Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Vorwort

1. Vorgeschichte

Sprung ins Dunkle
Hitlers Weg in die Katastrophe
Brutale Praxis
Die Vorbereitung der Wehrmacht auf den verbrecherischen Krieg

2. Der Überfall

Bestie und Unmensch
Das Duell zwischen Hitler und Stalin
„Ungeküsst in den Tod“
Erinnerungen sowjetischer Soldaten und Zivilisten an den deutschen Angriff
Der Krieg von unten
In Briefen und Tagebüchern hielten Wehrmachtsoldaten ihre Erlebnisse fest

3. Die Winterkatastrophe 1941

Duell im Schnee
Das „Unternehmen Barbarossa“ gerät vor Moskau ins Stocken
„Gepeitscht von Furien des Wahnsinns“
Aus Briefen eines deutschen Soldaten vor Moskau

4. Die Belagerung von Leningrad

„Legt euch in eure Särge“
Der Blockade Leningrads fielen 1,2 Millionen Menschen zum Opfer
Der kalte Tod
Dokumente des Geheimdienstes NKWD belegen Fälle von Mord und Kannibalismus während der Blockade

5. Besatzung und Verbrechen

Anschlag auf die „Ehre“ des deutschen Soldaten?
Rudolf Augstein zu den Kriegsverbrechen der Wehrmacht und ihre Beteiligung am Holocaust
Massenmord in der Kornkammer
Agrarspezialisten entwarfen einen Plan, der den Hungertod von Millionen in Kauf nahm
Versklavt und vernichtet
Der grausame Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen
Das große Morden
Weißrussland hat unter der Besatzung besonders gelitten
Gegenwelt im Wald
Die deutschen Massenmorde ließen eine gewaltige Partisanenbewegung entstehen
Abrechnung mit Hitlers Generälen
Im Streit um die Wehrmachtsausstellung ging es auch um den Handlungsspielraum der Soldaten

6. Stalingrad

Herbst der Illusionen
Der deutsche Vormarsch auf den Kaukasus
Der totale Krieg
In Stalingrad lieferten sich Wehrmacht und Rote Armee eine der blutigsten Schlachten der Weltgeschichte
„Den Mann kannst du abschreiben“
Winrich Behr über seinen Versuch, Adolf Hitler die Kapitulation der 6. Armee nahe zu legen
Als die Erde Feuer atmete
Wie sowjetische Soldaten das Inferno von Stalingrad erlebten

7. Der Untergang

Das Reich des Bösen
Warum die Alliierten am Ende Hitler-Deutschland besiegen konnten
„Hitler kaputt, alles kaputt“
Stalins Vormarsch auf Berlin
„Vater, erschieß mich!“
Die Flucht der Deutschen vor der Roten Armee
„Taifun des Völkerdramas“
Warum so viele Rotarmisten über deutsche Zivilisten herfielen
Stalins Heimspiel
Noch im Krieg sichert sich der Kreml-Diktator die Herrschaft über Osteuropa

8. Der Streit um den Krieg

„Schandfleck der Geschichte“
Der Historiker Rolf-Dieter Müller über die Erforschung des Zweiten Weltkriegs

Anhang

Impressum
Einleitung

Vorwort

Vor 75 Jahren – am 22. Juni 1941 – begann der barbarischste Krieg in der Geschichte der Menschheit. In den frühen Morgenstunden flogen deutsche Sturzkampfbomber unter nervenzerfetzendem Geheul erste Angriffe, bald ließ das Dröhnen der Geschütze den Boden erbeben, tauchfähige Panzer durchpflügten das vier Meter tiefe Wasser des Grenzflusses Bug. Der „Fall Barbarossa“, so lautete der Deckname für Hitlers Angriff auf die Sowjetunion, nahm seinen Anfang.  
Die beiden stärksten Militärmächte der Welt prallten aufeinander. Über drei Millionen deutsche Soldaten, dazu 600 000 Kroaten, Finnen, Rumänen, Ungarn, Italiener, Slowaken und Spanier überschritten zwischen Ostsee und Schwarzem Meer die russische Grenze. Sie marschierten, fuhren auf über 600 000 motorisierten Fahrzeugen oder 3350 Panzern und führten auch noch 625 000 Pferde in Richtung Kiew, Moskau und Leningrad. Höchstens einige Monate, das war die Illusion Hitlers, würde die kampferprobte Wehrmacht für einen Sieg benötigen. Am Ende dauerte das Ringen um die Herrschaft Europas fast vier Jahre.  
Zwischen Berlin und Moskau kämpften und starben dabei mehr Menschen als an allen anderen Fronten des Zweiten Weltkriegs zusammen. Fast jede Familie verlor Angehörige auf den Schlachtfeldern zwischen Kursk und den Seelower Höhen. Die genaue Zahl der Toten kennt niemand, aber es werden deutlich über 30 Millionen gewesen sein, was beinahe der Bevölkerung des heutigen Kanadas entspricht.  Den Großteil der Opfer –wohl 26,6 Millionen Menschen – hatte die damalige Sowjetunion zu beklagen: Weißrussen, Russen, Ukrainer, Balten, Juden und andere, denn Wehrmacht und SS führten den Krieg nicht nur mit verbrecherischer Grausamkeit, sondern Hitler und seine Generäle waren entschlossen, Millionen Zivilisten zu ermorden, für die im geplanten Rassenimperium kein Platz vorgesehen war.  
Die sowjetischen Truppen wiederum verteidigten ihr Land mit zunehmender Härte. Allein im August 1944 starben über 270 000 deutsche Soldaten an der Ostfront. Wer 1941 die graue Uniform der Wehrmacht anziehen musste, hatte im Durchschnitt eine weitere Lebenserwartung von 2,6 Jahren, Rekruten des Jahres 1945 von nur noch wenigen Wochen. Als die Rote Armee 1944 die deutsche Grenze überschritt, übten dann viele Sowjetsoldaten Rache an Ostpreußen, Schlesiern oder Pommern.  
Politisch zahlten die Deutschen für diesen Krieg mit dem Verlust der Ostgebiete, was gut einem Viertel des einstigen Reichs entsprach, und der Teilung in eine kapitalistische West- und eine sozialistische Ostrepublik, die bis 1990 andauerte. Sicherheit vor Deutschland wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Dauerprinzip der europäischen Politik – sie ist es bis heute.  
Auch in Russland ist die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ beileibe nicht verblasst. Kriegsherr Stalin erlebt schon seit Jahren eine Art Renaissance. Von der langen Geschichte der Sowjetunion im 20. Jahrhundert ist der Sieg über die Hitler-Deutschen die einzige Erinnerung geblieben, die alle politischen Lager eint. Aus dem russischen Nationalbewusstsein wird schon deshalb der „Fall Barbarossa“ so schnell nicht verschwinden.  
Dieses E-Book bietet Analysen zum Verhältnis von Hitler und Stalin und zur Geschichte des Krieges, Auszüge aus Briefen von Soldaten beider Seiten sowie ein Interview mit Winrich Behr, der 1943 Hitler davon zu überzeugen suchte, in Stalingrad zu kapitulieren. Die 25 Texte stammen von renommierten Historikern und SPIEGEL-Redakteuren und sind im SPIEGEL erschienen.
Klaus Wiegrefe
1. Vorgeschichte
Abbildung
SPIEGEL-TITEL 35/2009

Sprung ins Dunkle

Es gab Chancen, Hitlers „Drittes Reich“ zu stoppen - sie wurden alle verpasst. Mit dem deutschen Überfall auf Polen begann vor 70 Jahren der Zweite Weltkrieg, und die Deutschen jubelten über die Siege der Wehrmacht. Von Klaus Wiegrefe
Am 25. August 1939 ist die Dienstwohnung Adolf Hitlers in der Alten Reichskanzlei in Berlin wie immer mit Blumenarrangements geschmückt. Vor dem Gartensaal leuchten prächtige Sträuße. Doch Hitler, eigentlich ein Liebhaber sommerlicher Blütenpracht, hat dafür an diesem Freitag keinen Blick.
Der Diktator, in braunem Rock und schwarzer Hose, wirkt abgearbeitet, unruhig wandern die tiefliegenden Augen, die Schultern hängen. Der oberste Nazi ist nervös.
Etwa 150 Kilometer östlich Berlins verläuft seinerzeit die deutsch-polnische Grenze. Dort stehen 54 deutsche Divisionen mit etwa 1,5 Millionen Mann bereit, um ihre Stellungen zu beziehen; 3600 gepanzerte Fahrzeuge und über 1500 Flugzeuge sind für den „Fall Weiß“ vorgesehen - den Angriff auf Polen am nächsten Morgen. Es fehlt nur noch der Befehl des „Führers“.
Doch soll Hitler jetzt angreifen? Was werden dann Paris und London unternehmen, die Verbündeten Warschaus? Und wie wird sich Hitlers Bundesgenosse Benito Mussolini positionieren? Italien gilt als bedeutende Großmacht, die die britischen Seekräfte im Mittelmeer binden kann. Aber wird der Duce mitmachen, der erst seit dem Vortag vage über den anstehenden Waffengang informiert ist?
In den Räumen Hitlers geht es zu wie auf einem Gefechtsstand. Mehrere Dutzend Parteigrößen sind versammelt, dazwischen einige Offiziere; auf Fenstersimsen, Sesseln, Tischen stehen Telefone, von denen aus ununterbrochen gesprochen wird. Diverse Brillen liegen herum, damit der kurzsichtige Diktator jederzeit eine Sehhilfe zur Hand hat. Immer wieder zieht sich Hitler zu Einzelgesprächen in das Musikzimmer oder in den Gartensaal zurück. Zwei SS-Männer sorgen dafür, dass niemand stört.
Kurz vor dem Mittagessen lässt der Diktator nachfragen: Bis wann müsse er den Marschbefehl geben? Antwort vom Generalstab des Heeres: 15 Uhr.
Da kündet Trommelwirbel aus dem Ehrenhof der Neuen Reichskanzlei von der Ankunft des britischen Botschafters, Sir Nevile Henderson. Der Brite kennt bereits den Weg; Hitlers Büro zweigt von der gigantischen Marmorgalerie ab, die mit 146 Metern exakt doppelt so lang ist wie ihr Vorbild, der berühmte Spiegelsaal des Schlosses in Versailles. Besucher sollen schon auf dem Weg zum Diktator allen Mut verlieren.
Hitler will Henderson freilich nicht einschüchtern, er will ihn locken mit einem Angebot. Das „Dritte Reich“ sei bereit, die Existenz des britischen Weltreichs zu garantieren und den Briten Hilfe zu leisten, wo immer eine derartige Hilfe erforderlich sein sollte. Zentrale Bedingung: London müsse den Krieg gegen Polen hinnehmen.
Zum Schluss des Gesprächs gibt sich der „Führer“ sentimental: Er sei ja „Künstler von Natur und nicht Politiker“. Sei die polnische Frage erst gelöst, werde er „sein Leben als Künstler beschließen“.
Kaum ist der Diplomat weg, gibt Hitler den Angriffsbefehl. Es ist 15.02 Uhr.
Drei Stunden später trifft eine Meldung aus London ein. Großbritannien hat demonstrativ das schon vor Monaten vereinbarte Militärbündnis mit Polen unterzeichnet. Also doch kein Bluff der Briten?
Nicht lange danach überreicht der italienische Botschafter einen Brief Mussolinis: Die Italiener erklären sich außerstande, an einem Krieg teilzunehmen. Mit eisigem Gesicht verabschiedet Hitler den Diplomaten. Die nächste Stunde verbringt er damit, auf und ab zu laufen und auf den treulosen Verbündeten zu schimpfen.
„Der Führer grübelt und sinnt“, notiert Propagandachef Joseph Goebbels, „das ist für ihn ein schwerer Schlag.“
Gegen 19 Uhr erteilt Hitler neue Order: „Sofort alles anhalten.“
Das Kunststück gelingt: Obwohl die Kriegsmaschinerie bereits angelaufen ist, wird der Angriff gestoppt. Nur einen Sondertrupp, der im Handstreich einen strategisch wichtigen Eisenbahntunnel in Südpolen nehmen soll, erreicht die Nachricht nicht rechtzeitig. Die Soldaten stoßen kaum auf Widerstand, besetzen den Bahnhof und kehren erst am nächsten Tag zurück. Eine deutsche Delegation entschuldigt sich offiziell für den „Zwischenfall“. Da sei einer „unzurechnungsfähig“ gewesen.
Also: der Frieden gerettet. Oder doch nicht?
Europa im Sommer 1939. An der Spitze der mächtigsten Militärmacht des Kontinents steht ein Diktator, von dem der damalige Außenamts-Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, Vater des späteren Bundespräsidenten Richard, sagt, er sei „kein Mann der Logik oder der Räson“.
Was für eine Untertreibung.
Der junge Offizier Nikolaus von Vormann stößt in jenen Tagen zur Entourage des „Führers“. Er sitzt dabei, wenn Hitler beim Mittagessen oder abends seine Getreuen um sich schart, und verblüfft registriert der Neue, dass die Meinung des Reichskanzlers oft um 11 Uhr „ganz anders lautet als seine Ansicht um 12 oder 1 Uhr“. Mal will er in jenen Tagen Polen angreifen, auch wenn das einen Weltkrieg bedeutet, dann wieder soll der Waffengang verschoben werden.
Nur eine Option taucht im wirbelnden Gedankenkosmos des Adolf Hitler nicht auf: dauerhafter Frieden.
Der Veteran des Ersten Weltkriegs, der die zerfetzten Leichen seiner Kameraden in den Schützengräben sah und selbst Opfer eines Giftgasangriffs war, hat die Niederlage nie verwunden. Politik ist für den Sozialdarwinisten die „Führung und der Ablauf des geschichtlichen Lebenskampfes der Völker“. Ohne Krieg herrsche Stillstand, und Stillstand sei gleichbedeutend mit Untergang. O-Ton Hitler: „Es lebe der Krieg - selbst wenn er zwei bis acht Jahre dauert.“
Wer sich derart an Tod und Verderben delektiert, ist zum Frieden nicht fähig.
Am 1. September 1939 hat das Schwanken ein Ende. Die Wehrmacht fällt im Morgengrauen ins Nachbarland ein. SS-Männer in polnischer Uniform haben zuvor Grenzzwischenfälle inszeniert, und die Leichen ermordeter KZ-Häftlinge werden der Weltöffentlichkeit als Opfer polnischer Aggression präsentiert.
Vormittags um kurz nach zehn verkündet ein sich empört gebender Hitler mit heiserer Stimme im Reichstag: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen.“ Nicht einmal die Uhrzeit stimmt - der deutsche Überfall erfolgte eine Stunde früher.
Zwei Tage danach ist aus dem deutschen Angriff ein Weltkrieg geworden. Neben Großbritannien und Frankreich erklären auch die Commonwealth-Mitglieder Australien, Indien, Neuseeland dem „Dritten Reich“ den Krieg; kurz darauf folgen Südafrika und Kanada.
Und das ist erst der Anfang.
2194 Tage währt das große Schlachten. Am Ende befindet sich das Reich mit 54 Staaten im Krieg. Insgesamt 110 Millionen Soldaten kämpfen zwischen Murmansk und Marseille, Tokio und Tobruk gegeneinander, mit Flammenwerfern oder Klappspaten, mit Handgranaten oder Maschinengewehren.
Das von Hitler entfesselte Inferno bringt eine in der Geschichte der Menschheit nie gesehene Eskalation der Gewalt mit sich. Rund sechzig Millionen Tote sind danach zu beklagen, darunter über die Hälfte Frauen, Kinder und Alte; allein im Holocaust sterben sechs Millionen Menschen.
Wie ein gewaltiges Erdbeben zerstört Hitlers Krieg für immer jene Weltordnung, in der Europa im Zentrum steht; seit 1945 bestimmt vor allen Amerika den Pulsschlag des globalen Organismus. Die Westverschiebung Polens, die bis 1989 währende Vorherrschaft der Sowjetunion in Osteuropa, die Teilung Deutschlands - ohne den Zweiten Weltkrieg hätte es all das nicht gegeben.
Was für eine Bilanz.
Und wenn man den Zeitgenossen Glauben schenkt, hat dies alles ein 1,75 Meter großer und gut 70 Kilogramm schwerer Mann verursacht, dessen gutturale Aussprache seine österreichische Herkunft verrät: Adolf Hitler aus Braunau am Inn.
Aber kann ein Mensch, und sei er als Diktator noch so mächtig, ganz allein die Welt in Flammen aufgehen lassen?
Seit einiger Zeit haben sich Zweifel an der zunächst allseits akzeptierten Sicht durchgesetzt; das Bild ist deutlich komplexer geworden. Gewiss bleibt, dass es ohne Hitler den Weltkrieg nicht gegeben hätte. Sicher ist allerdings auch: Eine Reihe von Faktoren trug dazu bei, dass aus den Kriegsphantasien des Nazi-Führers Wirklichkeit werden konnte.
Zum einen war da die Willfährigkeit der konservativen Eliten im Militär, in der Verwaltung, in der Wirtschaft. Sie teilten nicht Hitlers krude Idee eines Rasseimperiums, und viele von ihnen fürchteten auch einen Krieg mit den Westmächten. Doch sie träumten von der Weltmacht und strebten nach einem Großdeutschland, das zumindest den Osten Europas dominierte. Männer wie Franz Halder, Befehlshaber des Heeres, der im Frühjahr 1939 verkündete, seine Männer müssten Polen überrennen und würden dann „erfüllt mit dem Geist gewonnener Riesenschlachten bereitstehen, um entweder dem Bolschewismus entgegenzutreten oder nach dem Westen geworfen zu werden“.
Zum anderen half, mit Leibeskräften, die deutsche Bevölkerung. Hitler war in keiner Weise der ungeliebte Despot, sondern das „Sprachrohr der nationalistischen Massen“, wie sein Biograf Ian Kershaw analysiert, und der Diktator berauschte sich an der Begeisterung, die ihm die Deutschen entgegenbrachten. Erst in dem Wechselspiel zwischen „Führer“ und Volk bildete sich jene Hybris, die dann in den Untergang führte.
Dieser Befund wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass bei Kriegsbeginn auf Straßen und Bahnhöfen Jubelszenen ausblieben. Inzwischen weiß man, dass die Stimmung nach den ersten Siegen rasch umschlug. Die Deutschen waren trotz der Millionen Toten des Ersten Weltkriegs nicht zu Radikalpazifisten geworden; sie wollten nur einen zu hohen Blutzoll vermeiden.
Am 20. September notierte der amerikanische Journalist William Shirer aus Berlin, er müsse „den Deutschen erst noch finden - selbst unter denen, die das Regime nicht mögen -, der irgendetwas schlecht findet an der Zerstörung Polens“. Solange größere Verluste ausblieben, werde dies „kein unpopulärer Krieg“ sein. Eine treffende Prognose.
Und schließlich bereiteten die Spätfolgen des Ersten Weltkriegs den Boden für die Katastrophe. Diverse Mächte suchten die Nachkriegsordnung zu revidieren, schon bald herrschte pure Anarchie. Italiens Faschisten, Japans Militärs, die Sowjetunion unter Josef Stalin, auch das Obristenregime in Polen - sie alle strebten nach Einflusszonen oder Imperien und kooperierten dafür zeitweise mit den Nazis. Sogar die Demokraten in Großbritannien und Frankreich kamen dem Diktator entgegen. Viel zu lange, wenn auch überwiegend aus einem ehrenwerten Motiv: Sie wollten den Frieden retten.
Am Anfang waren freilich die Deutschen. Als Hitler 1933 Reichskanzler wurde, lag der Erste Weltkrieg nicht einmal eine Generation zurück, doch eine Aufarbeitung der eigenen Rolle war unterblieben. Enttäuscht von der Niederlage und gekränkt von den Bestimmungen des Versailler Vertrags, sannen Deutsche aller Schichten und politischen Couleur auf dessen Korrektur. Der Revisionismus, urteilt der Historiker Rolf-Dieter Müller, war „die stärkste Kraft“ im Land.
Das „Dritte Reich“ war zu dieser Zeit international isoliert (siehe Grafik); die Demokraten in London, Paris und Prag hielten ebenso Distanz wie das faschistische Italien und die Sowjetunion. Der braune Kanzler fürchtete in der ersten Zeit sogar einen Präventivkrieg der Nachbarländer - eine übertriebene Sorge.
Denn schon bald zeigte sich, wie brüchig die Nachkriegsordnung geworden war. Ausgerechnet die Junta Polens, das unter dem Zweiten Weltkrieg mehr leiden sollte als jedes andere Land (siehe Grafik Seite 69), ließ sich mit Hitler auf eine „Juniorpartnerschaft“ (Historiker Frank Golczewski) ein. 1934 schlossen Warschau und Berlin einen Nichtangriffspakt, der Hitler fortan im Osten den Rücken frei- hielt. Das polnische Regime nutzte seinerseits die Konstellation, um Nachbarländer unter Druck zu setzen, gegen die Warschau Ansprüche erhob.
Hitler sah sich dabei zunächst in der für ihn ungewohnten Situation, das Auswärtige Amt und die Militärs zu bremsen. Die Generalität strebte eine schnellere und umfassendere Aufrüstung an, als es der Diktator außenpolitisch für opportun erachtete.
Auch so wirkte das Tempo auf die Zeitgenossen atemberaubend, mit dem das „Dritte Reich“ die Fesseln von Versailles abschüttelte. Am 10. März 1935 gab Luftfahrtminister Hermann Göring bekannt, dass er über eine Luftwaffe verfüge, eine knappe Woche später verkündete Hitler die Einführung der Wehrpflicht, um die Wehrmacht auf 550 000 Mann aufzustocken - beides glatte Brüche des Versailler Vertrags, der eine weitgehende Abrüstung Deutschlands festlegte.
Hitler stürmte indes durch offene Tore, denn längst hatten die europäischen Siegermächte des Ersten Weltkriegs - Großbritannien, Frankreich, Italien - erkannt, dass die Bedingungen von Versailles einem dauerhaften Frieden im Weg standen. Und wer weiß, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts verlaufen wäre, wenn die Alliierten der unpopulären Weimarer Republik all das zugestanden hätten, was sie schließlich murrend akzeptierten, als der Diktator es sich nahm.
Immerhin lud im Frühjahr 1935 Mus-solini den britischen Premier Ramsay MacDonald und den französischen Ministerpräsidenten Pierre-Étienne Flandin ins mondäne Grandhotel in Stresa am Lago Maggiore. Der Jugendstilbau liegt direkt an der herrlichen Uferpromenade, und der eitle Mussolini reiste propagandawirksam mit dem Schnellboot an. Dann versprachen sich der italienische Volksschullehrer, der schottische Pazifist und der schnauzbärtige Franzose in die Hand, „mit allen geeigneten Mitteln“ künftige Übergriffe Hitlers zu ahnden.
Den Duce empörten vor allem Versuche österreichischer Nazis, in Wien die Macht zu übernehmen. Er verlangte eine „Strafexpedition“ gegen Berlin: „Sie alle, die Sie hier versammelt sind, wissen, dass Deutschland die Absicht hat, alles bis nach Bagdad zu erobern.“
Aber derselbe Mussolini träumte seinerseits von der Wiedergeburt eines römischen Reichs, und dazu sollte Abessinien gehören, das heutige Äthiopien. Wenige Monate nach Stresa griff er das afrikanische Kaiserreich an, was sein Verhältnis vor allem zu den Briten nachhaltig schädigte.
Mit diabolischem Geschick wusste Hitler die Konstellation für sich zu nutzen. Er lieferte insgeheim den Afrikanern Waffen, um einen vorzeitigen Sieg der Italiener zu verhindern; zugleich bot er dem international isolierten Mussolini Wirtschafts- und Rüstungshilfe an.
Anfang 1936 hatte der „Führer“ die Italiener, wo er sie haben wollte. Ein um Unterstützung buhlender Mussolini erklärte die sogenannte Stresa-Front „als ein für alle Mal tot“ und ließ Hitler nun wissen, er habe keine Einwände, sollte Österreich ein Satellit Deutschlands werden. Bald sprach Mussolini von der Achse Rom-Berlin.
Ohne italienischen Schutz war Österreich dem Druck des „Dritten Reichs“ ausgeliefert. Fiele Österreich erst in den deutschen Machtbereich, verschlechterte sich auch die strategische Situation der Tschechoslowakei. Und hatte Hitler erst Prag und Bratislava aus dem Weg geräumt, war Polen kaum mehr erfolgreich zu verteidigen, Nichtangriffspakt hin oder her.
„Der Führer ist glücklich“, notierte Goebbels.
Allerdings blieb das Reich an seiner Westgrenze verwundbar, und dieser Sachverhalt ließ Hitlers großen Gegenspieler Winston Churchill später urteilen, „niemals hätte sich ein Krieg leichter verhindern lassen“ als der Zweite Weltkrieg.
Im Westen Deutschlands galt eine Regelung aus dem Versailler Vertrag, die Außenminister Gustav Stresemann 1925 ausdrücklich akzeptiert hatte. Im Rheinland und längs einer Zone von 50 Kilometern östlich des Stroms durfte es keine deutschen Panzer geben, keine Garnison, keinen Fliegerhorst. So war es für die französische Armee jederzeit möglich, das Ruhrgebiet - die Waffenschmiede des „Dritten Reichs“ - ohne große Opfer zu besetzen. Ein unerträglicher Zustand, wie nicht nur die Nazis, sondern auch fast alle führenden deutschen Militärs und Diplomaten urteilten.
Am 7. März 1936 war es so weit. Noch vor Tau und Tag rollten die ersten Güterzüge, beladen mit Feldkanonen und Zugpferden, ans östliche Rheinufer. Dabei agierte Hitler überaus vorsichtig. Er schickte nur gut 30 000 Soldaten in die entmilitarisierte Zone; und gerade einmal 3000 der Männer durften den Strom überqueren und an die Grenze vorrücken. Der Befehl lautete, einen Kampf mit den Franzosen unbedingt zu vermeiden und stets in der Lage zu sein, innerhalb einer Stunde den Rückzug antreten zu können.
Doch die Franzosen unternahmen - nichts. Während begeisterte Rhein- und Saarländer den Landsern zujubelten, tagte in Paris das Kabinett. Ministerpräsident Albert Sarraut wollte sich die Zone keinesfalls „rüde und einseitig“ nehmen lassen. Wie er später berichtete, stand er damit in Frankreich allerdings weitgehend allein. Die Bevölkerung, die Parteien, die Kollegen - alle traumatisiert vom Ersten Weltkrieg, der überwiegend auf französischem Boden ausgetragen worden war.
Als Generalstabschef Maurice Gamelin in wohlformulierten Sätzen vortrug, bei einem Vormarsch sei mit stärkstem deutschem Widerstand, ja mit einem Krieg zu rechnen und Frankreich für einen Offensivfeldzug nicht gerüstet, nickten die Kabinettsmitglieder beifällig und schoben die Entscheidung den Briten zu. Nur wenn diese mitmachten, wollte man selbst aktiv werden.
London winkte ab. Wenn schon die Franzosen ohne Wenn und Aber nicht bereit waren, warum sollten dann die Söhne Britannias ihr Leben riskieren?
Der französische Geheimdienst schätzte damals die Zahl der deutschen Soldaten im Rheinland auf absurde 295 000 Mann; die Spezialisten hatten die Mitglieder von SS, SA und anderen Nazi-Organisationen mitgezählt. Heute weiß man: Eine Division hätte ausgereicht, um Hitlers Soldaten zu vertreiben.
„Ich habe eigentlich noch nie solche Angst ausgestanden ... Wenn die Franzosen wirklich Ernst gemacht hätten, wäre es für mich die größte politische Niederlage geworden“, gestand der Diktator später einem Vertrauten.
Statt des befürchteten Fehlschlags erlebte er einen Triumph - und was für einen. Die Deutschen feierten ihren „Führer“ wie einen Messias. In einer nur mäßig manipulierten Neuwahl des Reichstags sprachen sich am 29. März 1936 fast 99 Prozent der Wähler für die NSDAP aus. Selbst Goebbels war überrascht.
Hitler hatte sich schon immer am Jubel seiner Anhänger berauscht. Nach der Rheinlandbesetzung erreichte er den Punkt, an dem „Hybris die Oberhand gewann“ (Kershaw). Am 14. März 1936 erklärte der braune Kanzler vor einer ekstatischen Menschenmenge in München: „Ich gehe mit traumwandlerischer Sicherheit den Weg, den mich die Vorsehung gehen heißt.“
Seinen Generälen verkündete er bald den „unabänderlichen Entschluss, spätestens 1943/45 die deutsche Raumfrage zu lösen“. Waren damit die Würfel gefallen? Ließ sich der Krieg jetzt noch aufhalten?
Die Aufrüstung lief längst auf Hochtouren. Zwar brachte sie das „Dritte Reich“ an den Rand des Bankrotts, denn die Panzer und Bomber waren auf Pump finanziert. Doch Hitler, in Wirtschaftsfragen ein Dilettant, ließ sich von ökonomischen Sachzwängen nicht beeindrucken. In seiner Welt triumphierte der Wille, nicht das Können.
Allerdings beschleunigte die Dynamik der Aufrüstung ihrerseits das Tempo der Aggression. Es fehlte nämlich zunehmend an Rohstoffen und Devisen, und damit wuchs die Zahl derjenigen in Berlin, die begehrliche Blicke auf Österreich und die Tschechoslowakei warfen, auf deren Gold- und Devisenvorräte, auf die Rohstoffvorkommen und die tschechoslowakischen Rüstungsschmieden.
Bis in die kleine Gruppe um Weizsäcker und Heeres-Generalstabschef Ludwig Beck, die dem Regime zunehmend kritisch gegenüberstand und von der einige später zum Widerstand des 20. Juli zählten, reichte dabei der großdeutsche Konsens, dass es einen „Fall Tschechei (evtl. auch Österreich)“ gebe, den es „zu bereinigen gelte“, wie es Beck formulierte.
Immerhin konnte Weizsäcker nach 1945 für die Gruppe in Anspruch nehmen, sie habe einen Weltkrieg nicht gewollt. Statt auf Panzer und Bomben setzte sie auf diplomatischen Druck. Weizsäcker verglich das von ihm gegenüber Prag angestrebte Vorgehen mit einem „chemischen Auflösungsprozess“.
Wohlgemerkt: Hitler hatte die Unterwerfung der beiden Nachbarn ohnehin vorgesehen, aber erst in den vierziger Jahren. Nun ließ er schon vorher die Maske fallen.
Legendär ist die Szene, die sich am 12. Februar 1938 auf Hitlers Berghof im Berchtesgadener Land zutrug. Der „Führer“ hatte Kurt von Schuschnigg vorgeladen, den in Wien mit diktatorischer Macht regierenden christlich-sozialen Kanzler. Der erzkatholische Advokat mit dem Aussehen eines Buchhalters sollte endlich österreichische Nazis in sein Kabinett aufnehmen.
Zunächst sprachen der braune und der schwarze Kanzler über den herrlichen Ausblick. Ja, erklärte Hitler träumerisch, „hier reifen meine Gedanken“. Dann ein brüsker Wechsel: „Aber wir sind ja nicht zusammengekommen, um von der schönen Aussicht und vom Wetter zu reden.“
Er habe einen „geschichtlichen Auftrag“; Schuschnigg glaube doch wohl nicht, er könne ihn „auch nur eine halbe Stunde“ aufhalten. „Wer weiß“, drohte der Berliner Regierungschef, „vielleicht bin ich über Nacht auf einmal in Wien, wie der Frühlingssturm! Dann sollen Sie etwas erleben!“
Wie jede Spielernatur liebte Hitler den Bluff. Als Schuschnigg zwischendurch das Gespräch mit Beratern suchte, hörte er, wie der Nazi brüllte - scheinbar außer sich und zum Krieg entschlossen -, Wilhelm Keitel solle zu ihm kommen. Sofort eilte der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht herbei. Was der „Führer“ denn wünsche? Antwort Hitlers hinter verschlossenen Türen: „Gar nichts. Setzen Sie sich.“ Die beiden plauderten eine Weile, dann durfte Keitel gehen.
Der wartende Schuschnigg fürchtete unterdessen das Schlimmste - und stimmte den ultimativen Forderungen schließlich zu.
Am 11. März hatten die Nazis den Wiener Regierungschef endgültig niedergerungen; von Hermann Göring in diversen Telefonaten mit immer neuen Kriegsdrohungen bombardiert, trat Schuschnigg am Nachmittag zurück. Tags darauf rückte die Wehrmacht in Österreich ein, ohne dass ein Schuss fiel.
Ein Gangsterstück. Doch das Volk applaudierte.
Als Hitler am Nachmittag gegen 16 Uhr bei seiner Heimatstadt Braunau die Grenze überschritt, blieb die Wagenkolonne in der jubelnden Menschenmenge beinahe stecken. Links und rechts der Straße eine kaum zu bändigende Masse, die wie im Rausch „Heil“ und „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ schrie.
Wenige Tage nach der Rückkehr aus Wien verkündete Hitler freudestrahlend Goebbels, als Nächstes komme „die Tschechei dran“. Goebbels notiert in seinem Tagebuch: „Der Führer ist wunderbar. Ein wirkliches Genie.“
Die Vorherrschaft in Europa schien greifbar nahe, so sahen es damals Goebbels und sein Chef. 18 Monate hatten sie noch, bevor sie endgültig den Zweiten Weltkrieg lostraten.
Hitler traf sich nun mit Konrad Henlein, dem Führer der Sudetendeutschen Partei. Die alliierten Sieger hatten 1919 das einst zur österreichisch-ungarischen Monarchie zählende Sudetenland der Tschechoslowakei zugeschlagen, und die meisten Sudetendeutschen lehnten ihn ab, den neuen Staat, der sie seinerseits diskriminierte. Von der Weltwirtschaftskrise besonders gebeutelt, begeisterten viele sich zunehmend für den Kanzler im deutschen Nachbarland.
Im März 1938 vereinbarte Henlein mit Hitler, er werde von der Regierung in Prag „immer so viel fordern, dass wir nicht zufriedengestellt werden können“.
Hitler freilich wollte mehr als nur das Sudetenland. In einer mit Henleins Hilfe eskalierenden Krise sah er den Anlass zum Losschlagen, denn es war sein „unerschütterlicher Wille, die Tschechoslowakei von der Landkarte auszulöschen“. Die Wehrmacht erhielt Order, spätestens ab dem 1. Oktober zum Angriff bereit zu sein. Henleins Sudetendeutsche Partei übernahm es, immer neue Zwischenfälle zu provozieren; im Grenzgebiet zum Deutschen Reich lieferten sich seine Anhänger bald schon Feuergefechte mit Regierungssoldaten.
Längst herrschte Kriegsangst in Europa. Auf dem Londoner Versicherungsmarkt konnten Policen nicht mehr abgeschlossen werden, die Besitz gegen Kriegsschäden versicherten.
Der britische Premier Neville Chamberlain notierte: „Jetzt ist es vollkommen offenkundig, dass Stärke das einzige Argument ist, das Deutschland versteht.“
Und doch stand am Ende niemand der Tschechoslowakei bei, der letzten echten Demokratie östlich der Elbe. Warum nicht?
Paris und Moskau waren Alliierte Prags. Einen deutschen Einmarsch konnte allerdings keine der beiden Großmächte verhindern. Zwischen der Tschechoslowakei und dem Kreml-Imperium lagen Polen und Rumänien, die beide einen sowjetischen Durchmarsch ablehnten. Und Frankreich, dem immerhin die Möglichkeit eines Angriffs auf den Westen des „Dritten Reichs“ offenstand, machte erneut die eigene Haltung von der Position Londons abhängig.
Und so schaute die Weltöffentlichkeit im Sommer 1938 auf Premierminister Chamberlain, trotz seiner 69 Jahre ein außenpolitisch unerfahrener Politiker. Mit Vatermörder, Homburg, Uhrkette erschien er wie ein Relikt des 19. Jahrhunderts; hinter der altmodischen Erscheinung steckte allerdings eine ernsthafte Entschlossenheit, die ihm von Hitler die Schmähung einbrachte, er sei ein „verrückter alter Scheißkerl“.
Dabei zählte der konservative Spross einer Politikerfamilie zur großen Fraktion der sogenannten Appeaser, die Deutschland zu beschwichtigen suchten, indem sie dessen Wünsche erfüllten - soweit diese legitim erschienen und nicht mit Gewalt durchgesetzt wurden.
Appeasement war eine Politik, die sich ebenso aus Gefühlen speiste wie aus Kalkül, jedenfalls bei Chamberlain. Der britische Premier hatte im Ersten Weltkrieg seinen geliebten Cousin verloren. Seitdem predigte er den Grundsatz aller Pazifisten: Ein Krieg kennt nur Verlierer.
Als ehemaliger Schatzkanzler wusste der Brite zugleich um die Überdehnung des ermatteten Empires, das sich im Mittelmeer durch Italien, im Fernen Osten durch Japan und in Kontinentaleuropa durch Deutschland und die stalinistische Sowjetunion herausgefordert sah.
Da lag der Versuch nahe, zumindest das „Dritte Reich“ durch Entgegenkommen ruhigzustellen. Dem braunen Terror waren bis 1938 einige tausend Menschen zum Opfer gefallen, vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten, wofür manche im konservativen Establishment Londons sogar Verständnis zeigten. In der Sowjetunion hingegen ermordeten Stalins Schergen über eine Million Menschen. Chamberlain konnte sich durchaus vorstellen, mit einem gemäßigten Hitler Mitteleuropa gegen kommunistische Einflüsse zu stabilisieren.
Der Premier war daher bereit, beim Sudetenproblem den Deutschen freie Hand zu lassen. Die Grenzziehung entsprach ja tatsächlich nicht dem vielfach beschworenen Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Den Appeasern ist später vorgeworfen worden, ihnen sei der moralische Kompass abhandengekommen. Gern verweisen die Kritiker auf die Servilität britischer Diplomaten, über die sich Hitler insgeheim lustig machte, und auf die Verachtung, mit der viele Appeaser über Osteuropa sprachen.
Doch hinter der weichen Haltung gegenüber den Nazis steckte mehr: Das Gros der Briten scheute, nicht einmal eine Generation nach dem „Great War“, vor einem erneuten Krieg zurück. Auch die Dominions wie Südafrika, Australien und Kanada wollten ihre Soldaten nicht auf den Schlachtfeldern Europas für das Sudetengebiet opfern. Innenpolitisch betrachtet, gab es keine Alternative zu dem Kurs Chamberlains.
Inzwischen haben Historiker ermittelt, dass die militärische Lage für die Westalliierten keineswegs aussichtslos war. Hitler hatte für den Aufmarsch gegen die Tschechoslowakei den Westen Deutschlands von Truppen entblößt. Hinzu kam, dass die deutschen Benzinreserven gerade mal für einen vier Monate dauernden Feldzug reichten. Bezeichnenderweise fürchteten die Militärs einen Weltkrieg. Eine kleine Gruppe, zu der auch Beck und Weizsäcker zählten, plante sogar einen Putsch für den Fall eines Kriegsausbruchs.
Aber während Hitler die Warnungen seiner Generäle abtat („Ich weiß, dass England neutral bleibt“), spielte das Worstcase-Denken der Experten auf britischer und französischer Seite jenen Politikern in die Hände, die den Krieg unbedingt vermeiden wollten.
Der Westen rätselte damals über Hitlers Persönlichkeit und Ziele, wie er es heute über die Motive und Pläne des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad tut. Rettete man den Frieden, indem man Hitler durch entschlossenes Auftreten abschreckte? Oder führte westliche Resolutheit nur dazu, dass sich fanatische Anhänger um ihn scharten und es ihm erschwerten, Kompromisse einzugehen?
Als sich Anfang September die Anzeichen für einen deutschen Angriff mehrten, beschloss Chamberlain, persönlich mit Hitler zu sprechen, offenbar im Glauben, er (und nur er) könne ein vernünftiges Vertrauensverhältnis herstellen.
Zweimal kam der Premier mit dem „Führer“ zusammen, zunächst am 15. September 1938 auf dem Berghof bei Berchtesgaden, eine Woche später im Hotel Dreesen in Bad Godesberg. Vom Gastgeber zeigte er sich nicht sonderlich beeindruckt. Dieser sehe „völlig ununterscheidbar“ aus; in einer Menschenmenge würde man ihn nicht erkennen, schrieb er seiner Schwester.
Zu Hitlers Verwunderung erwies sich der von ihm verachtete Demokrat als unnachgiebig. Zwar erklärte sich der Brite bereit, gemeinsam mit den Franzosen die Tschechen und Slowaken zur Übergabe des Sudetengebiets zu drängen.
Die dann verbleibende Tschechoslowakei hingegen stellte Chamberlain nicht zur Disposition, und im Falle eines Angriffs, daran ließ der Premier keinen Zweifel, würde Großbritannien gemeinsam mit Frankreich Prag zur Seite stehen.
Hitler konnte alles haben - nur nicht mit Gewalt. Man ging ohne endgültige Vereinbarung auseinander.
Spätestens an diesem Punkt hätte Chamberlain seine Strategie überdenken müssen, denn die Frage drängte sich auf, warum Hitler einen militärischen Konflikt riskierte, wenn es ihm nur um das Sudetengebiet ging, das der Westen bereits zugestanden hatte. Aber der Premier notierte nach dem ersten Treffen mit Hitler, dass man sich „auf dessen Wort verlassen kann“; die Ziele des Reichskanzlers seien „streng begrenzt“.
Wohl selten ist einem Staatsmann eine so schwerwiegende Fehleinschätzung unterlaufen.
Auch Hitler lag freilich mit seiner Analyse der Lage daneben. Er tobte, drohte, setzte Ultimaten - das übliche Programm. Noch am Abend des 26. September peitschte er im Berliner Sportpalast seine Anhänger ein, drohte den Tschechen mit Krieg. Die 20 000 brüllten: „Führer befiehl, wir folgen!“
Doch erstmals zeigte sich ein Gegenüber von solchen Auftritten nicht beeindruckt. Hitlers Ankündigung, wenn die Briten ihre Position behielten, sei man in der folgenden Woche im Krieg, richtete sich nun gegen ihn selbst.
Von allen Seiten - Beratern, Ministern, Militärs - wurde der Diktator bedrängt, den Sprung ins Dunkle nicht zu wagen. Warum sollte man einen Krieg für etwas führen, das man umsonst haben konnte - diese Logik entschlüsselte sich auch führenden Nazis wie Göring nicht.
Um ausländische Diplomaten zu beeindrucken, ließ Hitler am Nachmittag des 27. September eine Division in Berlin paradieren. Der „Führer“ erwartete Begeisterungsstürme wie 1914; stattdessen musste er mit ansehen, wie Passanten sich in Hauseingänge duckten oder mit eisigem Schweigen auf die Soldaten blickten.
Es sei die „eindrucksvollste Anti-KriegsDemonstration“ gewesen, die er je gesehen habe, notierte US-Journalist Shirer. Hitler wandte sich mit der Bemerkung ab: „Mit diesem Volk kann ich noch keinen Krieg führen.“
Als am folgenden Morgen auch der von Chamberlain bedrängte Mussolini für eine friedliche Regelung plädierte, willigte der Diktator ein. „Wir haben keinen Absprung zum Krieg“, notierte enttäuscht Goebbels, einer der wenigen Scharfmacher in der Nazi-Führung.
24 Stunden später trafen sich die Alliierten mit Hitler und dem sich als europäischen Friedensvermittler gebenden Mussolini in München, um ein Abkommen zu unterzeichnen. Die Tschechoslowakei musste das Sudetenland ans „Dritte Reich“ abtreten. Wenige Tage später fiel die polnische Junta „mit dem Hunger einer Hyäne“ (Churchill) über das wehrlose Prag her und annektierte ihrerseits ein umstrittenes Gebiet.
Im Gegenzug für das Sudetenland versicherte der „Führer“, auf jede Gewaltanwendung zu verzichten.
In London bereiteten die Hauptstädter ihrem Regierungschef Ovationen; sie riefen „Good old Neville“ und sangen „For He's a Jolly Good Fellow“.
München 1938 - das Treffen der Staatsmänner schien zur Chiffre für einen großen Tag in der europäischen Geschichte zu werden, für Kompromissbereitschaft und Friedenswillen, Vernunft und politische Weitsicht.
Doch militärstrategisch gesehen erwies sich die Appeasement-Politik als Desaster für den Westen. Ohne die natürliche Barriere des Sudetenlands und ohne das dortige Festungssystem war die Tschechoslowakei nicht zu verteidigen.
Politisch allerdings trug die Kompromissbereitschaft Chamberlains am Ende zum Niedergang Nazi-Deutschlands bei. Denn die Zugeständnisse des Premierministers ließen niemanden daran zweifeln, dass die deutsche Seite die alleinige Verantwortung für jede weitere Eskalation trug.
Noch war Hitler nicht zu weit gegangen, noch hätte alles friedlich enden können. Kein Überfall auf Polen, kein Stalingrad, keine Bombardierung Dresdens.
Aber im Morgengrauen des 15. März 1939 rollten deutsche Panzer durch den spätwinterlichen Schneesturm, der über Böhmen und Mähren hinwegfegte. Weil Widerstand aussichtslos war, hatte die Regierung in Prag die eigenen Soldaten aufgerufen, die Waffen ruhen zu lassen.
„Zerschlagung der Rest-Tschechei“ nannte Hitler triumphierend den Einmarsch seiner Truppen. Der Westen der Republik wurde als „Protektorat Böhmen und Mähren“ dem Reich angegliedert, die Slowakei ein Satellitenstaat des deutschen Imperiums.
In geradezu ausgelassener Stimmung rief Hitler seinen Sekretärinnen zu: „Kinder, nun gebt mir mal da und da jede einen Kuss“, und zeigte auf seine Wangen. „Das ist der schönste Tag in meinem Leben!“ Für die Briten hingegen war es „the rape of Prague“. Die Goldene Stadt an der Moldau - geschändet von Landsern.
Aus der euphorischen Begeisterung von Millionen Briten für die Appeasement-Politik wurde binnen Stunden empörtes Entsetzen, und dann, nach und nach, betonharter Widerstand.
In seiner Heimatstadt Birmingham warnte Chamberlain in einer großen Rede, es gebe „keinen größeren Irrtum, als anzunehmen, dass unser Volk, weil es den Krieg für eine sinnlose und grausame Angelegenheit hält, so viel von seinem Selbstbewusstsein eingebüßt hat, um eine solche Herausforderung zurückzuweisen“.
Jetzt führte der Premier die Wehrpflicht ein. Jetzt ließ er sich auch auf Verhandlungen mit der verhassten Sowjetunion ein. Jetzt sprachen Großbritannien und im Schlepptau Frankreich eine Garantie für Hitlers Ex-Juniorpartner Polen aus. Geheimdienstler hatten berichtet, die Deutschen bereiteten einen Angriff auf Warschau vor.
Aber ließ sich Hitler noch abschrecken?
April 1939. Seit über sechs Jahren herrschten die Nazis inzwischen in Deutschland, und wäre ihr oberster Parteiführer damals und nicht erst sechs Jahre später gestorben, hätten ihn die Deutschen jener Generation für einen der Größten ihrer Geschichte gehalten. Die sogenannte Schmach von Versailles war fast vollständig getilgt, das Reich war mächtiger als je zuvor.
Doch Hitler war nicht zufrieden. Eigentlich wollte er, mit britischer Duldung und Polen als Gehilfen, gegen die Sowjetunion ziehen, um dort „Lebensraum“ für die arische Rasse zu erobern.
Seit München beschlich ihn allerdings zunehmend das Gefühl, einen Waffengang gegen England ins Kalkül ziehen zu müssen. Und auch die Polen fügten sich nicht den Wünschen des „Führers“.
Dabei hatte er ihnen eine „endgültige Bereinigung“ der Beziehungen angeboten. Einen Nichtangriffspakt bis 1959, wenn Warschau mit ihm gemeinsame Sache gegen die Sowjets machen würde. Zudem wollte er Danzig zurück, das unter Verwaltung des Völkerbunds stand, und eine exterritoriale Straße sowie eine Eisenbahnlinie vom Hauptteil des Reichs nach Ostpreußen, also eine Art Korridor durch den polnischen Korridor. Gemessen an Hitlers sonstigen Forderungen war das geradezu maßvoll.
Zu seiner Verblüffung lehnte die polnische Militärjunta mit dem zur Selbstüberschätzung neigenden Außenminister Józef Beck ab. Der aufgewühlten polnischen Öffentlichkeit war die Vorstellung eigener Grenzrevisionen unerträglich. Und natürlich fürchteten die Polen, aufgeschreckt durch den Prager Coup, dass sie als Nächstes an die Reihe kämen.
In dieser Situation nahm Beck das überraschende Angebot der Briten und Franzosen für einen Beistandspakt an, „zwischen zwei Fingerschnippern gegen seine Zigarette“, wie ein britischer Diplomat die Szene beschrieb.
Hitler tobte, als ihn die Neuigkeit erreichte. Wutentbrannt trommelte er mit den Fäusten auf die Marmorplatte seines Schreibtischs in der Reichskanzlei und stieß in einer Weise Verwünschungen gegen Großbritannien aus, dass ein Zeuge entgeistert einem Vertrauten berichtete: „Ich habe gerade einen Verrückten gesehen, ich kann's noch gar nicht fassen.“
Die Suada endete mit der Drohung: „Denen werde ich einen Teufelstrank brauen.“
Wenige Tage später unterzeichnete er die Befehle zum „Fall Weiß“, dem Angriff auf Polen. Spätestens ab dem 1. September 1939 sollte die Wehrmacht bereit sein zum Sturm aufs Nachbarland.
Angesichts der Polenfeindlichkeit in der Bevölkerung, aber auch bei Spitzendiplomaten und -militärs konnte Hitler mit Zustimmung rechnen. Viele Deutsche sahen in Polen „ein illegitimes Kind des verhassten Versailler Vertrags“, wie der britische Historiker Richard Overy schreibt*. Eduard Wagner, der spätere Generalquartiermeister, notierte im Juli 1939: „Mit den Polen hoffen wir, rasch fertig zu werden, und freuen uns offen gestanden darauf.“
Jetzt kam es auf die Westmächte an.
Hitler gab sich zuversichtlich. Briten und Franzosen würden einen Überfall auf Polen letztlich hinnehmen: „Die Männer, die ich in München kennengelernt habe, machen keinen neuen Weltkrieg.“ Nicht einmal Pläne für einen Feldzug gegen Frankreich ließ er ausarbeiten. Dafür mangelte es an Munition, Panzern, Bombern, Schiffen, ausgebildeten Soldaten. Hitler
wollte zunächst gegen Polen und nur gegen Polen ziehen.
So sah es aus, fünf Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Schwer zu sagen, wie alles weitergegangen wäre, wenn die Verantwortlichen im Berliner Außenministerium in dieser Situation nicht den Eindruck gewonnen hätten, man könne möglicherweise mit dem Erzfeind, der Sowjetunion, einen Ausgleich finden.
Eine auf den ersten Blick ungeheuerliche Idee.
Hatte Hitler nicht die Welt auf den 782 Seiten von „Mein Kampf“ unmissverständlich wissen lassen, dass die Sowjetunion das Hauptziel seiner Eroberungswut war? Die Begeisterung des Diktators hielt sich denn auch in Grenzen, als seine Ministeriellen mit der Idee kamen.
Aber er ließ sie Verbindungen knüpfen und Stimmung machen. Einem misstrauischen Moskauer Diplomaten, der seinen deutschen Kollegen auf „Mein Kampf“ ansprach, entgegnete dieser: „Ach das, das ist veraltet.“ Die Sowjets sollten es „nicht ernst nehmen“.
Bis heute ist umstritten, ob zuerst Stalin oder Hitler eine Annäherung suchte. „Wenn es geht, sind wir offensiv, wenn es nicht geht, warten wir ab“ - in großer Eindeutigkeit hat Stalins Außenminister Wjatscheslaw Molotow später einmal das prinzipienlose Prinzip der stalinschen Außenpolitik benannt.
Klassenfeinde waren in sowjetischen Augen beide, der Westen wie die Nazis. Weil Letztere gefährlicher schienen, hatte Stalin in den dreißiger Jahren mehrfach angeboten, sich an einer Eindämmung des „Dritten Reichs“ zu beteiligen. Doch die britischen Konservativen, damals Vorposten des Antikommunismus in der westlichen Welt, lehnten stets ab. Erst jetzt, im April und nach dem Prager Coup, kamen immerhin Sondierungen zwischen London und Moskau zustande.