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Jörg Kastner

Hafen der Verzweifelten

Folge 1 der großen Saga
Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt

 

Roman

hockebooks

Kapitel 1
Fremde Heimat

Das Knarren der hölzernen Planken, das Plätschern des Wassers, das Knattern der Segel im Wind und die leisen Stimmen von Menschen, die irgendwo auf Deck standen und sich über ihre Schlaflosigkeit und die Enge ihres Quartiers unterhielten, bildeten eine eintönige Kulisse, die den blinden Passagier eigentlich hätte sanft in den Schlaf wiegen sollen. Aber er war zu aufgeregt, hielt es kaum aus in seinem engen, stark nach Teer riechenden Versteck und durfte es doch auf keinen Fall verlassen. Das Schiff war noch nicht weit genug auf See. Vielleicht würde der Kapitän umkehren und den steckbrieflich Gesuchten der Polizei übergeben. Er kauerte sich unter der Wolldecke zusammen, die ihn nur unzureichend gegen die Nachtkälte schützte, und seine Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, an dem sein Unglück begonnen hatte …

*

Der hochgewachsene Jüngling blieb auf der Kuppe des bewaldeten Hügels stehen und schaute hinab in das Flusstal, das sich in malerischem Frieden unter ihm ausbreitete. Tief sog er die würzige, frische, noch nach dem gerade erst geschmolzenen Schnee riechende Luft in seine Lungen und genoss in aller Ruhe den Anblick seiner Heimatstadt Elbstedt, den er für ein langes Jahr vermisst hatte.

Er hatte viele neue Orte und Dinge gesehen und viele neue Menschen kennengelernt, die seinen wissbegierigen Geist beschäftigt hatten, und doch war kein Abend vergangen, an dem er nicht sehnsüchtig an seine Heimat gedacht hatte. Nicht weil er sich in der Fremde nicht wohlgefühlt hätte, sondern weil hier die Menschen lebten, die er liebte: seine Eltern, seine Geschwister und Louisa. Der Gedanke an diese Menschen trieb ihn voran, ließ ihn kräftig ausschreiten, den matschigen Weg hinab ins Tal mit Riesenschritten hinter sich lassend.

Und doch, je näher er den ersten Häusern kam, desto seltsamer fühlte er sich. Eine bislang nicht gekannte Beklemmung griff nach seiner Brust und schnürte ihm fast den Atem ab.

Vielleicht war es nur das ihn aufwühlende Gefühl, nach so langer Zeit seine Lieben wiederzusehen, versuchte sich Jacob zu beruhigen. Immerhin war er ein Jahr und drei Monate fort gewesen, ein Handwerksbursche auf Wanderschaft.

Insgesamt waren es drei Jahre, die er in der Fremde verbringen musste. Nur dem Umstand, dass König Wilhelm und sein unentbehrlicher Ministerpräsident Bismarck stets wissen wollten, wo sich Preußens Bürger aufhielten, verdankte er das Wiedersehen mit Elbstedt. Wie alle preußischen Handwerksburschen auf der Walz unterlag auch er der Pflicht, sich einmal im Jahr bei dem Polizeiposten im Heimatort zu melden. Zweimal hatte er diese Meldung bisher durchgeführt, und jedes Mal war seine Heimkehr zu Weihnachten ein großes Fest für die Familie geworden.

Diesmal, im letzten Jahr seiner Wanderschaft, hatte er länger gebraucht, weil er sein Gesellenstück fertigbringen wollte, bevor er seinem Vater wieder unter die Augen trat. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, mit der Befähigung zum Zimmermannsmeister zurückzukehren, um seinem Vater fortan eine brauchbare rechte Hand zu sein, und dieses Ziel hatte er erreicht. Bald schon, so hoffte er, würde er seinen Meisterbrief in der Tasche haben.

Jacobs unruhiges Gefühl verstärkte sich noch, als er an Friedrich Kormanns Gehöft vorbeikam, einem der wenigen kleinen Bauernhöfe, die sich im Tal hatten halten können. Er kannte die Kormanns gut, seit er zusammen mit deren jüngstem Sohn Otto zur Schule gegangen war. Stets hatte er mit den Leuten ein freundliches Wort gewechselt. Aber an diesem Märznachmittag, dessen zaghaft wärmende Sonnenstrahlen der alte Kormann ausnutzte, um ein paar Reparaturen an den Fensterläden durchzuführen, erwiderte er Jacobs herzlichen Gruß nur einsilbig und verschwand dann merkwürdig schnell in einem Schuppen.

Jacob verharrte kurz vor dem Tor zu Kormanns Anwesen und überlegte, was für eine Laus dem grauhaarigen Bauern über den Weg gelaufen sein mochte. Aber als Kormann nach zwei, drei Minuten nicht wieder aus dem Schuppen hervorkam, setzte er seinen Weg fort.

Je weiter er in die engen Straßen und Gassen seines kleinen Heimatstädtchens eindrang, desto mehr fragte er sich, ob die gesamte Bevölkerung am Morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden war. Niemand schien sich darüber zu freuen, dass der junge Zimmermannsbursche heimgekehrt war. Alle Gesichter befiel bei seinem Anblick stumme Verwunderung, und schnell zogen sich die Leute zurück. Täuschte er sich, oder las er sogar Angst in den Mienen der Menschen?

Das beklemmende Gefühl in seinem Brustkasten wuchs, und Jacob beschleunigte seine Schritte auf dem Weg zum Flussufer, um diese unerklärliche Unruhe durch das Wiedersehen mit den Seinen zu besänftigen. Er hatte frühzeitig geschrieben, wann er nach Hause kommen würde, und hoffte, die ganze Familie anzutreffen.

Noch hatte der Frühling den Winter nicht ganz vertrieben, sodass sein Vater als Zimmermann erfahrungsgemäß noch nicht viele Aufträge haben konnte. In Frühjahr, Sommer und Herbst zog er mit seiner Kolonne übers Land, manchmal bis über Preußens Grenzen hinaus, aber der Winter war die Jahreszeit der Ruhe, in der Haus und Werkzeuge in Ordnung gebracht wurden.

Das Haus in der Uferstraße, in dem die Adlers schon seit Generationen lebten – Jacobs Urgroßvater, auch Zimmermann, hatte es eigenhändig gebaut –, lag dicht bei der Elbe, von dem mächtigen Fluss nur durch Arnings Brauerei getrennt. Jacob lief beinah, sobald er die Uferstraße erreichte – und blieb abrupt stehen, als er um die letzte Ecke bog.

Von dem, was er vor sich sah, und noch mehr von dem, was er nicht sah, war er so betroffen, dass ihn fast ein großer, zweispänniger Wagen überrollt hätte, der leere Fässer zur Brauerei brachte. Erst der heiße Atem der Pferde in seinem Nacken machte ihm bewusst, dass die lauten Rufe, die wie von weiter Ferne oder durch den dämpfenden Schleier eines dichten Nebels zu ihm drangen, ganz nah hinter ihm von dem Kutscher ausgestoßen wurden und ihm galten.

Im letzten Moment machte Jacob einen rettenden Satz zur Seite. Der Wagen ratterte über das grobe Pflaster an ihm vorbei, und der schnauzbärtige Fahrer bedachte ihn mit einem Schwall unflätiger Flüche, mit denen er sonst wohl nur seine unwilligen Zugtiere antrieb.

Aber das störte Jacob nicht. Er nahm es kaum wahr. Er hatte nur Augen für den Platz, an dem bei seinem letzten Besuch noch sein Elternhaus gestanden hatte. Jetzt war es verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Stattdessen stand dort ein gewaltiges Lagerhaus, über dessen breitem Tor ein Werbeschild der Brauerei angebracht war: ein pausbäckiger, sichtlich zufriedener Mann mit einem großen Bierhumpen vor sich, daneben der Spruch ›Trink Arnings Bier, und wohl sei dir‹.

Jacob zwinkerte mit den Augen, aber es nützte nichts. Das Bild des Lagerhauses blieb. Er sah sich sogar suchend um, ob er sich in der richtigen Straße befand, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, in nur einem Jahr die Orientierung in seiner Heimatstadt verloren zu haben. Doch es gab keinen Zweifel: Das Haus seines Vaters, des Zimmermanns Heinrich Adler, war einem klobigen, hässlichen Lagerhaus gewichen.

Der junge, breitschultrige Mann mit der dunklen Schirmmütze und der großen Ledertasche, in der er seine gesamten Habseligkeiten aufbewahrte, fühlte sich wie frühmorgens, wenn man aus dem schönsten Schlaf gerissen wurde und erst nicht recht wusste, wo man sich überhaupt befand, noch beim alten Lehrherrn oder schon unterwegs zu einem neuen. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander wie ein rauschender Wasserfall.

Wenn das Elternhaus nicht mehr da war, wo wohnte jetzt seine Familie? Warum war sie nicht mehr hier? Und weshalb hatte man ihm nicht Bescheid gegeben? Er schrieb doch immer nach Hause, wo er sich gerade aufhielt und wohin er demnächst ziehen würde.

Und wenn etwas Schlimmes geschehen war, hätten ihn dann nicht die Behörden benachrichtigen müssen? Schließlich musste er die Polizei in Elbstedt über seinen jeweiligen Standort unterrichten. Das gehörte ebenso zu seinen Pflichten wie die jährliche Rückmeldung und das Führen des Wanderbuches, das er stets auf dem Laufenden zu halten hatte.

Als er seine Gedanken einigermaßen geordnet hatte, beschloss er, das Nächstliegende zu tun, und sich einfach bei der Brauerei zu erkundigen, weshalb der Bierkönig, wie Conrad Arning respektvoll genannt wurde, auf dem Grundstück seines Vaters ein Lagerhaus errichtet hatte. Er hatte erst ein paar zögernde Schritte in Richtung des Brauereigeländes gemacht, als er eine Stimme in seinem Rücken leise seinen Namen rufen hörte.

»Jacob! Bist du es, Jacob Adler?«

Der junge Zimmermann drehte sich überrascht um und sah in das faltige Gesicht des Schusters Alfred Eckermann, dessen schmales Haus dem Grundstück der Adlers schräg gegenüberlag. Der alte Eckermann hatte seine abgewetzte Lederschürze umgebunden und hielt einen klobigen Stiefel ohne Absatz in der Hand. So stand er in der offenen Tür seiner im Erdgeschoss gelegenen Werkstatt, von Jacobs Erscheinen offensichtlich mitten in der Arbeit gestört.

»Herr Eckermann«, begann der Heimkehrer, hoch erfreut, dass endlich jemand mit ihm sprechen wollte. »Was ist hier geschehen? Das Haus! Wo ist meine Familie?«

»Ich will dir deine Fragen gern beantworten«, sagte Eckermann seltsam leise. »Aber nicht hier draußen. Komm herein, Junge!«

»Ich weiß nicht, ob ich so viel Zeit habe«, erwiderte Jacob zögernd. »Ich möchte rasch zu meiner Familie. Können Sie mir nicht hier draußen sagen, was los ist, Meister Eckermann?«

»Nein!«, stieß der Schuster mit einem schlangenartigen Zischen hervor, damit die Schärfe seines Tons nicht zu sehr auffiel. »Komm schon rein!«

Mit dieser keinen Widerspruch duldenden Aufforderung zog er sich schnell in seine Werkstatt zurück. Jacob zuckte mit den Schultern und folgte ihm. Je eher er das tat, desto eher würde er Antworten auf seine Fragen erhalten.

Er musste sich bücken, um durch die kleine Türöffnung die dick nach Leder, Leim und Öl riechende Schusterwerkstatt zu betreten. Durch die kleinen Butzenscheiben fiel nur unzureichend Licht, und es war ziemlich düster zwischen Tischen und Werkbänken, die mit Schuhen, Materialen und Werkzeugen vollstanden. Ganz wie früher, kam es Jacob in den Sinn. Meister Eckermann war schon immer ein sparsamer Mann gewesen, der kein künstliches Licht entfachte, wenn es nicht unumgänglich war.

Aber sie blieben nicht hier. Eckermann schloss die Tür ab und hängte das von der Sonne gebräunte und ausgebleichte ›Geschlossen‹-Schild vor die Scheibe, die im oberen Türdrittel eingelassen war. Dann stiegen sie die schmale Treppe hinauf, die in das den gesamten ersten Stock ausfüllende Zimmer führte, das zugleich Wohnküche und Arbeitszimmer für Eckermanns Frau war. Sie saß vornübergebeugt an einem großen Tisch vor dem Fenster und führte Näharbeiten aus. Teils für die von ihrem Mann hergestellten Schuhe, teils an Kleidern, die sie im Auftrag fremder Leute erweiterte oder enger machte.

Nein, nichts schien sich verändert zu haben – bis auf das Fehlen von Jacobs Elternhaus und das abweisende Schweigen der Leute in Elbstedt.

Auch Frau Eckermann warf ihm diesen erschrockenen Blick zu, als er in die schlecht beheizte Stube trat. Aber als er genauer hinsah, lag noch etwas anderes in ihren Augen. Mitleid?

»Heinrichs Sohn ist zurück«, sagte Meister Eckermann unnötigerweise und ließ sich in dem alten Schaukelstuhl nieder, der genauso zu dem Schuster zu gehören schien wie seine Lederschürze. Umständlich stopfte der Mann sich eine alte, halb verkohlte Pfeife mit einem übel riechenden Kraut, was in Jacobs Augen nur geschah, um die unangenehme Mitteilung, die Eckermann ihm zu machen hatte, hinauszuzögern.

Jacob stand immer noch vor der Tür, seine Ledertasche in der Hand. Erst auf Geheiß der Frau, die sich am Herd zu schaffen machte, nahm er auf einem der Holzstühle Platz, die so schmal waren wie alles in diesem Haus.

»Deine Familie wohnt nicht mehr hier«, begann der Schuster schließlich, als seine Pfeife brannte und er nichts mehr finden konnte, um das Gespräch hinauszuzögern.

»Was heißt das?«, fragte Jacob. »Wo sind meine Eltern und meine Geschwister?«

In Eckermanns Gesicht zuckte es. »Weg.«

Jacob schüttelte den Kopf. »Warum nur habe ich das Gefühl, dass die ganze Stadt mir etwas verheimlichen will?«

»Weil niemand etwas Genaues weiß, Junge. Es ging alles sehr schnell. Als der Gendarm das Haus geräumt hatte, waren dein Vater und deine Geschwister bald darauf verschwunden. Sie wollten wohl nach Hamburg und von dort weiter. Niemand weiß, wohin. Man munkelt, sie sind nach Amerika gegangen.«

»Nach Amerika?«

»Vielleicht stimmt es, vielleicht auch nicht. Jedenfalls haben wir nichts mehr von ihnen gehört. Kurz danach wurde das Haus abgerissen, und der Bierkönig hat dort sein neues Lager gebaut, das er schon lange geplant hatte. Es ging alles sehr rasch vonstatten.«

»Aber wieso hat Vater das erlaubt?«

»Er konnte es nicht verhindern. Conrad Arning besaß Schuldscheine in großer Höhe von deinem Vater. Als Heinrich die Schulden nicht begleichen konnte, hat der Bierkönig das Haus pfänden lassen.«

Immer wieder schüttelte Jacob fassungslos den Kopf. Sein Vater und Schulden? Er konnte es einfach nicht fassen und sagte das auch dem Schuster. »Ich habe nie etwas davon gehört, dass mein Vater in Geldschwierigkeiten gewesen ist.«

»Du warst lange weg, Junge. Da tut sich so einiges. Die Zeiten sind nicht mehr so gut wie noch vor ein paar Jahren. Ich musste kürzlich Thomas, meinen Gesellen, entlassen, weil ich nicht mehr genug Arbeit hatte, um seinen Lohn zu bezahlen. Auch das Geschäft deines Vaters lief nicht mehr so wie damals, als du auf Wanderschaft gegangen bist. Vielleicht hat er es dir verschwiegen, um dich nicht zu beunruhigen. Dann passierte auch noch diese dumme Geschichte mit der Kirche drüben in Langholz.«

Jacob hob seine Schultern an, und ließ sie wieder fallen. »Von einer dummen Geschichte weiß ich nichts. Beim letzten Weihnachtsfest war Vater ganz stolz, in diesem Jahr die Langholzer Kirche bauen zu dürfen.«

»Das hat er auch getan, aber beim Einweihungsgottesdienst geschah das große Unglück. Der Dachstuhl stürzte ein und begrub viele Menschen unter sich. Die Kirche war wegen des besonderen Ereignisses mit Menschen vollgestopft gewesen. Etliche wurden verletzt, und fünf Menschen starben.«

Schweigen beherrschte das Zimmer, nur unterbrochen vom Pfeifen des Wasserkessels auf dem Herd und von den gedämpften Geräuschen, die der Wind vom Fluss herübertrug, wo ein Lastkahn angelegt hatte und nun mit Bierfässern beladen wurde.

Jacob benötigte Zeit, das Gehörte zu verarbeiten, aber dennoch erschien es ihm unwirklich. Wie eine dieser Geschichten, die sie sich während der Wanderschaft vor dem Einschlafen erzählt hatten, um sich die Zeit zu vertreiben.

»Fünf Menschen tot?«, fragte er, als hätte er sich verhört. »Davon … davon hat Vater nichts geschrieben. Warum nur nicht?«

Meister Eckermann überlegte eine Weile, bevor er antwortete: »Mag sein, er hat sich geschämt.«

Das mochte tatsächlich sein, dachte Jacob. Sein Vater war immer ein stolzer Mann gewesen. Einen Fehler zuzugeben, war ihm fremd. Und er war auch selten in der Verlegenheit gewesen, denn in seinem Beruf machte er keine Fehler.

»Ich kann das alles nicht glauben, Meister Eckermann. Sie kennen meinen Vater länger als ich. Was er anpackt, hat Hand und Fuß. Dass ihm eine ganze Kirche eingestürzt sein soll …«

»Ich habe es auch nicht geglaubt, Junge. Aber die Tatsachen waren eindeutig. Natürlich gab es eine amtliche Untersuchung. Alle aus der Zimmermannskolonne haben ausgesagt, dass Heinrich so sorgfältig wie immer gearbeitet hat. Auch seine Baupläne wiesen keine Fehler auf. Deshalb ist er an einem Strafprozess noch einmal gerade so vorbeigekommen. Aber die Langholzer konnte das nicht besänftigen, und sie verlangten Wiedergutmachung von ihm. Er hat sich als Ehrenmann erwiesen und es nicht auf eine Gerichtsverhandlung ankommen lassen. Stattdessen hat er sich gegenüber jedem Geschädigten schriftlich verpflichtet, für das Erlittene aufzukommen.«

»Und diese Schuldscheine hat Arning aufgekauft«, schlussfolgerte Jacob mehr, als dass er es fragte.

Eckermann nickte traurig. »Ja, so ist es.«

Die Frau des Schusters stellte große Keramikbecher auf den Tisch und füllte sie mit dampfendem Kaffee. Anschließend brachte sie ein Kännchen Milch, ein Schälchen Zucker, eine große Schale mit Zwieback und einen Topf selbst gemachter Pflaumenmarmelade, bevor sie sich zu den Männern setzte.

Jacob trank etwas von dem Kaffee, um sich aufzuwärmen. Doch er aß nichts, obwohl ein langer Tag und viele Meilen hinter ihm lagen. Was er in den letzten Minuten erfahren hatte, verdrängte jedes Hungergefühl.

»Wenn du willst, kannst du vorläufig bei uns wohnen, Junge«, durchbrach Eckermann das drückende Schweigen. »Du kannst in der Stube vom Thomas schlafen, unten neben der Werkstatt. Für einen Silbergroschen pro Nacht. Für noch einen Groschen kannst du morgens und abends mit uns essen.«

Jacob antwortete nicht, denn etwas ging ihm im Kopf herum. Etwas, das der Schuster vorhin gesagt hatte.

»Sie sprachen davon, mein Vater und meine Geschwister seien von Elbstedt weggegangen, Meister Eckermann. Was ist mit meiner Mutter?«

Der Schuster zögerte und wechselte unheilvolle Blicke mit seiner Frau, bevor er schleppend sagte: »Deine Mutter, Jacob, die ist nicht mitgegangen.«

»Ja, wo ist sie denn?«

Weil ihr Mann es nicht fertigbrachte, antwortete die Frau des Schusters: »Auf dem Friedhof, Jacob.«

Der junge Zimmermann sah in die mitleidig blickenden Züge der verhärmten Frau, bis sie hinter einem Vorhang aus Tränen verschwammen.

Jacob fühlte sich in einem Albtraum gefangen. Das alles konnte nicht wahr sein. So vieles auf einmal, und von nichts hatte er gewusst. Seine Mutter und seine Schwester Marthe hatten ihm regelmäßig geschrieben und ihm das Neueste aus der Familie und aus Elbstedt berichtet. Aber kein Wort von diesen schrecklichen Dingen war zu ihm gedrungen.

Kein Wort!

Als Jacob ruckartig aufsprang, stürzte der Stuhl um, auf dem er gesessen hatte. Er achtete nicht darauf und auch nicht darauf, dass er seine Tasche im Zimmer stehen ließ, als er die Treppe hinunterlief, die Werkstatt durcheilte, den von innen steckenden Schlüssel umdrehte und hinaus auf die Straße lief. Hier erst blieb er stehen, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht und atmete die frische Luft ein. Er fühlte sich, als sei er gerade der Hölle entronnen, die ihn mit tausendfachen Qualen zu peinigen versucht hatte.

Da rief der Teufel, in der Gestalt des Schusters, nach ihm. Jacob hörte nicht auf ihn, wollte nichts mehr hören. Er rannte einfach weg, egal wohin, durch die Straßen seiner Kindheit und Jugend, die ihm auf einmal seltsam fremd erschienen.

*

Als Jacob irgendwann stehen blieb, konnte das kein Zufall sein. Etwas in ihm musste ihn zu dem einzigen in Elbstedt verbliebenen Menschen geführt haben, der ihm etwas bedeutete: Louisa Vogel.

Er und Louisa wollten heiraten, sobald er seine Existenz gesichert hatte. Jetzt, wo er seine Wanderjahre beendet und sein Gesellenstück abgeliefert hatte, konnten sie sich endlich verloben. Und sobald er seinen Wehrdienst abgeleistet hatte, würde er Louisa vor den Traualtar führen. So hatten sie es geplant.

Schon als Kinder waren sie unzertrennbar gewesen. Die Leute hatten sie nur ›den Adler und das Vöglein‹ genannt, wenn sie lärmend durch die Straßen und Wälder getollt waren.

Gustav Vogel, Louisas Vater, würde nicht zu Hause sein. Er arbeitete als Heizer in der Brauerei. Aber Louisa und ihre Mutter mussten da sein. Die Vogels bewohnten die linke Hälfte eines alten, feuchten Doppelhauses. Jacob hatte sich geschworen, dass es Louisa bei ihm einmal besser haben sollte. Er wollte ihr und ihren gemeinsamen Kindern ein warmes, gemütliches Haus bauen.

Er zog an der Klingelschnur, die zur Haushälfte der Vogels gehörte, bis über ihm das kleine, quadratische Fenster der Wohnstube aufgestoßen wurde.

Louisa?

Nein, es war ihre Mutter, die ihn genauso entsetzt betrachtete wie all die anderen zuvor.

Jacob grüßte höflich. »Ich möchte zu Louisa, Frau Vogel. Ist sie daheim?«

Die Frau im Fenster schüttelte ihren grauhaarigen Kopf. »Nein, Jacob.«

»Dann würde ich gern warten, bis sie heimkommt.«

»Louisa kommt nicht heim, Jacob. Heute nicht und auch morgen nicht.«

Als Louisas Mutter sah, wie Jacob mit offenem Mund zu ihr heraufstarrte, fügte sie hinzu: »Ich komme runter.« Dann verschwand ihr Gesicht, und das Fenster wurde geschlossen.

Die Minute, die bis zum Öffnen der Haustür verging, gefror für Jacob zur Ewigkeit. Gefror genauso wie sein Herz, als er krampfhaft überlegte, was mit Louisa sein mochte. Der Friedhof kam ihm in den Sinn, wo seine Mutter liegen sollte.

Auch Louisa?

Mein Gott, dachte er, was ist hier nur geschehen im letzten Jahr?

»Tritt ein, Jacob«, sagte Louisas Mutter, als sie endlich unten war. »Hier draußen spricht es sich schlecht.«

Er folgte ihr mit beklommenem Herzen hinauf in die Wohnstube, wo Handschuhe, die meisten noch ohne Finger, und Nähzeug auf dem Tisch lagen. Wie die Frau des Schusters Eckermann verdiente Louisas Mutter mit Näharbeiten ein dringend benötigtes Zubrot für die Familie.

Früher hatte Louisa ihr beim Zusammennähen der Handschuhe geholfen. Jetzt konnte Jacob keine Spur von ihr entdecken.

Er setzte sich auf Frau Vogels Geheiß, aber sie selbst schien zu aufgeregt zum Sitzen zu sein.

»Du weißt es also noch nicht?«, fragte sie, während ihre mit kleinen Stichwunden übersäten Hände sich gegenseitig kneteten.

»Was denn?«, fragte er mit zitternder Stimme. Das Eis in seinem Herzen schien bereits auf seine Stimmbänder überzugreifen. »Ist Louisa etwas zugestoßen?«

»Nein, so etwas ist es nicht. Nur – sie ist verheiratet, Jacob.«

»Verheiratet?« Seine Gedanken wirbelten durcheinander, dann schoss ihm eine Frage durch den Kopf: »Mit wem?«

»Mit Bertram Arning. Die Trauung fand vor einem Monat statt.«

Vor einem Monat! Um dreißig Tage war er zu spät gekommen. Das war lächerlich, geradezu grotesk. Als wollte das Schicksal ihn verspotten.

Und schon wieder dieser Name: Arning.

Bertram Arning war der einzige Sohn des Bierkönigs, so etwas wie der Kronprinz des florierenden Unternehmens. Jacob hatte ihn nie gemocht. Er war arrogant und gemein.

Als Kind war Jacob hinzugekommen, wie Bertram einen fast blinden Hund quälte, indem er wild heulend um ihn herumsprang und mit einem Stock auf das arme Tier einschlug. Jacob, der nichts so sehr hasste wie Ungerechtigkeit schwächeren Kreaturen gegenüber, hatte Bertram den Stock weggenommen und ihn, obwohl Bertram zwei Jahre älter war, damit verprügelt, als er gegen Jacobs Eingreifen aufbegehrte.

Das war der endgültige Bruch zwischen ihnen gewesen. Immer, wenn sie sich auf der Straße oder beim Kirchgang begegnet waren, hatten die Augen des jungen Arning Blitze auf Jacob abgeschossen, denen Bertram eine tödliche Wirkung zu wünschen schien.

Zuerst hatte Jacob es deshalb für bloßes Übelwollen ihm gegenüber gehalten, als Bertram Louisa den Hof zu machen begann. Aber der junge Arning verfolgte dieses Ziel mit solch einer Vehemenz, dass Jacob sich Sorgen zu machen begann.

Gustav Vogel, einer Ehe seiner Tochter mit dem ältesten Sohn des weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Zimmermanns Heinrich Adler bisher nicht abgeneigt, witterte plötzlich die nie gekannte Luft hochherrschaftlicher Landsitze und französischer Parfums. Eine Heirat zwischen Jacob und seiner Tochter sei keineswegs eine ausgemachte Sache, hatte er auf einmal gemeint, bis Louisa resolut geworden war und laut verkündet hatte, sie wolle Jacob oder gar keinen.

Aber was war jetzt geschehen?

»Warum?«, krächzte Jacob mühsam. Zu mehr fehlten ihm die Worte.

Louisas Mutter schlug die Augen nieder. »Ich bin wohl der Grund, weshalb Gustav Louisa gedrängt hat, Bertrams Werben nachzugeben. Ich war sehr krank auf der Brust, konnte kaum noch atmen. In Hamburg konnte man mich operieren, aber es kostete viel Geld.«

»Und Bertram Arning hat das mit dem Geld seines Vaters erledigt«, sagte Jacob härter als beabsichtigt.

Frau Vogel zuckte zurück und entgegnete leise: »Ja, Jacob, so war es wohl.«

»Und wie ist es hiermit?«, fragte er und schlug auf sein Herz. »Liebt Louisa ihren Mann?«

Die grauhaarige Frau sah ihn stumm an, um die Antwort verlegen. Da ging er. In diesem Haus hatte er nichts mehr verloren.

*

Jacob Adlers Schritte führten ihn nach Westen, wo das Gelände langsam anstieg und die Anzahl der Häuser abnahm. Weg vom Fluss und von der Stadt, die ihm so viel Unglück und Schmerz bereitgehalten hatte. Seine Heimkehr, die er sich in Gedanken immer und immer wieder wie einen kleinen Triumphzug vorgestellt hatte, war zu einem unendlichen Martyrium geworden.

In seiner fluchtartigen Hatz achtete Jacob kaum auf den Weg, sah nur das Gesicht der Frau vor sich, der sein Herz gehörte. In die Vorfahren der Vogels hatte sich italienisches Blut gemischt, als Louisas Urgroßvater, ein Wanderarbeiter, weit nach Süden kam und sich von dort eine Frau mitbrachte, nach der Louisa benannt war. Ihr fein geschnittenes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den vollen Lippen und den dunkel glühenden Augen, umrahmt von schwarzen Haaren, bestätigte das. Wie ihr feuriges Temperament, das zum Ausbruch kam, wenn etwas ihren Unmut erregte. Ihre Eltern betrachteten das mit Sorge, doch es war einer der Gründe, weshalb Jacob sie so sehr liebte.

Es war wohl kein Zufall, dass sein Weg vor einer breiten Zufahrt endete, einem von ebenmäßig gewachsenen Pappeln gesäumten Kiesweg, der zur Villa des Bierkönigs führte. Links und rechts der Zufahrt erstreckten sich gepflegte Wiesen mit großen Blumenbeeten, die ihre bunte Pracht entfalten würden, sobald der Frühlingssonne der endgültige Durchbruch gelang. Er kannte dieses eindrucksvolle Bild aus vergangenen Tagen.

Früher, als ihn oft der Sonntagsspaziergang mit seinen Eltern und Geschwistern an der Villa Arning vorbeiführte, hatten das große Haus und der wunderschöne Park seinem kindlichen Geist Anlass zu allerlei Fantasien über den Reichtum und der ihn genießenden Menschen geboten. Jetzt konnte er sich einfach nicht an die Vorstellung gewöhnen, dass Louisa ein Teil dieser fremdartigen Welt geworden war. Er musste sich mit eigenen Augen davon überzeugen!

Erst setzte er ganz vorsichtig einen Fuß vor den anderen und ging mit zögernden Schritten über den knirschenden Kies. Als sein Entschluss fester wurde, steigerte sich die Geschwindigkeit und die Länge seiner Schritte. Bald stand er vor der großen Eingangstür, die sich unter einem von griechisch anmutenden Säulen getragenen Vordach befand. Fest zog er an der Klingelschnur und hörte das melodische Läuten der Glocke im Haus.

Ihm öffnete der alte Johann, der schon immer im Dienst der Arnings gestanden zu haben schien. In Jacobs Vorstellung gehörte er zu der Villa wie die Pappeln und der Park.

»Der Herr wünscht?«, fragte er mit leiser Stimme, in der Skepsis über die Lauterkeit von Jacobs Ansinnen mitschwang.

Der Zimmermann trug nicht gerade einen Sonntagsstaat. Zudem war seine Kleidung von der langen Wanderschaft in Mitleidenschaft gezogen worden. Leute in seinem Aufzug benutzten hier vermutlich den Hintereingang.

Erst wollte Jacob nach einer gewählten Formulierung suchen. Aber der Druck, der auf seinem Herzen lastete, ließ ihm keine Zeit. So fragte er plump: »Ist Louisa da?«

Der fast kahle Diener mit den langen, weißen Koteletten zog seine ebenfalls weißen Brauen hoch. »Sprechen der Herr von der jungen Frau Arning?«

Jacob war von dieser Frage kurz irritiert, konnte es doch nur eine Frau Arning geben. Die Frau des Bierkönigs war bei Bertrams Geburt gestorben, und Conrad Arning hatte nicht wieder geheiratet. Vielleicht hatte er seinen Sohn so verzogen, weil er sein einziges Kind war.

»Wenn die junge Frau Arning früher Louisa Vogel hieß, spreche ich von ihr.«

»Ich weiß nicht, ob Madame heute empfängt.«

»Fragen Sie sie doch einfach. Sagen Sie ihr, Jacob Adler möchte sie sprechen.«

»Ich weiß gleichwohl nicht …«

»Fragen Sie sie!«, verlangte Jacob scharf.

»Jawohl. Einen Moment Geduld, der Herr.«

Johann schlug ihm die Tür vor der Nase zu, statt ihn zum Warten in die Halle zu bitten, wie er es bei einem Besucher von höherem Stand getan hätte. Aber er musste nur kurz warten, bis er von Johann hereingebeten und in einen Salon geführt wurde, dessen leicht überladene Ausstattung von der Farbe Blau beherrscht wurde, von den Möbelbezügen über den dicken Teppich bis hin zu den schweren Fenstervorhängen.

Doch das nahm Jacob nur am Rande wahr. Wie gebannt blieb er mitten in dem großen Zimmer stehen und starrte die junge Frau an, die in ihrem teuren Seidenkleid so aussah, als sei sie für diese Welt geboren. Zum ersten Mal wurde ihm richtig bewusst, dass er Louisa verloren hatte.

»Danke, Johann, Sie können gehen«, schickte Louisa den Diener weg und trat dann auf den Besucher zu.

Sie blieb zwei Schritte vor ihm stehen, als traue sie sich nicht, die letzte Distanz zu überwinden.

Für eine Weile standen sie sich stumm gegenüber, starrten sich an und schwiegen.

»Ich – ich wollte dich um eine Erklärung bitten«, brachte Jacob schließlich hervor, der das Gefühl hatte, in dem Schweigen zu erfrieren.

»Woher weißt du es?«

»Ich war bei deiner Mutter.«

»Hast du schon von deiner Familie erfahren?«

»Ja.«

»Auch von deiner Mutter?«

Jacob nickte.

»Es tut mir so leid für dich, Jacob.«

»Was?«

»Dass alles so gekommen ist für dich und für deine Familie.«

»Und für dich? Bist du glücklich hier?«

»Es geht mir gut. Bertram sorgt für mich.«

Jacob sah sich in dem prunkvollen Salon um. »Das sehe ich, Louisa.« Sein Ton wurde eine Spur schärfer, als er hinzufügte: »Und er sorgt auch für deine Familie.«

Die glutäugige Schönheit schüttelte so heftig ihren Kopf, dass ihre zu einer kunstvollen Frisur – die Jacob von früher, als Louisa ihr Haar offen getragen hatte, nicht kannte – aufgetürmte Lockenpracht hin und her flog. »Das stimmt nicht, Jacob. Sicher, Bertram hat meiner Mutter geholfen, als kein Geld für die Operation da war. Aber sonst sorgen meine Eltern für sich selbst. Vater würde es gar nicht anders wollen. Er arbeitet immer noch in der Brauerei.«

»Als Heizer?«

»Nein, als Vorarbeiter.«

»Ein sehr plötzlicher Aufstieg. Womit hat er ihn sich verdient?«

Tränen füllten die großen Augen der Frau, und sie sagte mit erstickter Stimme: »Du bist ungerecht, Jacob! Du warst nicht hier und weißt nicht, wie schlecht es uns ging. Was hätten wir denn tun sollen?«

Die Tür zum Salon wurde so heftig aufgestoßen, dass sie mit lautem Krachen gegen eine Kommode schlug.

»Was willst du hier, Adler?«

Bertram Arning stand in der Türöffnung, noch im Gehrock und mit dem Zylinder auf den Kopf, einen dünnen Stock in der Hand. Sein sonst eher bleiches Gesicht, das kaum einen Kontrast zu dem blonden Haar bot, war stark gerötet.

»Als ich hörte, dass du wieder in der Stadt bist, habe ich gleich den Ärger gerochen. Ich bin auf dem schnellsten Weg heimgekommen. Und siehe da, wen finde ich hier?« Er sah Jacob scharf an. »Ich frage dich noch einmal, was du hier willst!«

»Ich unterhalte mich mit meiner Verlobten«, sagte Jacob trotzig.

Der junge Arning öffnete die schmalen Lippen zu einem meckernden Lachen. »Ich habe mich wohl verhört. Da Louisa meine Frau ist, kann sie schlecht mit jemand anderem verlobt sein. Und soweit ich weiß, war sie es auch vorher nicht. Oder täusche ich mich da?«

Er warf seiner Frau einen inquisitorischen Blick zu, der sie zum Niederschlagen der Augen veranlasste.

»Offiziell waren wir nicht verlobt«, half Jacob ihr aus der Klemme. »Aber jeder wusste, dass wir heiraten wollten!«

Arning zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon. Du bist zu spät gekommen, Adler. Viel Glück beim nächsten Mal!«

Das Zucken von Arnings gebogener Nase verriet die heimliche Freude, die er darüber empfand, seinen Konkurrenten bei Louisa ausgestochen zu haben. Jacob beschlich einmal mehr das Gefühl, dass es dem Fabrikantensohn nicht um Louisa ging, sondern nur um den Sieg. Das und Arnings Schadenfreude brachten ihn so sehr in Rage, dass er mit geballten Fäusten auf den anderen zuging.

Arning erbleichte, wich einen Schritt zurück und hob ängstlich seinen Stock. Das störte Jacob nicht. Schon einmal hatte er ihm einen Stock entwunden und damit verprügelt. Das konnte Arning gern noch einmal haben.

»Nicht, Jacob!«, hielt Louisas flehende Stimme ihn zurück. »Tu es nicht! Wozu soll es denn gut sein?«

Schon die rechte Faust zum Schlag erhoben, hielt der junge Zimmermann inne. Nicht nur, um Louisa vor Schaden zu bewahren, sondern auch, weil sie recht hatte mit ihrer Frage. Er konnte nichts mehr ändern. Wie hatte Bertram Arning doch so richtig bemerkt: Jacob war zu spät gekommen.

*

Jacob zwängte sich an Arning vorbei aus dem Salon und verließ das Haus, ohne darauf zu warten, dass Johann herbeigeschlurft kam, um ihm die Tür zu öffnen. Als er wieder am Ende des Kieswegs angelangt war, schaute er zurück auf die weiße Villa und schwor sich, dieses Haus nie mehr in seinem Leben zu betreten.

Aber Louisa ging ihm nicht aus dem Kopf, als er den schmalen Weg zum Friedhof hinaufstieg, der kürzer war als die gewundene Friedhofsstraße. In dem teuren Kleid erweckte sie den Eindruck der perfekten Unternehmersgattin.

Aber die Frau dieses Bertram Arning? Er konnte es sich einfach nicht vorstellen, so sehr er Louisa auch wünschte, sie möge glücklich werden.

Es schmerzte zwar, aber er fühlte sich nicht verraten. Er war in der Fremde gewesen, als Louisa ihn gebraucht hatte. Selbst wenn er daheim gewesen wäre, hätte er kaum die Mittel besessen, ihrer Mutter zu helfen. Nicht nach der plötzlichen Verarmung seines Vaters.

Als er den auf einem Hügel gelegenen, von mächtigen Eichen und Buchen überschatteten Friedhof mit der kleinen Kapelle im Mittelpunkt erreichte, kam ihm am Hauptportal eine alte Frau entgegen, die er nur vom Sehen kannte. Auch sie schien von seinem Auftauchen unangenehm berührt, erwiderte seinen Gruß nur mit einem knappen Nicken, machte einen Bogen um ihn und machte sich auf der gewundenen Straße davon.

Jacob sah ihr nach, während sich in ihm immer mehr das Gefühl verdichtete, dass dies nicht mehr die Stadt war, die er gekannt hatte. Die Heimat, auf die er sich noch vor wenigen Stunden unbändig gefreut hatte, gab es nicht mehr.

Er ging über den Friedhof zu jener Ecke, in der die Gräber der Adlers lagen. Ganze Generationen. Das Grab seiner Mutter fand er sofort. Statt eines großen Grabsteins erhob sich über ihm nur ein schlichtes Holzkreuz, wenn es in seiner Schlichtheit auch schön war. Jacob sah sofort, dass es die saubere, fehlerlose Arbeit seines Vaters war. Die ins Holz geritzte Aufschrift war knapp:

Hier ruht meine geliebte Frau

und unsere treu sorgende Mutter

Sophie Wilhelmine Adler, geb. Berger.

Geb. am 5.10.1820, gest. am 23.1.1863.

Möge der Herr ihr gutes Herz vergelten!

Jacob erkannte die Handschrift seines Vaters und fragte sich, weshalb seine Mutter die Einzige aus der Familie ohne ordentlichen Grabstein war. War das Geld so knapp gewesen? Oder die Zeit? Oder beides?

Ihr Sterbedatum traf ihn tief. Wäre er nicht so eitel gewesen und hätte unbedingt sein Gesellenstück vollenden wollen, bevor er heimkehrte, hätte er seine Mutter noch lebend angetroffen. Vielleicht hätte er seinen Eltern irgendwie helfen und den Tod seiner Mutter verhindern können!

Er merkte gar nicht, wie die Zeit verging, während er vor dem schlichten Holzkreuz stand und sich mit Selbstvorwürfen überhäufte. Die Sonne, die nur ab und zu hinter den dicken, grauweißen Wolken hervorgelugt hatte, berührte bereits den Horizont im Westen und ließ die Bäume und Statuen auf dem Friedhof lange Schatten werfen, die über den einsamen Mann fielen.

Jacob wusste nicht, wie lange er so dagestanden hatte, als er die Hand auf seiner Schulter spürte. Eine schmale Hand in einem schwarzen Lederhandschuh. Er drehte sich um und blickte in die dunklen Augen von Louisa.

Sie trug ein schwarzes Kostüm und einen farblich dazu passenden Hut mit Schleier, der zurückgeschlagen war. Kein Zweifel, das Mädchen aus Jacobs Kindheit und Jugend war jetzt ganz und gar eine Dame.

»Bist du schon lange hier?«, fragte er.

»Erst ein paar Minuten.«

Jetzt erinnerte er sich, vorhin das Rattern eines Wagens und Pferdeschnauben gehört zu haben. Aber er war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, um darüber nachzudenken.

Er ließ seinen Blick über den Friedhof schweifen und entdeckte an der Straße vor dem Hauptportal einen offenen Zweispänner, auf dessen Bock ein livrierter Kutscher saß. Nach kurzem Überlegen fiel ihm sogar der Name des Mannes ein: Ernst.

»Es tut mir leid, wenn du meinetwegen Ärger hattest«, sagte Jacob. »Ich hätte nicht in euer Haus kommen dürfen. Aber es war so viel, was heute auf mich eingestürzt ist.«

Ihre Hand, die zuvor auf seiner Schulter gelegen hatte, streifte sein Gesicht und fuhr dann ruckartig zurück. Als hätte Louisa ihn trösten wollen und sei sich noch im letzten Moment der Grenze bewusst geworden, die das eheliche Band ihr zog.

»Ich möchte dir so gern helfen, Jacob. Brauchst du etwas?«

Seine Züge verhärteten sich. »Wenn du das Geld deines Schwiegervaters meinst, darauf kann ich verzichten. Die Adlers kommen aus eigener Kraft durch!«

Er sah, dass er sie verletzt hatte, auch wenn Louisa sich zusammennahm.

»Das habe ich nicht gemeint, Jacob.«

»Ich weiß. Verzeih mir. Vielleicht kannst du mir tatsächlich helfen. Es gibt noch so viele Fragen, auf die ich eine Antwort suche.«

»Frag nur!«

»Wann hat meine Familie Elbstedt verlassen?«

Louisa blickte auf das Grab. »Kurz nach der Beerdigung. Vielleicht eine Woche nach dem Tod deiner Mutter.«

»Stimmt es, dass Vater und die Geschwister nach Hamburg sind, um von dort aus nach Amerika zu fahren?«

»Das hatten sie vor. Das Geld, das deinem Vater blieb, reichte wohl gerade noch für die Reise.« Sie kramte in der Tasche, die über ihren linken Arm hing, und brachte ein zerfleddertes Stück Papier hervor, das mehr gelb-schwarz als weiß war. »Leider ist hiervon nicht viel übrig geblieben.«

Zögernd nahm Jacob das Papier entgegen. »Was ist das?«

»Ein Brief, den dein Vater an dich geschrieben und bei meinem Vater hinterlegt hat. Ich fand ihn eines Morgens in der Asche.«

»Im Haus deines Vaters?«

»Nein, in der Villa.«

»Dann hat dein Vater den Brief an die Arnings weitergegeben.«

»Ja«, bestätigte Louisa leise und schluckte schwer; das Verhalten ihres Vaters war ihr unangenehm.

Lediglich der Anfang des Briefes war von den Flammen verschont geblieben:

Lieber Sohn!

Ich weiß nicht, wann du dorthin kommst, wo einst dein Zuhause war. Deine Geschwister und ich sind dann nicht mehr hier. Morgen reisen wir ab nach Hamburg. Dort wollen wir eine Passage nach Amerika buchen. Vielleicht gelingt es uns, bei …

Hier brach die Botschaft seines Vaters ab.

»Amerika«, flüsterte Jacob und richtete seinen Blick in die unendliche Ferne.

»Was wirst du tun?«, fragte Louisa.

»Meine Familie suchen. Sie ist alles, was ich noch habe.«

»Aber wo? Amerika soll so groß sein, dass man wochenlang wandern, sogar reiten kann, ohne einem Menschen zu begegnen.«

»Dieser letzte Satz von Vater, der dann abbricht. Vielleicht hat er geschrieben, dass sie versuchen wollten, bei Onkel Nathan unterzukommen.«

»Das ist ein Bruder deiner Mutter, oder?«

»Ja, er lebt schon seit vielen Jahren in Texas und besitzt dort viel Land. Vater sprach oft davon, auch dorthin zu gehen, wenn es ihm hier mal wieder zu klein wurde.«

»Und zu ihm willst du?«

»Es wäre eine Spur.«

Jacobs Gedanken wanderten zu dem legendären Onkel Nathan, den er nicht persönlich kannte. Aber immer, wenn ein Brief von ihm eintraf, was ungefähr alle zwei Jahre der Fall gewesen war, hatte das große, geheimnisvolle Land jenseits des Atlantiks für Wochen die Familiengespräche beherrscht.

Jacobs Vater schwärmte von den vielfältigen Möglichkeiten, die Amerika einfachen Leuten bot. Gerade einem Zimmermann, wie er stets betonte. Denn was brauchten die vielen Menschen, die ins Gelobte Land strömten, dringender als Häuser?

Jacobs Mutter holte ihren Mann dann auf den Boden der Tatsachen zurück, indem sie ihn daran erinnerte, dass ihr älterer Bruder es nur mit sehr viel Glück geschafft hatte, so reich zu werden und überhaupt zu überleben.

Nathan Berger war Mitte der vierziger Jahre über den Großen Teich gesegelt, als einer von vielen Tausenden, die sich dem ›Verein zum Schutz deutscher Auswanderer in Texas‹, wegen seiner blaublütigen Gründer und Köpfe im Volksmund ›Mainzer Adelsverein‹ genannt, anvertraut hatte. Das ehrgeizige Unternehmen, in dem erst seit wenigen Jahren von Mexiko unabhängigen Texas eine deutsche Kolonie zu gründen, scheiterte an der Unfähigkeit der adligen Vereinsvorsteher, die bei ihren Landkäufen auf windige Spekulanten hereinfielen und gleichwohl immer neue Schiffe mit immer mehr Leuten übers Meer schickten. Ohne Land und finanzielle Unterstützung, vom Adelsverein im Stich gelassen, starben viele der hoffnungsvollen Auswanderer in ihrer neuen Heimat einen qualvollen Tod. Andere schlugen sich auf eigene Faust mehr schlecht als recht durch.

Nathan Berger aber war innerhalb weniger Jahre als Besitzer einer großen Plantage ein gemachter Mann geworden. Wenn seine Verwandten in Deutschland auch nicht wussten, wie er es zu diesem Reichtum gebracht hatte; darüber schwiegen sich seine Briefe aus, die lieber die Schönheit des Landes und des Lebens auf der Plantage beschrieben.

»Was machst du, wenn die Spur ins Nichts führt?«, fragte Louisa.

»Weitersuchen.«

»Es tut mir leid, Jacob, das mit dem Brief.«

»Hat Bertram ihn vernichtet?«

»Ja.«

»Warum? Weil er mich hasst?«

»Möglich. Manchmal tut er solche Dinge.« Ihr Blick wurde noch trauriger. »Da ist noch etwas, was ich dir sagen muss. Aber versprich mir, dass du nicht in unser Haus kommst, um einen Aufstand zu machen.«

Er versprach es, wollte er die Villa Arning doch sowieso nie wieder betreten.

»Es geht um die Langholzer Kirche. Du hast von dem Einsturz gehört?«

»Ja.«

»Vor einigen Tagen war ein Mann aus Langholz in der Villa. Ich kenne seinen Namen nicht, aber sein Gesicht. Er war mit seinen Freunden öfter an Markttagen in Elbstedt. Ich habe sie als üble, zu jedem Streit und jeder Rauferei aufgelegte Kerle in Erinnerung. Es kam mir seltsam von, dass er eine Unterredung mit Bertram hatte. Normalerweise verkehrt Bertram nicht mit solchen Leuten. Ich war neugierig und horchte an der Tür. Ihr Gespräch hatte etwas mit der Kirche zu tun, das konnte ich hören. Dann verlangte der Mann Geld von Bertram. Bertram weigerte sich und sagte, der Langholzer habe schon genug Geld bekommen. Erst als Bertram sehr laut wurde, gab der andere nach und zog unverrichteter Dinge wieder ab. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«

Jacob überlegte, wofür der Langholzer das Geld bekommen haben konnte. Für eine falsche Aussage? Oder für mehr?

»Bertram ist kein aufrichtiger Mensch«, sagte er. »Warum bleibst du bei ihm?«

»Wir sind verheiratet.«

Er sah ihr lange in die Augen. »Und die vielen Jahre, die wir uns kennen, Louisa. Zählen die nicht? Haben wir uns nicht geschworen, für immer zusammenzubleiben? Bedeutet dir das nichts?«

Sie schluckte und kämpfte die Tränen nieder, die in ihre Augen stiegen. »Wir können nichts mehr ändern, Jacob. Ich – ich trage Bertrams Kind in mir.«

»Bertrams Kind«, wiederholte er langsam und schwieg dann lange. »Seit wann weißt du das?«

»Sicher bin ich mir erst seit gestern.« Sie sah zu der Kutsche hinüber, wo Ernst nervös auf dem Bock hin und her rutschte und immer wieder zu ihnen herübersah. »Ich muss jetzt gehen, Jacob. Bertram braucht nicht zu wissen, dass wir uns hier getroffen haben.«

Ihre Hände umfassten seine. »Lebe wohl, und alles Gute!«

Er wollte etwas erwidern, aber in seiner Kehle saß ein dicker Kloß.

Stumm sah er Louisa nach, die zur Kutsche ging und sich von Ernst hineinhelfen ließ. Der Kutscher kletterte zurück auf den Bock, warf einen letzten Blick zu Jacob herüber, löste die Bremse und wendete das Gefährt auf dem kleinen Platz vor der Kapelle.

»Lebe wohl, Louisa, und alles Gute«, sagte Jacob leise, während die Kutsche davonfuhr.

Kapitel 2
Schüsse im Abendlicht

Jacob hatte Meister Eckermanns Angebot, in der kleinen Kammer neben der Werkstatt zu nächtigen, angenommen. Er war noch nicht fertig in Elbstedt, auch wenn es hier nichts mehr gab, was ihn an die Stadt band.

Nach dem Frühstück aus Kaffee, Zwieback und Marmelade trat er hinaus auf die Straße. In der Luft lag der widerlich-süßliche Geruch, den die Brauerei verströmte und der Jacobs ganze Jugend begleitet hatte, seit der Bierkönig seine Fabrik auf dem großen Grundstück am Fluss errichtet hatte. Früher war ihm das nie aufgefallen, weil er daran gewöhnt gewesen war. Aber seit seiner Wanderschaft war es ihm unangenehm.

Schon seit vielen Jahren wollte Conrad Arning das angrenzende Grundstück der Adlers besitzen, um sich zu vergrößern. Er hatte Jacobs Vater mehrere Angebote gemacht, jedes besser als das vorhergehende. Aber Heinrich Adler war ein stolzer Mann, der sich nicht kaufen ließ. Er wollte das Haus nicht verkaufen, das er selbst gebaut hatte und in dem seine Kinder geboren waren, und damit basta!

Jetzt besaß der Bierkönig das Grundstück doch. Jacob fragte sich, ob er es mit redlichen Mitteln erworben hatte. Wenn das Gespräch, das Louisa belauscht hatte, das bedeutete, was Jacob vermutete, hatte zumindest Bertram Arning eine Menge Dreck am Stecken. Ob der alte Arning das wusste?

Pech nur, dass Jacob nichts beweisen konnte. Möglicherweise konnte er in der Brauerei etwas in Erfahrung bringen. Wenn schon nicht über den ominösen Mann aus Langholz, dann vielleicht über den Verbleib seiner Familie. Gustav Vogel hatte den Brief seines Vaters vielleicht nicht nur veruntreut, sondern auch gelesen. Dann konnte er Jacob Auskunft geben über Heinrich Adlers Pläne.

Jacob schien Glück zu haben. Kaum war er auf die Straße getreten, sah er Louisas Vater auch schon. Er wollte rufen, aber Gustav Vogel verschwand mit schnellen Schritten im Lagerhaus. Jacob folgte ihm und betrat das große, düstere Gebäude, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen.

Hier drinnen, wo Unmengen von Bierfässern für den Abtransport gestapelt waren, war der durchdringende Geruch fast unerträglich. Er fand Gustav Vogel in einer Ecke, wo er ein paar Männern Anweisungen gab, die mit einem Flaschenzug Fässer auf einen großen Wagen luden.

»Herr Vogel, kann ich Sie sprechen?«, fragte Jacob.

Als der untersetzte Mann mit der stets roten Knollennase sich zu ihm umdrehte, war Jacob bereits auf den abweisenden Gesichtsausdruck vorbereitet; zu oft hatte er ihn seit seiner Ankunft in Elbstedt gesehen.

»Jacob!«, stieß Louisas Vater überrascht hervor. »Was suchst du hier?«

»Sie. Mein Vater hat Ihnen etwas gegeben, das für mich bestimmt war.«

Die dicke Nase behielt ihre rote Farbe. Aber um sie herum wurde das stoppelbärtige Gesicht so weiß wie ein Leichentuch.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, stammelte Vogel.

»Von dem Brief, den mein Vater bei Ihnen für mich hinterlegt hat, weil er Sie für seinen Freund hielt. Wo ist der Brief?«

»Ich weiß nichts von einem Brief.«

»Warum nicht? Weil Sie ihn an die Arnings weitergegeben haben?«

Vogel wich zurück, bis er mit dem Rücken gegen den Frachtwagen stieß. »Wer erzählt dir so was, Jacob?« Plötzlich huschte ein Schatten der Erkenntnis über das weiße Gesicht. »Louisa!«

»Woher ich das weiß, ist doch gleichgültig. Wenn Sie den Brief nicht mehr haben, sagen Sie mir wenigstens, was drinstand! Wohin wollte mein Vater sich in Amerika wenden?«

»Ich kenne seine Pläne nicht. Ich habe den Brief nicht gelesen!«

»Also gibt es diesen Brief?«, fragte Jacob scharf und nagelte Vogel mit seinen Blicken an dem Frachtwagen fest.

»Worum handelt es sich?«, fragte eine Stimme in Jacobs Rücken, die einen ebenso scharfen Ton anschlug wie er.

Dort stand Bertram Arning, flankiert von zwei wuchtigen Gestalten, beide mit Armen so dick wie Elefantenbeine. Jacob erkannte sofort, dass sie den jungen Arning nicht zufällig begleiteten. Der Sohn des Bierkönigs hatte seine Leibgarde mitgebracht.

»Eine private Angelegenheit zwischen Gustav Vogel und mir«, sagte Jacob.

Arning schüttelte den Kopf. »Nichts, was in diesem Lagerhaus geschieht, ist privat. Du scheinst dich nicht aus meinen Angelegenheiten heraushalten zu können, Adler. Was willst du von meinem Schwiegervater? Ihm etwa beichten, dass du ein Verhältnis mit seiner Tochter, meiner Frau, hast?«

»Das ist eine Lüge!«, rief Jacob.

»Wieso habt ihr euch dann gestern heimlich auf dem Friedhof getroffen?«

Wie hatte Arning das erfahren? Es gab nur eine Antwort: Ernst, der Kutscher, hatte geplaudert.

»Wir haben uns zufällig am Grab meiner Mutter getroffen. Der Kutscher kann bestätigen, dass nichts zwischen uns vorgefallen ist. Er hat uns die ganze Zeit über im Auge gehabt.«

»Aber was nicht ist, kann noch werden, wie?«, fragte Arning mit einem lauernden Unterton und sah dann seinen Schwiegervater und die Arbeiter an: »Lasst uns allein! Wir müssen mit dem jungen Mann hier mal ein ernstes Wort reden!«