte Leccore: »Eines noch.«

»Ja?«

»Woran würdest du einen Engel erkennen?«

Über das eigentümlich eigenschaftslose Gesicht des Wertschätzers glitt ein Ausdruck, den Leccore nicht entschlüsseln konnte. Er rechnete ganz sicher mit einer spöttischen Antwort.

Findar Hospallen sagte: »Vermutlich würde ich ihn gar nicht erkennen.«

»Warum nicht?«

»Weil er immer anders aussehen wird, als wir erwarten.«

 

*

 

Attilar Leccore wanderte, die Hände im Rücken verschränkt, durch den beschatteten Saum des Blaufarnwaldes in Richtung des Terminals, von dem aus man die Stadt mit einer Gleitgondel erreichen konnte. Was die kuppelförmigen Kronen der Blaufarnbäume an Regen aufgehalten hatten, tropfte nun von Farnwedel zu Farnwedel nach unten.

Junge, kaum flügge Regentrinker spähten durch die Wedel, neugierig und misstrauisch zugleich, ohne die Sammelzungen einzurollen. Aus dem getränkten Boden brachen Orangenpilze hervor und verströmten ihr bittersüßes Aroma.

Ein Beobachter hätte glauben können, dass – wie die Regentrinker vom Nass der Wedel – die Haut des Wanderers von den dunklen Schatten der Blaufarnbäume trank. Sein Gesicht wurde schwarz; der wollige Bart verschwand; die Mundpartie wölbte sich vor; das Grün seiner Augen verwandelte sich in ein ganz und gar unmenschliches Gold.

Gesehen hätte der Beobachter ferner, wie sich auf der Stirn des Mannes etwas wie ein drittes Auge öffnete, wie es sich einfärbte und ganz leicht kräuselte, als striche eine Brise über einen Teich.

Ohne im Schritt innezuhalten, veränderte sich Attilar Leccore; die Proportionen seines Körpers verschoben sich, seine Ohren wuchsen, spitzten sich zu.

Nicht gesehen hätte der Zuschauer, wie sich die Wahrnehmung des Mannes wandelte, wie er feiner und ferner hörte und tiefer in die Farnwipfel hinein, in den Kork und Bast der Borke, wo Kerbtiere sich regten und die Schwammfäden glucksten.

Wie er die Aromen des Waldes einsog, die Wolke der Orangenpilze, das entfaltete Prisma der Düfte darunter, den elektrischen Nachgeschmack der Blitze.

Sein Multikom gab ein Signal.

Er bestätigte den Empfang.

»Wo bist du?«, hörte er die Stimme von Thaivva Kholleqo – so leise, dass es einem menschlichen Ohr entgangen wäre. Er meinte, ihren herben, ebenmäßigen Körperduft zu riechen.

»Im Lyonesse-Park«, sagte er.

»Wozu?« Die Geniferin klang bestürzt.

»Wozu was?«

»Wozu begibst du dich in Gefahr?«

»Ich gestehe: Es hat ein Gewitter gegeben. Aber ich habe es überlebt.«

»Soll ich jemanden schicken? Einen Gleiter? Roboter? Soll ich mit dem Schiff kommen?«

Die CLOSSOY lag auf Port Ho-Nan, dem Raumhafen von Manores. Kholleqo würde es fertigbringen, einen Alarmstart zu befehlen und in wenigen Sekunden im Park zu landen, einen Orkan hinter sich herziehend.

»Geniferin«, sagte er förmlich. »Ich habe mich nicht in Gefahr begeben. Ich wollte nachdenken, ich wollte dazu unter Terranern sein, ich wollte mich in ihr Denken eindenken.«

»Ist es dir gelungen?«

»Nein.«

»Wann starten wir?«

»Sobald ich an Bord bin.«

»Ich schicke dir einen Gleiter.«

»Ja«, sagte er. »Einen Gleiter. Aber bitte ohne Kampfroboter als Leibwächter.«

Wenige Minuten später landete der Gleiter auf einer leicht abschüssigen Wiese. Die Tür öffnete sich, Thaivva Kholleqo beugte den Oberkörper hinaus. Das Emot in ihrer dunklen Stirn leuchtete grün vor Ratlosigkeit. »Wozu trägst du wieder terranische Kleidung?«

Leccore ließ sein Emot in mildem Spott blassrot schimmern. »Sie steht mir gut, oder?«

»Keineswegs«, sagte sie, und ihr Emot wurde zornesblau.

 

*

 

In der Zentrale der CLOSSOY löste Thaivva Kholleqo ihren Stellvertreter ab, einen jungen Onryonen namens Gizzen Opecca. Der Genifer spreizte die Finger, presste sie gegeneinander. Gewiss würde er gleich beginnen, mit den Händen Scerroc-Figuren in die Luft zu zeichnen, eine meditativ-künstlerische Übung, die sich seit einigen Jahren bei den Jugendlichen großer Beliebtheit erfreute.

Cythor Govveryd, der Sicherheitsberater des Raumvaters, hatte die Stellung gehalten. Er schwang sich aus dem Kommandantensessel. Sein Emot, das missmutiges Tiefblau gezeigt hatte, wechselte langsam ins Gelb der Aufmerksamkeit.

Leccore hatte das Gefühl, dass diese Aufmerksamkeit ihm galt. Er überwacht mich. Unverhohlen.

Govveryd meldete: »Es ist dabei geblieben: Mit der CLOSSOY zusammen hätte unser Raumrudel vierzig Schiffe. Das wäre ein Bruchteil des Clusters.«

»Es wird genügen«, beruhigte ihn Attilar Leccore, während er seinen Platz einnahm. Er bemerkte, wie sein Sicherheitsberater und die amtierende Geniferin seines Schiffes einander anblickten. Der Kommandant ließ sein Emot im Violett der Zuversicht strahlen. »Es wird genügen. Wir holen uns die Ordische Stele zurück.«

Dann gab er den Startbefehl.

2.

Manores: Der Reisende

25. April 1517 NGZ

 

»Wenn wir ein sehr, sehr gutes Teleskop hätten ...« sagte Chea Ayre. Sie hielt die Ellenbogen aufs Balkongeländer aufgestützt und hatte das Kinn auf die verschränkten Hände gelegt. Mit dem rechten Fuß strich sie sich über die Wade des linken Beins. Sie trug ein kurzes, schwarzes Jäckchen, aber keinerlei Beinkleid.

»Hm«, machte Findar Hospallen schläfriger, als er war. »Magst du gelegentlich wieder ins Bett kommen?«

»Gelegentlich«, sagte sie und schaute weiter in das Sternenspektakel über ihrem Kopf. Der Balkon befand sich im 73. Stock des Gebäudes. Ayre hatte ihn dort festgestellt. Sehr beweglich war er ohnedies nicht: Sie konnte ihn zur 72. Etage sinken und einmal um den Wohnturm kreisen lassen, hatte das in den ersten Monaten nach ihrem Einzug wohl auch öfter getan.

Aber ziemlich bald hatte sie eine Lieblingsposition gefunden: Wenn der Balkon auf dieser Position stand, lag der größte Teil der Stadt Manores außer Sicht. Dafür hatte man freien Blick auf Port Ho-Nan, den Raumhafen.