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Mein Antrag ist bewilligt worden, ich bin unterwegs zum Kurheim.

Letzte Nacht habe ich davon geträumt, dass wieder keine mit mir redet, aber ich beruhige mich mit dem Gedanken, dass bestimmt alle, die neu ankommen, nervös sind – Mädchen auf dem Weg ins Ferienlager, wo sie niemanden kennen, keine Freundin als Bastion dabeihaben, rasch jemanden finden müssen.

Allerdings haben sich »Elfenwinter« und »Barbarella08« schon im Netz verabredet, das habe ich heimlich mitverfolgt. Sie wollen sich in Norddeich Mole am Bahnhof treffen, weil sie beide aus Richtung Düsseldorf kommen.

Es kann mir egal sein.

Ich muss mit niemandem reden.

Ich kann auch mein arrogantes Gesicht aufsetzen und so tun, als sei ich unentwegt in Gedanken.

Ich kann drei Wochen lang alleine spazieren gehen, alleine am Tisch essen, alleine meine Bahnen schwimmen, Muschelketten basteln, Diätpläne einhalten. Mich auf das konzentrieren, weswegen ich aufgebrochen bin: Erholung. Entspannung. Rekreation.

Obwohl laut Anwendungskatalog auch der Austausch mit anderen Müttern, die sich in einer ähnlichen Lage befinden wie man selbst, zur Gesundung beitragen soll.

»Du bist nicht alleine«, »anderen geht es genau wie dir«, »es sind die Umstände, die dich ins Aus katapultiert haben, nicht deine Schwäche« – all so was.

Das Schiff, das zur Insel übersetzt, ist groß.

Eine Menge Leute drängen vom Bahnhof zum Fährhafen; ich muss nicht herausfinden, wer von ihnen Barbarella und Elfenwinter sind, wer sonst noch zu den kranken Mitmüttern gehört.

Kann ich ja auch gar nicht.

Die Frau mit dem Pferdeschwanz und der neuen Jack-Wolfskin-Jacke, die vor mir die eiserne Treppe zum Sonnendeck hinaufgeht, hat vielleicht Mann und Kinder vorausreisen lassen in ihr gemütliches Ferienhaus mit Reetdach und Spielesammlung, oder sie ist die Besitzerin eines Andenkenladens an der Promenade.

Ich werd’s noch früh genug erfahren.

Vielleicht die dicke Frau mit dem Kurzhaarschnitt?

Ich zwinge mich, statt auf die Passagiere aufs Meer hinauszusehen.

Kahle Bäume stecken als Leitsystem im Wasser, Möwen kreisen über der Kommandobrücke, große Möwen mit gelben Schnäbeln, nicht solche wie zu Hause am Alexanderplatz. Der Himmel ist allerdings der Gleiche, nur leer. Emailleschimmernd, blankgefegt.

Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr an der Nordsee.

Einfach spazieren gehen, haben alle gesagt. Spazierengehen am Strand, schon dafür lohne es sich. Für den Wind, das Wasser, die Aussicht –

Es riecht nach Dieselabgasen, die Frisia II macht sich zum Ablegen bereit. Ein Signal ertönt, der eiserne Boden fängt an zu vibrieren.

Ich habe Angst vorm Spazierengehen, und vor der Nordsee habe ich auch Angst. Vor allem Schönen, das mich daran erinnert, dass ich früher im Leben sehr viel mehr dafür übrig hatte: Augen, Ohren, Geruchssinn. Aufregung, Neugier und Lust.

Eine aus Barbarellas und Elfenwinters Forum, die im Frühjahr hier war, hat durchgegeben, welche Kissengröße uns in den Betten der Klinik erwartet. Für den Fall, dass man eigene Bezüge mitbringen wolle, wozu sie ihrerseits sehr dringend rate –

Ich hätte nicht dranbleiben dürfen, aber ich konnte nicht anders. Deshalb brauche ich ja diese Kur: um mir abzugewöhnen, mich mit allem und jedem zu identifizieren, noch die letzten Kommentare zu lesen, immer bis zum Ende beim Plenum zu bleiben. Es muss mir egal werden, was Barbarella und die Kopfkissenfrau und weiß der Kuckuck wer tun und denken und empfehlen. Jeder nach seiner Façon, sodass auch ich meine Fassung wiederfinde.

Sich nicht mehr zu identifizieren bedeutet dann auch, Unterschiede zu akzeptieren. Vielleicht ist Barbarella dankbar für die Tipps der Kopfkissenfrau, das muss aber nicht heißen, dass ich es ebenfalls sein muss. Mir sind Kopfkissengrößen egal, niemals will ich so werden, dass ich neben der Einsamkeit und zu viel Schönem auch noch Angst vor falschen Kopfkissengrößen und fremden Kissenbezügen habe. Ich bin anders.

Und dennoch kann Barbarella absolut in Ordnung sein, vielleicht sogar richtig nett, und wir können zusammen einen Tee trinken, eine Ostfriesenmischung im Lütje Teehuus, nach dem Strandspaziergang am zweiten Tag.

»Wie schön«, sagt Barbarella mit Blick auf die Strohblumengestecke, »wie gemütlich«, und ich willige nicht ein, ich widerspreche auch nicht, ich nehme es hin als Ausdruck ihrer Persönlichkeit, nicht meiner.

Ich komme schon wieder durcheinander.

Ich kenne Barbarella nicht.

Oder doch?

Die Acht hinter ihrem Namen bedeutet nach meiner Auslegung, dass es im Forum zu dem Zeitpunkt, als sie dazustieß, bereits acht Barbarellas gab – ein Original und sieben weitere mit den Ordnungsnummern eins bis sieben –, aber das muss natürlich nicht so sein.

Vielleicht hat Barbarella die Acht freiwillig gewählt, einfach nur so, aus Aberglauben oder zur weiteren Verschlüsselung ihres Tarnnamens. Vielleicht ordnet Barbarella sich nicht anderen Barbarellas nach, sondern ordnet sich selbst, unterteilt ihr Ich in diverse Unter-Ichs, ist nur beim Kopfkissendiskutieren Barbarella08 und in sieben weiteren Foren Barbarella01 bis 07. Und zwar in Foren, in denen es um die Lösung des Nahostkonflikts oder die Auslegung von Paul-Celan-Gedichten geht.

Hätte ich nur den Laptop nicht aufgeklappt.

Es gelingt mir nie, mich abzugrenzen, ich muss jede noch so bekloppte Äußerung lesen und bedenken, so wie ich auch nicht durchs Treppenhaus meines Wohnprojektes gehen kann, ohne mir unentwegt vorzustellen, was hinter den Türen passiert.

Anderen geht es nicht so.

»Das ist doch nur dummes Getippe«, sagt Hendrik, und: »Nimm doch einfach den Fahrstuhl.«

Ich versuche, es ihm ab sofort gleichzutun.

Während die Frisia II Norderney passiert, rede ich mir ein, dass ich nicht unbedingt erfahren muss, wer Barbarella in der realen Welt überhaupt ist. Aus Richtung Düsseldorf kommen sicher viele, und wenn sich bei der Begrüßung in der Klinik herausstellt, dass zwei sich bereits zusammengetan haben und nebeneinanderliegende Zimmer verlangen, müssen das nicht zwangsläufig Barbarella und Elfenwinter sein. Man kann sich auch im Zug oder auf dem Schiff kennengelernt haben, wenn man offen ist und sich auf den Aufenthalt freut.

Ich könnte auch selbst vorab jemanden kennenlernen. Die Frau mit dem Kurzhaarschnitt, zum Beispiel.

Vorsichtig sehe ich mich um.

Da sitzt sie. Hält ihre Handtasche auf den Knien; ihre Haare werden vom Wind so stark zur Seite gepustet, dass der ungefärbte Ansatz freiliegt. Ihre Ohren sind rot und fleischig.

Sie sieht ihrerseits hinüber zu zwei weiteren Frauen, die an der Reling lehnen und sich unterhalten, eifrig nicken, konspirativ ihre Sonnenbrillen vergleichen.

Oh, verdammt.

Jetzt weiß ich, wer die dicke Frau mit dem Kurzhaarschnitt ist. Sie heißt »MamiMa« und hat schon in der virtuellen Welt keinen Fuß auf den Boden bekommen, geschweige denn eine Reaktion von Barbarella und Elfenwinter. Sie kommt aus Richtung Magdeburg, hat achtjährige Zwillinge und einen Frührentner zum Mann – und keine wollte sich vorab mit ihr treffen.

Es dauert ewig, bis die Frisia II die richtige Position zum Anlegen gefunden hat.

Vor den Ausgängen ballen sich die Passagiere; Kleinkinder wollen nicht in ihren Buggys sitzen bleiben, große Kinder wollen nicht aufhören, sich um die Haltestangen zu drehen. Den Erwachsenen tun die Füße weh, es ist stickig, aber sich noch mal hinzusetzen oder an die Luft hinauszugehen könnte gefährlich werden, denn dann drängeln sich andere beim Aussteigen vor.

Der Kapitän verabschiedet sich über die Sprechanlage, das Schiff rangiert und rumst gegen die Befestigung.

Endlich öffnen sich die Türen.

Ich lasse mich von der Menge mit nach draußen schieben. Es gibt eine echte Gangway, gesäumt von Menschen mit lachenden, rufenden Gesichtern, von Gepäckträgern mit Schirmmützen, auf denen die Namen von Pensionen stehen.

Ich straffe mein Gesicht, versuche, zu lächeln und ein Schild mit dem Namen der Klinik zu entdecken – ja, richtig, da ist es, in den Händen einer Frau mit Pagenkopf und türkisgrüner Hose. Türkis ist die Farbe der Gesundheit, der Schwimmbeckenfliesen und Hautcremeverpackungen, ich bin richtig, zu ihr muss ich hin.

»Hilke Albrecht«, sagt sie, »Verwaltung und Organisation.«

Sie macht einen Haken auf der Liste; insgesamt zehn Mütter sollen heute mit der Frisia II kommen, vier seien schon seit gestern da. Sie hat eine angenehme Stimme mit norddeutschem Akzent. Ich nicke und lächle, lächle auch in die Runde – Barbarella, Elfenwinter, MamiMa und noch sechs weitere –, ich lächle mir selbst Mut zu, denke, dass ich das durchziehen werde, dass ich das durchziehen kann. Es gibt eine Menge vergleichbarer Situationen, die ich in meinem Leben schon gemeistert habe: Ferienlager, Einschulung, Studienbeginn und so fort.

Wiebke hat mir geraten, ich solle einfach abwarten, nach ein paar Tagen würden sich die, die zusammenpassten, schon finden.

»Sollen wir jetzt unser Gepäck holen?«, fragt eine hagere, braungebrannte Mutter mit Schirmmütze.

»Ja, klar«, sagt Hilke und geht uns allen voran.

Sie hat ein Taxi reserviert, ein Pferdetaxi.

Juist sei eine autofreie Insel, nur der Arzt und die Feuerwehr seien motorisiert, alles andere werde mit Pferdefuhrwerken, Fahrrädern oder Handkarren befördert.

Ein paar der Mitmütter sind ehemalige Pferdemädchen; sie streicheln Nüstern, tätscheln Flanken – beiläufig, fachkundig – ja, sicher, sie haben’s gut. Wenn es ihnen nicht gelingt, bis Ende der Woche eine Freundin zu finden, können sie immer noch Trost bei den Transportgäulen bekommen oder sich ein Reitpferd mieten, auf dessen Rücken sie dann den Strand entlangjagen, ganz nach vorne bis zur Inselspitze, wo ihnen die Gischt ins Gesicht spritzt und sie sich am kräftigen Hals ihres vierbeinigen Gefährten festhalten können.

Derlei fällt für mich leider aus. Ich habe Angst vor Pferden und keine Ahnung, wie man reitet.

Ein Strickzeug könnte ich mir zur Not noch besorgen, mit einem komplizierten Muster, dessen Rapport meine Gedanken beruhigt. Mit flauschiger Wolle, die meinen Händen schmeichelt.

Der Kutscher lädt unsere Koffer in den Anhänger. Wir steigen ein, sitzen uns dann auf zwei Bänken an den Längsseiten des Planwagens gegenüber.

Zur Klinik seien es nur zehn Minuten, meint Hilke, sie habe aber einen Umweg durch den Ort für uns gebucht, einmal die wichtigsten Wege, schön bequem, und fürs Taxi bezahle man ohnehin einen Festpreis.

Ich umklammere meine Handtasche, so wie vorhin MamiMa ihre auf dem Schiff.

Die Straßen sind mit roten Backsteinen gepflastert; es geht holpernd und im Schritttempo am Kurplatz vorbei, hinauf zur Promenade. Rechts liegt das Meerwasserhallenbad, links das erst kürzlich renovierte Kurhaus – einer Festung gleicht es mit seiner Panzerglaskuppel und den dreifach isolierten Fenstern. Teuer wird es sein, hier zu essen oder zu wohnen, weshalb auch eine leuchtend rote CityClean-Matte im Eingang liegt und einem das Gefühl gibt, man werde geehrt.

Ein paar der Mitmütter stellen Fragen, fangen an zu plaudern, machen sogar Fotos unter der Plane hervor.

Ich sollte vielleicht auch mal kurz was sagen, meine Stimme ­hören lassen.

Irgendwas Harmloses: »Riecht es hier nicht gut?«; und dann ­lachen die anderen und deuten auf den Pferdemist.

Doch ich kann nicht. Beim besten Willen nicht, nein.

Ich bin stumm.

Der rote Teppich hält meine Aufmerksamkeit gefangen, auch als wir schon längst am Kurhaus vorbei sind. Die Backsteine am Boden sind so etwas wie seine Fortsetzung; einem roten Band gleich führt die Straße den Deich entlang zur Klinik.

Ein kalter Wind ist aufgekommen und veranlasst meine Mitfahrerinnen, die Reißverschlüsse ihrer Jacken hochzuziehen, die Kapuzen aufzusetzen. Ich selbst mag mich nicht mehr rühren, bin endgültig erstarrt.

»Das ist der Wind, der vom offenen Meer her bläst«, erläutert Hilke. Das sei ein anderer als der, den wir von der Überfahrt schon kennen würden. Gesund sei dieser Wind, Teil des Reizklimas, das schon bald unsere Lebensgeister wecken werde. Demnächst würden wir hier statt zu frieren in zehn Grad kaltem Meereswasser baden, und zwar freiwillig!, ja, da gehe sie jede Wette ein.

Die Mitmütter lachen zufrieden.

Der Wagen hält vor einem mehrstöckigen Haus, das genau wie die Straße aus Ziegeln gebaut und kaum zu unterscheiden ist von den Häusern daneben. Die Klinik scheint sich zu tarnen – aus Bescheidenheit, Sparzwängen oder vielleicht zu unserer Sicherheit?

Hendrik hat gesagt, wenn Isa Tom tatsächlich verließe, wäre sie vielleicht in einem Frauenhaus besser aufgehoben als bei uns im Wohnprojekt. Weil Tom sich das bestimmt nicht ohne Weiteres gefallen lassen würde. So wie er an seiner Ex-Frau und der gemeinsamen Eigentumswohnung festhalte, würde er wohl auch an Isa festhalten, und weil die nichts besäße, eben an ihr selbst.

Hilke bittet uns, noch einen Augenblick sitzen zu bleiben.

Ich sehe die Straße hinunter, auf der nur vereinzelte Fußgänger unterwegs sind und ab und an ein Fahrrad. Was soll uns denn passieren, wenn wir schon mal aussteigen?

Die Pferde schnauben.

Der Kutscher brummt etwas Unverständliches.

Hilke verschwindet hinter der Eingangstür der Klinik.

Ich mustere unauffällig meine Mitfahrerinnen. Keine scheint sich daran zu stören, noch ein bisschen sitzen zu bleiben, keine von ihnen benötigt eine Erklärung.

Die Eingangstür ist aus weißem Plastik.

Auch den niedrigen Lattenzaun schützen weiße Plastikhäubchen, ein Häubchen für jede Latte; wie kleine dünne Krankenschwestern in Reihe sehen sie aus, doch der Vergleich ist äußerst weit hergeholt, ich will mich nur ablenken, ein bisschen belustigen, nicht zu sehr darauf warten, dass ich endlich aussteigen darf.

Ich starre auf die Tür.

Der Backsteinweg setzt sich im Vorgarten fort, mündet in einer roten Treppe. Ob drinnen auch alles aus roten Backsteinen besteht?

Hier ende ich.

Ich hefte meine Augen auf MamiMa, die die Kordel ihrer Kapuze so festgezurrt hat, dass nur ein kleiner Gesichtsausschnitt zu sehen ist.

Ganz kurz erwidert sie meinen Blick, aber ich weiß, dass sie sich nicht nach mir, sondern nach Frauen wie Elfenwinter sehnt. Danach, Kinderfotos im Smartphone zu vergleichen, nach unkomplizierter Kameradschaft, nach Kichern und Klönen und Kuchenessen trotz Diät.

Wie gerne würde ich ihr all das geben, wo ich doch zu genau weiß, dass sie’s von Elfenwinter nicht bekommen wird, von keiner hier. Sie meiden sie.

MamiMa ist zur Einsamkeit verdammt, genau wie ich dazu, diese Einsamkeit zu sehen: in der Art, wie sie ihre Kapuze trägt, an der Krümmung ihres Rückens und daran, wie sie ihre Hände zwischen die Oberschenkel klemmt. Ich sehe ihre Einsamkeit, ihre unerfüllten Wünsche, ihre Ohnmacht.

Was suche ich hier?

Kein Ort könnte schlechter für mich sein als eine Klinik voll Frauen, voll nagender Bedürfnisse, Rachegedanken, Ablenkungsmanöver, Verzweiflung, Wahnsinn, Müdigkeit und Angst. Wie soll ich denn ausgerechnet hier gesund werden?

Ich bin nicht wie die anderen. Ich bin auf meine Weise verdammt.

Ich sehe uns auf diesem Wagen, einen Haufen ausgebrannter Frauen, und nichts, was wir hätten tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte uns an ein anderes Ziel geführt.

Wir sind die Beute, ein Fang kaum noch japsender Fische, die zur Belebung in ein kühles Aquarium gesetzt werden sollen. Und dann?

»Einer ist keiner. Zwei sind mehr als einer. Sind wir aber erst zu dritt, machen alle andern mit –«

Wobei?

Beim morgendlichen Tai-Chi am Strand.

Nicht bei dem, was ich für nötig halte.

Mit mir wird sich keine dieser Mütter zusammentun, um den endgültigen Ausstieg aus dem Konkurrenzdenken zu vollziehen, die Befreiung aus dem Würgegriff der mütterlichen Angst.

Sie sehen sie nicht, sie glauben sich ja.

Dass es gut tun wird hier.

Dass sie sich erholen werden.

Dass eine neue Sonnenbrille tröstet und zwei, drei Kilo weniger.

Und ich, ich werde nicht stillhalten können. Werde es ihnen verderben, sie abschätzig mustern – sie beständig darauf hinweisen, wie blind sie doch sind.

Ich springe vom Beutewagen. Ich will nicht länger Kassandra sein, ich werde den Teufel tun und Klytämnestra ins Bad folgen, ins Meerwasserbad, zur Thalasso-Therapie.

Keine innere oder äußere oder sonst wie geartete Balance für mich, nein: weiterhin riesige Ausschläge nach oben und unten, Schläge, Schreie, Rufe; Rufe, die die Welt erschüttern werden.

Ich lasse mich nicht mundtot machen, ich habe nur dieses eine Leben, ich werde weitermachen bis zum Schluss.

Ich habe große Angst, aber das ist ab sofort zweitrangig.

Es geht heute kein Schiff mehr zurück, weil die Ebbe das Wasser aus der Fahrrinne zieht.

Vor dem Haus Naturerbe haben sich Familien eingefunden; eine geführte Wattwanderung soll gleich beginnen.

»Wenn Sie wollen, können Sie sich noch anschließen«, sagt die junge Frau mit der Forke, die mein Interesse bemerkt hat, und ich gehe rasch zur Kasse, um die Teilnahmegebühr zu entrichten.

Mein Koffer liegt im Anhänger des Pferdetaxis; ich bin bereit und unbeschwert.

Am äußersten Rand des Deichs sollen wir Schuhe und Strümpfe zurücklassen und barfuß in den Schlick hineinwaten. Ich zögere kurz, ob ich meine Sachen nicht doch lieber mitnehmen soll. Die Wattführerin beruhigt mich, hier sei noch nie etwas weggekommen. Ich kann ihr schlecht sagen, dass ich aber wegkommen will und meine Schuhe spätestens in Norddeich Mole wieder brauchen werde –

Schon nach wenigen Metern bleiben wir stehen und bewundern die winzigen Krabben.

Die Führerin hebt mit ihrer Forke einen Batzen Sand hoch und zeigt uns die gelben Gänge des Wattwurms. Das gesamte Gebiet stehe seit ein paar Jahren unter dem Schutz der UNESCO; wir bilden einen großen Kreis, trampeln mit den Füßen auf der Stelle, befördern damit Muscheln und Meeresschnecken zutage, genauso, wie es die Mantelmöwe macht.

Ich bin froh, dass ich alleine bin in dem Kreis, ohne meine Familie.

Lina würde mir sofort ihren prüfenden Blick zuwerfen. Sie weiß, dass ich in solchen Situationen unweigerlich anfange zu weinen, und sie hasst das, sie schämt sich für mich.

Ich schäme mich auch.

Ich will nicht dauernd weinen, zumal meine Tränen in der Regel missverstanden werden: Bei der Schulaufführung denken die Leute, ich weine aus elterlichem Stolz, dabei steht keines meiner Kinder auf der Bühne; in der Kirche drückt mir der Pfarrer mit ernstem Nicken am Ausgang die Hand, dabei bin ich gewiss kein verirrtes Schaf, das nun endlich in seinen Pferch zurückgefunden hat. Ich weine nur deshalb, weil ich an meine Sehnsucht erinnert werde, etwas zusammen zu machen. An meine Sehnsucht nach der Kraft, die darin liegt, sich einig zu sein. An meine Sehnsucht nach dem Schulterschluss, der Konzentration auf ein gemeinsames Ziel, der Spannung, die im Warten auf den Einsatz liegt. An meine Sehnsucht nach der Schönheit und Lautstärke orchestrierter Einzelstimmen, nach der Sicherheit, dass etwas, das man gemeinsam tut, auch das Richtige ist für alle.

Ich weine, weil ich weiß, dass das in erster Linie eine Sehnsucht ist und auch bleiben wird.

Impressum und Copyright

Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2015
www.verbrecherverlag.de
© Verbrecher Verlag 2015

Lektorat: Kristina Wengorz
Buchsatz und Ebookherstellung: Christian Walter
Grafik Cover: Katharina Greve

Der Verlag dankt Nina Pagel.

Die Autorin dankt Daniela Plügge für ihre Arbeit und die Unterstützung beim Schreiben dieses Buches.

ISBN Print: 978-3-95732-081-0
ISBN Epub: 9783957320971
ISBN Mobipocket: 9783957320988

Anke Stelling

Bodentiefe Fenster

Verlagssignet

Als Sandra Anfang der Siebziger geboren wurde, war es Mode, den Kindern kurze Namen zu geben. Leicht auszusprechen, unprätentiös. Selbst »Sandra« schien damals noch umständlich, sodass Sandra die meiste Zeit nur »Sanni« gerufen wurde.

Doch eines Nachmittags, als sie neun war, spielte sie mit ihrer Freundin Anne Zirkus, und da beschlossen die beiden Mädchen, dass zumindest Artistinnen etwas Glitzernderes und Aufwändigeres verdient hatten, und nannten sich »Kassandra« und »Anakonda«.

Als sie den Eltern am Abend das Programm vorführten, kicherten sie und drehten affektiert ihre Handgelenke. Mehrmals stellten sie einander vor, ja: Man könnte fast sagen, dass die Artistinnennummer aus nichts anderem bestand als aus Kichern, Verbeugen und der Beschwörung zweier Wesen, die sie selbst waren und auch wieder nicht.

Die Eltern applaudierten geduldig.

Woher die neunjährige Sandra den Namen »Kassandra« hatte? Vermutlich aus dem Fernsehen, aus der Zeichentrickserie »Biene Maja«. Mythen und Sagen des Altertums gab’s nur bei Leuten, die sich auch in den Siebzigern das Recht herausnahmen, ihren Kindern drei- bis viersilbige Rufnamen und zudem noch Zweit- und Drittnamen zu geben.

»Sandra?«

»Hm?«

»Siehst du was?«

»Nö. – Ich hab’ meine Kontaktlinsen noch nicht drin.«

1

Ich bin wie meine Mutter.

Ich sitze hier und heule, weil ich meine Freundin nicht retten kann.

Isa wird zugrunde gehen, sie wird in der Klapsmühle enden, die Kinder tot oder ebenfalls in der Klapsmühle oder knapp entkommen, aber nur fürs Erste, nur so lange, bis sie selbst Familie gründen, dann geht’s noch mal von vorne los.

»My Mother / My Self« – in schöner Regelmäßigkeit wiederholt sich alles, und für mich ist, genau wie für meine Mutter, die Rolle der Freundin vorgesehen, der stets vergeblich warnenden Freundin, der am Ende nichts anderes übrig bleibt als fortzugehen, um zumindest nicht mitschuldig zu werden.

Man soll das so machen, man soll kranke Systeme nicht stützen.

»Wissen Sie«, hat die Angehörigenberaterin der Drogenhilfe zu mir gesagt – vor fünfzehn Jahren, als mein damaliger Freund auf Heroin war und ich mein Geld vor ihm verstecken musste –, »wissen Sie, es ist hart mit anzusehen, wie ein geliebter Mensch sich kaputtmacht, aber indem Sie bleiben, verhindern Sie jede Veränderung zum Guten, damit beweisen Sie nur, dass es ja doch noch irgendwie geht.«

Taten sagen mehr als Worte, das hab’ ich mir damals gemerkt.

Vorher hat es allerdings immer anders geheißen.

Im Kinderladen und in der Schule sollte man reden: reden, um einander zu verstehen, reden, um Konflikte zu lösen. Als mir Eva Engelmann im Kinderladen ein Büschel Haare ausgerissen hat, hat Elvira, die Erzieherin, uns beiseite genommen; sie hat sich mit uns in die Garderobe gesetzt – jede von uns auf einem ihrer Knie – und gewartet, bis ich aufgehört habe zu weinen und ausführlich ­berichten konnte, wie sehr mir das wehgetan hat. Dann hat sie ­gewartet, bis wiederum Eva aufgehört hat zu weinen und so weit war zu behaupten, dass sie es schließlich nicht mit Absicht getan habe und außerdem ich diejenige gewesen sei, die angefangen hätte –

Dieses Vorgehen hat sich mir eingeprägt, nach diesem Vorbild bin ich dann auch mit meinem Ex-Freund verfahren. Ich sagte beispielsweise, dass es mir wehtue, wenn er mir mein Bafög stehle, und er sagte, sicher, doch dass das im Grunde keine Absicht gewesen sei, sondern nur die Sucht. »Du musst das lassen«, sagte ich, und er: »Ja, verdammt noch mal, das will ich doch auch.« Woraufhin ich wartete, bis es das nächste Mal geschah.

Das hat sich erst geändert durch den Termin bei der Drogenberaterin, durch das neue Motto »Taten statt Worte«. Aber wenn ich es mir recht überlege, bestätigt dieses Beispiel doch wiederum die Wirksamkeit des Redens, schließlich war das Gespräch mit der Beraterin auch nichts anderes als Gerede, und das neue Motto bestand ebenfalls nur aus Worten.

Allerdings denen einer professionellen Beraterin.

Ich hingegen bin nur die Freundin. Wenn ich rede, hilft das nichts.

Ich muss die, die ich liebe, verlassen und darauf warten, dass sie sich zugrunde richten oder sich selbst helfen, dass sie freiwillig etwas ändern oder sterben.

Ich will nicht, dass Isa stirbt. Ich will sie um Himmelswillen da rauskriegen.

Ich habe sie in der Uni kennengelernt. Ich weiß noch, wie ich meiner Schwester erzählte, dass da eine Frau sei, mit der ich gern befreundet wäre, zwei Semester über mir und wahnsinnig cool, dass ich aber nicht so recht wisse, wie ich es anstellen solle, weil doch so viele in den Seminaren säßen und in der Mensa erst recht. Meine Schwester riet mir, einfach abzuwarten, nach ein paar Monaten würden sich die, die zusammenpassen, schon finden; meine Schwester ist älter als ich und hatte Erfahrung mit dem Studieren.

Im Jahr darauf waren Isa und ich dann befreundet, ich hatte mich gar nicht anstrengen müssen, und es war eine tolle Zeit. Isa war Feministin und hat wunderbare Texte geschrieben, und dann hat sie Tom kennengelernt und mit ihm zwei Kinder gekriegt, obwohl Tom das eigentlich nicht wollte, weil er schon zwei Kinder hatte und eine psychotische Ex. Aber Isa dachte, na ja, wenn die Kinder erst mal da sind, wird sich das schon regeln, und außerdem kümmerte sie sich ja auch um die früheren Kinder von Tom, und wirklich geweigert hat Tom sich schließlich nicht, sondern die neuen Kinder auf natürlichem Wege gezeugt.

Überhaupt konnte Isa sich das, was dann kam, wohl nicht so richtig vorstellen – ich verstehe das, das kann sich keiner vorstellen: Wie Tom es seitdem schafft, derart ernst zu machen mit dem Nichtwollen und Trotzdemhaben. Und zwar nicht nur in Bezug auf die Kinder, sondern auch in Bezug auf Isa selbst.

Tom macht es so, dass er Isa nicht hilft. Niemals. Bei nichts.

»Du wolltest die Kinder«, sagt er, wenn Isa ihn bittet, nur ganz kurz nach dem Baby zu sehen, während sie in der Dusche ist; »Das ist dein Problem«, wenn Isa ihn bittet, ausnahmsweise mal den Zweijährigen in die Betreuung zu bringen – am Tag nach der Geburt des zweiten Kindes – und: »Ich kann nicht, das weißt du«, wenn sie fragt, ob sie ihm dann wenigstens das Baby kurz mal dalassen könne. Und also nimmt Isa das frisch abgenabelte Kind auf den Arm und das ältere an die Hand und schleppt sich mit Wochenfluss und Milcheinschuss in die Kita.

Tom macht es so, dass er sein natürliches menschliches Mitgefühl einfach abstellt – falls er überhaupt ein solches besitzt – und in ­seinem Zimmer verschwindet und die Tür zumacht. Fertig. Schließlich hat er es ihr von Anfang an gesagt.

Isa teilt sich ein Zimmer mit ihren Jungs, während Tom in dem anderen wohnt und seine früheren Kinder, wenn sie da sind, in dem dritten. Tom kennt seine Grenzen, er braucht Ruhe.

Tom kassiert das Kindergeld, schließlich bezahlt er die Miete. Überhaupt findet Tom, dass Isa Schulden bei ihm habe, denn als sie nach der Geburt des zweiten Kindes drei Monate nicht arbeiten konnte, hat er für Isa auch das Essen bezahlt und die Windeln für das erste und das neue Kind. Dieses Geld muss Isa ihm irgendwann zurückgeben, Tom hat alles säuberlich notiert, aber er ist großzügig und belässt es erst mal dabei.

Isa kann keine Sozialleistungen beantragen, weil sie eine Bedarfsgemeinschaft bildet mit Tom, und Tom mit seiner Ex-Frau aber noch eine Eigentumswohnung besitzt, die wegen der Bedarfsgemeinschaft auch auf Isas Einkommen angerechnet wird.

Isa bezahlt die Nebenkosten für die gesamte Wohnung – immerhin wohne sie mietfrei und irgendwas müsse sie schließlich auch zum Haushalt beitragen, findet Tom.

Isa mag sich nicht um Geld streiten.

Isa mag sich überhaupt nicht gern streiten.

Tom habe es auch nicht leicht, findet sie, er mache sich Sorgen um seine früheren Kinder, die er den Strapazen einer Trennung ausgesetzt habe, weshalb seine ganze Fürsorge nun eben ihnen gelte, und das habe sie schließlich gewusst, sagt Isa, das habe er ihr gesagt, dass er keine Kapazitäten mehr frei hätte. Sie selbst, sagt Isa, sei ­äußerst egoistisch gewesen mit ihrem Kinderwunsch, insofern müsse sie jetzt eben dafür bezahlen, und immerhin sei er da, und ihre gemeinsamen Kinder seien also keine Scheidungskinder und gegenüber den anderen Kindern im Vorteil.

An Weihnachten hat Tom allerdings aus seinem Zimmer eine SMS geschickt, dass er doch nicht zur Bescherung in die Küche kommen könne – die eigentlichen, alten Kinder waren für die Feier­tage ohnehin bei der Ex – und also hat Isa mit den neuen Kindern alleine gefeiert. Die waren ein bisschen enttäuscht, weil die Absage ja auch ziemlich kurzfristig kam, aber Isa hat das ausgeglichen, hat mit den Kindern in ihrem Zimmer gefeiert und sie mit Singen und Spielen abgelenkt, damit sie nicht doch noch bei Tom an die Tür klopfen.

Isa ist inzwischen äußerst geübt im Ausgleichen. Sie sagt auch mir gegenüber immer wieder, dass Tom nicht ganz verkehrt sei, nur eben sehr empfindsam, wenig belastbar und mit einer ganz eigenen Auslegung von Wahrheit und Gerechtigkeit begabt.

Was ist schon wahr und gerecht?

Isa und Tom sind gebildet. Nette Leute. Unser Milieu, meine Generation.

Isa schreibt wunderbare Texte, allerdings kommt sie kaum noch dazu, weil sie mit Deutschkursen Geld verdienen und die Kinder versorgen muss, und wenn sie Max und Felix ins Bett gebracht hat, kann Isa auch kein Licht mehr machen, schließlich wohnen sie bei ihr mit im Zimmer, und in der Küche ist auch nicht so viel Platz, weil die Spülmaschine kaputt ist und Tom findet, es sei nicht wirklich mehr Aufwand, das Geschirr von Hand zu spülen – allerdings muss er mit seinen großen Kindern nach dem Essen noch Schulaufgaben machen, und dann wollen sie ausruhen, dann wollen sie’s zur Abwechslung mal schön haben zu dritt, wo sie doch ohnehin nur so selten zusammen sind und die Kinder bei ihrer Mutter schon genug im Haushalt helfen. Wenn Isa will, darf sie ein Stündchen mit dazukommen, aber bitte nicht mit einem solchen Gesicht.

Ich weiß nicht, ob mir das irgendjemand glaubt. Es klingt zugespitzt und übertrieben, witzig fast. Ich kann es selbst kaum glauben.

Ich kann es so wenig glauben, dass wir sogar schon zusammen im Urlaub waren, Tom und Isa, Hendrik und ich und alle unsere Kinder, und ich dann Baby Felix genommen und auf Max aufgepasst habe, damit Isa duschen gehen konnte, während Tom mit der Zeitung am Strand lag. Ich habe Max’ Eis bezahlt, weil Tom nur seinen früheren Kindern eines spendierte, und ich habe Isa Geld zugesteckt, heimlich, damit Tom es nicht sah und von dem, was Isa bisher im Urlaub alles bezahlt hatte, wieder abzog. Und am Abend, wenn die Kinder schliefen, saßen wir schön zu viert beisammen, Isa kontrollierte ihr Gesicht und wir tranken Rotwein und redeten nicht darüber.

Wie auch?

Darüber kann man nicht reden, das ist einfach nur absurd.

Also redeten wir über andere Dinge.

Isa und Tom sind klug und unterhaltsam. Weder Hendrik noch ich können glauben, dass so kluge Menschen so seltsame Dinge tun beziehungsweise sich gefallen lassen.

Also ließ ich mir am nächsten Tag beim Abwasch von Isa immer neue und noch haarsträubendere Episoden erzählen, und ich wusste, sie hat sich das nicht ausgedacht, ich habe es ja selbst gesehen.

Nachts im Dunkeln sagte ich zu Hendrik, dass ich fände, es könne so nicht weitergehen. Aber am nächsten Tag fuhren wir nach Hause und im Grunde ging es uns ja auch nichts an. Wenn ich zu Tom gesagt hätte: »Hör mal, was soll das denn?«, hätte er mit unbewegter Miene geantwortet: »Das haben wir unter uns geklärt.«

Es war nicht meine Sache, war nicht einmal gesetzeswidrig. Isa ließ sich freiwillig quälen und bestehlen, und das Jugendamt hatte wohl auch schon schlimmere Fälle gesehen. Nichtbeachtung von Kindern ist durchaus verbreitet, immerhin schlug und missbrauchte Tom sie nicht.

Alles, was passierte, war offiziell in Ordnung.

Ich konnte nur versuchen, es zu vergessen, und das klappte auch ganz gut: Je länger es her war, desto weniger konnte ich glauben, dass es wirklich passiert war, und außerdem wohnen sie in Frankfurt und Hendrik und ich in Berlin, und also sahen wir uns eine ganze Zeit lang nicht mehr.

Ab und zu fiel mir die Geschichte mit der SMS wieder ein, immer dann, wenn eine meiner Freundinnen sich beschwerte, dass ihr Ex sich nicht an die vereinbarten Termine und Besuchsabsprachen für die gemeinsamen Kinder hielte. Dann sagte ich: »Sei froh, dass ihr wenigstens nicht mehr zusammen wohnt und er an Heiligabend per SMS aus dem Zimmer nebenan die Weihnachtsbescherung absagt«, und das war jedesmal ziemlich lustig und ein schöner Trost für die alleinerziehende Freundin.

Dass so etwas wirklich passiert, kann ja keiner glauben.

Ich auch nicht.

Die ganze Sache ist mit der Zeit von der Wahrheit zu einer wahren Begebenheit, sprich: zur Anekdote geronnen; das kann nicht die Wirklichkeit sein, wir sind Figuren in einer Geschichte über die Ausbeutung und das Sichausbeutenlassen von Frauen, über kranke, sadistische Männer und hilflose, eingesperrte Mütter, über Freunde, die jahrelang dabei zusehen, ohne sich offen zu äußern.

Nur so kann ich mir auch erklären, dass ich, als Isa letzte Woche anrief, um zu fragen, ob sie bei uns wohnen könnten, wenn sie gemeinsam nach Berlin kämen, gesagt habe: »Ja, sicher, selbstverständlich, ihr könnt gerne bei uns wohnen, klar!«

Wir wohnen in einem generationenübergreifenden Hausprojekt – Hendrik und ich und unsere zwei Kinder – und haben darin eine gemeinschaftlich nutzbare Gästewohnung.

Heide, die Hausälteste, verwaltet diese Gästewohnung, und als ich den Schlüssel bei ihr geholt habe, hat sie mich angelächelt und gesagt: »Wie schön, eine Familie mit vier Kindern, da ist ja wieder ordentlich was los!«

»Ja«, habe ich geantwortet, voller Stolz, dass ich so lustige Leute kenne.

Es ist nämlich so, dass wir im Wohnprojekt darum konkurrieren, wer die lustigsten Bekannten, die besten Argumente, die begabtesten Kinder und die schönste Balkonbegrünung hat – ganz normal vielleicht, wenn man sich so nahe kommt, aber es trägt wie jede Konkurrenz dazu bei, bestimmte Seitenaspekte auszublenden. Zum Beispiel den, dass Isa, Tom und die vier Kinder zwar eine große, aber ganz gewiss keine lustige Familie sind.

Als sie kamen, umarmte ich also Tom und sagte: »Herzlich willkommen, fühlt euch wie zu Hause!«, obwohl ich doch eigentlich nie mehr mit ihm reden, geschweige denn ihn umarmen wollte.

Und wieder ging alles von vorne los: Ich redete mit Tom über Politik und Kunst und die Energiebilanz unseres Hauses; ich ließ mir von Isa beim Abwasch erzählen, dass sie immer noch mit den Jungs in einem Zimmer wohne und nicht wisse, woher in den Schulferien, wenn sie keine Kurse geben könne, das Geld kommen solle, dass aber Tom seine halbe Eigentumswohnung immer noch nicht verkauft habe, weil die psychotische Ex so sehr an dieser Wohnung hänge und sie ja auch in gewisser Weise die eigentliche Heimat seiner eigentlichen Kinder sei; ich sah zu, wie Max und Felix verzweifelt versuchten, mit immer gewagteren BMX-Stunts im Garten Toms Aufmerksamkeit zu erregen, während Tom damit beschäftigt war, seine eigentlichen Kinder unseren Nachbarn vorzustellen, die ihn alle wahnsinnig nett und klug und interessant fanden.

Und wenn ich hingegangen wäre und zu ihm gesagt hätte: »Hör mal, du Drecksack, was bildest du dir eigentlich ein? Glaubst du im Ernst, ich lasse einen wie dich bei mir wohnen?«, dann hätte das ja auch nichts genutzt und wäre am Ende nur auf Isa zurückgefallen.

Ich bin gut darin geworden, zu sehen ohne zu sprechen.

Ich lebe in einem alternativen Wohnprojekt, da beobachtet man einander ständig und lächelt allenfalls dazu.

Seit drei Jahren wohnen wir jetzt hier.

Von außen sieht das Haus aus wie ein ganz normaler Neubau, Berliner Traufhöhe, Lückenschließung, sechs Stockwerke, dreizehn Parteien, unterschiedliche Wohnungsgrößen von fünfzig bis hundertfünfzig Quadratmetern, je nachdem, mit wie vielen Personen man darin wohnt. Ein Gemeinschaftsraum unterm Dach für alle und die Gästewohnung im Erdgeschoss.

Wir haben versucht darauf zu achten, dass unsere Gruppe nicht zu homogen ist, dass auch Ältere, Kinderlose, Schlechtverdienende und Nichtakademiker dabei sind und wir trotzdem alle Entscheidungen im Konsens treffen, trotz der unterschiedlichen Interessen.

Wir haben das Grundstück einer Stiftung überschrieben, um es ein für alle Mal dem Markt zu entziehen; wir sind gegen die Bildung von Wohneigentum und wollen stattdessen genossenschaftlich wirtschaften – weil die Gemeinschaft das wahre Kapital darstellt in dieser von Profitgier und Entsolidarisierung geprägten Gesellschaft.

Isa hat gesagt, dass sie mich beneide. Um den Garten und die netten Nachbarn, darum, dass man sich gegenseitig helfe und die Welt der Kinder nicht an der Wohnungstür ende, sondern sie verschiedene Lebensentwürfe kennenlernen würden. »Du hast es richtig gemacht«, hat Isa gesagt.

Ich weine.

Ich bin die Freundin, die alles richtig macht, und sicher: Im Vergleich zu Isa darf ich mich auf keinen Fall beschweren. Im Vergleich zu Isa geht es mir prima, im Vergleich zu ihren Kindern haben meine hier den Himmel auf Erden, im Vergleich zu den Kindersoldaten im Kongo geht es allerdings auch Isas Kindern relativ gut.

Hendrik kommt rein und sieht besorgt aus.

»Was ist los mit dir?«, fragt er, und ich schniefe und sage, dass es anstrengend gewesen sei mit Isa und Tom, mit all den Lügen und hilflosen Gesprächsversuchen, dass das doch nichts bringe und ich Angst hätte, dass Isas Söhne sterben würden.

»Wieso sollten sie sterben?«

Ich antworte nicht.

Hendrik ist ein großer Verfechter der »Jeder muss sich selbst ­helfen«-Theorie. Er findet es befremdlich, wie viele Gedanken ich mir um meine Freundinnen und die Bekannten und die Nachbarinnen und die Kitamütter und die Kaiser’s-Kassiererinnen mache.

Also sage ich nichts und setze einen Hefeteig an.

Bo fragt, ob er mir helfen dürfe, aber ich lasse mir nicht gern von Dreijährigen helfen. Ich will meinen Hefeteig alleine machen, nur dann bin ich sicher, dass er auch gelingt. Und er muss gelingen, ich muss Zimtwecken backen für Tinkas Geburtstag. Morgen hat Tinka Geburtstag, und dazu bringe ich traditionsgemäß Zimt­wecken mit.

Wenn ich weinend Hausarbeit verrichte, bin ich auch wie meine Mutter – Verstärkung von Selbstmitleid durch demonstratives Tätig­sein für andere.

»Guck doch mal nach, ob jemand im Garten ist«, sagt Hendrik zu Bo, damit er mich in Ruhe lässt, aber Bo sagt: »Nein«, und Hendrik seufzt und sagt: »Dann kommst du eben mit mir einkaufen.«

Ich bringe Heide den Schlüssel zurück.

»Hat’s deinen Gästen gefallen?«, fragt sie.

Ich nicke. Heide lächelt zufrieden.

»Ja, wir haben’s schon schön hier«, sagt sie. »Reizende Kinder waren das, die Kinder von deinen Freunden, ich hab’ sie im Garten beobachtet.«

Wir haben Balkons nach hinten raus und überall riesige Fenster.

Heide ist pensioniert und deshalb viel zu Hause.

Heide weiß genau, welches Kind sich auf welcher Entwicklungsstufe befindet und wie ausgeprägt oder verkümmert sein Sozialverhalten ist; Heide hängt anthroposophischen Ideen an und hat mir gratuliert, als sie mitbekam, dass ich Bo als Säugling kein Vitamin K und Vitamin D verabreicht habe; Heide hat allen jungen Müttern im Haus ein Video zukommen lassen mit dem Titel »Kinder sind Hüllenwesen«, in dem dazu geraten wird, sie zu berühren, bevor man sie anspricht.

»Stimmt«, sage ich. »Die Kinder sind wirklich sehr nett.«

Soll ich ihr die wahre Geschichte von Isa und Tom erzählen? Soll ich ihr sagen, dass ich denke, ich hätte mich mitschuldig gemacht, indem ich sie hier wohnen gelassen und Tom damit die Gelegenheit geboten hätte, sich als aufgeklärter Vierfachvater zu präsentieren? Vor ihr, Heide, zum Beispiel?

Doch was bringt das, so etwas erst zuzulassen und danach zu entlarven, nichts bringt es, ich muss aussteigen, handeln oder schweigen, ich bin still.

Ich rede gerne mit Heide.

Andere im Haus verstehen das nicht, weil sie doch so herrisch und besserwisserisch, so humorlos und furchtbar schnell beleidigt sei. Kann schon sein. Aber die anderen haben leicht reden, die haben alle noch ihre eigenen Mütter, ich selbst habe keine mehr und bin deshalb dankbar für jeden Ersatz.

Ich lasse mich gerne loben für meine Entscheidungen, für meine wohlgeratenen Kinder, meinen unerhörten Fleiß. Ich lasse mich anstandslos belehren und einspannen für allerhand Anliegen. Ich verstehe, dass Heide manches anders sieht als ich und habe Achtung vor ihrer Lebensleistung. Ich entschuldige ihre Charakterschwächen als Folge ungerechter Verhältnisse. Fast alle Frauen Ende sechzig haben einen Putzfimmel und sind Meisterinnen darin, ihre Mitmenschen mit Gefühlen zu manipulieren –