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Fußnoten

1

Ulrich Greiner, »Die ZEIT-Schülerbibliothek«, in: DIE ZEIT, Nr. 42 (10102002).

2

Gerhard R. Kaiser, E. T. A. Hoffmann, Stuttgart 1988, S. 52.

3

Peter Christian Giese, E. T. A. Hoffmann, Stuttgart 1995, S. 43.

4

Günter Saße, »Der Sandmann«. Kommunikative Isolation und narzisstische Selbstverfallenheit, in: Interpretationen. E. T. A. Hoffmann. Romane und Erzählungen, hrsg. von Günter Saße, Stuttgart 2004, S. 112.

5

Peter Braun, E. T. A. Hoffmann. Der Sandmann, Frankfurt a. M. 2003, S. 77.

6

Detlef Kremer, E. T. A. Hoffmann. Erzählungen und Romane, Berlin 1999, S. 73.

7

Kaiser (s. Anm. 2), S. 53.

8

Gerhard Neumann, E. T. A. Hoffmann. »Der Sandmann«, in: Meisterwerke der Literatur. Von Homer bis Musil, hrsg. von Reinhard Brandt, Leipzig 2001, S. 189.

9

E. T. A. Hoffmann, Nachtstücke. Mit einem Nachw., einer Zeittaf. zu E. T. A. Hoffmann, Anm. und bibliograph. Hinw. von Franz Loquai, München 1996, S. 331.

10

Kremer (s. Anm. 6), S. 67.

11

Hartmut Steinecke, Die Kunst der Fantasie. E. T. A. Hoffmanns Leben und Werk, Frankfurt a. M. 2004, S. 267.

12

Thomas Nipperdey, Der Prozeß der Feminisierung der Frau, in: E. T. A. Hoffmann, Der Sandmann, hrsg. von Max Kämper, Stuttgart 2015 [u. ö.], S. 74.

13

Saße (s. Anm. 4), S. 106.

14

Saße (s. Anm. 4), S. 115.

15

Zitiert nach: Der Automaten-Mensch. E. T. A. Hoffmanns Erzählung vom »Sandmann«. Mit Bildern aus Alltag & Wahnsinn. Auseinandergenommen und zusammengesetzt von Lienhard Wawrzyn, Berlin 1976, S. 100.

16

E. T. A. Hoffmann, Sämtliche Werke in 6 Einzelbänden, hrsg. von Walter Müller-Seidel, Friedrich Schnapp [u. a.], München 196081, S. 370 f.

17

Ulrich Stadler, E. T. A. Hoffmann. Epoche – Werk – Wirkung, München 1986, S. 143.

18

Uwe Schweikert, Die Sprache anderen Wünschen öffnen. Über die Sprache der Verrücktheit, in: Neue Rundschau 93 (1982), H. 1, S. 156.

19

Friedhelm Auhuber, In einem fernen dunklen Spiegel. E. T. A. Hoffmanns Poetisierung der Medizin, Opladen 1986.

20

E. T. A. Hoffmann, Die Serapions-Brüder. Nach dem Text der Erstausgabe (181921) unter Hinzuziehung der Ausgaben von Carl Georg von Maasen und Georg Ellinger, mit einem Nachwort von Walter Müller-Seidel und Anmerkungen von Wulf Segebrecht. München 1963, S. 764.

21

Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, Frankfurt a. M. 1975, S. 26.

22

Rezension aus Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 179, Juli 1817, Spalte 597 f., zitiert nach: Rudolf Drux, Erläuterungen und Dokumente. E. T. A. Hoffmann. »Der Sandmann«, Stuttgart 1994, S. 68.

23

Rezension aus Oppositions-Blatt oder Weimarische Zeitung, Nr. 134, 7. Juni 1817, Spalte 1070 f., zitiert nach: Drux (s. Anm. 22), S. 67.

24

Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, hrsg. im Auftr. der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 42,1: Goethes Briefe, Weimar 1904, S. 88.

25

Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Mit einer Einführung hrsg. von Ernst Beutler, München 1976, S. 332.

26

Heinrich Heine, Die romantische Schule, Stuttgart 1976, S. 96 f.

27

Sigmund Freud, Das Unheimliche, in: Der Dichter und das Phantasieren. Schriften zur Kunst und Kultur, hrsg. von Oliver Jahraus, Stuttgart 2010, S. 202.

1. Schnelleinstieg

Mit den Idyllisierung der RomantikBegriffen der Romantik und des Romantischen verbindet man heute häufig Bilder und Vorstellungen, die sehr stark durch die Klischees der Werbung und der Tourismus geprägt sind: etwa nostalgische Erinnerungen an Sonnenauf- und -untergänge am Meer, an idyllische Landschaften, vielleicht denkt man aber auch an gefühlvolle Liebe, an Spaziergänge eines Liebespaares auf einsamen Wegen in einer Mondscheinnacht. Womöglich verwendet man diese Begriffe zudem in wertender Absicht, verbindet mit ihnen Erlebnisse, Sehnsüchte und Lebensformen, die idealisiert sind, d. h. den Kontakt zur alltäglichen Wirklichkeit verloren haben.

Der Blick in die Unheimliche RomantikLiteraturgeschichte zeigt, dass diese Vorstellungen zu eng und zu einseitig sind. »Romantik« und »romantisch« bezeichnen hier auch das Unheimliche, Gespenstische, Dunkle, Abgründige, ja Verborgene und Abseitige. Ein Vertreter der Romantik in diesem Sinne ist der Dichter, Komponist und Zeichner E. T. A. Hoffmann. In ihm begegnet uns eine Art Universalkünstler, vielleicht die vielseitigste, genialste, aber auch zerrissenste Persönlichkeit dieser Epoche. Er hat sich in seinen Erzählungen, Märchen und Phantasiestücken mit den »Schattenseiten der Natur«, mit der Welt des Unbewussten und des Traums, den Sphären des Phantastischen und Unheimlichen beschäftigt. Das hat ihm in der Literaturgeschichte – nicht immer in wohlwollender Absicht – den Namen »Gespenster-Hoffmann« eingebracht. Dabei übersah man allerdings, dass seine Darstellungen des Schauerlichen und Abgründigen, die Skurrilität seiner Figuren und die wunderlichen Begebenheiten in seinen Erzählungen keine »fantastische Manier«, also Selbstzweck, sind, sondern ihre poetische Wirkung gerade aus ihrem Spannungsverhältnis zur Normalität des bürgerlichen Alltagslebens entfalten. Entweder ist hier das Irrationale unterhalb der Oberfläche des geregelten Alltags verborgen, wird verdrängt und bricht unversehens als das gänzlich Unverfügbare hervor oder die Figuren selbst werden in ihrem Leben mit Phänomenen, Ereignissen und Gestalten konfrontiert, die sich ihren konventionellen Erfahrungen und dem von ihnen Gewohnten verweigern.

Dies alles ist auch charakteristisch für eine seiner bedeutendsten Erzählungen, den Sandmann, die 1816 (mit Druckdatum 1817) im ersten Band seines zweiteiligen Zyklus Nachtstücke erschien: »Vielleicht wirst du, o mein Leser!«, so rechtfertigt der Wunderliche Lebensgeschichte NathanaelsErzähler dieses Textes sein Vorhaben, die wunderbare und seltsame Lebensgeschichte von Nathanael wiederzugeben, »glauben, dass nichts wunderlicher und toller sei, als das wirkliche Leben und dass dieses der Dichter doch nur, wie in eines matt geschliffnen Spiegels dunklem Widerschein, auffassen könne« (S. 19).

Dieser Die Erzählung als SchulklassikerText von E. T. A. Hoffmann gehört heute zum literarischen Schulkanon, er zählt nicht nur zu den meistgelesenen und interpretierten Erzählungen der deutschen Romantik, sondern ist ein Text, der in der gymnasialen Oberstufe des Deutschunterrichts häufig behandelt wird. Im Herbst 2002 wurde er von einer Jury, die aus Schüler(inne)n, Lehrer(inne)n und Journalist(inn)en bestand, in die 50 Titel umfassende ZEIT-Schülerbibliothek gewählt.1 Dies ist nicht verwunderlich: E. T. A. Hoffmann hat mit seiner Geschichte und ihrem Stoff sozusagen einen anthropologischen Nerv getroffen. Seit jeher faszinieren Rätselhaftes und Geheimnisvolles, das Abwegige und das Abgründige den Menschen. Mit dieser Faszination verbindet sich nicht nur das Ungenügen an der Normalität, sondern auch das Bedürfnis, alternative Formen der Wirklichkeitserfahrung kennenzulernen. Dem wird die facettenreiche Thematik des Werkes gerecht. Hoffmanns Darstellung der spannungsvollen Beziehungen von Normalität und Wahnsinn, Rationalität und Mystik, Bürgertum und Künstlertum ist für Schülerinnen und Schüler nicht nur aktuell und interessant, sondern auch anregend poetisch gestaltet. Die ihr zugrunde liegende Geschichte von »Nathanaels verhängnisvollem Leben« (S. 18) wird spannend und anschaulich erzählt, zieht den Leser rasch in ihren Bann und lässt ihn nicht mehr los. Mit der Lektüre des der Erzählung vorangestellten Briefwechsels wird er zum ständigen Begleiter des Helden, erfährt er, mit welchen phantastischen Begebenheiten dieser in der Vergangenheit konfrontiert wurde und noch wird.

Von allen Erzählungen Hoffmanns ist Der Sandmann nicht nur der am häufigsten interpretierte Text, sondern, neben dem Goldnen Topf, auch das Werk des Dichters, das in den letzten Jahrzehnten die literaturwissenschaftliche Forschung zu immer neuen Deutungsversuchen herausgefordert hat. Mit strengen Werkanalysen wetteifern Ansätze sozial- und geisteswissenschaftlicher Art, neben psychoanalytischen Zugriffen finden sich detaillierte Untersuchungen zur erzählerischen Gestaltung sowie zur Motivik und Symbolik des Textes. Das hat seine Gründe: Dunkle Mächte der InnenweltDer Text ist rätselhaft, hintergründig und entzieht sich durch die ständig wechselnde Perspektive eindeutiger Festlegung. Er lässt viele Fragen offen: Wo verlaufen die Grenzen von Innen- und Außenwelt, was ist Einbildung, was Realität? Woher rühren die phantastischen Ereignisse im Text? Entspringen sie, wie Nathanael, der Protagonist der Erzählung, meint, den Wirkungen eines schicksalhaften Prinzips, beruhen sie auf dem Zufall oder liegen sie – darauf besteht Clara, die Verlobte Nathanaels – in den dunklen Mächten der Innenwelt? Handelt es sich um die Geschichte eines hochsensiblen Menschen, den ein erlittenes Kindheitstrauma in den Wahnsinn treibt, oder wird dieser tatsächlich verfolgt? Geht es in ihr um eine Figur, die mehr und tiefer sieht als die Menschen in ihrer Umwelt, sich deshalb von ihnen nicht verstanden fühlt und zum Schluss an der selbstgewählten Isolation und ihren Selbstbezüglichkeiten und Phantasmen zugrunde geht? In Psychopathologische Fallstudie oder Künstlernovelle?Übereinstimmung mit diesen Interpretationen ist die Erzählung als Grusel-, Spuk- und Liebesgeschichte, als psychopathologische Fallstudie und als Künstlernovelle, als Bürgersatire und Groteske charakterisiert worden. Alle diese Deutungsansätze besitzen eine gewisse Berechtigung. Wenn man sie aber verabsolutiert, werden sie dem Sandmann in seiner Vielschichtigkeit und Komplexität nicht gerecht. Im Facettenreichtum und in der Vielbezüglichkeit seiner Themen und Motive, vor allem aber in den verschiedenartigen perspektivischen Brechungen stellt der Text sicherlich das radikalste Erzählexperiment des Autors dar. In ihm steckt ein großes ästhetisches Beteiligungspotential für den Leser, Reiz und Herausforderung zugleich, sich produktiv mit ihm zu beschäftigen.

2. Inhaltsangabe

Wer eine Probleme der InhaltsangabeInhaltsangabe zu Hoffmanns Erzählung Der Sandmann verfassen möchte, sieht sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sich das in der Geschichte dargestellte Geschehen nicht immer eindeutig erfassen lässt. An vielen Stellen bleibt der Text hintergründig und rätselhaft. Hier lässt der Dichter offen, ob das, was erinnert bzw. erzählt wird, einer getrübten bzw. verzerrten Wahrnehmung des Protagonisten entsprungen oder tatsächlich so geschehen ist. Im Einzelfall ist also immer genau auf die Perspektive bzw. den Modus der erzählerischen Vermittlung zu achten.

Die Erzählung beginnt mit einem Briefwechsel zwischen dem Studenten Nathanael, seiner Verlobten Clara und ihrem Bruder Lothar. Nathanaels KindheitstraumaIn seinem Brief an Lothar erzählt Nathanael von einer merkwürdigen Begegnung mit dem Wetterglashändler Coppola, die ihn stark verunsichert und schlimme Erinnerungen an seine Kindheit wachgerufen habe. In Coppola meint Nathanael den Advokaten Coppelius, einen Bekannten seines Vaters, wiedererkannt zu haben, den er aufgrund seines unfreundlichen Auftretens, seines hässlichen Erscheinungsbildes und seiner dämonischen Ausstrahlung stets als bösen, grausamen Sandmann gefürchtet hatte. Dieser Coppelius habe den Vater – zum Missfallen der Familie – abends häufiger besucht, um mit ihm geheimnisvolle Laborversuche durchzuführen.

Beide Männer habe er mit Grausen bei einem ihrer unheimlichen Experimente beobachtet, sei aber von Coppelius entdeckt und von ihm grausam misshandelt worden. Dann sei er in Ohnmacht und in ein heftiges Fieber gefallen, von dem er sich aber kurze Zeit später wieder erholt habe. Ein Jahr nach diesem schockierenden Vorfall sei Coppelius nochmals erschienen, habe wiederum zusammen mit dem Vater experimentiert. Dabei sei es zu einer schweren Explosion gekommen, die den Vater tödlich verletzte. Durch den friedlichen und milden Gesichtsausdruck des Toten sei in ihm aber die Zuversicht geweckt worden, dass seines Vaters »Bund mit dem teuflischen Coppelius ihn nicht ins ewige Verderben gestürzt haben könne« (S. 11).

Es ist ein Ausdruck großer innerer Unruhe und Verunsicherung, dass Nathanael den für Lothar bestimmten Brief an Clara adressiert, so dass diese unversehens in den Briefwechsel einbezogen wird. In ihrem Antwortschreiben will Clara als AufklärerinClara dem Verlobten die Ängste nehmen, indem sie diese auf reale Ursachen zurückführt. Sie versucht ihm deutlich zu machen, dass »alles Entsetzliche und Schreckliche« (S. 13), wovon er geschrieben habe, nur in seinem Innern vorgegangen sei. Dass dunkle Mächte existieren können, bestreitet sie nicht. Unheilvollen Einfluss könnten sie aber, so ihre Argumentation, erst dann auf den Menschen gewinnen, wenn dieser an ihre Gewalt glaube. Für sie ist klar, was Realität, was Wahn in der Erlebniswelt des Knaben war. »Das unheimliche Treiben mit [dem] Vater zur Nachtzeit« führt sie auf »alchymistische Versuche« (S. 13) der beiden Beteiligten zurück. Im Tod des Vaters sieht sie lediglich einen Unglücksfall. Durch einen klaren Verstand und durch Heiterkeit, so ihr nüchternes Fazit, könne Nathanael seine gegenwärtige Angst überwinden. Diese entspringe letztlich einer subjektiven Verknüpfung zwischen dem Ammenmärchen vom Sandmann und seinen traumatischen Kindheitserinnerungen an Coppelius.

In seinem Brief an Lothar ist Nathanael verärgert über die Verständnislosigkeit Claras und weist ihre Erklärungsversuche empört als schulmeisterlich zurück. Gleichwohl hat der Brief Wirkungen bei ihm hinterlassen. Nun stellt er selbst die Identität von Coppelius und Coppola in Frage. Des Weiteren berichtet er von der Ankunft des Professors Spalanzani, eines Professors der Physik, der, so weiß er zu berichten, seit vielen Jahren mit Coppola bekannt sei. Bei Spalanzani, den er als wunderlichen Kauz charakterisiert, höre er Vorlesungen. Vorstellung OlimpiasGanz unheimlich sei ihm zumute gewesen, als er erstmals durch eine Glastür im Treppenhaus dessen schöne Tochter Olimpia erblickt habe. Er schwärmt von ihrer herrlichen Kleidung und ihrem engelsschönen Gesicht, merkt aber zugleich an, dass ihren »Augen etwas Starres« (S. 17) angehaftet hätte. Am Schluss des Briefes kündigt Nathanael seine baldige Rückkehr nach Hause an, um Clara wiederzusehen.

Erst nach diesem Briefwechsel schaltet sich der Erzähler ein. Probleme, die Geschichte zu beginnenEr wendet sich an den Leser und sucht nach Worten der Klärung und Rechtfertigung für diesen merkwürdigen Textbeginn. Alternativ dazu spielt er hypothetisch verschiedene Möglichkeiten durch, die Geschichte Nathanaels zu eröffnen. Im Anschluss daran rekapituliert er die Vorgeschichte des Protagonisten, berichtet, dass Nathanaels Mutter Clara und Lothar, als sie Waisen wurden, aufgenommen und Nathanael sich später mit Clara verlobt habe. Nach der Begegnung mit Coppola, die im Briefwechsel thematisiert wurde, kehrt Nathanael in seine Heimatstadt zurück. Konflikte zwischen Nathanael und ClaraDort kommt es aber zu Konflikten mit der Verlobten, da ihn die Ereignisse der Vergangenheit nicht loslassen. Immer wieder versucht sie ihm deshalb klarzumachen, dass sein Selbst- und Wirklichkeitsverständnis verzerrt sei, auf »mystische[n] Schwärmereien« (S. 21232525