Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Aus kurzer Distanz
Die Wahrheit über den tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg wurde von der Polizei vertuscht
Ein Mord und viele Lügen
Rekonstruktion des Mordes an Ohnesorg
Der Staatsschützer und der Stasi-Friseur
Was Stasi-Protokolle über das staatliche Vorgehen gegen die West-Berliner Außerparlamentarische Opposition verraten
„Keiner wollte mir glauben“
Der Augenzeuge Hans Brombosch über den Todesschuss auf den Studenten Ohnesorg
Fenster zum Hof
Auszüge aus dem Originalverhör des achtjährigen Brombosch am 4. Juni 1967 bei der Berliner Polizei
Manipulation auf dem OP-Tisch
Was im Berliner Krankenhaus Moabit mit Ohnesorg geschah
Der Ton der Großväter
Der Springer-Konzern und die Gewalt gegen Studenten
Verrat vor dem Schuss
Der Polizist Karl-Heinz Kurras war SED-Mitglied und Stasi-Agent
"Die DDR genoss keinen Heldenstatus
Der frühere Innenminister und Rechtsanwalt Otto Schily über den Stasi-Spitzel Kurras
Vollstrecker des Weltgewissens
Wie der 2. Juni 1967 Deutschland veränderte
Mord ohne Mörder
Warum der Todesschütze nie verurteilt wurde
„Träume im Kopf, Sturm auf den Straßen“
Ohnesorgs Tod steht am Beginn der Protestbewegung der sechziger Jahre
„Die Deutschen sind nicht mehr, was sie waren“
Der Politologe Ekkehart Krippendorff über den 2. Juni 1967 und das deutsche Geschichtsbewusstsein
Moabiter Landrecht
Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil gegen Kurras auf
Urteil im Zwielicht
Das Unbehagen über Kurras' Freispruch
„Bitte, bitte, nicht schießen!“
Der Prozess gegen Kriminalobermeister Kurras
Sehr heiß
Erste Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses zu den Ereignissen am 2. Juni 1967
Hass in der Mitte
Studenten trauern um Ohnesorg und protestierten gegen deutsche Polizei und Obrigkeit
Doppelte Drohung
Berlins Regierender Bürgermeister Heinrich Albertz gerät unter Druck
Knüppel frei
Benno Ohnesorg wird das Opfer einer beispiellosen Polizeiaktion in Berlin
Tod vor der Oper
Ungewöhnlicher Sicherheitsaufwand - mit einem toten Studenten - zum Besuch des Schahs
Impressum
Einleitung

Vorwort

Im Juni 1967 las ich als 13-Jähriger in der Lokalzeitung meiner Stadt am Rande des Ruhrgebietes eine ungewöhnliche Todesanzeige für einen erschossenen Studenten in Berlin. „Auf einer Demonstration gegen den Schah von Persien in West-Berlin ist der 26-jährige Benno Ohnesorg, stud.phil. durch die Kugel eines Polizeibeamten getötet worden. Er machte lediglich von seinem demokratischen Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch. Wir beklagen seinen Tod.“ 
Im ganzen Land erschienen solche Anzeigen und an meiner Schule, ein Theodor-Heuss-Gymnasium, veranstalteten die älteren Schüler ein Teach-In, mit Megafon, Transparenten und Studenten aus Berlin. Sie berichteten von diesem Tag und dem Schah, weswegen sie auf die Straße gegangen waren, um gegen Folter und Unterdrückung in dessen Land zu demonstrieren. 
Der tödliche Schuss eines Berliner Polizisten auf Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 radikalisierte eine ganze Generation, er brannte sich in ihr Gedächtnis ein, so wie das Bildmotiv auf dem Titel dieses E-Books zur Ikone der darauffolgenden 68er-Bewegung wurde. Der junge Student liegt am Boden, eine Frau kniet neben ihm und hält den Kopf des Sterbenden und blickt, so meint man, nach dem Täter. Getroffen war nicht einer, sondern viele: „Der Staat hat auf uns alle geschossen“ hieß es damals aus den Reihen der Studenten. Für etliche Radikalisierte führte der Weg in die Sackgasse des Terrorismus, ob RAF oder „Bewegung 2. Juni“. Für viele Menschen in unserem Land war dieser Tag ein Wendepunkt in ihrem Leben. 
42 Jahre später erfuhr ich, dass der West-Berliner Polizist Karl-Heinz Kurras SED-Mitglied und Stasi-Mitarbeiter gewesen war. Was war da los? Die daraufhin entstandene SPIEGEL-Titelgeschichte „Verrat vor dem Schuss“ findet sich in diesem E-Book genauso wie die Originalartikel des SPIEGEL aus dem Jahr 1967, die beim Lesen Zeit und Zeitgeist ganz nahe rücken lassen. 
Aber was hat das zu bedeuten, dass Kurras bei der Stasi war? Muss jetzt die Geschichte von '68 umgeschrieben werden? Hat der Ostdeutsche Geheimdienst mit einem Auftragsmörder gezielt Unruhe und Chaos im Westen schüren wollen? War es Notwehr, wie es Kurras selbst darstellte, war es ein Unglück oder eine Exekution, ein Mord? Wir wollten es noch einmal ganz genau wissen. Mit einem SPIEGEL-Rechercheteam habe ich mich monatelang um die Rekonstruktion des Geschehens zwischen der Deutschen Oper und dem Hinterhof in der Krummen Straße beschäftigt. Auch die Bundesanwaltschaft prüfte erneut, ob Kurras nicht wegen Mordes zum dritten Mal angeklagt werden könnte. 
„Aus kurzer Distanz“ heißt der Text, zu dem auch eine bemerkenswerte Skizze der SPIEGEL-Grafikabteilung gehört. Am Ende war klar, dass Kurras unbedrängt Benno Ohnesorg gezielt – etwa aus einem Meter Entfernung – und umringt von anderen Polizisten, so eiskalt wie hasserfüllt erschossen hat. Wie bei einer Exekution, wie ein Mord im Affekt, bei dem er die Gewalt, die in seiner Person durch Krieg und Nachkriegszeit steckte, weitergab, weiter an die dann gewalttätigen Studenten, letztlich an RAF und Bewegung 2. Juni. 
Um die Tat zu vertuschen, stellte sich der Staat vor seine Diener. Schon am Abend, in der Nacht und in den nächsten Tagen logen West-Berliner Polizei, Politiker und die regierungstreue Presse um die Wette. Was die Studenten und Augenzeugen um so mehr aufbrachte. Alle Dokumente hier zeugen von einem Justiz- und Polizeiskandal, für den sich die Verantwortlichen nie wirklich entschuldigt haben. Die Angehörigen Benno Ohnesorgs, seine Frau, seine Brüder, sein Sohn Lukas haben niemals eine Wiedergutmachung erhalten. Und Berlin, inzwischen die Hauptstadt dieses Landes, das auch durch seinen Tod zu dem geworden ist, was es ist, hat bisher nicht einmal die Größe gezeigt, eine Straße oder einen Platz zur Erinnerung nach Benno Ohnesorg zu benennen.
Berlin, im Mai 2017 – Peter Wensierski
Abbildung
SPIEGEL 4/2012

Aus kurzer Distanz

Ein Schuss, der die Republik verändert hat: Am 2. Juni 1967 tötete der Polizist Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg und löste damit die 68er-Revolte aus. 44 Jahre später haben Ermittler den Fall neu aufgerollt – und sind auf eine Verschwörung gestoßen.
Das Foto. Es stammt aus einer Zeit, als Geschichte noch in Schwarzweißbildern erzählt wurde: ein grauer Innenhof in West-Berlin, geparkte Autos und im Vordergrund ein Mann, jung, schlaksig. Er liegt auf dem Asphalt, hat den Kopf in die eine Richtung verdreht, die Füße in die andere. Neben ihm ein dunkler Fleck: Blut.
An seiner Seite steht ein Herr, Krawatte, Anzug, der aufgeschreckt in das Blitzlicht starrt. Und links, ganz am Rand, sieht man ein halbes Gesicht. Ein Gesicht, das hier nun zum ersten Mal auftaucht. Weil es vorher bei dieser Aufnahme immer abgeschnitten wurde. Denn das Foto kommt nicht nur aus einer Zeit, in der Geschichte in Schwarzweiß geschrieben wurde. Man wollte damals auch die Welt, je nach Standpunkt, so schwarz oder weiß sehen, dass die wahre Geschichte dafür verbogen wurde. Und verborgen blieb.
Der junge Mann am Boden heißt Benno Ohnesorg. Es ist der 2. Juni 1967, Ohnesorg hat gegen den Schah demonstriert, gegen den Staatsbesuch in West-Berlin, jetzt steckt in seinem Kopf ein Projektil, Kaliber 7,65 Millimeter. Eine Polizeikugel, die die Republik verändern wird. Weil sie die Studentenunruhen anheizt. Weil sie die 68er-Revolte auslöst, aber auch den Terror der Bewegung 2. Juni, der Roten Armee Fraktion. Den Aufstand gegen einen Staat, der nicht nur in den Augen ihrer Sympathisanten an diesem Abend in Berlin zuerst geschossen hat.
Der Mann neben Ohnesorg ist der Polizeieinsatzleiter Helmut Starke, der danach behaupten wird, er habe in diesem Moment nicht geahnt, dass ein Polizist geschossen und Ohnesorg getroffen hatte. Und den Schützen? Nein, den habe er nicht gesehen, erst später, auf der Straße. Aber nicht hier, in diesem Innenhof.
Doch der Schütze war immer da, auf diesem Foto, zusammen mit Starke. Karl-Heinz Kurras, 39, Kriminalobermeister. Das Halbgesicht ganz am Rand, das schnippelnde Finger, schonende Hände beseitigt haben. Gemacht hatte das Foto ein Polizeireporter der Berliner „BZ“ aus dem Springer-Verlag, Wolfgang Schöne. Ein guter Freund von Kurras, außerdem ein guter Bekannter von Starke, der den Polizeireporter regelmäßig mit Tipps versorgte. Auch die Richter kannten dieses Foto nur ohne Kurras – die Richter, die ihn später zweimal freisprachen.
Jetzt aber sieht man ihn. Im Hof, mit Starke, seinem Chef, kurz nach dem Schuss. Und trotzdem will Starke seinen Mann Kurras hier nicht bemerkt haben? Kaum zu glauben. So wie vieles andere. Denn es gibt inzwischen noch mehr Fotos, Vermerke, Aussagen, die ein anderes Licht auf den Fall werfen. Und auf die Lügen, die ihn seit 44 Jahren umgeben.
Das alles kommt nun hoch, liegt in Ermittlungsakten, die 2009 neu angelegt wurden. Da nämlich stellte sich heraus, dass der Schuss, der schon 1967 das Land erschütterte, noch ein zweites Mal für eine Staatsaffäre taugt. Kurras, heute 84, war nicht nur Beamter der West-Berliner Polizei. Er gehörte in den sechziger Jahren auch zu den Top-Agenten des Ostens, geführt als Stasi-IM „Otto Bohl“. 17 Aktenordner hat die Stasi-Unterlagen-Behörde zu ihm gefunden.
Damit kam plötzlich der Verdacht auf, dass sein Todesschuss einen ganz anderen Hintergrund haben könnte als immer vermutet. Dass dieser Kurras gar nicht in Notwehr oder aus Versehen geschossen hatte, nicht im Handgemenge mit Demonstranten, wie er nachher immer behauptet und vor allem die Springer-Presse verbreitet hatte. Aber auch nicht aus Hass auf alle Linken, wie die Studenten glaubten. Nun war denkbar, dass er für die Stasi abgedrückt hatte, als Auftragsmörder, um die Studentenkrawalle zu schüren und den Feindstaat Bundesrepublik zu zersetzen. Sofort begannen deshalb neue Untersuchungen, in Berlin, bei der Staatsanwaltschaft, und in Karlsruhe, bei der Bundesanwaltschaft.
Seitdem haben die Ermittler zum ersten Mal akribisch das gesamte verfügbare Bildmaterial vom 2. Juni 1967 ausgewertet. Sie haben Fotos und Filmschnipsel aufgehellt, sie durch hochauflösende Bildbearbeitungsprogramme gejagt, haben Ereignisse im Hintergrund sichtbar gemacht, die früher nur ein graues Nichts zu sein schienen. Einige Aufnahmen aus diesem Bilderberg waren bisher unbekannt, auf anderen wenig zu erkennen.
Auch der SPIEGEL hat monatelang Dokumente in Archiven gesichtet, hat mit Zeugen des 2. Juni gesprochen, und auch daraus ergibt sich nun ein Ablauf, sehr nah an dem Bild, das sich die Ermittler gemacht haben.
Für sie war es die letzte Chance, ein deutsches Rätsel zu lösen: warum Benno Ohnesorg sterben musste. Aus juristischer Sicht mögen die Ergebnisse eine Enttäuschung sein. Das Berliner Ermittlungsverfahren wurde im November eingestellt, es reichte nicht für eine Anklage. Zu viele Zeugen sind tot, dement, können sich nicht mehr erinnern, wollen es vielleicht auch nicht. Und die Fotos, Filmschnipsel? Für einen neuen Prozess langte auch das nicht. Zu verschwommen sind die entscheidenden Szenen, als dass sich die Ankläger damit in ein neues Verfahren gegen Kurras getraut hätten. Auch der Verdacht, mit dem die Bundesanwaltschaft noch ermittelt, lässt sich nicht erhärten. Dass Kurras im Auftrag der Staatssicherheit geschossen haben soll. Die Stasi-Akten, zumindest die bekannten, geben das nicht her.
Und doch sind die Ergebnisse eine Sensation. Denn bei allen Mängeln erlauben sie erstmals eine Rekonstruktion dessen, was mit großer Wahrscheinlichkeit am 2. Juni 1967 in diesem Berliner Innenhof tatsächlich geschah. Wie Ohnesorg erschossen wurde. Dass es Kurras mutmaßlich unbedrängt tat, aus kurzer Distanz. Eben ganz anders, als er im Prozess immer behauptet hatte. Das aber ist noch nicht alles: Die Puzzleteile ergeben auch das Bild einer unbekannten, unerhörten Verschwörung. Deutlich wird nicht nur, wie schlampig die Staatsanwaltschaft arbeitete. Und wie dreist Kurras offenbar alle belog. Sondern auch, wie eisern seine Kollegen ihn deckten.
„Es ist schlimmer als das Übelste, was wir damals vermuteten, so weit ging unsere Phantasie nicht“, sagt Hans-Christian Ströbele zu den neuen Erkenntnissen. „Wenn uns das jemand gesagt hätte, wir hätten es als Verschwörungstheorie abgetan.“ Ströbele, der grüne Bundestagsabgeordnete, der den 2. Juni 1967 in Berlin als Tag der politischen Erweckung erlebte, erkennt nun „einen Geheimbund“ in West-Berlin; „alle“, sagt Ströbele, „waren gegen uns.“ Und er sieht, 44 Jahre danach, „einen hinreichenden Verdacht, dass es sich bei der Erschießung von Benno Ohnesorg um eine vorsätzliche Tat mit Tötungsabsicht“ gehandelt habe.
Die Geschichte der Republik muss deshalb zwar nicht radikal umgeschrieben werden; es war nicht der gezielte Schuss von links, der die linken Anschläge auslöste. Aber die Geschichte dieses Schusses ist nun eine andere, und keiner weiß, wie die Geschichte des Landes weitergegangen wäre, wenn das damals schon korrekt ermittelt und offengelegt worden wäre.
Freitag, der 2. Juni 1967: Berlin, die geteilte Stadt, ist an diesem Tag noch einmal geteilt. Nun auch noch im Westen. Viele Berliner freuen sich, endlich mal wieder eine kaiserliche Hoheit bejubeln zu dürfen. Der Schah von Persien kommt, Resa Pahlewi. Ein Hochglanz-Herrscher, mit weißer Paradeuniform und einer Gemahlin, die eine ganze Juwelensammlung in ihrem Haar herumträgt.
Ein paar tausend erwarten dagegen den anderen Schah, den Schurken und Schlächter, der Oppositionelle verschwinden lässt, in den Kerkern der Geheimpolizei Savak oder gleich unter der Erde. Sie haben sich auf einen anderen Empfang vorbereitet. Die größtmögliche Majestätsbeleidigung.
Die aktivste Widerstandszelle gegen den Untertanengeist sitzt an der Freien Universität, wo auch ein Student der Romanistik eingeschrieben ist, Benno Ohnesorg, 26. Er gehört nicht zu den Radikalen, die Farbbeutel oder Steine werfen. Das iranische Regime empört aber auch ihn so sehr, dass er dagegen auf die Straße gehen will. Er nimmt sich einen weißen Kissenbezug; „Autonomie für die Teheraner Universität“, schreibt er darauf, später, im Sterben, wird seine rechte Hand dieses Stück Stoff umklammern.
Die Berliner Polizei erwartet die Schah-Gegner mit einer Großmacht; fast 4000 Schutzpolizisten in Uniform. Auch die Kripo schickt 250 Mann, darunter 88 Kriminalbeamte aus der Abteilung I, dem Staatsschutz. Die Einser sollen „wilde Demonstrationen rechtzeitig erkennen“ und „Störungen verhindern“, wie es im Einsatzbefehl heißt. Sie sehen sich als Elitetruppe, tragen keine Uniformen, sondern leichte Sommeranzüge und sind deshalb nicht als Polizisten zu erkennen. Höchstens da, wo ihre Dienstwaffe das Sakko ausbeult – eine Walther PPK, wie sie auch der Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras an diesem Tag trägt. Links, im Schulterhalfter.
Kurras scheint wie geschaffen für diesen Auftrag, überhaupt für die Arbeit beim Staatsschutz. Alles, was „wild“ ist, stört nicht nur öffentliche Ruhe und Ordnung, sondern auch sein persönliches Wohlbefinden. In seiner Wohnung sieht es damals aus wie in einem Möbelhaus-Katalog. Sein Freund, der „BZ“-Fotograf Schöne, erinnert sich heute noch, an die Kissen auf dem Sofa, mit Handkantenschlag genau in der Mitte geknickt, an die Bücher, akkurat ausgerichtet, an ein Wohnzimmer, eine Küche, die merkwürdig steril aussahen, so ordentlich alles.
Selbst im Fanatismus blieb dieser Kurras ganz Ordnungshüter. Er war besessen von Waffen, er ging in seinem Jahresurlaub auf die Jagd und jeden Sonntag auf den Schießstand des Polizeisportvereins in Berlin-Wannsee, meist mit Schöne. Dessen Fotos zeigen: Sogar beim Herumballern mit einem Colt trug Kurras Krawatte.
Er hatte schon 1944/45 schießen dürfen, als 17-jähriger Infanterist an der Ostfront; Kurras hatte nur knapp überlebt, mit zwei Treffern im rechten Arm. Gleich nach dem Krieg hatte er sich dann wieder eine Knarre besorgt, diesmal kostete ihn das die Freiheit. Wegen illegalen Waffenbesitzes verurteilten die Russen ihn zu 25 Jahren Lagerhaft in Sachsenhausen. Und als er früher rausdurfte, 1950, ging er zur West-Berliner Polizei, wo er ganz legal schießen durfte. Aber selbst hier ging er wie ein Süchtiger jedes Risiko ein, um immer häufiger seinen Schuss zu bekommen.
1955 bot er an, die Berliner Polizei für die Stasi auszuspionieren; der Großteil seines Agentenlohns ging für Waffen und Patronen drauf. Jeden Monat 300 bis 400 D-Mark allein für Munition, notierten seine Führungsoffiziere irritiert. Nach dem Todesschuss ist in Stasi-Akten von einer „charakterlichen Schwäche“ die Rede.
Nicht die einzige. Für die Berliner Staatsanwälte, die sich 2009 die Stasi-Akten vornahmen, ergab sich ein Persönlichkeitsbild, das sich mit „Kaltblütigkeit, der bekundeten Bereitschaft zur Gewaltanwendung und dem weitgehenden Fehlen von Empathie umschreiben lässt“. So nachzulesen in einem Vermerk der Ermittler.
Ein kleinkarierter Charakter, eine großkalibrige Dienstwaffe, das also ist die Grundausstattung, mit der Karl-Heinz Kurras am Morgen des 2. Juni 1967 seinen Dienst antritt. Gegen 19.30 Uhr erreicht er die Deutsche Oper, wo dem Schah die „Zauberflöte“ in der Inszenierung eines Staatsakts dargeboten werden soll. Die Polizei hat die Bismarckstraße vor dem Eingang gesperrt, aber die Menge kommt trotzdem nah heran. Sie steht gegenüber, auf dem Bürgersteig, zusammengepfercht in einem sechs Meter breiten Schlauch, vor sich ein Absperrgitter, im Rücken ein Bauzaun.
Es fliegen Tomaten, Rauchbomben, Farbbeutel, wohl auch Steine. Der Schah fährt vor und rettet sich ins Foyer. Um 20.07 Uhr kommt der Befehl: „Knüppel frei! Räumen!“
Die Beamten schlagen auf Männer und Frauen, Alte und Kinder, sie schlagen mit Wut und bis aufs Blut. Die Polizei drischt die Schah-Gegner rechts in die Seitenstraße, die Krumme Straße. Von dieser Stelle noch 110 Meter weiter, dann links in den Hof, dort wird Benno Ohnesorg in wenigen Minuten eine Kugel in den Kopf bekommen.
Die Protestierenden sind aufgebracht, aber am Eingang zur Krummen Straße ist es noch keine Straßenschlacht. Der Pulk der Demonstranten klatscht, pfeift, johlt. Ihnen gegenüber steht eine Kette der Schutzpolizei, 30 Mann. Zwischen den Fronten liegen 10, 20 Meter, ein Niemandsland, in dem nur die Herren in den Sommeranzügen operieren. Die Abteilung I, Staatsschutz, geführt von Kripo-Einsatzleiter Starke.
Die Einser nennen das „Füchse jagen“. Sie stehen hinter der Polizeikette, beobachten, wer auf der anderen Seite wie ein Anführer wirkt. Dann prescht ein Greiftrupp nach vorn, zerrt ihn aus der Menge, hinter die eigene Linie und zur Gefangenen-Sammelstelle.
Der Erste, den sich die Krawattenmänner schnappen, ist ein persischer Student, der Zweite ein Schüler mit Trillerpfeife. Der Dritte wird Hartmut Roßhoff, ein Student in grauer Wolljacke. Kurt Werner, Gruppenführer der Abteilung I, stürmt vor, auch einer seiner fünf Männer flitzt los, es ist Karl-Heinz Kurras. In Panik läuft der gejagte Roßhoff über eine Auffahrt in den Hof der Hausnummer 66/67. Werner, Kurras hinterher. Und dann strömen Demonstranten und Reporter nach, vielleicht 30 oder 40 Personen, die sehen wollen, was passiert. Es ist etwa 20.30 Uhr, die Dämmerung hat eingesetzt.
Es wird nach dem 2. Juni von den nächsten Minuten Hunderte Versionen geben, in denen nur eines gleich bleibt: der Innenhof. Ein Hof, 26 Meter breit, offen zur Krummen Straße, weil der Wohnblock an der Straße auf Pfeilern steht. Und 22 Meter tief: vorn die asphaltierten Parkplätze, mit dem Stelzen-Haus darüber, achteinhalb Meter. Dahinter, im Freien, ein Schotterstreifen, fünf Meter. Und dann bis zur Hauswand noch mal achteinhalb Meter Rasen, mit einer Teppichklopfstange darauf (siehe Grafik).
Fast alles andere wird dagegen zur Glaubenssache. Was man selbst glauben will, und was andere glauben sollen. Die Version von Karl-Heinz Kurras gehört allerdings zu denen, die man nicht glauben kann. Schon deshalb, weil er sie immer wieder selbst geändert hat.
In der Fassung, zehn Tage nach der Tat bei der Staatsanwaltschaft, geht sie in etwa so: Kurras kann im Hof seinen Anführer Werner nicht finden, er kann ihn auch nicht suchen, weil Kurras sofort von zehn bis zwölf Demonstranten eingekesselt wird. Ein „Mob“, „außer Rand und Band“. Sie drängen ihn ab, nach links hinten, in die Ecke. Kurras steckt Handkantenschläge ein, ins Genick, gegen den Kopf, er geht zu Boden und zieht seine Walther PPK. Die Demonstranten versuchen, ihm die Waffe aus der Hand zu reißen, er wird dabei hochgezogen, nach vorn gezerrt. Plötzlich sieht er zwei Männer, jeder mit einem Messer in der Hand, sie greifen ihn an, und wieder versucht einer, ihm die Pistole wegzureißen. Da schafft es Kurras, „mich durch alle Kräfteaufbietung durch einen Ruck nach vorn freizumachen“ und zu feuern. Einen Warnschuss.
Trotzdem greifen Demonstranten weiter nach seiner Waffe. Diesmal wird er „mit Fausthieben“ niedergeschlagen, er will noch einen zweiten Warnschuss abgeben, aber die Demonstranten ziehen an seinem Arm, und dann löst sich eine Kugel, unkontrolliert, „nur mit Zutun der mich bedrängenden Demonstranten“.
Danach ist er benommen, er denkt, dass er niemanden getroffen hat, er sucht Starke, seinen Chef, um die Schüsse zu melden. Findet ihn erst draußen auf der Straße. Meldet zwei Warnschüsse, Notwehr. Starke geht mit Kurras zum Polizeipräsidenten Erich Duensing, der nur wenige Schritte entfernt auf der Straße steht; der schickt Kurras in die Zentrale, damit er eine „Schusswaffengebrauchsmeldung“ macht. Dass seine Kugel einen Menschen getötet hat, erfährt Kurras erst am nächsten Tag, aus dem Fernsehen, der „Abendschau“.
So weit Kurras. So weit, so falsch.
In seiner Meldung aus derselben Nacht war noch keine Rede davon, dass ihm Schuss Nummer zwei einfach losgegangen sei. „Zwei Warnschüsse“ hieß es da nur, in „Richtung Hausbetondecke“ – wo es gar keine Einschüsse gab. Und dann die ominösen Angreifer mit den Messern. Mal erzählte Kurras, sie seien nach dem ersten Schuss aufgetaucht (Juli 1967 im „Stern“), mal die Version, sie seien nach dem ersten Schuss weggelaufen (November 1967 vor dem Landgericht).
Schon die Richter im ersten Prozess hatten „in weiten Teilen Bedenken“ gegen die Aussagen des Beamten. Aber sie konnten nicht ausschließen, dass seine Version stimmte. Und sie stellten fest: „Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Angeklagte einen gezielten Schuss auf Benno Ohnesorg abgegeben hat, er ihn also vorsätzlich töten oder verletzen wollte.“ Im Zweifel für den Angeklagten.
In der Revisionsverhandlung, 1970, stellten die Richter sogar fest, dass Kurras nur einmal geschossen hatte. Auf einem Tonband des Süddeutschen Rundfunks, das im Innenhof mitlief, gab es einen Schussknall – aber 133 Sekunden davor und 92 Sekunden danach keinen zweiten, bis das Band stoppte.
Auch die Messer-Geschichte glaubte das Gericht nicht. Keiner von 56 Zeugen im ersten Prozess hatte Männer mit Messern gesehen. Vielleicht sei Kurras aber so in Panik geraten, dass er Messer gesehen habe, wo keine waren. Das Gericht konnte nicht ausschließen, dass Demonstranten ihn vorher mal geschlagen hatten.
Schließlich hatten ein Polizeiarzt und ein Gerichtsmediziner hinterher sogar Blutergüsse bei Kurras diagnostiziert, am Nacken, am Oberschenkel und Oberarm. Auf den Untersuchungsfotos von damals wirken sie zwar so blass, dass sie zu Handkantenschlägen und Fausthieben nicht passen. Aber weil kein Zeuge Kurras vor dem Schuss im Hof gesehen haben wollte, konnte auch keiner mit Bestimmtheit sagen, dass Kurras nichts passiert war. Causa finita. Bis jetzt.
44 Jahre später ergeben die Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft und des Generalbundesanwalts ein neues Bild. Nicht genug für deutsche Gerichte, aber sehr wohl für die deutsche Geschichte. Ein Indizienbeweis, gestützt auf unbekannte Fotos und neue Bilddetails, die erstmals in einen Zusammenhang gestellt werden. Und auf den Nachweis, dass Polizisten nach dem Schuss gelogen haben müssen – wofür es nur eine plausible Erklärung gibt: um Kurras zu decken.
Also zurück in die Krumme Straße, zur Fuchsjagd. Kurt Werner, der Anführer der Jagd, erwischt den Studenten Roßhoff an der Teppichklopfstange, reißt ihn nach unten, ins Gras. Dann steht er über ihm, passt auf, dass er nicht wegläuft. Aber wo ist Kurras? Werner behauptet später in einer Vernehmung, den Kollegen habe er den ganzen Abend, von 19 bis 22 Uhr, nicht einmal gesehen. Und das, obwohl ihm Kurras doch hinterhergelaufen war. So sagte es Kurras hinterher. Und Starke, der Einsatzleiter. Und das Landgericht.
Nein, ihm habe ein anderer Kripo-Mann geholfen, behauptete Werner, „vermutlich Weiß“. Günter Weiß. Dabei hatte Werner ihn selbst woandershin geschickt, und in einem Polizeivermerk wird Werner deshalb auch später mit der Aussage zitiert, Weiß komme „als Zeuge für die Vorfälle in der Krummen Straße“ nicht in Frage. Aber so wie er, so hat angeblich auch kein anderer Polizist Kurras im Hof gesehen. Nicht sehen wollen?
Eines der bekanntesten Fotos, die in diesen Minuten entstehen, zeigt eine Gruppe an der Teppichstange, auf dem Rasen (Grafik: Foto 1). Roßhoff, der Student, liegt am Boden, bewacht von einem Krawattenmann. Daneben ein Schutzpolizist, Horst Stelzer, der erste Uniformierte, der den Kripo-Kollegen hinterhergerannt war, um ihnen zu helfen. Er hält drohend einen Schlagstock hoch. Und ihm gegenüber steht Benno Ohnesorg, mit Jesuslatschen. Bisher galt dieses Foto als das letzte, das Ohnesorg vor dem Schuss zeigt.
Kurz bevor der Fotograf auf den Auslöser drückte, haben hier aber noch mehr Demonstranten gestanden, vielleicht 20, in einem Halbkreis um den gestürzten Roßhoff und die Polizisten. Etwa 30 Sekunden, so ein Zeuge, hielt der Halbkreis, die Demonstranten wirkten unschlüssig, einige wollten Stelzer den Knüppel wegreißen. Aber es gab keinen Versuch, Roßhoff zu befreien. „Man wollte ja auch keine Schläge einfangen“, erklärte einer von ihnen hinterher das Patt.
Wo also stand Kurras? Ein Demonstrant bemerkte in diesem Moment noch einen Kripo-Mann, links hinten in der Ecke. Genau da, wo Kurras ja auch zunächst gestanden haben wollte. Der Polizist habe eine „Angriffsstellung“ eingenommen. Aber keiner sah, dass er angegriffen wurde. Und nur Sekunden später dachte sowieso kein Demonstrant mehr an Angriff. Der Halbkreis stob auseinander, weil plötzlich ein ganzer Schwarm Uniformierter mit gezücktem Schlagstock in den Hof rannte, um die Kripo-Männer rauszuhauen. Als das Foto entsteht, das Ohnesorg an der Klopfstange zeigt, muss er einer der wenigen sein, die noch nicht losgerannt sind.
Die Polizisten knüppeln auf alle, die es nicht schnell genug aus dem Hof schaffen. Auf die Köpfe. Der Medizinstudent Götz Friedenberg bekommt von hinten einen Schlag auf den Schädel, aus einer Platzwunde schießt das Blut, Polizisten dreschen auf ihn ein. Er schreit: „Ich habe doch gar nichts getan“, er hört: „Wir werden es euch zeigen.“ Dann fällt er.
Friedenberg am Boden. Das wird nun bei der Aufklärung, wie Ohnesorg starb, zur Schlüsselszene, zum entscheidenden Bezugspunkt. Denn wie die Polizisten Friedenberg in die Mangel nehmen, haben viele Fotografen und Fernsehteams festgehalten. Und es sind genau diese Sekunden, in denen auch der Schuss auf Ohnesorg fällt.
Bei der Friedenberg-Szene dreht sich jetzt alles um drei Fotos und eine Filmsequenz, um die logischen Schlüsse, die sich ergeben, wenn man sie miteinander verknüpft. Das, was im Hintergrund durch aufwendige Bildbearbeitung nun klarer erkennbar ist als 1967.
Zunächst zu dem Filmschnipsel, gedreht von Dietrich Bertram vom Sender Freies Berlin (SFB). Acht Sekunden lang schwenkt seine Kamera im Hof wild hin und her. Ab Sekunde sechs sieht man einen Mann im Schattenriss, der ganz allein, mit ruhigen Schritten, vom Rasen kommt, über den Schotter geht, Richtung Parkhof. Als er einen weißen VW Käfer passiert, zeichnet sich vor der Heckscheibe in seiner Hand ein Gegenstand ab. Mit einer glatten Oberfläche. Geformt wie der Lauf einer Pistole (Grafik: Foto 2). Beides, Schattenriss und Pistole, ist zwar nur schemenhaft zu erkennen. Aber lediglich Kurras hat im Hof die Pistole gezogen, und der Schattenriss passt zu ihm.
So sehen das zumindest heute die Ermittler. In einem Vermerk der Staatsanwaltschaft Berlin vom 18. Juli 2011 heißt es: „Die HD-Abtastung des Filmmaterials vom damaligen SFB ergab den Schattenriss einer männlichen Person, die sich unbedrängt hinter dem Vorfall mit Friedenberg auf den Ereignisort Ohnesorg zubewegt. Die Konturen legen dabei nahe, dass es sich um Kurras handelt.“ Und weiter: „Diese Person hält einen Gegenstand in der Hand, der die Umrisse einer Schusswaffe hat.“
Wie aber ist Ohnesorg zum „Ereignisort“ gekommen? Er hatte schließlich zuletzt an der Teppichklopfstange gestanden, auf dem Rasen. Doch irgendwann hatte auch er sich umgedreht, um vor den heranstürmenden Polizisten zu flüchten – zu spät, wie Friedenberg.
Starke, der Einsatzleiter, sagte aus, er selbst habe an der Stange versucht, den Mann im roten Hemd festzunehmen. Ohnesorg. Der habe mit den Händen gestoßen, mit Füßen getreten, sei weggelaufen, Richtung Straße. Doch zwei Uniformierte hätten dem Rothemd rechtzeitig den Weg abgeschnitten. Also habe er, Starke, sich auch nicht mehr weiter darum gekümmert. Und weggeschaut.
Dafür will jetzt eine andere genau hingeschaut haben, die Demonstrantin Erika Schneider. Ihr fällt in diesen Sekunden der Mann in Rot auf, der zu den Autos unter dem Dach rennt. Sie sieht einen Polizisten, der ihm von hinten den Knüppel auf den Kopf haut. Sofort sollen auch die beiden Schupos, die Ohnesorg den Weg von vorn abschnitten, zugeschlagen haben, obwohl er nur den Arm zum Schutz vor sich gehalten habe.
Jetzt wieder zurück zum SFB-Film. Der zeigt schon, wie Polizisten Friedenberg raus auf die Straße schubsen; er hält sich den Kopf. Das ist wichtig für die Reihenfolge. Zunächst bewegt sich der Schattenriss, vermutlich Kurras, zum überdachten Parkhof, erst danach geht die Prügelorgie gegen Friedenberg zu Ende.
Entscheidend sind nun drei Fotos. Eins ist von „BZ“-Reporter Schöne, das noch nie vollständig veröffentlicht wurde (Grafik: Foto 3). Es zeigt im Vordergrund, wie ein Polizist mit wütendem Gesicht Friedenberg traktiert, der noch auf dem Rücken liegt. Und im Hintergrund sieht man: Füße. Nur die Füße einer Gruppe von Männern, bei denen es sich, den Hosenbeinen und Schuhen nach, um Polizisten handelt. Ein Paar gehört Starke, wie Vergleichsbilder zeigen.
Zwei Füße aber sind nackt, sie stecken in Jesuslatschen, es sind die Füße von Ohnesorg, und er steht. Offenbar ist er also noch nicht getroffen – es ist das nun wirklich letzte Foto mit ihm vor dem Schuss.