image

Für alle, die sich in sich selbst verloren haben

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn,
daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird.
Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.

FRIEDRICH NIETZSCHE, Jenseits von Gut und Böse

Die Hölle ist leer …
und alle Teufel sind hier!

WILLIAM SHAKESPEARE, Der Sturm

Weit draußen im Ödland stand ein Haus, verlassen.

Ein Ort, wo ein Mädchen aufgewachsen und ein Junge bei lebendigem Leib verbrannt worden war.

Ein Ort, wo eine Geige zerschmettert und ein Unbekannter erschossen worden war.

Und ein neues Monster geboren worden war.

Sie stand in dem Haus, den Toten zu ihren Füßen, stieg über seine Leiche hinweg und ging in den Hof hinaus. In tiefen Zügen sog sie die frische Luft ein, während vor ihr die Sonne unterging.

Dann begann sie zu laufen.

***

Weit draußen im Ödland stand ein Lagerhaus, vergessen.

Ein Ort, wo die Luft immer noch voller Blut und Hunger und Hitze war. Ein Ort, wo das Mädchen entkommen und der Junge gefallen war, wo die Monster besiegt worden waren …

Bis auf eines.

Er lag auf dem Boden des Lagerhauses, eine Metallstange im Rücken. Mit jedem Herzschlag spürte er sie in seinem Fleisch. Schwarzes Blut breitete sich wie ein Schatten unter seinem dunklen Anzug aus.

Das Monster starb.

Aber es war nicht tot.

***

Dort fand sie ihn und zog die Waffe aus seinem Rücken. Dann sah sie zu, wie er aufstand und schwarzes Blut auf den Boden des Lagerhauses spuckte.

Er wusste, dass sein Schöpfer tot war.

Und sie wusste, dass ihrer es nicht war.

Noch nicht.

1. STROPHE

MONSTERJÄGERIN

zahl

Prosperity

Kate Harker gab alles.

Blut tropfte aus einer kleinen Schnittwunde an ihrer Wade, und ihre Lungen schmerzten von dem Schlag, den ihr Brustkorb abbekommen hatte. Sie war froh, dass sie eine Schutzweste trug, auch wenn diese nur eine Notlösung war.

»Nach rechts.«

Ihre Stiefel rutschten über das glatte Pflaster, als sie um die Ecke rannte und in eine Seitenstraße abbog. Sie fluchte, als sie die vielen Menschen vor sich sah. Die Markisen der Restaurants waren eingerollt, Tische und Stühle standen trotz des aufziehenden Gewitters im Freien.

»Es holt auf«, hörte sie Teos Stimme in ihrem Ohr.

Kate machte kehrt und stürmte wieder die Hauptstraße entlang. »Wenn ihr einen Massenmord verhindern wollt, solltet ihr besser eine andere Stelle für mich finden.«

»Ein halber Block, dann nach rechts«, meldete sich Bea. Kate fühlte sich wie ein Avatar im Mehrspielermodus, in einem Game, in dem ein Mädchen von Monstern durch eine Großstadt gejagt wurde. Allerdings war diese Großstadt real – die Hauptstadt im Zentrum von Prosperity – und die Monster waren es auch. Okay, inzwischen war es nur noch ein Monster. Eins hatte sie schon ausgeschaltet. Doch ein zweites kam auf sie zu.

Die Schatten um sie herum teilten sich, als sie weiterrannte. Die Nacht war kühl, fette Regentropfen rollten an ihrem Kragen hinunter und liefen ihr über den Rücken.

»Jetzt nach links«, wies Bea sie an. Kate sprintete an einigen Geschäften vorbei und bog dann in einen schmalen Durchgang, wobei sie eine Spur aus Angst und Blut wie Brotkrumen hinter sich ließ. Sie erreichte ein schmales Grundstück mit einer Mauer, die aber keine Mauer war, sondern die Tür eines Lagerhauses.

Für den Bruchteil einer Sekunde war sie wieder in dem Lagerhaus, in einem dunklen Raum, mit Handschellen an eine Metallstange gefesselt, während irgendwo hinter der Tür Metall auf Knochen traf und jemand …

»Nach links.«

Kate blinzelte und verdrängte die Erinnerung, als Bea ihre Anweisung wiederholte. Aber da die Tür einen Spalt offen stand, ging sie geradeaus, aus dem Regen heraus in das leer stehende Gebäude.

Das Lagerhaus hatte keine Fenster; es war dunkel, bis auf den schwachen Schein aus dem Durchgang hinter ihr, der kaum einen Meter in den Raum reichte. Der Rest der Stahlstruktur war in tiefe Schwärze getaucht. Kate klopfte das Herz bis zum Hals, als sie einen der Leuchtstäbe knickte – Liams Idee – und ihn in die Schatten warf. Im nächsten Moment flutete weißes Licht die Halle.

»Kate …«, meldete sich Riley zum ersten Mal. »Sei vorsichtig.«

Sie schnaubte. Von Riley kamen wie immer nur völlig nutzlose Ratschläge. Als sie sich im Lagerhaus umsah, entdeckte sie ein paar übereinandergestapelte Lattenkisten, die fast bis zu den Stahlbalken der Decke reichten. Sie begann zu klettern und zog sich gerade an der letzten Kiste nach oben, als die Tür des Lagerhauses quietschte.

Kate erstarrte.

Sie hielt den Atem an, als Finger – nicht aus Fleisch und Knochen, sondern etwas anderem – sich um die Innenseite der Tür legten und sie öffneten.

Kate hörte ein Rauschen in ihrem gesunden Ohr.

»Lagebericht?«, fragte Liam nervös.

»Jetzt nicht«, flüsterte sie, während sie auf einem Balken balancierte. Das Monster unter ihr betrat die Halle. Der Schweiß auf ihrer Haut ließ sie plötzlich frösteln und für einen Moment sah Kate Sloans rote Augen vor sich, seine schimmernden Eckzähne, den dunklen Anzug.

Komm, kleine Katherine, würde er jetzt bestimmt gleich sagen. Lass uns spielen.

Aber ihr Gehirn spielte ihr einen Streich – die Kreatur, die sich in die Halle schlich, war kein Malchai. Sie war etwas völlig anderes.

Das Wesen hatte zwar die roten Augen eines Malchai und die scharfen Krallen eines Corsai, aber seine Haut war so blauschwarz wie die einer verwesenden Leiche. Und es war nicht auf der Jagd nach Fleisch oder Blut.

Es fraß Herzen.

Kate wusste nicht, warum sie davon ausgegangen war, dass die Monster überall gleich waren. In Verity gab es drei Arten, aber hier war sie nur einer begegnet. Bis jetzt.

Verity hatte die höchste Kriminalitätsrate der zehn Territorien – was zum größten Teil wohl ihrem Vater zu verdanken war –, während Prosperitys Sünden schwerer auszumachen waren. Den Bilanzen nach war Prosperity das bei Weitem reichste Territorium, aber die starke Wirtschaft verrottete von innen heraus.

Wenn Veritys Sünden Messer waren, schnell und gefährlich, waren die Prosperitys Gift: langsam, heimtückisch, aber genauso tödlich. Und als sich die Gewalt zu etwas Greifbarem, Monströsem zusammengeballt hatte, war das nicht plötzlich geschehen, wie in Verity, sondern so langsam und schleichend, dass sich die meisten Bewohner der Stadt immer noch einredeten, dass es die Monster gar nicht gab.

Das Ding im Lagerhaus ließ allerdings auf etwas anderes schließen.

Es schnupperte, als würde es versuchen, sie zu riechen – eine schaurige Erinnerung daran, wer von ihnen der Jäger und wer, jedenfalls im Moment, der Gejagte war. Angst kroch an ihrer Wirbelsäule hoch, als der Kopf des Monsters sich von links nach rechts bewegte.

Und dann sah es nach oben. Zu ihr.

Kate wartete nicht.

Sie ließ sich nach unten fallen und packte den Stahlträger, um den Sturz abzubremsen. Dann landete sie in geduckter Haltung zwischen Kreatur und Tür. Die Eisenbolzen in ihren Händen blitzten auf, jeder so lang wie ihr Unterarm und spitz zugefeilt.

»Suchst du nach mir?«

Das Monster drehte sich um und verzog das Gesicht zu einem animalischen Grinsen, wobei es zwei Dutzend blauschwarze Zähne enthüllte.

»Kate?«, fragte Teo. »Siehst du es?«

»Ja«, antwortete sie trocken. »Ich sehe es.«

Bea und Liam begannen beide gleichzeitig zu reden, doch Kate tippte auf das Headset ihres Funkgeräts und die Stimmen verstummten. Stattdessen setzte eine Sekunde später ein schneller Beat mit starkem Bass ein. Die dröhnende Musik in ihrem Kopf verdrängte Angst, Zweifel, Herzschlag und alles andere, was sie jetzt nicht brauchen konnte.

Das Monster krümmte seine langen Finger und Kate machte sich bereit. Das erste Monster hatte versucht, ihr seine Hand durch die Brust zu stoßen, was auch der Grund für die blauen Flecke auf ihrem Oberkörper war. Doch der Angriff kam nicht.

»Was ist denn los?«, neckte sie. Ihre eigene Stimme ging in der Musik unter. »Ist mein Herz nicht gut genug?«

Am Anfang hatte sie sich noch gefragt, ob die Verbrechen, die auf ihre Seele geschrieben waren, sie weniger appetitlich machten.

Offenbar nicht.

Die Kreatur sprang auf sie zu.

Es war immer wieder überraschend festzustellen, dass Monster schnell waren.

Egal, wie groß sie waren.

Egal, wie hässlich.

Blitzschnell wich sie der Kreatur aus.

Fünf Jahre Unterricht in Selbstverteidigung an sechs verschiedenen Privatschulen hatten ihr einen Vorsprung verschafft. Doch die letzten sechs Monate, in denen sie in Prosperity Jagd auf alles gemacht hatte, was nachts sein Unwesen trieb – das war ihr eigentliches Training gewesen.

Zwischen den Hieben tänzelte sie hin und her, versuchte, den Klauen des Monsters aus dem Weg zu gehen und seine Deckung zu unterlaufen.

Messerscharfe Fingernägel zerteilten die Luft über Kates Kopf, während sie sich flink duckte und mit einem der Eisenbolzen die ausgestreckte Hand der Kreatur aufschlitzte.

Das Wesen fauchte, griff wieder an und ließ erst von Kate ab, als seine Krallen den Ärmel ihrer Bluse zerrissen und das Kupfergewebe darunter trafen. Die Panzerung verhinderte eine größere Verletzung, doch Kate schnappte nach Luft, als irgendwo an ihrem Arm Haut zerfetzt wurde und Blut floss.

Fluchend versetzte sie dem Monster einen Fußtritt auf die Brust.

Es war doppelt so groß wie sie und bestand aus Hunger, Blut und wer weiß was noch allem, aber die Sohle ihres Stiefels war mit Eisen beschlagen. Die Kreatur taumelte nach hinten und krallte die Finger in den eigenen Oberkörper, als das Metall ein Stück gesprenkeltes Fleisch wegbrannte und die dicke Membran freilegte, von der das Herz geschützt wurde.

Volltreffer.

Kate visierte ihr Ziel an und warf sich auf die Kreatur. Die Spitze des Bolzens bohrte sich durch Knorpel und Muskel und traf genau die verwundbare Stelle.

Komisch, dachte sie. Sogar Monster hatten schwache Herzen.

Das Monster taumelte nach hinten. Sie gingen beide zu Boden, dann wurde aus der Kreatur unter ihr ein Meer aus schwarzem Blut.

Mühsam rappelte Kate sich auf, hielt die Luft an, um den entsetzlichen Gestank nicht einatmen zu müssen, und wankte zur Tür des Lagerhauses. Sie lehnte sich dagegen, eine Hand auf die Wunde an ihrem Arm gedrückt.

Das Lied in ihrem Ohr war zu Ende. Kate schaltete wieder auf die Frequenz der Einsatzleitung.

»Wie lange ist ihre letzte Meldung jetzt her?«

»Wir müssen etwas unternehmen.«

»Haltet die Klappe«, sagte sie. »Melde mich zurück.«

Ein paar saftige Flüche.

Ein erleichtertes Aufatmen.

»Lage?«, erkundigte sich Bea knapp.

Kate zog ihr Handy heraus, fotografierte den blutigen Haufen auf dem Boden und schickte die Aufnahme an die Einsatzleitung.

»Großer Gott«, stöhnte Bea.

»Geil«, meinte Liam.

»Sieht aus wie eine Fälschung«, fand Teo.

Riley hörte sich an, als wäre ihm schlecht. »Machen sie das immer? Ich meine, fallen sie immer auseinander?«

Die Kommentare in ihrem Ohr erinnerten Kate wieder einmal daran, dass ihre Mitstreiter bei diesem Kampf im Grunde genommen nichts verloren hatten. Sie halfen ihr, aber sie waren nicht so wie sie. Sie waren keine Jäger.

»Wie geht es dir, Kate?«, erkundigte sich Riley. »Alles in Ordnung?«

Blut floss an ihrem Unterschenkel herunter und tropfte von ihren Fingern und ihr war schwindlig. Aber Riley war ein Mensch – sie musste nicht ehrlich zu ihm sein.

»Alles bestens«, antwortete sie. Dann unterbrach sie die Verbindung, bevor ihre keuchende Atmung auffiel. Der Leuchtstab flackerte und erlosch. Kate war wieder von Dunkelheit umgeben.

Aber es war ihr egal.

Denn jetzt war die Dunkelheit leer.

zahl

Kate ging die Treppe hoch, wobei sie eine Spur aus grauen Tropfen hinter sich herzog. Auf halbem Weg zur Wohnung hatte es wieder zu regnen begonnen. Trotz der Kälte hatte sie sich darüber gefreut, denn der Regen hatte einiges von dem schwarzen Blut auf ihrem Körper abgewaschen.

Trotzdem sah sie immer noch aus, als wäre sie in eine Schlägerei mit einem Topf Tinte geraten – und hätte verloren.

Sie erreichte den zweiten Stock, schloss die Tür auf und betrat die Wohnung. »Liebling, ich bin wieder da.«

Natürlich bekam sie keine Antwort. Kate konnte in Rileys Wohnung, die von seinen Eltern bezahlt wurde, bleiben, während er »in Sünde« mit seinem Freund Malcolm lebte. Sie wusste noch ganz genau, wie sie die Wohnung mit den freiliegenden Ziegelwänden, den Kunstwerken an den Wänden und den wuchtigen, bequemen Sofas zum ersten Mal gesehen hatte. Damals war ihr durch den Kopf geschossen, dass Rileys Eltern mit Sicherheit aus anderen Einrichtungskatalogen bestellten als Callum Harker.

Sie hatte noch nie allein gelebt.

Während ihrer Zeit in diversen Internaten hatte sie sich ihr Zimmer mit einer anderen Schülerin geteilt. Und zu Hause, in Harker Hall, war immer ihr Vater da gewesen. Zumindest theoretisch. Und sein Schatten, Sloan. Kate war immer davon ausgegangen, dass sie es genießen würde, endlich einmal Privatsphäre und Freiheit zu haben, aber dann hatte sich herausgestellt, dass Alleinsein viel von seinem Charme verlor, wenn man keine andere Wahl hatte.

Kate unterdrückte das Selbstmitleid, bevor es noch schlimmer wurde, und ging ins Bad. Auf dem Weg dorthin entledigte sie sich ihres Panzers. Panzer war ein ziemlich großes Wort für das auf einen Paintball-Anzug genähte Drahtgeflecht aus Kupfer. Aber die Konstruktion, die aus Liams Interesse für Kostümdesign und Kriegsspiele entstanden war, funktionierte. Jedenfalls in neunzig Prozent der Fälle. Die übrigen zehn Prozent … na ja, das waren dann einfach nur scharfe Krallen und Pech.

Im Bad fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild. Nasse, aus dem Gesicht gestrichene blonde Haare und bleiche Wangen, die mit schwarzem Blut gesprenkelt waren. Sie starrte sich an.

»Wo bist du?«, murmelte sie. Wie verbrachten andere Kates in anderen Leben wohl gerade den Abend? Die Vorstellung, dass es für jede Entscheidung, die man traf oder nicht traf, ein anderes Ich gab, hatte ihr schon immer gefallen. Irgendwo da draußen gab es Kates, die nie nach Verity zurückgekehrt waren und die nie darum gebettelt hatten, wieder gehen zu dürfen.

Mädchen, die noch mit beiden Ohren hören konnten und Eltern hatten anstatt niemanden mehr.

Mädchen, die nicht weggelaufen waren, nicht getötet hatten, nicht alles verloren hatten.

Wo bist du?

Vor langer, langer Zeit hätte sie bei dieser Frage zuerst an das Haus jenseits des Ödlands gedacht, das von hohem Gras und einem endlos weiten Himmel umgeben war. Jetzt war es der Wald hinter der Colton Academy, sie mit einem Apfel in der Hand, Vogelgezwitscher über ihr, und ein Junge, der kein Junge war und mit dem Rücken an einem Baum lehnte.

Kate stellte das Wasser in der Dusche an und zuckte zusammen, als sie das letzte Stück Stoff auszog.

Die Glastür beschlug vom Dampf, und sie musste ein Stöhnen unterdrücken, als das heiße Wasser auf ihre Haut traf. Sie lehnte sich an die Fliesen und dachte an eine andere Stadt, ein anderes Haus, eine andere Dusche.

Ein Monster, das in sich zusammengesunken in einer Badewanne lag.

Ein Junge, der von innen heraus brannte.

Ihre Hand auf seiner.

Ich werde dich nicht fallen lassen.

Während das heiße Wasser zuerst grau und rostrot und dann klar in den Abfluss rann, musterte Kate ihre Haut. Inzwischen sah sie aus wie ein Flickenteppich aus Narben: Der Tropfen in ihrem Augenwinkel und die helle Linie, die sich von ihrer Schläfe bis zu ihrem Kiefer zog, waren Spuren des Autounfalls, bei dem ihre Mutter ums Leben gekommen war. Der bogenförmige Wulst an ihrer Schulter, der von den Zähnen eines Malchai stammte. Und die gerade erst verheilten Risse, die die Klauen eines Corsai an ihren Rippen hinterlassen hatten.

Und dann waren da noch die Narben, die man nicht sehen konnte.

Die Narben, die sie sich selbst zugefügt hatte, als sie die Pistole ihres Vaters genommen, abgedrückt und einen Fremden getötet hatte. Das hatte ihre Seele rot gefärbt.

Kate drehte das Wasser ab.

Als sie ihre frischen Wunden verband, fragte sie sich, ob es irgendwo eine Version ihrer selbst gab, die sich amüsierte. Die die Füße auf die Lehne des Kinosessels vor sich legte, während auf der Leinwand Monster aus den Schatten krochen und Zuschauer zu kreischen begannen, weil es Spaß machte, Angst zu haben, wenn man wusste, dass es nichts zu fürchten gab.

Sich die anderen Leben vorzustellen, hätte kein Trost sein sollen. Und trotzdem ging es ihr jetzt besser. Einer dieser Wege führte ins Glück, auch wenn Kates eigener sie hierher geführt hatte.

Aber das hier, so sagte sie sich, war genau der Ort, an dem sie sein sollte.

Fünf Jahre lang hatte sie versucht, die Tochter zu werden, die ihr Vater wollte – stark, hart, abscheulich –, nur um dann zu erfahren, dass ihr Vater sie selbst überhaupt nicht wollte.

Aber jetzt war er tot und Kate lebte. Sie hatte sich eine Beschäftigung suchen müssen, hatte entscheiden müssen, wer sie sein wollte und wie sie ihre Fähigkeiten nutzen konnte.

Sie wusste, dass es nicht genug war. Egal, wie viele Monster sie abschlachtete – das Monster, das sie geschaffen hatte, würde weiter existieren, und das Rot auf ihrer Seele würde nicht verschwinden. Aber das Leben ging weiter.

Und hier in Prosperity hatte Kate eine Aufgabe gefunden, einen Sinn. Als sie jetzt ihren Blick im Spiegel fand, sah sie kein Mädchen, das traurig, einsam oder orientierungslos war. Sie sah ein Mädchen, das keine Angst vor der Dunkelheit hatte.

Sie sah ein Mädchen, das Monster jagte.

Und das konnte es verdammt gut.

zahl

Kates Magen knurrte, doch sie war zu müde, um sich etwas zu essen zu suchen. Sie stellte das Radio an und ließ sich auf die Couch fallen. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus und genoss den Luxus von sauberen Haaren und einem weichen Sweatshirt.

Sie war noch nie sentimental gewesen, doch wenn man nur mit einer Reisetasche unterwegs war, lernte man, die Dinge zu schätzen, die man besaß. Das Sweatshirt war von Leighton, dem dritten der sechs Internate, die sie besucht hatte. An die Schule hatte sie keine guten Erinnerungen, doch der Pulli war weich und warm, ein Überbleibsel aus einem vergangenen Leben. Kate achtete darauf, sich nicht zu sehr an diese Sachen zu klammern, sie hielt sie nur fest, damit sie nicht verschwanden. Außerdem waren die Schulfarben von Leighton Waldgrün und Hellgrau, was eindeutig besser war als die grauenhafte Kombination aus Rot, Violett und Braun, die St. Agnes seinen Schülerinnen aufgezwungen hatte.

Sie tippte auf ihr Tablet und meldete sich in dem privaten Chatraum an, den Bea in der Unendlichkeit von Prosperitys offenem Netzwerk für sie geschaffen hatte.

Willkommen bei den Wächtern las sie auf dem Display.

Das war der Name, den sie sich selbst gegeben hatten. Liam, Bea und Teo, lange bevor Kate aufgetaucht war. Riley war damals auch noch nicht dabei gewesen; er war von Kate in die Gruppe gebracht worden.

Liam: Hahahahaha Wölfe.

Teo: Sie wollen es vertuschen. Alle wissen, was in Verity passiert ist.

Bea: Nichts Böses sehen, nichts Böses hören und sich einreden, dass es nichts Böses gibt.

Liam: Weiß nicht. Ich hatte einmal eine Katze, die knallhart war.

Kate starrte für einen Moment das Display an und fragte sich dann zum hundertsten Mal, was sie hier machte und warum sie eigentlich mit diesen Leuten redete. Warum sie sich mit ihnen eingelassen hatte. Sie hasste den Teil von sich, der sich nach sozialen Kontakten sehnte, sich sogar darauf freute.

Riley: Habt ihr das von der Explosion in der Broad Street gelesen?

Kate hatte keine Freunde gesucht – sie war nie sehr gut mit anderen zurechtgekommen, war nie lange genug in einer Schule geblieben, um echte Freunde zu finden.

Riley: Irgend so ein Typ geht in seine Wohnung und reißt die Gasleitung aus der Wand.

Freunde waren viel wert. Es war eine Art soziale Währung, Teil einer Gruppe zu sein. Aber den emotionalen Aspekt daran hatte Kate nie verstanden. Freunde wollten, dass man ehrlich war. Freunde wollten, dass man mit ihnen teilte. Freunde wollten, dass man zuhörte und sich kümmerte und sorgte und noch ein Dutzend andere Dinge tat, für die Kate einfach keine Zeit hatte.

Eine Spur war alles, was sie gewollt hatte.

Riley: Der Mitbewohner war zu Hause, als es passierte.

Kate war vor sechs Monaten in Prosperity angekommen, mit nichts als einer Reisetasche, fünfhundert Dollar in bar und einem unguten Gefühl, das mit jeder neuen Nachricht in den Medien gewachsen war. Hundeangriffe. Bandenkriminalität. fragwürdige Aktivitäten. Brutale Gewalttaten. Verdächtige auf der Flucht. Tatorte gestört. Waffen vermisst.

Liam: Krass.

Bea: Deprimierend, Riley.

Ein Dutzend Artikel, die über eindeutige Spuren berichteten, die von Zähnen und Klauen stammten. Und dann gab es da noch die Gerüchte, die im offenen Netz die Runde machten und alle auf ein und denselben Ort verwiesen, dessen Namen bei Kate eine Gänsehaut erzeugte: Verity.

Kate wollte nicht so weit gehen, ein Schild mit der Aufschrift FRISS MICH an ihrem Rücken zu befestigen und nachts in dunklen Seitenstraßen herumzuspazieren, aber abgesehen davon war ihr nichts eingefallen. Monster zu finden war in Verity nie ein Problem gewesen, aber hier kamen auf jede echte Sichtung hundert Trolle und Verschwörungstheoretiker, die die Threads in den Foren für sich vereinnahmten. Es war so etwas wie eine Nadel im Heuhaufen und eine Horde Idioten schrie die ganze Zeit: MICH HAT ETWAS GESTOCHEN.

Doch irgendwo in dem Rauschen war Kate etwas aufgefallen. Die Leute nannten sich Die Wächter und waren keine Jäger, sondern Hacker – Hacktivisten, wie Liam das nannte –, die davon ausgingen, dass die Behörden entweder völlig unfähig waren oder die Wahrheit vertuschen wollten.

Die Wächter durchsuchten Webseiten, wühlten sich durch Videomaterial und markierten alles, was verdächtig aussah. Dann spielten sie die Daten der Presse zu und bombardierten Diskussionsforen mit den Informationen, damit irgendjemand zuhörte.

Kate hatte zugehört.

Sie hatte sich einen der Hinweise ausgesucht und war ihm nachgegangen. Als sich alles als wahr herausgestellt hatte, hatte sie die Quelle ausfindig gemacht. Und erst da hatte sie herausgefunden, wer die Wächter wirklich waren: ein paar Collegestudenten und ein Vierzehnjähriger, der nie schlief.

Teo: Ja, echt traurig, aber was hat das mit den Herzfressern zu tun?

Bea: Seit wann nennen wir sie Herzfresser?

Liam: Seit sie angefangen haben, Herzen zu fressen.

Kate wollte immer noch keine Freunde haben. Aber sosehr sie sich auch sträubte, mit der Zeit hatte sie die anderen immer besser kennengelernt. Bea, die eine Schwäche für dunkle Schokolade hatte und später einmal in die Forschung gehen wollte. Teo, der nicht still sitzen konnte und sogar ein Laufband in seinem Zimmer hatte. Liam, der bei seinen Großeltern lebte und sich mehr Gedanken machte, als ihm guttat. Riley, dessen Familie ihn umbringen würde, wenn sie wüsste, mit wem er seine Nächte verbrachte.

Und was wussten die anderen über sie?

Sie kannten nur ihren Namen und selbst der stimmte nur zur Hälfte.

Für die Wächter war sie Kate Gallagher, eine Ausreißerin, die ein besonderes Talent dafür hatte, Monster zu jagen. Sie hatte Kate behalten, obwohl sie jedes Mal zusammenzuckte, wenn sie diese eine Silbe hörte, weil sie sicher war, dass jemand aus ihrer Vergangenheit sie gefunden hatte. Aber der Name war alles, was ihr geblieben war. Ihre Mutter war tot. Ihr Vater war tot. Sloan war tot. Und der Einzige, der sie noch von früher kannte und ihren Namen anders aussprechen würde, war August. Doch er war meilenweit entfernt in Verity, im Zentrum einer Stadt, die in Flammen stand.

Bea: Das ergibt wesentlich mehr Sinn als Corsai, Malchai, Sunai. Wer hat sich eigentlich die Namen ausgedacht?

Teo: Keine Ahnung.

Bea: Dein Mangel an professioneller Neugier ist erschreckend.

Die Wächter hatten Kate monatelang damit in den Ohren gelegen, sie persönlich kennenlernen zu wollen. Und als es dann so weit war, wäre sie fast wieder gegangen. Kate hatte sie von der anderen Straßenseite aus beobachtet. Sie sahen alle so … normal aus. Gut, unauffällig waren sie nicht gerade: Teo hatte kurze blaue Haare, Bea war an einem Arm von unten bis oben tätowiert, und Liam, der eine überdimensionierte orangefarbene Brille trug, wirkte wie ein Zwölfjähriger. Aber sie machten nicht den Eindruck, als kämen sie geradewegs aus Verity. Sie waren keine Soldaten des Flynn-Einsatzkommandos und keine verwöhnten Teenager der Colton Academy. Sie waren einfach nur … normal. Sie hatten noch ein anderes Leben. Sie hatten etwas zu verlieren.

Liam: Warum sagen wir nicht einfach, was sie sind und was sie tun? Körperfresser, Blutfresser und Seelenfresser. Punkt. Aus.

Kate musste daran denken, wie August im U-Bahn-Tunnel ausgesehen hatte. Seine langen dunklen Wimpern hatten gezittert, als er seine Geige ans Kinn gesetzt hatte. Musik war erklungen, als der Bogen die Saiten gefunden hatte, und hatte sich in Fäden aus brennendem Licht verwandelt. Ihn einen Seelenfresser zu nennen, war in etwa so, als würde man die Sonne als hell bezeichnen. Im Grunde genommen korrekt, aber nur ein Bruchteil der Wahrheit.

Riley: Ist Kate da?

Sie wechselte von anonym zu öffentlich.

Kate nimmt am Chat teil.

Bea: Hallo!

Teo: Stalker.

Riley: Ich habe mir schon langsam Sorgen gemacht.

Liam: Ich nicht!

Bea: Ja, klar. Du kannst ja auch Karate.

Kates Finger tanzten über die Tastatur des Tablets.

Kate: Kein Grund zur Sorge. Ich lebe noch.

Riley: Du solltest wirklich nicht so lange Funkstille halten, ohne dich vorher ordnungsgemäß abzumelden.

Teo: Oooooh, Riley spielt mal wieder den Daddy.

Daddy.

Kate musste an ihren Vater denken, an die blutbefleckten Manschetten seines weißen Hemds, die toten Monster zu seinen Füßen, den selbstgefälligen Ausdruck auf seinem Gesicht, bevor sie ihm eine Kugel ins Bein gejagt hatte.

Aber sie wusste, was Teo meinte – Riley war nicht so wie die anderen Wächter. Wenn Kate nicht gewesen wäre, hätte er sich der Gruppe überhaupt nicht angeschlossen. Er studierte Jura an der Universität und machte gerade ein Praktikum bei der Polizeibehörde. Und genau das war für die Wächter interessant, denn es bedeutete, dass Riley Zugang zu Überwachungsaktionen und Einsatzbesprechungen hatte. Teo konnte zwar nicht den Polizei-Server hacken, wie er immer wieder betonte, aber eine geöffnete Tür brauchte man schließlich nicht einzutreten.

(Riley zufolge war sich die Polizei »der Überfälle bewusst und behielt die Entwicklung kontinuierlich im Auge«, was Kate lediglich für eine etwas umständlichere Formulierung als Leugnen hielt.)

Riley: *macht Daddy-Gesicht* *droht mit dem Finger*

Riley: Aber jetzt mal im Ernst. Lass bloß kein Blut auf meine Couch tropfen.

Kate: Keine Angst.

Kate: Das meiste ist auf der Treppe geblieben.

Liam: *stöhn*

Kate: Gibt es schon neue Spuren?

Teo: Bis jetzt noch nicht. Auf der Straße ist alles ruhig.

Was für eine sonderbare Idee.

Wenn Kate so weitermachen konnte wie bisher, wenn sie die Herzfresser ausschalten konnte, sobald sie entstanden, anstatt nur die Trümmer aufzuräumen, wenn sie ihnen immer zwei Schritte voraus war, würde es vielleicht nicht schlimmer werden. Vielleicht konnte sie verhindern, dass aus dem Ganzen ein Phänomen wurde. Vielleicht – was für ein sinnloses Wort. Vielleicht war es nur eine andere Art zu sagen, dass sie es nicht wusste.

Und Kate hasste es, nicht zu wissen.

Sie schloss den Browser. Ihre Finger schwebten kurz über dem dunkel gewordenen Display, dann öffnete sie ein neues Fenster und begann, nach Verity zu suchen.

Wie man sich in fremde Funknetze hackte, hatte Kate auf ihrem zweiten Internat gelernt, draußen am östlichen Rand von Verity, eine Stunde von der Grenze zu Temperance entfernt.

Offiziell sendeten alle zehn Territorien auf offenen Frequenzen, aber wenn man wissen wollte, was wirklich in einem anderen Territorium geschah, musste man hinter den digitalen Vorhang schlüpfen.

So weit die Theorie. Aber egal, wie gründlich Kate auch suchte, sie fand einfach keinen Weg nach Hause.

Okay, die Quarantäne war erneut in Kraft getreten. Die Grenzen, die sich in den letzten Jahren langsam geöffnet hatten, waren jetzt wieder dicht. Aber es gab keinen Vorhang, hinter den sie schlüpfen konnte. Aus Verity kam überhaupt nichts.

Das Funksignal war verschwunden.

Dafür gab es nur eine mögliche Erklärung: Die Tech-Türme mussten defekt sein.

Die Grenzen waren geschlossen, das Kommunikationsnetz war gestört, und damit war Verity jetzt völlig von den anderen Territorien abgeschnitten.

Aber die Leute in Prosperity kümmerte das gar nicht. Nicht einmal die Wächter machten sich deshalb Gedanken – Teo hatte das Wort unvermeidbar benutzt. Bea war der Meinung, dass man die Grenzen nie hätte öffnen dürfen, dass man Verity sich selbst überlassen sollte, damit es sich vernichtete wie ein Feuer in einer Glasflasche. Selbst Riley schien keine eindeutige Meinung zu haben. Nur Liam war etwas besorgt, aber das war eher Mitleid als persönliches Interesse. Natürlich wussten die anderen nicht, was Verity für Kate bedeutete.

Kate wusste es ja selbst nicht.

Aber sie konnte einfach nicht aufhören zu suchen.

Jede Nacht machte sie sich auf die Suche, nur für den Fall. Sie klickte sich durch jeden Brotkrümel im offenen Netzwerk und hoffte auf Neuigkeiten über Verity, über August Flynn.

Es war eigenartig. Sie kannte August von seiner schlechtesten Seite. Sie hatte gesehen, wie der Hunger ihn in Wahnsinn und Schatten getrieben hatte. Sie hatte ihn brennen sehen. Sie hatte ihn töten sehen.

Doch wenn Kate an ihn dachte, sah sie nicht den Sunai aus Rauch oder die Gestalt, die mit glühend heißer Haut in einer Badewanne hockte. Sie sah einen Jungen mit traurigen Augen, der allein auf der Tribüne am Sportplatz saß, mit einem Geigenkasten zu seinen Füßen.

Kate schob das Tablet zur Seite und ließ sich nach hinten auf die Couch fallen. Dann legte sie den Arm über die Augen und versank im rhythmischen Beat des Radios, bis sie schläfrig wurde.

In der kurzen Stille zwischen zwei Songs hallten plötzlich Schritte durch das Treppenhaus. Sie erstarrte und drehte ihr gesundes Ohr in Richtung Tür. Die Schritte wurden langsamer, blieben stehen.

Kate wartete auf ein Klopfen, doch es kam nicht. Stattdessen hörte sie das Geräusch einer Hand, die sich auf den Knauf legte, und das Klicken des verriegelten Türschlosses. Kates Finger schoben sich unter ein Kissen und holten eine Pistole hervor. Es war die Waffe, mit der sie im Haus ihrer Mutter einen Fremden getötet hatte, die Waffe, mit der sie ihren Vater in seinem Büro angeschossen hatte.

Sie hörte eine dumpfe Stimme hinter der Tür, dann das Kratzen von Metall auf Metall. Kate richtete die Pistole auf die Tür, als sie aufgestoßen wurde.

Einen Moment lang war die Silhouette im Türrahmen nichts als ein Schatten. Das Licht im Flur fiel auf eine Gestalt, die nur knapp größer war als sie, mit weichen Kanten und kurzen Haaren. Keine roten Augen, keine scharfen Zähne, kein dunkler Anzug. Nur Riley, der in der Diele stand und mit einem Karton Pizza, einem Sixpack Softdrinks und einem Schlüssel kämpfte.

Als er die Waffe sah, riss er die Hände hoch. Pizzakarton, Getränkedosen und Schlüsselring fielen zu Boden.

»Verdammt noch mal, Kate.« Seine Stimme klang gepresst.

Kate stieß einen erleichterten Seufzer aus und legte die Pistole auf den Couchtisch. »Du hättest anklopfen sollen.«

»Das ist meine Wohnung«, protestierte Riley, während er mit zitternden Händen den Pizzakarton und die Getränkedosen aufhob. »Richtest du die Waffe auf jeden Besucher oder nur auf mich?«

»Auf jeden«, erwiderte Kate. »Aber bei dir habe ich sie nicht entsichert.«

»Ich fühle mich geschmeichelt.«

»Was machst du hier?«

»Oh, ich wollte nur mal nach meiner Untermieterin sehen«, antwortete er. »Und sicherstellen, dass sie mir nicht die Wohnung auseinandergenommen hat.«

»Du wolltest nur wissen, ob ich die Couch vollgeblutet habe.«

»Und die Treppe.« Sein Blick wanderte von ihr zu der Waffe auf dem Tisch und wieder zurück. »Erlaubnis einzutreten?«

Kate breitete die Arme aus und stützte sich auf die Rückenlehne der Couch. »Passwort?«

»Ich habe Pizza dabei.«

Dem Karton entströmte ein himmlischer Duft. Kates Magen knurrte erneut, dieses Mal lauter. »Also gut. Erlaubnis erteilt.«

zahl

Rituale waren etwas Merkwürdiges.

Für die meisten Menschen waren Rituale so etwas wie komplizierte Formeln, Zaubersprüche oder zwanghafte Handlungen, die sich nach Monaten oder gar Jahren der Wiederholung ins Unterbewusstsein gebrannt hatten.

Aber im Grunde genommen war Ritual nur ein ausgefallenes Wort für Angewohnheit. Etwas, das einfacher zu tun als zu lassen war. Außerdem fielen einem Angewohnheiten leicht – vor allem schlechte. Zum Beispiel, Leute an sich heranzulassen.

Kate machte es sich an einem Ende der Couch bequem, Riley am anderen. Im Fernseher lief gerade eine Late-Night-Talkshow, deren Moderator schlechte Witze riss.

Riley hielt eine der Getränkedosen hoch. »Das wird lustig«, sagte er, während er den Ringverschluss zurückbog. Vorsichtshalber zog er schon einmal den Kopf ein, seufzte dann aber erleichtert, als keine Explosion kam.

Kate nahm sich ein zweites Stück Pizza und versuchte, die Schmerzen zu ignorieren, als der Verband auf die Haut drückte.

»Du hättest das nicht tun müssen«, murmelte sie zwischen zwei Bissen.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß.«

Sie musterte ihn über den Rand der Pizza hinweg. Riley war schlank, hatte warme braune Augen und die Art von Lächeln, an dem das ganze Gesicht beteiligt war. Außerdem litt er an einem Helfersyndrom. Wenn er nicht an der Universität oder auf dem Polizeirevier war, arbeitete er ehrenamtlich bei einer Hilfsorganisation für gefährdete Teenager.

Was war sie für ihn? Sein neuestes Projekt?

Als sich ihre Wege gekreuzt hatten, war Kate bereits seit drei Wochen in Prosperity. Nachts hatte sie in leer stehenden Gebäuden geschlafen und tagsüber mit einer Tasse Kaffee vor sich in Cafés gesessen und im Netzwerk nach Hinweisen gesucht.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie jemand aus dem Café werfen würde – sie hatte schon seit Stunden nichts mehr bestellt. Trotzdem war sie alles andere als erfreut, als ein junger Mann sich zu ihr an den Tisch setzte und so tat, als würde er ein Buch lesen wollen, nur um sie dann zu fragen, ob sie Hilfe brauchte.

In der Nacht vorher war Kate das erste Mal mit einem Monster aneinandergeraten und es war nicht gut gelaufen. Was wirklich keine Überraschung für sie hätte sein sollen, denn ihre praktische Erfahrung auf diesem Gebiet – abgesehen von Prügeleien in Klassenräumen – bestand darin, einen gefesselten Malchai im Keller ihres Vaters hingerichtet zu haben und beinahe von einem Corsai in der U-Bahn ausgeweidet worden zu sein.

Sie war mit einer geplatzten Lippe und einer gebrochenen Nase davongekommen, wusste aber, dass sie ziemlich übel aussah.

Kate sagte zu dem Typen, dass sie kein Interesse habe an Gott oder was auch immer er ihr verkaufen wolle, aber er blieb einfach sitzen. Ein paar Minuten später hatte sie eine frische Tasse Kaffee vor sich stehen.

»Wie ist das passiert?«, fragte er, während er ihr Gesicht anstarrte.

»Ich war auf der Jagd nach Monstern«, erwiderte sie. Manchmal war die Wahrheit so sonderbar, dass sie Leute in die Flucht schlug.

»Okay …« Er war eindeutig skeptisch. Dann stand er auf. »Komm mit.«

Kate rührte sich nicht vom Fleck. »Wohin?«

»Ich kann dir eine heiße Dusche und ein Bett anbieten. Und mit etwas Glück findet sich noch etwas Essbares im Kühlschrank.«

»Ich kenne dich nicht.«

Er streckte die Hand aus. »Riley Winters.«

Kate starrte seine Handfläche an. Sie hielt nichts von Wohltätigkeit, aber sie war müde und hungrig und fühlte sich beschissen. Außerdem war sie ziemlich sicher, dass sie mit ihm fertigwerden würde, wenn er sie anbaggern wollte. »Kate«, erwiderte sie. »Kate Gallagher.«

Riley unternahm nicht einmal den Versuch, sie anzubaggern – sein Freund hieß Malcolm. Er gab ihr nur ein Handtuch, ein Kissen und eine Woche später einen Schlüssel. Bis heute war sich Kate nicht sicher, was eigentlich passiert war. Vielleicht hatte sie eine Gehirnerschütterung gehabt. Vielleicht besaß Riley einfach nur eine Menge Überzeugungskraft.

Kate gähnte und warf ihren Papierteller auf den Tisch neben die Pistole.

Riley griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

Kate reagierte prompt und machte das Radio an.

Riley schüttelte den Kopf. »Was hat die Stille dir getan?«

Er wusste natürlich nichts von dem Autounfall, bei dem ihre Mutter getötet worden war und Kate das Hörvermögen im linken Ohr verloren hatte. Er wusste nicht, dass man nach Ersatz suchte, wenn einem die Geräusche genommen wurden.

»Wenn es dir zu leise ist, können wir ja reden«, schlug Riley vor.

Kate seufzte. So lief es immer ab: Er drängte ihr Essen und Zucker auf, bis die leeren Kalorien sie willenlos machten, dann fing er an, sie auszuhorchen. Und das Schlimmste daran war, dass irgendein masochistisch veranlagter Teil von ihr es wollen musste und sogar gut fand. Jemand hatte sie so gern, dass er fragte, und sie ließ es zu. Und es endete immer damit, dass sie neben leeren Getränkedosen und einem Pizzakarton mit Riley zusammen auf der Couch saß.

Schlechte Angewohnheit. Ritual.

»Okay«, erwiderte sie. Rileys Miene hellte sich auf, aber wenn er dachte, sie würde jetzt über sich selbst reden, hatte er sich geirrt. »Warum hast du die Explosion erwähnt?«

Er sah sie verwirrt an. »Wie bitte?«

»Im Chat. Du hast von einer Explosion gesprochen, die mutwillig ausgelöst wurde. Warum?«

»Das hast du gesehen?« Er lehnte sich zurück. »Ich weiß es nicht. Die Wächter haben mich gebeten, nach allem zu suchen, was irgendwie merkwürdig aussieht, und es ist mir einfach aufgefallen … Das ist jetzt schon der fünfte Mord mit anschließendem Selbstmord des Täters in einer Woche. Ziemlich viel, sogar für Prosperity.«

Kate runzelte die Stirn. »Glaubst du, dass es ein Monster ist?«

Riley zuckte mit den Schultern. »Vor sechs Monaten habe ich noch nicht einmal an Monster geglaubt. Jetzt sehe ich sie überall.« Er schüttelte den Kopf. »An der Sache ist vermutlich nichts dran. Reden wir lieber über etwas anderes. Kommst du klar?«

»Oh, sieh doch nur, wie spät es schon ist«, erwiderte sie trocken. »Malcolm wird eifersüchtig werden.«

»Danke, dass du dir darüber Gedanken machst«, meinte er, »aber ich kann dir versichern, dass unsere Beziehung so stabil ist, dass ich mir erlauben kann, Zeit mit Freunden zu verbringen.«

Freunde.

Das Wort prallte gegen ihre Rippen, so hart, dass es ihr den Atem nahm.

Denn Kate kannte ein Geheimnis: Es gab zwei Arten von Monstern: die Art, die die Straßen unsicher machte, und die Art, die in den Köpfen der Menschen lebte. Mit den Monstern auf der Straße wurde sie fertig, doch die im Kopf waren gefährlich. Sie waren ihr immer, immer, immer einen Schritt voraus.

Diese Monster hatten weder Zähne noch Klauen. Sie fraßen weder Fleisch noch Blut noch Herzen. Sie erinnerten einen einfach daran, was passierte, wenn man jemanden zu nah an sich heranließ.

Kate musste daran denken, wie August Flynn ihretwegen zu kämpfen aufgehört hatte. Wie er ihretwegen in Dunkelheit versunken war. Wie er ihretwegen einen Teil von sich – seine Menschlichkeit, sein Licht, seine Seele – geopfert hatte.

Sie konnte sehr gut selbst auf sich aufpassen.

Und sie wollte nicht noch mehr Blut an den Händen haben.

»Regel Nummer eins.« Kate zwang ihre Stimme dazu, ruhig und nüchtern zu klingen. »Keine Freundschaften. Es geht nie gut aus.«

Riley rollte eine Getränkedose zwischen den Handflächen hin und her. »Ist man dabei nicht einsam?«

Kate lächelte. Es war so einfach, wenn man lügen konnte.

»Nein.«

zahl

Gewalt

kann man schmecken

riechen

aber vor allem

spüren

als Hitze –

der Schatten

steht

auf der Straße

eingehüllt in Rauch

in Feuer

in Wut

in Zorn

und genießt

die Wärme

für einen Moment

fällt Licht

auf ein Gesicht

und findet –

Wangenknochen

ein Kinn

den Umriss

von Lippen

für einen Moment –

aber es ist nicht genug

es ist nie genug

ein Mensch hat

so wenig Hitze

und schon ist ihm wieder kalt –

ist es wieder hungrig –

seine Silhouette

löst sich

in der Dunkelheit auf

so wie Formen

sich immer auflösen

es will

mehr

sucht

in der Nacht

und findet –

eine Frau, eine Pistole, ein Bett

ein Paar, eine Küche, ein Schneidebrett

einen Mann, ein Kündigungsschreiben, ein Büro

die ganze Stadt

ist ein Streichholzbriefchen

das nur darauf wartet

angezündet zu werden.

zahl

VERITY

Die Geige aus Stahl schimmerte unter seinen Fingern und wartete darauf, gespielt zu werden.

Auf dem metallischen Korpus spiegelte sich die Sonne und verwandelte das Instrument in Licht, während August mit dem Daumen über die Saiten fuhr und sie ein letztes Mal begutachtete.

»Hey, Alpha, kann’s losgehen?«

August klappte den Geigenkasten zu und schwang ihn über die Schulter.

Sein Team wartete auf ihn, an einer sonnigen Stelle auf der Nordseite des Übergangs, einem dreistöckigen Hindernis, das wie eine dunkle Linie zwischen North und South City verlief. Ani nahm einen Schluck aus ihrer Feldflasche, während Jackson das Magazin seiner Waffe überprüfte und Harris … Harris war eben Harris. Er kaute Kaugummi und warf Messer auf eine Lattenkiste, die er mit einer sehr primitiven und sehr vulgären Zeichnung eines Malchai versehen hatte. Er hatte dem Porträt sogar einen Namen gegeben: Sloan.

Es war kühl und die Mitglieder des FEK trugen ihre komplette Montur. August dagegen hatte nur eine Kampfhose und ein schwarzes Poloshirt angezogen. Seine Arme waren nackt, bis auf einige Reihen kurzer schwarzer Striche, die sich wie eine Manschette um sein Handgelenk zogen.

»Checkpoint Eins«, sagte eine Stimme über das Funkgerät, »fünf Minuten.«

Es war so laut, dass August zusammenzuckte, obwohl er das Headset seines Funkgeräts aus dem Ohr gezogen hatte und es um seinen Hals baumelte.

Die Stimme gehörte Phillip, der im Hauptquartier saß.

»Hey, Phil«, meinte Harris. »Erzähl mir einen Witz.«

»Dafür sind die Funkgeräte nicht gedacht.«

»Wie wär’s mit dem?«, schlug Harris vor. »Ein Corsai, ein Malchai und ein Sunai gehen in eine Bar …«

Alle stöhnten, auch August. Die meisten der Witze, die unter den FEK-Mitgliedern kursierten, verstand er nicht so richtig, trotzdem war ihm klar, dass die von Harris besonders grauenhaft waren.

»Ich hasse diese Warterei«, murmelte Jackson, während er einen Blick auf seine Uhr warf. »Habe ich schon erwähnt, wie sehr ich diese Warterei hasse?«

»Jetzt reißt euch mal zusammen«, meldete sich Rez, ihre Scharfschützin, von einem Hausdach in der Nähe.

»Wie sieht es da oben aus?«, wollte Ani wissen.

»Gesamter Bereich frei. Keine Störungen.«

»Schade«, warf Harris ein.

»Idiot«, funkte Phillip.

August ignorierte alle und starrte auf die andere Straßenseite, wo sich ihr Ziel befand.

Die Porter-Road-Konzerthalle.

Das Gebäude selbst war in den Übergang integriert, genauer gesagt war der Übergang um das Gebäude herumgebaut worden. August kniff die Augen zusammen und musterte die Soldaten, die an der Mauer patrouillierten. Er glaubte, Soros schlanke Gestalt erkennen zu können, doch dann fiel ihm wieder ein, dass der Sunai inzwischen den zweiten Checkpoint am Übergang erreicht haben dürfte, der etwa achthundert Meter weiter entfernt lag.

Hinter seinem Rücken ging die übliche Diskussion unter den anderen los.

»… ich weiß gar nicht, warum wir uns überhaupt die Mühe machen. Für uns würden sie das bestimmt nicht tun …«

»… darum geht es nicht …«

»Doch, ich finde schon.«

»Jackson, wir tun es, weil Mitgefühl mehr wiegen muss als Stolz.«

Die Stimme, die durch die Funkgeräte drang, war laut und deutlich. August wusste sofort, welchem Mann sie gehörte. Henry Flynn. Groß und schlank, mit den Händen eines Chirurgen und müden Augen. Er war der Leiter des FEK. Und Augusts Adoptivvater.

»Ja, Sir«, antwortete Jackson kleinlaut.

Ani streckte ihm die Zunge heraus. Jackson zeigte ihr den Stinkefinger. Harris schmunzelte und fing an, seine Messer aus dem Holz der Lattenkiste zu ziehen.

Eine Armbanduhr piepste.

»Es geht los«, sagte Harris aufgekratzt.

Beim FEK hatte es schon immer zwei Arten von Menschen gegeben – die, die kämpften, weil sie an Flynns Sache glaubten (Ani), und die, für die Flynns Sache eine gute Entschuldigung war, um zu kämpfen (Harris).

Inzwischen gab es natürlich noch eine dritte Art: Zwangsverpflichtete. Flüchtlinge, die aus dem anderen Teil der Stadt gekommen waren. Nicht, weil sie unbedingt kämpfen wollten, sondern weil die Alternative – in North City zu bleiben – schlimmer war.

Jackson war einer dieser Männer, ein Rekrut, der Militärdienst gegen Sicherheit eingetauscht hatte und beim Einsatzkommando als Arzt arbeitete.

Er sah August an. »Nach dir, Alpha.«

Das Team hatte sich links und rechts von August formiert, und ihm wurde klar, dass die Soldaten ihn anblickten, dass sie zu ihm aufblickten, so, wie es früher bei seinem älteren Bruder gewesen sein musste. Vor Leos Tod.

Sie wussten natürlich nicht, dass August derjenige war, der ihn getötet hatte, dass August in die Brust seines Bruders gegriffen, seine Finger um das dunkle Feuer seines Herzens gelegt und es erstickt hatte. Sie wussten nicht, dass er manchmal, wenn er die Augen schloss, immer noch die kalte Hitze in seinen Adern spüren konnte und Leos Stimme in seinem Kopf hörte. August fragte sich, ob vorbei wirklich vorbei war, ob Energie je verloren ging, ob …

»August?«, sagte Ani. Sie hatte fragend die Augenbrauen hochgezogen und wartete. »Es ist so weit.«

Er zwang seine ziellos umherschweifenden Gedanken zur Ordnung und gestattete sich ein einziges, langsames Blinzeln. Dann richtete er sich auf und sagte mit der festen Stimme eines Anführers: »Formation bilden.«

Mit schnellen, sicheren Schritten überquerten sie die Straße, August an der Spitze, Jackson und Ani links und rechts von ihm, Harris als Nachhut.

Das FEK hatte die Kupferplatten im Innern der Konzerthalle heruntergerissen und an die Türen genagelt, wo sie große Flächen aus bräunlichem Licht bildeten. Die schiere Menge reinen Metalls würde so gut wie alle Monster in die Flucht schlagen und selbst August zuckte zusammen. Beim Anblick des Kupfers drehte sich ihm der Magen um, aber er wurde nicht langsamer.

Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt überschritten und die Schatten auf der Straße wurden bereits länger.

Auf den Kupferplatten an den nach Norden gerichteten Türen war etwas eingraviert:

South City – Checkpoint 1

Nach Ermessen des FEK wird allen Menschen

von 8.00 bis 17.00 Uhr der Zutritt gewährt.

Jenseits dieser Grenze sind keine Waffen erlaubt.

Begeben Sie sich zur Konzerthalle.

Hinweis: Bei Betreten des Gebäudes erklären

Sie sich damit einverstanden, untersucht zu werden.

August legte die Hand auf die Tür. Als er sie aufstieß, wichen die übrigen Mitglieder des FEK zur Seite. Bei einem ihrer früheren Einsätze waren sie einmal in einen Hinterhalt geraten, bei dem August einige Schüsse in die Brust abbekommen hatte.

Die Kugeln hatten August nichts anhaben können – ein gut genährter Sunai war unverletzbar –, aber Harris hatte einen Streifschuss am Arm abbekommen. Seitdem benutzte Augusts Team seinen Anführer sehr gern als Schutzschild.

Doch als August das Gebäude betrat, empfing ihn nur Stille.

Die Porter-Road-Konzerthalle war laut einer Wandplakette »seit über fünfundsiebzig Jahren ein Zentrum der Kultur in der Hauptstadt«. Es gab sogar ein Bild unter der Inschrift, eine Radierung des mit Holz getäfelten Foyers, in dem sich elegante Paare in Abendkleidung drängten.

Doch nun roch die Luft muffig, das farbige Glas in den Fenstern war verschwunden, der Steinfußboden mit Unrat übersät, die Wandöffnungen waren mit Brettern vernagelt. An der Decke hingen Strahler mit verdichtetem UV-Licht, das so grell war, dass August es hören konnte, laut und deutlich wie ein Funksignal.