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Jörg Kastner

Teufelszahl

Roman

hockebooks

Sechster Tag

65

In den Katakomben

Paul sah auf die Uhr. Der Minutenzeiger verließ den Stundenzeiger und rückte ein winziges Stück vor. Eine Minute nach Mitternacht, ein neuer Tag hatte begonnen. Voller Zweifel fragte er sich, wie dieser Tag enden würde. Er bat den heiligen Ignatius um Beistand und setzte seinen Weg fort. Eine starke Taschenlampe beleuchtete den Weg mitten durch die Gräber vergangener Jahrhunderte, und die knochigen Toten beobachteten reglos das ungewöhnliche Schauspiel, das diese Nacht ihnen bot. Die roten Kreidemarkierungen, die Tenente Faras Trupp hinterlassen hatte, wiesen ihm den Weg. Noch streute er den Puffreis in seinen Taschen nicht aus. Bis zu der Stelle, wo Claudia von den anderen getrennt worden war, schien das nicht nötig.

Seine Sorge um Claudia wuchs mit jeder Minute und war größer als sein Drang, mehr über das Wahre Grab Petri und die Söhne des Alten zu erfahren. Dass er mehr für Claudia empfand, als sein Gelübde es erlaubte, wusste er spätestens seit der Nacht, die sie in Rocca San Sebastiano verbracht hatten. Aber wie viel sie ihm bedeutete, das wusste er erst jetzt. Dass sie ihm gar nicht so viel bedeuten durfte, spielte in diesem Augenblick keine Rolle. Hier unten, allein mit tausend Toten und seinen quälenden Gedanken, fühlte er sich nicht mehr als Jesuit, sondern nur noch als Mensch.

Immer wieder blieb er stehen und lauschte in das Labyrinth hinein, aber es war nichts zu hören. Totenstille. Hier war das Wort wirklich angebracht.

Capitano Gaetano hatte versprochen, dass der Trupp, der Paul folgen sollte, das in einem Abstand von zwanzig Minuten tat. Hoffentlich hielten die Carabinieri sich daran. Tauchten sie vorzeitig auf, konnte das zu einer Panikreaktion der Verschwörer führen und Claudia in Gefahr bringen.

Und noch etwas beschäftigte ihn und schob sich umso mehr in den Vordergrund, je weiter er in die Katakomben vordrang: Janus! Behielt Ludovico Anfuso Recht, und der Dämon behelligte ihn nicht? Das hoffte Paul, denn er traute sich nicht zu, Janus allein zu widerstehen. Es muss ja auch nicht jeder hier unten zwangsläufig dem Dämon begegnen, versuchte er sich zu beruhigen. Hatte Anfuso nicht gesagt, die menschliche Vorstellung von Raum und Zeit sei für die Geister der gefallenen Engel nicht maßgeblich?

Die Minuten verstrichen, während Paul seinen einsamen Weg fortsetzte. Er war jetzt seit fast zwanzig Stunden auf den Beinen, und auch der Tag davor war lang und anstrengend gewesen. Trotzdem spürte er keine Müdigkeit. Die Angst um Claudia mobilisierte all seine Kräfte.

Plötzlich wurde der satte Lichtkreis seiner Taschenlampe, der zuverlässig den vor ihm liegenden Weg sichtbar machte, von etwas Dunklem im Boden verschluckt. Vorsichtig trat er näher, bis er vor einem Loch stand, gerade so groß, dass ein Mensch hindurchpasste. Darunter lag ein weiteres Gräberfeld mit Knochen und Grabbeigaben. Dies musste die Stelle sein, an der Tenente Faras Trupp Claudia zurückgelassen hatte. Als Paul sich genauer umsah, entdeckte er die Spuren des Feuergefechts: Patronenhülsen und deformierte Geschosse. Er beugte sich über das Loch im Boden und leuchtete das Gräberfeld Meter für Meter gründlich aus, aber dort unten lag Claudia nicht. Also hatten die Söhne des Alten sie mitgenommen.

Vorsichtig, damit nicht noch ein weiteres Stück vom Boden wegbrach und ihn mit sich in die Tiefe riss, ging Paul um das Loch herum. Als das Loch hinter ihm lag, schob er die linke Hand in die Jackentasche und holte Puffreis heraus, der sofort an seiner Handfläche und den Fingern klebte. Er rieb die Finger gegen die Handfläche, so dass die bunten Körner auf den Boden fielen. Auf einmal kam er sich lächerlich vor und fragte sich, ob Capitano Gaetano mit seiner Skepsis nicht recht gehabt hatte.

Doch dann schob er diese unnützen Gedanken beiseite und setzte den Weg fort, bis er nach ungefähr fünf Minuten an eine Gabelung kam. Welchen Gang sollte er nehmen, den linken oder den rechten? Paul leuchtete in beide hinein, entdeckte aber nichts, was ihm hätte helfen können, eine Entscheidung zu treffen. Einfach auf gut Glück einen Gang zu wählen, hielt er für keine gute Idee. Er mochte sonst wo landen oder sogar im Kreis gehen, wie es Aldo Rossi mit seinem Erkundungstrupp passiert war.

Also rief Paul in beide Gänge hinein, wieder und wieder wurden sie von seinem langgezogenen »Haaallooo!« erfüllt.

Wenn er die Söhne des Alten nicht fand, musste er dafür sorgen, dass sie ihn fanden. Sie konnten es sich kaum leisten, potenzielle Feinde einfach so hier herumirren zu lassen.

Nach nicht ganz fünf Minuten stellte er fest, dass seine Rechnung aufzugehen schien. Ganz hinten im linken Gang sah er tanzende Lichter, die langsam größer wurden, und bald hörte er auch Schritte.

Er warf eine Ladung Puffreis in den Gang, rief laut seinen Namen und fügte hinzu: »Ich bin allein und unbewaffnet. Ich komme, um mich im Austausch gegen Commissario Bianchi anzubieten.«

Die Unbekannten blieben stehen und redeten leise miteinander, so leise, dass Paul kein Wort verstand.

Nach dreißig oder vierzig Sekunden kam einer allein näher und rief mit einer unnatürlich kratzigen Stimme: »Schalt deine Lampe aus!«

Paul gehorchte.

Die Schritte kamen auf ihn zu, und bald wurde er vom Licht der fremden Lampe geblendet, bis er seine tränenden Augen zukniff.

»Du kannst die Augen wieder aufmachen, Paul«, sagte die kratzige Stimme in einem, wie Paul fand, unangemessen vertraulichen Ton.

Jetzt hielt der andere seine Lampe so, dass Paul ihn sehen konnte. Entsetzt starrte er in das von Narben und Fleischwülsten entstellte Gesicht. Vor ihm stand der Mann, gegen den er bei den Ruinen von San Xavier gekämpft hatte, der mutmaßliche Mörder von Giacomo Anfuso. Der Mann, der ihnen in Rocca San Sebastiano nur knapp entkommen war.

Der Mann ohne Gesicht.

»Ich bin doch immer wieder einen Blick wert, was?« Ein schauerliches Krächzen erfüllte die Katakomben und war wohl der Ersatz für das, was bei einem normalen Menschen das Lachen war. »Ich bin immer eine Augenweide gewesen, schon als Kind, aber jetzt käme niemand mehr auf die Idee, mich seinen kleinen Engel zu nennen. Oder was meinst du, Paul?«

Kleiner Engel? Der Ausdruck setzte bei Paul etwas in Gang, und verschüttet geglaubte Erinnerungen an seine Kindheit in San Xavier kehrten zurück. Der Mann ohne Gesicht war ihm schon bei ihrem ersten Zusammentreffen seltsam bekannt vorgekommen. Jetzt wusste er, warum. Kleiner Engel! So hatten sie damals in San Xavier einen blondgelockten Jungen mit unschuldigem Engelsgesicht genannt, den heimlichen Liebling aller. Er war ein paar Jahre jünger gewesen als Paul. An den Familiennamen konnte Paul sich beim besten Willen nicht erinnern, wohl aber an den Vornamen, denn der hatte perfekt zu dem engelhaften Aussehen gepasst.

»Angelo!«

Die asymmetrischen Lippen zuckten, was vielleicht ein Lächeln darstellen sollte. »Ah, du erinnerst dich an mich. Na dann, Paul, willkommen in der Unterwelt!«

Angelo winkte seine Begleiter herbei, vier schwerbewaffnete Männer, wie er selbst in dunkle Kampfanzüge gekleidet. Paul dankte dem heiligen Ignatius, dass sie sich ganz auf die moderne Technik verließen und ihn mit zwei Detektoren nach Waffen und versteckten Wanzen absuchten, ohne etwas zu finden. Vorsichtshalber nahmen sie ihm seine Uhr und sein Handy ab und zertraten beides. Hätten sie seine Taschen eigenhändig durchsucht, hätten sie sich über den überall verteilten Puffreis zumindest gewundert. So aber hielten sie ihn für »sauber«, wie einer von ihnen es ausdrückte, und nahmen ihn mit sich, tiefer hinein in das Labyrinth aus finsteren Gängen und Gräbern. An zwei Abzweigungen ließ Paul unauffällig etwas von dem Puffreis fallen, indem er so tat, als sei er gestolpert.

Schließlich, nach ungefähr zwanzig Minuten, erweiterte sich der Gang zu einem Gewölbe, das von mehreren großen, generatorenbetriebenen Scheinwerfern in taghelles Licht gehüllt wurde. Paul war fast ein wenig enttäuscht. Vielleicht hatte er eine Szenerie wie in einem James-Bond-Film erwartet: eine unterirdische Zentrale, vollgestopft mit modernster Technik. Aber alles, was er erblickte, waren nackter Stein und an die zwanzig Männer, die an mehreren Stellen einer langgestreckten Felswand konzentriert arbeiteten. Als er genauer hinsah, erkannte er, dass sie dort etwas anbrachten, eine Art Knetmasse, an die sie Kabel anschlossen.

Er wandte sich zu Angelo um, der direkt hinter ihm stand, schaute in das Zerrbild eines menschlichen Gesichts und fragte ungläubig: »Plastiksprengstoff? Wollt ihr die Katakomben in die Luft sprengen?«

»Nicht doch. Wir wollen nur ein Loch in die Felswand dort sprengen.«

»Aber wozu?«

»Weil dahinter ein bestimmtes Grab liegt.«

Paul wusste, was Angelo meinte, aber ein anderer Mann, der auf sie zutrat, sprach es aus: »Das Wahre Grab Petri. Aber das wird Sie nicht überraschen, Paul.«

Ungläubig starrte Paul den alten Mann mit dem schmalen Gesicht an. »Sie hier?«

»Dieselbe Frage möchte ich Ihnen stellen«, erwiderte Juan Felipe Martín, der Admonitor des Generaloberen der Gesellschaft Jesu. »Warum kommen Sie zu uns?«

»Ich dachte, ich sei Ihnen willkommen. Bin ich nicht nach dem Tod meines Vaters der Erwartete? Kann ich Ihnen nicht nützlich sein bei dem, was Sie vorhaben?«

»Sie können schon, aber warum wollen Sie das? Als Fincher letzte Nacht seine große Rede hielt, hatte ich nicht den Eindruck, dass Sie sich gern auf unsere Seite stellen würden.«

»Ich bin hier, oder? Aber ich gebe zu, dass ich nicht ohne einen Hintergedanken gekommen bin.«

Martín legte seinen kahlen Kopf ein wenig schräg, während er Paul abwartend ansah. »Und der wäre?«

»Die Kommissarin, Claudia Bianchi. Lassen Sie sie frei! Sie ist doch Ihre Gefangene?«

Der Admonitor gab Angelo einen Wink, und der Mann ohne Gesicht verschwand hinter einem großen Felsblock. Keine Minute später kehrte er mit Claudia zurück. Ihre Kleidung war zerrissen und schmutzig, und ihre Hände waren mit Handschellen gefesselt. Sie sah mitgenommen aus, hatte aber offenbar keine erwähnenswerten Verletzungen erlitten, wie Paul erleichtert feststellte.

»Ihnen liegt sehr viel an dieser Frau, Paul, das merke ich«, sagte Martín. »Gerade deshalb kann ich Ihre Bitte nicht erfüllen. Sie wird bei uns bleiben, um sicherzustellen, dass Sie nicht gegen unsere Interessen handeln.«

Claudia sah ihn erst ungläubig an, dann lag Freude in ihrem Blick, die abgelöst wurde durch Besorgnis und Missbilligung. »Du hättest nicht kommen dürfen!«

Paul lächelte entschuldigend. »Ich kann dir aber auch gar nichts recht machen.«

»Rührend«, knurrte Angelo. »Aber wir haben jetzt wichtigere Dinge zu tun.«

»Das stimmt«, pflichtete Martín ihm bei. »Nur noch wenige Minuten, und wir stehen vor dem Wahren Grab Petri! In gewisser Weise haben wir das Ihnen zu verdanken, Paul.«

»Wieso mir?«

Der Admonitor wies auf die Männer, die mit dem Anbringen der Sprengladungen beschäftigt waren. »Dieses Kommandounternehmen hier ist nicht die Vorgehensweise, die ich mir gewünscht habe. Die Söhne des Alten wirken schon so lange im Verborgenen, dass ich eine subtilere Methode bevorzugt hätte. Bei der nächsten Generalkongregation hätten wir Bruder Sorelli, Ihren Vater, zum Pater General gewählt. Damit wäre die Gesellschaft Jesu von den Hütern des Wahren Grabes Petri zu seinen Vernichtern geworden. Die jüngsten Ereignisse haben unsere Pläne umgeworfen. Nachdem Sorelli getötet worden war, haben wir noch gehofft, dass ein anderer aus unseren Reihen Gavaldas Nachfolger werden könnte. Aber dann haben sich die Ereignisse überschlagen, woran Sie nicht ganz unschuldig sind. Ihr Auftritt in der vergangenen Nacht und das dadurch ausgelöste Geständnis Finchers haben uns gezwungen, schnell zu handeln. Längeres Warten hätte nur bedeutet, dass das Wahre Grab Petri besser gesichert worden wäre.«

Einer der Männer an der großen Felswand drehte sich um und kam zu ihnen herüber. »Es ist alles bereit, Domitor.«

»Domitor« war der lateinische Begriff für Überwinder, Bezwinger. Diesen Titel trug Martín also in der geheimnisvollen Organisation, die sich »Söhne des Alten« nannte.

»Es gibt keinen Grund, länger zu zögern«, sagte Martín. »Fangen wir an!«

Der Mann, der ihm eben Meldung erstattet hatte, rief ein paar kurze Befehle und forderte alle auf, in Deckung zu gehen.

Auch Paul kauerte sich, direkt neben Angelo, der die Mündung einer Pistole auf ihn gerichtet hielt, hinter schützende Felsen.

»Wieso tust du das alles?«, fragte Paul. »Du hast Giacomo Anfuso getötet, nicht wahr? Den Mann, der uns alle behandelt hat wie seine Kinder.«

Angelo wies mit der Linken auf sein Gesicht. »Was ich ihm zu verdanken habe, ist das!«

»Nein, das hast du den Söhnen des Alten zu verdanken, denen du jetzt dienst. Sie haben das Feuer in San Xavier gelegt.«

Angelo starrte ihn einen Augenblick lang irritiert an. »Fest steht, dass Anfuso, unser Pater Giacomo, sich nicht um mich gekümmert hat, dass er mich allein gelassen hat mit meinen Schmerzen, meiner Furcht und meiner Hässlichkeit!«

Paul erkannte, dass Verbitterung und Hass sich so tief in Angelo eingegraben hatten, dass sie sein Wesen verändert hatten und sein Leben bestimmten.

Er wandte sich ab und sah hinüber zu Claudia, die zehn Meter von ihm entfernt am Boden kauerte. Sie lächelte ihm aufmunternd zu, als das Gewölbe von der Explosion erschüttert wurde.

Pauls Ohren schmerzten, seine Trommelfelle schienen zu platzen. Felssplitter flogen umher, und eine sich rasend schnell ausbreitende Staubwolke nahm allen die Luft.

66

Das Wahre Grab Petri

Die Staubwolke hatte sich noch nicht gelegt, da sprangen Angelo und die anderen Bewaffneten auf und liefen zu dem Loch von ungefähr zwei Meter Durchmesser, das die Explosion in den Fels gerissen hatte. Eilig stiegen sie hindurch.

Zwei Bewaffnete blieben als Wachen bei Paul und Claudia zurück. Und Martín, der das Geschehen konzentriert verfolgte. Sie hörten Schreie und ein paar Schüsse, dann kehrte Ruhe ein.

Wenige Minuten später kam Angelo auf sie zu und meldete: »Das Wahre Grab Petri ist in unserer Hand, Domitor. Ein Teil seiner Hüter ist durch die Explosion ausgeschaltet worden, die übrigen waren verwirrt und haben sich leicht überwältigen lassen. Den Zugang halten ein paar unserer Männer besetzt, um uns vor unliebsamen Überraschungen zu schützen.«

»Ich danke dir, Angelo.« Martín ging nun ebenfalls zu dem Loch in der Felswand und gab den Wachen einen Wink, die daraufhin Paul und Claudia in dieselbe Richtung drängten.

Paul wäre auch ohne Zwang durch das Loch geklettert. Seine Neugier auf das Wahre Grab Petri war groß. So groß, dass er Enttäuschung empfand, als er es schließlich erblickte.

Sie befanden sich in einem unterirdischen Gewölbe, ähnlich dem, aus dem sie gekommen waren.

In der Mitte stand auf einem hüfthohen Felssockel ein großer, vollkommen schmuckloser Steinsarg. Nein, ganz schmucklos war er doch nicht, erkannte Paul auf den zweiten Blick: In den Deckel war ein Fisch geritzt, das Symbol der Urchristen. Vielleicht auch ein Symbol für den einstigen Fischer Petrus, der als Apostel zum Menschenfischer geworden war.

»Hier ruht wirklich Petrus?«, fragte Paul.

»Ja«, antwortete Martín. »Aber nicht mehr lange.«

»Was haben Sie vor?«

Martín gab seinen Leuten einen Wink, und sie begannen, den Sockel, auf dem der Sarkophag ruhte, mit Plastiksprengladungen zu bestücken.

Paul sah Martín entgeistert an. »Das kann nicht Ihr Ernst sein!«

»Es ist mein voller Ernst.«

Paul überlegte fieberhaft, wie lange es dauern konnte, bis die Carabinieri eintrafen. Zehn Minuten? Vielleicht ging es schneller. Sie mussten die Explosion gehört haben und wissen, dass Gefahr im Verzug war. Seine Aufgabe war es jetzt, Zeit zu gewinnen.

Sein Blick fiel auf die Männer, die, entwaffnet und zum Teil verletzt, am Boden hockten. Sechs an der Zahl, die Hüter des Grabes.

»Sie werden die Leute doch in Sicherheit bringen?«, fragte er Martín.

»Wir alle werden uns in das andere Gewölbe zurückziehen, wenn das Wahre Grab Petri aufhört zu existieren.«

Paul schüttelte den Kopf. »Wie können Sie das nur wollen? Einer bösen Macht die Herrschaft über unsere Welt ermöglichen! Ich begreife Sie nicht, Martín!«

»Wir sind nicht die Bösen, Paul, wir sind die Guten. Wir verhelfen dem wahren Gott zu seinem angestammten Platz. Ihr Vater hatte es begriffen, aber er hatte auch viel mehr Zeit, sich damit zu beschäftigen. Vielleicht erkennen auch Sie eines Tages, dass wir das Richtige tun. Erst dann werden Sie wirklich der Erwartete sein, die Stimme des Alten auf Erden. Und erst dann können Sie uns helfen, eine neue Ordnung zu errichten und den wahren Glauben an den alten Gott wiederherzustellen!« Martín hatte sich in Rage geredet, seine alten Augen glühten vor Begeisterung. »Sie irren, Paul, wenn Sie den Christengott als wahren und guten Gott bezeichnen. Überlegen Sie doch! Wie viele Kriege sind in seinem Namen geführt, wie viele Schandtaten begangen worden?«

»Und das wird sich ändern, wenn der Alte, wie Sie ihn nennen, über die Welt herrscht? Wer ist er überhaupt? Satan? Die Große Schlange?«

»Namen bedeuten nichts. Er ist der Widersacher des falschen Gottes der Christen. Er ist der, der vorher war und der wieder sein wird. Er braucht keinen Namen, und wer ihn Satan, Schlange oder Teufel nennt, tut das in diffamierender Absicht. So wie Finchers Gefolgsleute die Leiche Ihres Vaters in diffamierender Absicht mit der Teufelszahl geschändet haben.«

»Sie selbst haben mit dieser Zahl Giacomo Anfuso und Antonia Merino geschändet!«

»Wir haben dieses Spiel nicht begonnen. Fincher hat es uns aufgezwungen. Er wollte uns diffamieren, da haben wir den Spieß umgedreht.«

Die Gleichgültigkeit, mit der Martín über den Tod von Menschen sprach, erschreckte Paul. Noch erschreckender aber war der Gedanke, dass er laut Fincher selbst von dem alten Gott abstammen sollte, für den dies alles geschah. Er dankte Gott – dem einzigen und wahren Gott – und dem heiligen Ignatius dafür, dass er nichts, aber auch gar nichts in sich spürte, das ihn zu den Söhnen des Alten und ihrer falschen Gottheit hinzog. Vielleicht behielt Martín Recht, und das änderte sich mit der Zeit. War das gegen seinen Willen möglich? Er war fest entschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen.

»Ich glaube nicht, dass Sie erfolgreich sein werden, auch nicht, wenn Sie das Wahre Grab Petri in die Luft sprengen«, sagte er. »Warum sollten die Menschen sich Ihrem sogenannten Gott zuwenden, wo sie schon einen haben?«

»Es wird ein langsamer, schleichender Prozess sein, und die meisten Menschen werden gar nichts davon mitbekommen. Sie werden in die Kirchen gehen und zu ihrem Gott beten, aber es werden dann die Kirchen des Alten sein, und eines Tages werden die Menschen zu ihm beten und seine Gebote befolgen. Das Christentum hat es doch genauso gemacht, als es seine Kirchen auf den Trümmern heidnischer Tempel errichtete und seine Feiertage auf die alten Festtage heidnischer Gottheiten legte. Der Alte wird den Christengott mit seinen eigenen Mitteln schlagen.«

Inzwischen waren die Sprengsätze angebracht, und Martín befahl, das Gewölbe mit dem Wahren Grab Petri zu räumen.

Noch immer war von den Carabinieri nichts zu sehen und zu hören. Wo blieben sie nur? Paul musste etwas unternehmen. In seiner Verzweiflung riss er sich von dem Mann los, der ihn mit sanftem Druck hinausschieben wollte, und warf sich bäuchlings auf den Sarkophag.

»Was soll das?«, fragte Martín.

»Ich verbiete Ihnen, das Grab zu sprengen!«

»Mit welchem Recht?«

»Ich bin der Erwartete!«

»Aber Sie benehmen sich nicht so«, seufzte Martín. »Meine Männer könnten Sie mühelos da herunterholen, ich frage mich nur ernsthaft, wozu. Ich glaube nicht, dass Sie uns bei der Erreichung unserer Ziele eine Hilfe sein werden. Ihr Vater war wichtig für uns, weil er an unsere Sache glaubte. Sie aber, Paul, enttäuschen mich. Der Alte wird auch ohne Ihre Mithilfe auf die Welt zurückkehren. Er ist die Macht, Sie sind letztlich nur ein Mensch. Vielleicht freut es den Alten sogar, wenn der Erwartete zur Feier seiner Wiederkehr geopfert wird. Wir werden sehen.«

»Aber das können Sie nicht tun!«, rief Claudia. »Sie können Paul nicht einfach in die Luft jagen!«

»Es ist seine eigene Entscheidung.«

Claudia sah Paul flehentlich an. »Bitte tu das nicht! Komm da runter, bitte!«

Paul spürte ihre Verzweiflung. Er bedeutete ihr wirklich etwas, und unter anderen Umständen hätte ihn das zu einem glücklichen Mann gemacht. Aber er konnte das Wahre Grab Petri nicht verlassen. Schon um seines Vaters willen fühlte er sich verpflichtet, hier auszuharren. Welche Sünden Renato Sorelli im Einzelnen auch begangen haben mochte, seine Schuld war gewiss nicht gering. Ein wenig davon konnte Paul vielleicht tilgen, wenn er bis zuletzt bei Petrus ausharrte.

»Lasst uns weitermachen! Soll der Narr doch sterben«, krächzte Angelo, »er hält uns nur auf.«

»Du hast recht«, sagte Martín und befahl den anderen fortzufahren.

Claudia beschwor Paul noch einmal, von dem Sarkophag zu steigen. So gern er ihr auch gefolgt wäre, er hatte seine Entscheidung getroffen. Dann verschwand sie, bedrängt von ihren Bewachern, aus seinem Blickfeld, so wie auch die anderen nach und nach durch das Felsloch stiegen. Wenigstens nahm Martín die verwundeten und überwältigten Wachen mit.

Gehörten diese Männer der Gesellschaft Jesu an? Jesuiten mit Waffen? So viele Fragen waren noch offen, und er würde nie eine Antwort darauf erhalten.

Paul schloss die Augen. Er rechnete jede Sekunde mit seinem Tod.

Statt der erwarteten großen Explosion hörte er jedoch viele kleinere Detonationen. Schüsse. Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff, dass das die Carabinieri waren, die sich ein Feuergefecht mit den Söhnen des Alten lieferten. In sprichwörtlich letzter Sekunde.

Paul empfand unendliche Erleichterung bei dem Gedanken, dass Martín und seine Gefolgsleute ihr Ziel nicht erreicht hatten. Doch zugleich erfüllte ihn die Sorge um Claudia. Er stieg vom Sarkophag und lief zu dem Sprengloch, hinter dem sich eine wilde Schießerei abspielte. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken.

Die Carabinieri hatten die Oberhand errungen, und die Niederlage der Verschwörer war nur noch eine Frage von Minuten. Martín und Angelo, die das erkannt hatten, waren im Begriff, sich von dem Gefecht zurückzuziehen; dabei benutzten sie Claudia als lebendigen Schutzschild!

Angelo hatte den linken Arm um sie geschlungen und presste sie an sich. In der rechten Hand lag seine Pistole, aus der er hin und wieder einen Schuss auf die Carabinieri abgab. Dicht neben ihm hielt sich Martín. Ihr Ziel war ein Durchgang, der am Ende des Gewölbes im Fels klaffte. Paul befand sich schräg hinter ihnen, niemand achtete auf ihn. Er schlich sich an die kleine Gruppe heran, warf sich auf Angelo, umklammerte dessen rechten Arm und konnte ihm tatsächlich die Pistole entwinden. Scheppernd landete die Waffe auf dem Boden. Gleichzeitig gelang es Claudia, sich von Angelo losreißen.

»Schon wieder du!« Angelos ganzer Hass schien sich gegen Paul zu entladen. »Diesmal bringe ich es zu Ende!«

Ein harter Faustschlag traf Paul im Magen und ließ ihn nach hinten taumeln. Dabei stolperte er über eine Unebenheit im Boden und schlug rücklings der Länge nach hin. Wegen seiner Wunde am Hinterkopf war der Schmerz doppelt heftig, und für ein, zwei Sekunden war ihm schwarz vor Augen.

Die Zeit reichte Angelo, um sich, einen faustgroßen Stein in der Rechten, auf ihn zu stürzen. Schon sauste die Hand mit dem Stein nach unten.

Im letzten Augenblick riss Paul den Kopf zur Seite, sodass der Stein dicht neben seiner Wange aufschlug. Hätte der Schlag getroffen, hätte er wohl seinen Schädel zertrümmert.

»Noch einmal gelingt dir das nicht!«

Wütend holte Angelo erneut aus und erstarrte mitten in der Bewegung. Der Stein fiel ihm aus der Hand, schlug einen halben Meter neben Paul auf und rollte ein kurzes Stück über den Boden. Der Mann ohne Gesicht sackte zusammen und fiel unmittelbar neben Paul zu Boden. In seinem Rücken klaffte ein blutiges Loch.

Langsam kam Claudia näher, mit beiden Händen, die noch in den Handschellen steckten, Angelos Waffe umklammernd. Sie kniete sich neben Paul, legte die Pistole auf den Boden und hob mit ihren gefesselten Händen seinen Kopf an.

»Jesuit oder nicht, das ist mir jetzt egal!«, sagte sie und küsste ihn.

Epilog

Rom, Borgo Santo Spirito

Diesmal traf Paul den Generaloberen allein in seiner Bibliothek. Vielleicht traute Gavalda keinem seiner Berater mehr, nachdem sich sowohl sein Generalsekretär als auch sein Admonitor als Verräter entpuppt hatten. Vielleicht war aber auch das, was der Pater General mit ihm besprechen wollte, nur zu vertraulich. Schließlich wusste Paul Dinge, die kaum einem anderen bekannt waren.

Ungefähr fünfzehn Stunden waren seit dem Kampf um das Wahre Grab Petri vergangen, und mehr als die Hälfte der Zeit hatte Paul tief und fest geschlafen. Ohne zu träumen, wofür er seinem Schöpfer dankbar war.

Der Pater General ließ sich von ihm eine ausführliche Schilderung der Ereignisse geben. Einige der unterlegenen Verschwörer waren entkommen, darunter leider auch Juan Felipe Martín. Ebenso vergeblich hatte man nach jener Signora Giraldi und dem Mann namens Ezzo gesucht, von denen Caterina erzählt hatte. Caterinas unterirdisches Gefängnis war inzwischen gefunden worden, auch der Zugang dazu an der Via Appia, aber die Entführer hatten längst das Weite gesucht.

»Es sieht so aus, als seien wir gerade noch einmal davongekommen«, sagte Gavalda. »Ohne Ihren Einsatz, Bruder Kadrell, wäre es vermutlich anders ausgegangen.«

»Glauben Sie wirklich, dass die Sprengung des Grabes das Böse freigesetzt hätte?«

»Ich würde es jedenfalls nicht darauf ankommen lassen. Sie?«

Paul schüttelte den Kopf.

»Sie scheinen nicht ganz zufrieden zu sein, Bruder Kadrell. Warum nicht?«

»Die Carabinieri haben die Verschwörer in den Katakomben zwar überwältigt, aber ihre Organisation besteht fort. Und am schwersten wiegt, dass Martín entkommen ist. Er ist irgendwo in den Gängen des Labyrinths verschwunden. Ich befürchte, dass wir wieder von ihm hören werden.«

»Der Krieg wird weitergehen, aber das ist kein Grund, sich nicht über die gewonnene Schlacht zu freuen. Und für das, was noch vor uns liegt, brauchen wir Brüder wie Sie, Paul. Tatkräftige, unerschrockene Männer. Vor uns liegt eine Zeit des Umbruchs.«

Paul verstand, dass Gavalda auf seine schwere Krankheit und seine Ablösung durch einen neuen Generaloberen anspielte. Über das Lob, das Gavalda ihm aussprach, konnte er sich aber nicht recht freuen.

»Ich bin Ihnen nicht gehorsam gewesen, Pater General. So oft habe ich in den letzten Tagen meine Pflichten verletzt.«

»Und doch haben Sie das Richtige getan, darauf kommt es an! Weil ich Ihnen vertraue und weil ich große Hoffnungen in Sie setze, möchte ich die Aufsicht über das Wahre Grab Petri Ihnen übertragen.«

Paul war ehrlich verblüfft. »Mir? Hieße das nicht, den Bock zum Gärtner zu machen? Schließlich bin ich der Erwartete, ein Abkömmling des Bösen.«

»Ihr Verhalten hat bewiesen, dass Sie auf der richtigen Seite stehen und Ihrem Vater nicht nacheifern.«

Paul hoffte, betete, es möge wirklich so sein. Aber wie sollte er sicher sein, dass nicht doch etwas Böses in ihm schlummerte, etwas, das jederzeit erwachen konnte?

»Es ehrt mich, dass Sie mir solches Vertrauen entgegenbringen, Pater General, dafür danke ich Ihnen. Aber ich kann den Auftrag nicht annehmen. Ich bin nämlich mit einem großen, einem ungewöhnlichen Anliegen zu Ihnen gekommen.«

»Ja?«

»Pater General, ich bitte Sie, entbinden Sie mich von meinen Gelübden!«

Mit klopfendem Herzen stand Claudia an der Wohnungstür und lauschte Pauls Schritten auf der Treppe. Als er endlich vor ihr stand, hielt sie es vor Spannung kaum noch aus.

»Und? Wie ist es gelaufen?«

»Ich gehöre der Gesellschaft Jesu nicht länger an«, sagte Paul mit großem Ernst. »Der Pater General hat Verständnis geäußert für meine besondere Situation, wie er es nannte, und mich von meinen Gelübden entbunden. Er hat mir sogar erlaubt, das Waisenhaus am Mondsee weiterhin zu leiten.«

»Du kommst mir traurig vor«, sagte Claudia. »Vielleicht hast du doch übereilt gehandelt?«

»Nein, es war der richtige Entschluss. Mein Leben als Jesuit ist zu Ende. Ab sofort schulde ich nur noch dir Gehorsam!«

Er nahm sie in die Arme und küsste sie, und Claudia fühlte sich geborgen wie noch nie bei einem Mann. Paul gab ihr Wärme und Sicherheit. Alles, was sie vermisst hatte, wenn sie mit Aldo zusammen gewesen war.

»Du bist ja ein richtiger Pantoffelheld! Oder soll ich besser sagen, ein Puffreisheld?«

Beide lachten. Sie lachten noch in Claudias Schlafzimmer, wo sie sich auszogen und wie zwei Betrunkene taumelnd ins Bett fielen. Trunken waren sie auch, vor Leidenschaft, vor Glück. Und doch wurde Claudia das Gefühl nicht los, dass Paul etwas bedrückte.

Als sie am frühen Morgen erwachte, war das Bett neben ihr leer. Fast. Sie fand einen handgeschriebenen Brief, den sie mehrmals lesen musste, bis sie begriff:

Claudia, mein Herz, ich möchte Dir nicht wehtun. Vielleicht hätte ich gar nicht zu Dir kommen dürfen. Aber ich wollte wenigstens eine Nacht als der verbringen, der ich so gern gewesen wäre, als Dein Mann. Was in mir ist, mein Erbe, lässt das nicht zu. Verfluch mich nicht für meine Entscheidung, Claudia, versuch sie zu verstehen. Alle Liebe, die ich habe, gehört Dir. Paul

Sie rief seinen Namen, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war. Dann sprang sie aus dem Bett und suchte ihre Sachen zusammen. Sie musste Paul finden, bevor es zu spät war. Als sie das Pistolenholster zur Hand nahm, stutzte sie. Es war ungewöhnlich leicht. Ihre Dienstwaffe fehlte.

Es tat gut, zu sehen, wie über Rom die Sonne aufging und in einen blauen Himmel stieg. Was Paul traurig stimmte, war die Gewissheit, dass er diesen Anblick nie wieder würde genießen können, dass sein Glück mit Claudia nur eine Nacht gedauert hatte.

Aber er musste handeln, bevor er Angst vor seinem eigenen Entschluss bekam. Wer konnte schon sagen, was er tun würde, wenn das Erbe seines Vaters, das Erbe des Alten, in ihm durchschlug? Niemals wollte er zum Handlanger von Juan Felipe Martín und seiner Verschwörerbande werden. David Fincher hatte recht gehabt, und Paul war es, als höre er ihn noch einmal sagen: »Tun Sie das Richtige!«

Paul trauerte um Claudia und um das Waisenhaus am Mondsee, in das er so viel Energie und Liebe gesteckt hatte. Aber er wusste das Waisenhaus und die Kinder, die dort lebten, bei seinem Stellvertreter Robert Baumert in guten Händen.

Er stand vor den Ruinen von San Xavier, denen der Sonnenschein ein wenig von ihrer Trostlosigkeit nahm. Hier hatte alles begonnen, hier musste es wohl enden. Als er das Medaillon aufklappte, das seiner Mutter gehört hatte, und die alten Fotos seiner Eltern sah, spürte er sogar eine gewisse Zufriedenheit. Bald würde er mit ihnen vereint sein. Jetzt verstand er, warum sein Vater im Augenblick seines Todes so friedlich gelächelt hatte. Auch Paul lächelte, als er Claudias Dienstpistole aus der Jackentasche zog.

Der Autor

Jörg Kastner
Jörg Kastner

Jörg Kastner, geboren in Minden an der Weser, war bereits als Kind und Jugendlicher ein begeisterter Leser mit einem Hang zu den Klassikern der Abenteuer- und Spannungsliteratur. So fiel es ihm nach erfolgreichem Jurastudium nicht schwer, sich gegen eine juristische Karriere zu entscheiden und den Beruf des Schriftstellers zu ergreifen. Genaue Recherche und die Kunst, unwiderstehlich spannend zu erzählen, zeichnen seine Romane aus. Bislang in fünfzehn Sprachen übersetzt, sind seine Bücher auch im Ausland sehr erfolgreich. Zu seinen größten Erfolgen zählen die mehrbändige Germanensaga um den Cheruskerfürsten Arminius und seinen Waffenbruder Thorag, der Rembrandt-Roman Die Farbe Blau und seine mit dem Roman Engelspapst beginnende Reihe von Vatikanthrillern. Jörg Kastner lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Corinna Kastner, in Hannover.

Für Andrea und Roman Hocke auf dem
Außenposten Rom.
Zum Dank für herzliche Gastfreundschaft,
funkensprühendes Brainstorming und
findiges Einschleusen in die
vatikanischen Katakomben.

Und für meine Frau Corinna in der
Heimatbasis Hannover.
Zum Dank für große Geduld und
ein aufmerksames Auge.

JK

»Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tieres,
denn es ist eines Menschen Zahl,
und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.«

(Aus der Offenbarung des Johannes)

Prolog

Rom, Gianicolo

Rom lag ihm zu Füßen, nicht so laut und hektisch wie bei Tag, aber auch in dieser regnerischen Nacht nicht ruhend und schon gar nicht schlafend. Wie ein riesiges Tier, dem ein alter Fluch oder ein ständiger Schmerz den Schlaf verwehrte. Das gepeinigte Tier blinzelte aus unzähligen erleuchteten Fenstern, und die Motorengeräusche und das Hupen der Autos erschienen ihm wie Klagelaute.

Mitternacht war lange vorüber, aber das Tier Rom kam ebenso wenig zur Ruhe wie die Menschen, die da unten ihre nächtlichen Vergnügungen suchten: Tanz, Musik, Gelächter, Küsse, Umarmungen, Kopulation – ein ewiger Reigen der Nichtigkeiten, nur dazu da, die Menschen von sich selbst abzulenken, von Geist und Seele. Sorelli empfand Mitleid, aber auch Verachtung. Mitleid, weil sie das Menschsein opferten, um wie Tiere von einem Reiz zum nächsten zu jagen. Jedem von ihnen hatte der Schöpfer das höchste Gut mitgegeben, den Verstand – die Möglichkeit, die Welt zu erkennen und auf sie einzuwirken. Sie aber machten davon keinen Gebrauch, sondern ließen sich verleiten von billigen Fernsehshows und riesigen Einkaufstempeln, von Industrien und Marketingstrategen, die ihnen vormachten, mit Geld könnten sie das Glück kaufen. Doch die Menschen verkauften nur sich selbst, und das aus freiem Willen. Deshalb war Sorellis Verachtung genauso groß wie sein Mitleid, vielleicht sogar größer.

Er gab sich einen Ruck und wandte sich ab von der Stadt am Tiber, in der die Menschen seit Jahrtausenden ihr Heil suchten und Unheil fanden. Hier oben auf dem Gianicolo fühlte er sich fern von den alltäglichen Nichtigkeiten, erhaben über die Menschen und das, was sie antrieb. Konnte es in Rom für eine solche Empfindung einen geeigneteren Ort geben als den bewaldeten Hügel, der sich am rechten Tiberufer entlang zog, von der Vatikanstadt bis zum alten Stadtteil Trastevere? Der Gianicolo hatte eine Sonderstellung inne. Er gehörte nicht zu den sieben Hügeln der Stadt, obwohl er doch mitten in ihr lag, nur einen Steinwurf entfernt vom Vatikan, dem Zentrum der Christenheit. Janiculum lautete der antike Name des Hügels. Dass er nach dem geheimnisvollen Gott Janus benannt war, erschien Sorelli mehr als passend. Der Gott mit den zwei Gesichtern symbolisierte für ihn die Stadt Rom ebenso wie die ganze Welt: den blendenden äußeren Schein und das, was sich dahinter verbarg. Das, was die meisten Menschen nicht wussten und, aus Bequemlichkeit oder auch aus Furcht, nicht wissen wollten. Aber er, Renato Sorelli, wusste es.

Er wusste um die Veränderungen, die der Welt bevorstanden, und um die Gefahren, die damit verbunden waren. Denn er selbst spielte darin eine zentrale Rolle. Und ihm war klar, dass er sich mit seinen Plänen viele Feinde machte. So mochte es leichtsinnig sein, dass er zu dieser nächtlichen Stunde ganz allein auf den Gianicolo gestiegen war, nur auf einen Anruf hin. Aber die Stimme am Telefon hatte alle Bedenken beiseite gewischt: »Reno, ich brauche deine Hilfe, dringend. Komm, bitte komm zu San Pietro in Montorio! Ich erwarte dich dort zur dritten Stunde nach Mitternacht. Und sag niemandem etwas davon, bitte!«

Ein kurzes, trockenes Knacken in der Leitung, und die Verbindung war unterbrochen gewesen. Danach hatte Sorelli minutenlang reglos auf seinem Stuhl gesessen. Er hatte geglaubt, nichts könne ihn mehr erschüttern, jedenfalls nichts, das von einem Menschen ausging. Der Anruf hatte ihn eines Besseren belehrt. Nach so vielen Jahren diese Stimme zu hören, darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Er hatte sich gefühlt, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen und ihn in ein sehr tiefes Loch gestürzt, zurück in die Vergangenheit. Obwohl viele Jahre vergangen waren und die Stimme unbestreitbar älter geworden war, hatte er sie beim ersten Wort erkannt – bei der Koseform seines Namens: Reno. Schon lange nannte ihn niemand mehr so.

Vergebens hatte er zu ergründen versucht, was hinter dem Anruf steckte. Hatte die Stimme ängstlich geklungen? Vielleicht. Auf jeden Fall war sie erregt gewesen. Neugierig und besorgt zugleich hatte Sorelli beschlossen, der Bitte nachzukommen, auch um dessentwillen, was einmal gewesen war.

Der Wind frischte auf und trieb ihm den feinen Regen ins Gesicht, während er die Via Giuseppe Garibaldi entlangging, ohne die Büsten italienischer Patrioten, die hier tagein, tagaus Spalier standen, auch nur eines Blickes zu würdigen. Vorgestern noch hatte eine für die Jahreszeit ungewöhnlich starke Sonne auf Rom herabgestrahlt, gestern aber war es schlagartig um ungefähr zehn Grad kälter geworden, und seitdem regnete es ununterbrochen. Das Wetter schlug in letzter Zeit viele solcher Kapriolen. Die Konservativen unter den Römern schoben das auf den »verrückten März«, der ihnen, was das Wetter betraf, seit jeher als unzuverlässigster aller Monate galt. Die Aufgeklärteren dagegen – oder zumindest die, die sich dafür hielten – orakelten vom Klimawandel und der Katastrophe, die der Welt deshalb drohen sollte. Sorelli lächelte dünn bei dem Gedanken an schmelzende Polkappen oder eine neue Eiszeit. Die Menschen wussten wahrlich nichts von den wirklich bedeutenden Dingen auf dieser Welt.

Er schlug den Kragen hoch und schob die Hände in die Manteltaschen, wobei seine Rechte auf kühles Metall stieß. Im Lichtkegel einer Straßenlaterne blieb er stehen und zog die Goldkette hervor, um sie nachdenklich zu betrachten. Vor dem Anruf hatte er sie fast vergessen gehabt. Nach dem Telefonat, als seine Gedanken um die Vergangenheit kreisten, hatte er die verschlossene Schublade geöffnet, in der er seine wenigen persönlichen Habseligkeiten aufbewahrte. Warum er die Kette aufgehoben hatte, vermochte er nicht zu sagen. War er sentimental?

Sein Daumen glitt über den winzigen Mechanismus, der den herzförmigen Anhänger aufschnappen ließ. Die beiden Porträts im Innern waren Farbaufnahmen, aber so ausgebleicht, dass sie fast wie Schwarzweißbilder aussahen. Und das, obwohl der Anhänger kaum je geöffnet worden war. Es schien, als hätte die Zeit selbst dafür gesorgt, dass die Fotos ebenso alterten wie die Menschen, die auf ihnen zu sehen waren. Das Bildnis des Dorian Gray gibt es nur im Roman, dachte Sorelli in einer seltenen Gefühlsaufwallung, einer Mischung aus Bitterkeit und Wehmut.

Der Mann, Sorelli, hatte auf dem Foto noch dunkles, volles Haar, und seine Züge waren schärfer, wenn sie auch jetzt, da er weit über sechzig war, immer noch asketisch wirkten. Das zweite Foto zeigte eine blonde Frau mit einer neugierigen Stupsnase im hübschen, etwas naiv anmutenden Gesicht. So vertrauensvoll wie auf dem Bild hatte sie immer ausgesehen, einfach deshalb, weil es ihrer Natur entsprach. Fast bedauerte Sorelli, was er ihr angetan hatte.

Abrupt klappte er den Anhänger zu und verstaute die Kette wieder in der Manteltasche. Nein, er war nicht sentimental, schon lange nicht mehr. Nicht deshalb war er mitten in der Nacht auf den Gianicolo gestiegen, sondern weil er sich Klarheit verschaffen wollte. Es mochte harmlose Gründe für den Anruf geben, aber vielleicht war er auch ein Alarmsignal. In wenigen Minuten würde er es wissen. Er setzte seinen Weg fort, und bald tauchte vor ihm San Pietro in Montorio auf, die Kirche des heiligen Petrus. Sie war im Mittelalter an dieser Stelle errichtet worden, weil einer Legende zufolge Petrus hier am Kreuz gestorben war. Eine von vielen Legenden, die mit der römischen Geschichte und dem christlichen Glauben verwoben waren. Niemand hätte sie alle aufzählen oder gar Wahres von Erfundenem unterscheiden können. Auch Sorelli nicht, obwohl er so viel mehr wusste als die meisten anderen. So viel mehr und doch nicht genug, dachte er, während er langsam auf die Kirche zutrat, die von mehreren Laternen beleuchtet wurde. Von dem mittelalterlichen Bauwerk war nicht viel übriggeblieben, nachdem San Pietro in Montorio im fünfzehnten Jahrhundert stark verändert worden war. Die einfachen Formen der Antike, die man damals bevorzugt hatte, prägten die Fassade bis heute.

Aber Sorelli war nicht gekommen, um sich mit den Architekturvorstellungen der Renaissance zu beschäftigen. Er suchte nicht nach Erbauung durch die klare Schönheit der Kirchenfassade, sondern nach einem Menschen, nach einer Frau aus seiner Vergangenheit. Sie würde zu dieser Nachtstunde doch nicht in der Kirche auf ihn warten? Er schüttelte bedächtig den Kopf. Das Gebäude musste schon seit Stunden geschlossen sein.

»Ich bin hier«, klang es leise zu ihm herüber, ein Flüstern, im stetigen Prasseln des Regens kaum zu hören.

War das eine menschliche Stimme gewesen, ein Trugbild seiner überreizten Sinne, ein geisterhafter Ruf aus der Vergangenheit?

Es war nicht von der Kirche her gekommen, sondern aus seinem Rücken. Er drehte sich um und bemühte sich, jenseits der Straße zwischen den Bäumen, die ihre noch kahlen Arme in den Himmel reckten, als müssten sie das finstere Dach der Nacht abstützen, etwas zu erkennen.

»Hier bin ich.«

Das Flüstern war ebenso leise wie zuvor. Aber jetzt bemerkte Sorelli eine Gestalt, die halb hinter einem großen Baum hervorgetreten war und eine Hand auf Schulterhöhe bewegte. Er sah die Gestalt nur schemenhaft, und doch war ihm klar, dass sie ihn zu sich winkte. Zögernd folgte er der Aufforderung, und als er die asphaltierte Straße verließ, sog der aufgeweichte Boden bei jedem Schritt schmatzend an seinen Schuhsohlen.

Noch immer stand die Gestalt halb hinter dem Baum, und Sorelli konnte sie nicht erkennen. Der Baum, die Dunkelheit und ein tief ins Gesicht seines Gegenübers gezogenes Kopftuch ließen es nicht zu. Gebannt starrte er auf die dunklen Umrisse, wagte kaum zu blinzeln. Er fürchtete, das Wesen vor ihm könnte von einer Sekunde zur anderen verschwunden sein wie ein Spuk, der sich am Ende der Geisterstunde in Luft auflöst.

Aber das da vor ihm war kein Geist, das hämmerte er sich ein. Es war ein Mensch, es musste einer sein!

Keine zehn Meter trennten ihn mehr von dem Baum, da blieb er stehen und fragte: »Maria?«

Während er vergebens auf eine Antwort wartete, brach der Mond zwischen den Wolken hervor und warf seinen fahlen Schein auf das Wesen, das ihn erwartete. Eine Woge des Zweifels und der Furcht stieg in ihm auf. Furcht, wie er sie schon lange nicht mehr empfunden hatte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, und seine Hände begannen zu zittern. Groß und kräftig, mit breiten Schultern – das war nicht Maria, es gab nicht die geringste Ähnlichkeit.

Eine Falle!, schoss es ihm durch den Kopf. Es ist doch eine Falle!

Wie war das möglich? Er hatte ihre Stimme am Telefon zweifelsfrei erkannt. Aber dieses Wissen änderte nichts an dem, was seine Augen untrüglich feststellten: Das da vor ihm war nicht Maria!

Während diese Gedanken noch durch sein Gehirn wirbelten, machte er kehrt und begann zu laufen, zurück zur Straße! Laut, beinahe wütend schmatzte es unter seinen Sohlen, aber er schenkte dem keinerlei Beachtung.

Weg hier! Nur weg!

Der Unbekannte folgte ihm. Sorelli brauchte sich nicht umzudrehen, um es zu wissen. Er hörte ihn, wusste, dass der andere – oder das andere? hinter ihm war.

Endlich erreichte er die Straße und wandte sich nach rechts, um den Hügel hinunterzulaufen. Jetzt fand er es nicht mehr angenehm, den Menschen, die das nächtliche Rom bevölkerten, so fern zu sein. Im Gegenteil, er musste so schnell wie möglich in die Nähe anderer Menschen gelangen, nur so konnte er sich retten. Er rannte, so schnell er nur konnte.

Als junger Mann war er ein recht guter Läufer gewesen, aber das war lange her. Viele Jahrzehnte am Schreibtisch lagen dazwischen. Schon nach wenigen Schritten spürte er brennende Stiche in der Seite und bereute, dass er in den vergangenen Jahren seinen Körper nicht so trainiert hatte wie seinen Verstand. Die Schritte hinter ihm kamen näher. Sein Verfolger war höchstwahrscheinlich jünger, auf jeden Fall aber schneller als er.

Und wenn es kein menschliches Wesen war? War dann nicht jeder Versuch davonzulaufen zwecklos?

So durfte er nicht denken, nicht jetzt! Er musste einen kühlen Kopf bewahren, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. So wie die, in welche Richtung er floh. Schon bedauerte er, zurück zur Straße gelaufen zu sein. Hier konnte der Verfolger seine Schnelligkeit voll ausspielen. Im Unterholz hätte Sorelli ihm eher entkommen können.

Vielleicht ist es noch nicht zu spät!

Er schlug einen Haken nach rechts und verließ die Straße, tauchte zwischen den Bäumen ein. Neue Hoffnung keimte in ihm auf. Hier konnte er sich mit etwas Glück verstecken.

Dann packte etwas, wie eine Hand, die aus dem Boden geschossen kam, seinen rechten Fuß. Eine halbkreisförmig aufragende Baumwurzel, die er in seiner Hast und in der Dunkelheit, die alle Umrisse miteinander verschmelzen ließ, übersehen hatte. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte, sein Kopf schlug hart gegen die rissige Borke eines Baumstamms. Der jähe Schmerz in seinem Schädel rief Übelkeit und Benommenheit hervor. Er kämpfte dagegen an, durfte jetzt nicht erlahmen. Jede Sekunde zählte!

Seine Hände umfassten den Baumstamm, und ächzend zog er sich hoch. Er stand noch nicht ganz aufrecht, da peinigte ihn ein weiterer, noch viel heftigerer Schmerz, diesmal im rechten Fuß. Als würde er von glühenden Nadeln durchbohrt. Verrenkt oder verstaucht, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Humpelnd setzte er seine Flucht fort, und bei jedem Schritt trieb der verletzte Fuß ihm neue Schweißperlen auf die Stirn.

Wo war sein Verfolger? Sorelli hielt einen Augenblick inne, stützte sich am feuchten Stamm einer Pinie ab und blickte sich um. Er sah nur die Bäume und Sträucher ringsumher, hörte nur das Prasseln des Regens und sein eigenes stoßweises Keuchen. Sein Herz raste. Hatte er den anderen tatsächlich abgehängt?

Er überlegte, was jetzt am besten zu tun war. In einer Manteltasche steckte sein Handy, vielleicht sollte er Hilfe rufen. Aber der Verfolger mochte noch in der Nähe sein und nach ihm suchen. Wenn Sorelli das Handy benutzte, hörte der andere ihn womöglich.

War es also das Beste, hier zu warten, bis er sicher sein konnte, dass der Unbekannte die Suche nach ihm aufgegeben hatte? Falls der ihm aber noch auf den Fersen war, spürte er Sorelli möglicherweise hier auf. Deshalb entschied er sich, seinen Weg fortzusetzen, aber langsam, um jedes verräterische Geräusch zu vermeiden und um seinen schmerzenden Fuß zu schonen.

Auf dem Boden lag ein langer Ast, der in einer Gabel auslief und als behelfsmäßige Krücke taugen mochte. Sorelli bückte sich danach. Er hatte sich noch nicht ganz wieder aufgerichtet, als ihn jemand, einem Raubtier gleich, aus der Dunkelheit ansprang.

Jemand oder etwas, dachte er, während er das Gleichgewicht verlor und rücklings auf den matschigen Boden fiel. Der Aufprall war trotz des Schlamms so hart, dass ihm für zwei, drei Sekunden die Luft wegblieb. Er spürte die Feuchtigkeit, die durch seine Hose an die Beine drang; vermutlich war er von Kopf bis Fuß mit Dreck verschmiert. Aber das alles war bedeutungslos angesichts der dunklen Gestalt, die sich rittlings auf ihn hockte und ihn am Aufstehen hinderte.

Noch immer trug der Unbekannte das Kopftuch, das ihn aus einiger Entfernung wie eine Frau hatte aussehen lassen und das jetzt sein Gesicht beschattete. Aber die schwere, hochgewachsene Gestalt war die eines Mannes, da war Sorelli sicher.

»Wer bist du?«, fragte er mit kratziger Stimme. »Was willst du von mir?«

Der Fremde antwortete nicht, sondern zog etwas unter seinem weiten Mantel hervor, etwas Helles, das selbst in dem schwachen Nachtlicht schimmerte.

Ein großer Dolch!

Der Unbekannte hielt ihn mit behandschuhten Händen über Sorellis Brust, die Spitze zielte auf das Herz.

Sorelli wusste, dass er sterben würde, und bei dieser Erkenntnis wurde er plötzlich ganz ruhig. Sein Schicksal war unabänderlich, also fügte er sich. Stimmte es, dass im Augenblick des Todes das Leben noch einmal an einem vorbeizog? Oder entsprang der Umstand, dass er vor seinem geistigen Auge Maria sah, einfach nur dem Bedürfnis, die letzten Sekunden mit dem Gedanken an etwas Schönes zu verbringen, an etwas, das in seinem Leben nur kurz – vielleicht viel zu kurz – eine Rolle gespielt hatte?