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Maren Friedlaender

Rheingolf

Kriminalroman

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Zum Buch

Tod an der Fahne Es ist Mittwochnachmittag. Mittwochs ist Herrengolftag – da haben Damen nichts auf dem Platz zu suchen. Was also hat Frau Wallmann an Loch vier gemacht? Als drei Herren das Grün erreichen, liegt dort die Spielerin tot an der Fahne. Nicht das letzte Opfer auf dem Platz. Kommissarin Rosenthal ermittelt im feinen Kölner Golfclub Siebeneichen. Die Untersuchungen in der Gerichtsmedizin sind noch nicht abgeschlossen, als Rosenthal wieder auf den Golf Course gerufen wird. Die zweite Tote heißt Julia Buenlago – Mitte vierzig, attraktiv, reich. Sie scheint eine Frau voller Esprit und Witz gewesen zu sein. Mit ihrer scharfen Zunge hat sich die Journalistin nicht nur Freunde gemacht, mit ihrer spitzen Feder manchen in der Stadt verletzt. Mindestens einem Menschen war sie so unbequem, dass er deshalb mordete. Bei den Untersuchungen stößt Rosenthal auf krumme Geschäfte des Bauunternehmers Willi Wirtz, einem Kölschen, der keine Mühe scheut, um bei den Mitgliedern des exklusiven Clubs aufgenommen zu werden. Rosenthal erlebt tödliche Golfleidenschaft.

Maren Friedlaender, in Kiel geboren. Journalistin, lange Jahre beim ZDF, Mainz, in der Innenpolitik tätig. Der Umzug nach Köln vor dreißig Jahren ein gewisser Schock. An Köln muss man sich als Norddeutscher schon gewöhnen. Mit dem Fahrrad hat sie die Stadt erobert – vom Fahrradsattel aus sieht man mehr. Die Entdeckung der Stadt durch das Unterwegssein in verschiedenen Welten, immer noch schreibend, aber auch aktiv in der Politik, für einige Jahre Mitglied des Kulturausschusses. Seit zwei Jahren wöchentliche Glosse, in der mal schmunzelnd, mal bissig die Stadt aufs Korn genommen wird.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Benjamin Arnold

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © k060124 / shutterstock

und © Mr. Nico / photocase.de

ISBN978-3-8392-5826-2

Widmung

Für Julius, mit dem alles anfing …

1. Kapitel

Der perfekte Schlag. Und nun sollte Rudolf Spethmann um seinen Triumph gebracht werden. Im Golfclub Siebeneichen ist das vierte Loch ein sogenanntes »Blind Hole«: Auf dem Abschlag stehend, kann man das Grün nicht einsehen. Es liegt verborgen hinter einer Kuppe und ist nur durch die Fahnenspitze markiert. Spethmann wusste in dem Moment, als der Schlägerkopf auf den Ball traf, dass er einen fehlerlosen Schlag gemacht hatte. Der Ball verließ das Tee in idealer Flugbahn Richtung Ziel. Wo genau er zur Ruhe kam, blieb eine Überraschung, bis der Spieler die Kuppe des Hügels erreichen würde.

»Good shot«, lobte Spethmanns Partner Paul Rasmussen. »Ist auf jeden Fall auf dem Grün gelandet.«

»Tot an der Fahne – oder im Loch«, kommentierte Willi Wirtz, der Dritte im Team. Er ließ selten eine Gelegenheit aus, sich in seinem kölschen Singsang zu Wort zu melden.

Auf dem Weg zum Grün redeten Spethmann und seine Mitspieler meist nicht über Golf, auch nicht über Business, das lenkte nur ab von der Konzentration auf das Spiel. Lieber plauderten sie über etwas Belangloses: schöne Golfplätze oder schöne Frauen, gute Weine, neue Lokale, etwas in der Art. Sie schoben ihre Golfwagen bergauf und um einen Sandbunker herum, der das Grün verteidigte. Erst danach konnten sie die kurzgeschorene Rasenfläche überblicken. Spethmanns Ball steckte tatsächlich im Loch, wie sich später herausstellte. Aber das Erste, was sie wahrnahmen, war eine Frau, die auf dem Grün lag. Zunächst vermuteten sie, die Dame sei gestürzt. Aber sie regte sich nicht, als sie näher traten und sie ansprachen. Ganz still ruhte sie da, direkt neben der Fahne, und es war nicht irgendeine Frau. Sie alle kannten sie: Frau Wallmann, Margot Wallmann, Clubmitglied und im Übrigen eine grottenschlechte Golfspielerin. Einer der beiden Mitspieler, ein Arzt, eilte zu der wie tot dort Liegenden.

Es gab viele Ärzte im Club. Am Herrengolftag, dem Mittwoch jeder Woche, waren die Arztpraxen geschlossen. Ob sie wegen des Herrengolfs geschlossen wurden oder der Herrengolftag auf dem Mittwoch lag, weil die Ärzte frei hatten, war nicht mehr auszumachen. Dr. Paul Rasmussen war einer dieser Mediziner. Er kniete sich nieder und stellte nicht nur umgehend den Tod von Frau Wallmann fest. Er bemerkte zudem, ziemlich ungerührt von diesem überraschenden Todesfall, dass am Tag der Herren eine Dame auf dem Golf Course eigentlich nichts zu suchen habe – nicht nur eigentlich, sie hatte da verdammt überhaupt nichts zu suchen. Mittwochs gehörte der Platz den Männern.

Und Dr. Rudolph Spethmann wollte an diesem strahlenden Tag einfach nur ungestört sein Hole-in-one genießen, das erste in seinem Leben.

Ein Hole-in-one ist die Kunst, einen kleinen Ball über die Entfernung von hundert oder sogar zweihundert Metern mit nur einem Schlag in ein ungefähr handbreites Loch zu befördern. Das Hole-in-one ist der Höhepunkt im Leben eines Golfspielers. Nicht einmal jedem Profi ist dieses Glücksgefühl vergönnt, obwohl er doch Tausende von Runden in seinem Leben spielt, Tausende von Abschlägen macht, bei denen immerhin für ein paar Sekunden die Möglichkeit besteht, ein solches Ass zu schlagen.

An einem Par-3-Loch braucht selbst der Geübte drei Schläge, um den Ball zu versenken. Das Loch kann vom Abschlag bis zu 229 Metern entfernt liegen. Mit einem Durchmesser von nur 108 Millimetern ist die Vertiefung auf dem kurz geschorenen Grün aus dieser Entfernung nur sichtbar durch die Fahne, die es markiert. Der Spieler trifft mit einer etwa Handteller großen Schlagfläche auf den kleinen, weißen Ball. Im besten Fall trifft er ihn im Sweet Spot, wodurch der Ball die ideale Richtung und Geschwindigkeit mit auf den Weg bekommt. Gute Golfspieler erreichen Ballgeschwindigkeiten von 250 Kilometern in der Stunde, der Rekord liegt bei 328 Stundenkilometern. Stellt man sich all die Kräfte vor, die auf einen Ball einwirken – da ist noch der Wind und der Luftdruck und der Zufall beim Aufkommen, trifft er ein Steinchen, eine kleine Unebenheit, die ihn von der Bahn ablenkt oder vielleicht gerade in die richtige Richtung schiebt – bleibt immer noch das kleine oder große Wunder, das den Ball eventuell mit der letzten Umdrehung in das Loch hineinrollen lässt.

Ein »Hole-in-one« ist etwas Großartiges, etwas Einmaliges und Fantastisches. Da kann man jeden Golfspieler fragen: die, die es erlebt haben und alle diejenigen, die den Wunsch hegen, wenigstens in einer von den Hunderten Runden, die sie spielen werden, ein Ass zu schlagen. Dieses sehr seltene Ereignis, so ist es Brauch, wird mit viel Alkohol gefeiert, den der glückliche Spieler all denen spendet, die sich an dem Tag im Clubhaus aufhalten.

2. Kapitel

Hauptkommissarin Theresa Rosenthal war hundemüde. Das war nicht die Müdigkeit, die man üblicherweise dem von Arbeitsüberlastung gestressten Kommissar auf den Leib schreibt. Sie war müde, weil sie seit gefühlt zehn Jahren keine Nacht mehr richtig durchschlief. Statistisch, wenn man Statistiken denn Glauben schenkte, leiden 25 Prozent der deutschen Bevölkerung an Insomnia, wahrscheinlich nehmen die meisten Betroffenen irgendwelche Tabletten. Das lehnte Theresa ab. Sie las gegen ihre Schlaflosigkeit; sie las so lange, bis das Buch ihr aus der Hand fiel. Wenn sie Pech hatte, war es dann schon sechs Uhr morgens. Aus dem auf die Insomnia folgenden Tiefschlaf wurde sie gegen sieben Uhr unsanft von ihrem Wecker wachgerüttelt. Sie glaubte an so etwas wie Biorhythmus – bei ihrem konnte man zur frühen Morgenstunde nicht wirklich von Rhythmus sprechen. Das Wort war, auf ihren Zustand angewandt, geradezu lächerlich. Die diversen Männer in ihrem Leben hatten, je nach Temperament, diesen todesähnlichen Morgenzustand bei ihr belacht oder genervt hingenommen. Manche hatten sogar mit einer gewissen Wut im Bauch versucht, ihr in der Morgenstunde etwas Vernünftiges zu entlocken, was nahezu unmöglich war bei einem Menschen, der mit einem Blutdruck von 80 zu 60 in einer leblosen Starre verharrt. Theresa war überzeugt davon, dass sie eines Tages aus ihrer Schlafstarre nicht mehr erwachen würde. Das würde dann wohl bedeuten, dass ihr Problem letal geendet hatte, obwohl sie sich eher wünschte, rasant zu sterben, auf jeden Fall nicht an Altersschwäche. Ihr Plan war, spätestens ab 60 gefährliche Sportarten zu beginnen oder vielleicht auf Abenteuerreisen zu gehen, auf denen Gletscherspalten oder wilde Tiere ihrem Leben ein jähes und spektakuläres Ende setzen würden. Und da war auch noch ihr Beruf, der einige Risiken barg, sodass ihr ein langes, quälendes Warten auf den Tod hoffentlich erspart blieb. Das größte Risiko in diesem Moment war allerdings der Sekundenschlaf am Steuer. Es war vier Uhr am Nachmittag, die Stunde, zu der ihr Biorhythmus seinen täglichen Knick bekam. Sie lenkte den Wagen nach rechts in einen Waldpfad hinein, der laut Navi zu dem Golfplatz führte, auf dem man ihre Anwesenheit wünschte. Ihr Pech, dass das Gelände gerade noch auf dem Kölner Stadtgebiet lag. Ein paar Kilometer weiter, und die Bonner Kollegen wären zuständig gewesen. Theresa hätte sich einen schönen Feierabend auf ihrer Terrasse gegönnt, mit einem Gläschen Sekt, das ihren schlappen Kreislauf auf Touren brachte und sie fit machte für ihr bewegtes Nachtleben.

Der Kollege Marco Bär war gerade nicht einsatzbereit, er hatte sich morgens krankgemeldet. Bär war ein netter Kerl, 15 Jahre jünger als Theresa, ungefähr Mitte 30, sah aus wie ein Kraftprotz, aber in dem mit Muskeln bepackten Körper lebte die Seele eines Kindes, das beim kleinsten Schnüpfchen unter die Decke kroch. In Theresas Augen war Marco Bär der typische Vertreter seiner Generation. Jungs, die einfach nicht erwachsen wurden, die immer weiterspielen wollten und damit indirekt Schuld waren an der Geburtenrate von durchschnittlich 1,2 Kind pro Frau in Deutschland. Welche Frau will Nachwuchs mit einem Mann zeugen, der selbst eisern am Kindesdasein festhält und gar nicht im Traum daran denkt, Verantwortung für eine Familie zu übernehmen. Sie hatte Marco einmal auf der Skaterbahn am Rheinufer erwischt, wo er in zu weiten, bunten Bermudas, einem engen T-Shirt mit einer lächerlichen Aufschrift und einer mit dem Schild nach hinten gedrehten Baseballkappe zwischen Pubertierenden auf seinem Skateboard über irgendwelche Betonhindernisse sprang – ein Kind! Theresa zog ihn gern damit auf, worauf er immer mit gutem Humor reagierte. Und nun ließ der kränkelnde Bub sich gerade heiße Milch mit Honig einflößen und durfte im Bett Videogames spielen. Wenn Marco allerdings auf der Szene erschien, war er ein guter Polizist. Zudem ergänzten sie sich. Marco war der Macher, Theresa die feinfühlige Zuhörerin. Beide Methoden hatten, den jeweiligen Umständen entsprechend, ihre Berechtigung.

Die Tote auf dem Golfplatz war also vorerst ihre Tote. Wahrscheinlich Herzinfarkt oder ein Golfball hatte sie getroffen, die Angaben waren nicht klar herübergekommen. Immerhin hatte ein Arzt, der sich auf dem Platz aufhielt, ihren Tod festgestellt. Die Spurensicherung war hoffentlich vor Ort, sodass die Sache schnell von der Bühne ging. Theresa fuhr durch ein geöffnetes Tor zu einem Parkplatz, auf dem dicht an dicht die derzeitig angesagten Luxusfahrzeuge standen, neben einigen, wahrscheinlich von Damen bevorzugten, Kleinwagen – Smarts und Mini Cooper, mit denen man aus dem angrenzenden Villenviertel schnell um die Ecke und zum Einkaufen fuhr. Es fehlten natürlich nicht die Geländewagen, die, frustriert von ihrem nutzlosen städtischen Dasein, blankpoliert darauf warteten, dass sie von ein paar blondierten Luxusweibern auf ihren Shoppingtouren zweckentfremdet wurden. Theresa parkte direkt vor dem Eingang des Clubhauses an einer als No-Parking-Zone ausgewiesenen Stelle, was sofort einen Typen, der hinter einer halb hochgeschobenen Glasscheibe saß, auf den Plan rief.

»Hier können Sie nicht parken!«, sagte er bestimmt, aber nicht unfreundlich. Mittlerweile stand er in der Eingangstür, und die Kommissarin konnte erkennen, dass sie es mit einem Mann mittleren, obwohl nicht ganz bestimmbaren Alters zu tun hatte, der im Club offensichtlich eine Funktion bekleidete.

Theresa ließ die Scheibe auf der Fahrerseite herunter und hielt dem Mann ihren Ausweis hin.

»Kann ich doch«, sagte sie, ohne sich aus dem Auto herauszubewegen, womit sie ihn zwang, näher zu treten und sich zu bücken, um einen Blick auf die Karte zu werfen. Etwas freundlicher fügte sie hinzu: »Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Caddie-Master – Thomas Hauser.«

»Gut, Herr Hauser, wenn Sie mir sagen, wo ich einen freien Platz finde, stelle ich mich gern woanders hin.«

Vielleicht brauchte sie den Mann noch, und sie kannte solche Burschen – im Grunde kein unrechter, hatte wahrscheinlich nur zu lange im Dunstkreis der Golf spielenden Neureichen gelebt, die nicht immer den richtigen Ton im Umgang mit Angestellten fanden.

»Sie können ruhig hier stehen bleiben – ich wusste nicht …«

»Kein Problem – wo muss ich denn hin?«, fragte sie, davon ausgehend, dass er über den Todesfall im Bilde war.

»Loch vier. Ich kann Sie mit dem Elektrocart fahren«, bot er an. »Wir haben den Platz übrigens vorerst gesperrt – ist das in Ordnung? Heute ist bei uns Herrengolftag. Die Spieler sind alle draußen auf der Terrasse – ich meine nur, falls Sie Fragen haben.«

»Vielen Dank, das war sehr vorausschauend von Ihnen. Sind denn die Herren von der Spurensicherung draußen am Tatort?«

»Die zwei Polizisten, die auf meinen Anruf gekommen sind, haben zwei weitere Herren zu dem Platz geführt, wo die Tote …«

»Okay – alles gut! Kann ich schnell noch irgendwo einen Espresso trinken?«

Sie hatte während ihrer jetzt fast 20-jährigen Tätigkeit die Erfahrung gemacht, dass Tote nicht verschwanden. Es war zwar vorgekommen, jedoch äußerst selten. Und der Espresso hatte jetzt Vorrang, damit ihre Gehirnzellen die Arbeit aufnehmen konnten. Der Caddie-Master wies ihr den Weg zum Restaurant, das schlicht und geschmackvoll im englischen Stil eingerichtet war: karierte Sitzmöbel um einen Kamin gruppiert, an den Wänden alte Stiche mit Golfszenen. In einem kleineren Nebenraum saßen ein paar ältere Damen schweigend und so konzentriert beim Bridgespiel, als ginge es um Leben und Tod. Theresa strebte auf eine kleine Bar zu, hinter der ein junges Mädchen stand, das ihr den gewünschten Espresso schnell und freundlich überreichte. Theresa nahm die Tasse und trat hinaus auf die sonnenbeschienene Terrasse. Auf der einen Seite saßen an einem langen Tisch die Herrengolfer im angeregten Gespräch – wahrscheinlich diskutierten sie das Geschehene. Sie würde sich später mit ihnen beschäftigen, ging nur kurz hinüber, um sich vorzustellen und die Herren zu bitten, auf sie zu warten, bis sie die Tote gesehen habe.

Theresa setzte sich mit ihrem Espresso für einige Minuten an einen der hölzernen Tische, genoss den milden Mainachmittag, erfreute sich an dem Blick in das saftige Frühlingsgrün der hohen Bäume, die links und rechts von der Spielbahn prachtvoll aufragten. Die neugierigen und teils kritischen Blicke vom Nebentisch störten sie dabei nicht. Sie würde ihrer Arbeit gleich nachgehen, anders als die Herren dort, von denen einige gerade im rechten Alter waren, um zu dieser frühen Nachmittagsstunde hinter einem Schreibtisch zu sitzen, an einer steilen Karriere zu basteln und das Bruttosozialprodukt ihres Vaterlandes zu steigern.

Schöner Tag zum Sterben, dachte sie, war aber Geschmacksache – manche zogen vielleicht einen düsteren Novembertag vor, um sich von der Welt zu verabschieden. Dieser Maitag war auf jeden Fall wundervoll, die Sonne gab wärmende Strahlen ab, und auf der südwestlich gelegenen Terrasse war es fast ein wenig zu heiß. Am frühen Abend würde es wahrscheinlich gerade angenehm sein, und deshalb wollte sie die Sache möglichst zügig hinter sich bringen, um diesen Tag auf ihrem Dachgarten ausklingen zu lassen. Sie ging zurück zum Caddie-Master.

»Können wir?«

»Ich schließe nur eben ab. Der Wagen steht gleich hier vor der Tür.«

Sie bestiegen ein kleines zweisitziges und nach allen Seiten offenes Gefährt, das über die gepflegten Fairways fahren durfte, erklärte ihr Herr Hauser.

»Wir sind gleich da«, beruhigte er die Kommissarin. »Ist nur ein Neun-Löcher-Platz, der ist in der Größe überschaubar.«

»Wohin geht’s?«

»Loch vier – sie liegt tot an der Fahne«, antwortete der Caddie-Master, und Theresa meinte zu sehen, dass dabei ein kaum merkliches Lächeln seine Lippen umspielte. Vielleicht hatte sie sich aber auch getäuscht.

»Wer hat sie gefunden?«

»Die drei Herren vom ersten Flight. Sind unsere besten Spieler«, erklärte Hauser, während er das wendige Fahrzeug geschickt an einem Sandbunker vorbeisteuerte.

»Flight?«, fragte die Kommissarin, etwas genervt darüber, dass sie es hier mit einer Szene zu tun hatte, von der sie nichts verstand, nicht einmal die Ausdrücke.

»Entschuldigung, ist Golfsprache. Ich meine die erste Gruppe, die im heutigen Wettspiel gestartet ist.«

Der Caddie-Master wurde ihr immer sympathischer. Seine Antworten waren kurz und präzise. Er war jetzt freundlich, aber nicht anbiedernd. Ein straighter Typ. Sie würde mit ihm zurechtkommen. Sie fuhren das erste Fairway bis zur Hälfte hinunter, bogen nach links ab, kreuzten einen Weg, fuhren an einer Baumreihe vorbei, hinter der sich ein fast rundes Grün im Halbschatten der Bäume ausbreitete.

Im ersten Augenblick glaubte Theresa, es handele sich bei der Toten um ein junges Mädchen, so zart und dünn wirkte der Körper, der dort direkt neben der Fahne lag, in seitlicher Position, wie Theresa selbst abends gern einschlief. Die blonden, etwa schulterlangen Haare der Frau bedeckten das Gesicht.

Die Kommissarin begrüßte die Kollegen, die dabei waren, den Tatort abzusperren. Sie nahm ein paar dünne Gummihandschuhe entgegen und näherte sich der Toten. Ihr schmaler Oberkörper war mit einem eng anliegenden rosafarbenen Poloshirt bekleidet; die rosa karierte, nicht ganz knielange Shorts mit einem rosa Hermes-Gürtel um die schmale Taille gehalten; die Beine, mädchenhaft und eher zu dünn, steckten in rot-weißen Golfschuhen.

»Hinten Lyzeum, vorne Museum«, dieser spöttische Spruch ihrer Mutter kam ihr in den Sinn, als sie auf das faltige Gesicht einer fast Achtzigjährigen blickte, sobald sie das blondierte Haar der am Boden liegenden Toten vorsichtig zurückstreifte.

»Sie kennen die Dame?«, fragte Theresa den Caddie-Master, der respektvoll oder eher verschreckt vom Tod, der in diese Idylle geplatzt war, auf Abstand blieb. Ohne näher zu treten, nickte er mit dem Kopf.

»Frau Wallmann.«

»Das können Sie sagen – so aus der Entfernung?«

»Ich bin hier seit über 20 Jahren angestellt, ich erkenne jeden von Weitem: Kleidung, Figur, Gang …«, erklärte er etwas stockend.

»Mmh, wo hat sie ihre Golfausrüstung?«

Er schaute verwirrt, ließ seinen Blick schweifen.

»Keine Ahnung – einen Putter hat sie auch nicht dabei – komisch.«

»Müsste sie auf jeden Fall einen dabeihaben?«

»Eigentlich ja …« Wieder schaute er sich suchend um.

»Was heißt eigentlich?«

»Mit irgendetwas muss sie den Ball ja einlochen, aber vielleicht wollte sie auf das Putten verzichten oder hat ein Hole-in-one geschlagen, das halte ich in diesem Fall für ausgeschlossen.«

»Warum? Verzeihen Sie – können Sie das einer Nichtgolferin erklären?«, bat die Kommissarin.

»Ganz einfach. Das Loch ist vom Damenabschlag ungefähr 140 Meter entfernt. Frau Wallmann kommt, wenn sie richtig einen raushaut, vielleicht gerade hundert Meter weit, ergo, kein Hole-in-one!«

»Klar – das kapiere ich. War sie vielleicht verwirrt – ich meine, sie ist nicht mehr die Jüngste?«

»Nein – nicht, dass ich wüsste. Sie war eine ganz besonders muntere und liebenswerte alte Dame«, erklärte der Caddie-Master, »doch fragen Sie da besser ihre Mitspielerinnen.«

»Ich lass Sie ein bisschen allein, damit Sie den herrlichen Tag im Grünen genießen können«, verabschiedete sich Theresa von dem Team, das gerade begann, den Tatort, wenn es denn überhaupt einer war, weiträumig zu inspizieren. »Und schauen Sie doch, ob Sie etwas finden, was ähnlich wie ein Schläger aussieht«, bat sie.

»Macht doch gar keinen Sinn – Golferin ohne Schläger auf dem Platz«, murmelte sie kopfschüttelnd vor sich hin, während sie das Gefährt bestieg, um sich vom Caddie-Master zurück zum Clubhaus fahren zu lassen.

»Ich komme später noch einmal!«, rief sie den Kollegen zu und schenkte ihnen zum Abschied ein majestätisches Winken. »Mamamobil!«, sagte sie lächelnd und deutete auf das Fahrzeug, das tatsächlich wie eine Miniaturausgabe der Papstkarosse wirkte.

»War Frau Wallmann verheiratet?«, fragte sie den Caddie-Master.

»Ich glaube schon«, antwortete er zögernd. »Sie erwähnte mal einen Ehemann.«

»Aber er ist nicht Mitglied im Club, das wüssten Sie wohl?«

»Natürlich.«

»Sonstige Angehörige, die hier Mitglieder sind – Kinder, Enkel?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie war ein bisschen einsam. Sie unterhielt sich oft mit mir, als wollte sie noch nicht nach Hause. Dem Ehemann ging es nicht gut, geistig, glaube ich, das erzählte sie mal. Sie war wohl froh, wenn sie etwas Abwechslung hatte, deswegen kam sie so gern auf den Golfplatz, obwohl sie schlecht spielte.«

»Gut, geben Sie mir doch bitte ihre Anschrift und Telefonnummer – ich informiere die Angehörigen«, versprach die Kommissarin.

3. Kapitel

Die Herrengolfer hatten den ersten Schock gut überwunden, als Theresa Rosenthal erneut die Terrasse betrat. Auf dem Tisch standen mehrere Flaschen Wein, und die Stimmung in der Runde war munter. Das war nichts Ungewöhnliches; die direkte Begegnung mit dem Tod verstärkt den Wunsch zu leben und führt oft zu unerwarteter Heiterkeit, ähnlich wie beim Leichenschmaus. Das Auftauchen der Kommissarin ließ den Stimmungspegel kaum merklich absinken.

»Ich muss Ihre fröhliche Runde leider unterbrechen. Ich würde gern mit den drei Herren sprechen, die die Tote auf dem Grün gefunden haben – wer von Ihnen …?«

Am Tisch kehrte daraufhin ein wenig Ruhe ein, und einige der Herren machten betretene Gesichter. Drei von ihnen meldeten sich und standen auf.

»Ich würde gern einzeln mit Ihnen sprechen. Einer von Ihnen ist Arzt, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»Das bin ich – Dr. Paul Rasmussen.« Ein mittelgroßer, drahtiger Mann, im Alter von vielleicht Anfang 60 kam der Kommissarin mit ausgestreckter Hand entgegen; das war eine Arztangewohnheit. Sie hasste es, Hände zu schütteln. Es blieb ihr aber nichts anderes übrig, als ihm ihre hinzuhalten, die er mit festem Druck ein wenig zu lange in der seinen hielt. Fehlte nur, dass er fragte: »Wie geht es uns denn heute?«

Theresa übte Wirkung auf Männer aus. Mit einer Körpergröße von 1,75 Meter stand sie den meisten auf Augenhöhe gegenüber, zumal sie gern hohe Absätze trug, wenn ihr Job sie nicht gerade in Wälder und Wiesen trieb. Ihre Größe setzte sie hin und wieder gezielt ein, wissend, dass sie bestimmte Leute damit einschüchterte. Das war manchmal hilfreich. Eine klassische Schönheit war sie nicht, aber eine auffallende Erscheinung: Ihre blauen Augen strahlten Humor und eine gewisse Spottlust aus; die nicht ganz gleichmäßigen Gesichtszüge verrieten Klasse; die hohe Stirn und die gerade lange Nase, gepaart mit einem entschlossenen Zug um den Mund, ließen auf einen Herrschaftsanspruch schließen, der sich in der ungefähr 800-jährigen Geschichte ihrer Familie herausgebildet hatte. Mit der glorreichen Vergangenheit kokettierte sie allerdings nie, da ihr das Traditionsbewusstsein ihrer Familienmitglieder lange genug auf den Wecker gegangen war. Die Rückbesinnung auf die Vergangenheit hatte in den Jahrzehnten in dem Maße zugenommen, wie die Besitztümer ihrer adligen Familie dahingeschmolzen waren. Die meisten in ihrem Umfeld ahnten nichts von ihrer Familiengeschichte, vor allem nicht ihre Mitarbeiter. Im Umgang mit Leuten wie diesen hier half es ihr manchmal zu wissen, dass ihre Familie länger verarmt war, als die meisten in dieser Runde ihren Wohlstand genossen. Neureiche entlockten ihr nur ein müdes Lächeln. Sic transit gloria mundi – so vergeht der Ruhm der Welt, nicht nur bei Päpsten, auch bei Königen, Fürsten und eben Familien wie der ihren. Sie wusste, dass das wehtat, aber es half nicht, sein Leben mit Jammern zu verschwenden. Theresa hatte mit Anfang 20 in erster Ehe, vielleicht aus Protest gegen ihr Elternhaus, einen Bürgerlichen geheiratet, nicht standesgemäß, befanden Vater und Mutter. Vielleicht hätten sie ein Auge zugedrückt, wenn der Schwiegersohn wenigstens Reichtümer in die verarmte Familie eingebracht hätte, hatte er jedoch nicht. Um die Meckerei über diese Mesalliance nicht länger anhören zu müssen, hatte Theresa ihrer Familie weitestgehend den Rücken gekehrt – und dabei blieb es, auch als sie in zweiter Ehe einen steinreichen Textilfabrikanten heiratete, den ihre Eltern freudig willkommen hießen, bis sie den jüdischen Background von Friedrich Rosenthal entdeckten. Was hatten sie gedacht? – Dass es sich bei dem Namen Rosenthal um ein ostpreußisches Adelsgeschlecht handelte?

»Wieder eine morganatische Eheschließung«, kommentierte Theresas Mutter mit einem verächtlichen Zug um den Mund. Ob ihr klar war, dass 99 Prozent der deutschen Bevölkerung nicht mal ahnte, worum es sich bei diesem Überbleibsel aus feudalistischen Zeiten handelte. Natürlich zeigte niemand ihrer edlen Ahnen offene Antipathie, doch Theresa kannte ihre Mischpoke, wie sie die Mitglieder der Familie bei den seltenen Treffen betitelte, um sie ein wenig zu ärgern. Theresa behielt den Namen Rosenthal nach der dritten Eheschließung bei, weil sie gern weiterhin wie ihre beiden Söhne heißen wollte.

Das Gespräch mit dem Arzt verlief freundlich, mit einem Versuch seinerseits zu flirten, den er vorsichtshalber ironisch verpackte. Typisch Mann – im Fall einer Niederlage sah es aus, als sei alles nur eine kleine Spielerei gewesen. Mit Ende 40 war einem das alles schon begegnet, die Durchschaubarkeit der Menschen fing an, Theresa zu langweilen. Sie musste achtgeben, dass die Langeweile nicht in Verachtung umschlug.

Sah man von den eingestreuten Komplimenten ab, gab Dr. Rasmussen präzise Auskünfte über die entscheidenden Minuten an diesem Nachmittag.

»Wir sind um zwei Uhr auf die Runde gegangen, erster Flight – sind Sie Golferin? Flight nennt man …«

»Ich weiß«, unterbrach sie ihn, »erzählen Sie weiter!«

»Vor uns ist keiner gestartet. Ich stand mindestens zehn Minuten auf dem Übungsgrün, ich hätte gesehen, wenn Frau Wallmann vor uns losgegangen wäre. Es ist auch unwahrscheinlich, dass wir zu dritt auf einen Einzelspieler auflaufen.«

»Spielte sie manchmal allein?«

»Da fragen Sie mich was – doch, kann sein, aber hören Sie sich besser bei den Damen um. Morgen ist Damentag, da sind viele hier.«

»Also gut – Loch vier«, kürzte Theresa das Gespräch ab. »Als Sie abschlugen, stand sie nicht auf dem Grün?«

»Vom Abschlag kann man das Grün nicht einsehen, ein sogenanntes ›Blind Hole‹. Geht der Spieler vom Grün rüber zum nächsten Abschlag, läutet er die Glocke, die dort hängt, um den Nachkommenden zu signalisieren, dass das Grün frei ist.«

»Und – läutete die Glocke?«

»Nein – es hatte die ganze Zeit keiner vor uns gespielt, also konnte keiner läuten.«

»Leuchtet ein, aber ist das nicht gefährlich?«

»Es ist nie etwas passiert. Auf jeden Fall machte mein Mitspieler, Dr. Spethmann …«

»Noch ein Arzt?«

»Dr. Spethmann ist Jurist, er machte auf jeden Fall einen Klasseschlag, der – wie es aussah – gut unterwegs zum Grün war.«

»Und Ihr Ball?«

»Upps – touché! Treffen Sie die Männer immer an Ihren Schwachpunkten?« Seine dunkelbraunen Augen versuchten ihre zu fixieren.

Guter Versuch, dachte sie und konterte kühl. »Es war eigentlich nur die Frage nach einem Golfschlag.«

»Eben«, antwortete er mit gespielter Zerknirschung. »Meiner war ein furchtbarer Slice, endete irgendwo rechts zwischen den Bäumen, müsste da noch liegen, den haben wir gar nicht mehr gesucht, wegen der …«

»Klar – und der dritte Ball?«

»In dem Bunker links vorm Grün – den müssten wir dort finden.«

»Ach, ich dachte, Sie wären gute Spieler mit niedrigen Handicaps?«

»Ist auch so, wir sind alle einstellig«, sagte er mit einem gewissen Stolz. »Die Frage ist doch, was man aus der misslichen Lage macht – wie im Leben«, ergänzte er mit seinem ironischen Lächeln.

»Zweiter Versuch«, notierte sie und ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er erzählte weiter, wie sie die Tote gefunden hatten. Er habe als Arzt natürlich direkt den Tod feststellen können, und daraufhin hätten sie den Abbruch des Spiels organisiert und die Benachrichtigung der Polizei veranlasst, weil sie sich nicht sicher waren, ob nun der Ball oder was immer für ihren Tod verantwortlich war. Die Umstände seien ein wenig merkwürdig.

»Obwohl – ist gar nicht schlecht, so tot an der Fahne.« Wieder meinte sie bei dieser Erwähnung ein kleines Lächeln zu entdecken. Das sei der Dame im Leben selten vergönnt gewesen, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

»Wie bitte?« Theresa hatte wohl ziemlich verdutzt geschaut, denn nun lächelte er offensichtlich, was ihn ziemlich sympathisch machte.

»›Tot an der Fahne‹ ist auch ein Golfbegriff – meint, dass der Ball dicht neben der Fahne liegen bleibt. Das ist der Traum eines jeden Spielers. Wegen der Doppeldeutigkeit gibt es darüber natürlich eine Menge Witze.«

Die Trauer um die Dame schien bei Dr. Rasmussen nicht gerade überwältigend, aber das allein machte ihn nicht zum Verdächtigen. Außerdem war ihm als Arzt der Tod nichts Fremdes; die meisten Ärzte legten sich einen gewissen Panzer zu, um das Elend nicht zu nah an sich heranzulassen. Theresa merkte, dass sie versuchte, ihn zu entschuldigen, was für eine untersuchende Kommissarin keine gute Idee war.

»Also – tot an der Fahne – war ihr nicht vergönnt. War sie also eine eher schlechte Golferin?« Theresa wollte möglichst viel von dem Spiel verstehen, um bei den nächsten Gesprächen nicht andauernd nachfragen zu müssen.

»Schlechte Golferin? Das ist untertrieben; das, was sie da spielte, konnte man kaum Golf nennen – ist nichts Besonderes, da gibt es einige hier im Club. Haben Sie Lust, es zu probieren? Ich nehme Sie gern mit auf die Driving Range«, bot er ihr an.

»Vielleicht«, antwortete sie.

Als sie zum Herrentisch zurückkehrten, wurde dort gerade heiß debattiert, ob Rudolf Spethmann nun ein nach den Regeln gültiges Hole-in-one geschlagen hatte oder nicht. Da in der Zwischenzeit weiterer Alkohol geflossen war, wurde die Diskussion entsprechend laut und erregt geführt. Ein Herr blätterte in einem Büchlein und triumphierte:

»Hab ich’s doch gesagt! Regel 19, wenn er sie getroffen hat – Bahnzufall. Hier, hört mal alle zu: Wird der Ball in Bewegung zufällig durch etwas abgelenkt oder aufgehalten, das nicht zum Spiel gehört, gilt dies als Spielzufall und ist straflos. Der Ball muss gespielt werden, wie er liegt. As it lies«, fügte er in schlechtem Englisch hinzu.

»Nicht zum Spiel gehörig, da kann man in diesem Fall mit Fug und Recht von ausgehen, aber lasst doch den Herren-Captain zu Wort kommen!«, grölte einer vom Ende des Tisches und deutete auf Rasmussen.

»Können wir das vielleicht später besprechen, Jungs. Die Kommissarin möchte jetzt mit dir sprechen, Rudolf.«

Rasmussen stellte ihr seinen Mitspieler, den Juristen, vor, nicht ohne Theresa nochmals augenzwinkernd zuzulächeln. Mit demselben flirtiven Unterton, den er fast das ganze Gespräch beibehalten hatte, fragte er dann: »Bin ich aus der Inquisition entlassen? War mir eine Freude. Und mein Angebot gilt – ein kleiner Schnellkurs, jederzeit gern.«

»Wir warten hier auf dich, Rudolf!«, rief ein Herr mit schwerer Zunge dem Juristen hinterher. »Dein erstes Hole-in-one, und diese Wallmann bringt dich um die Siegesfeier. Die Drinks musst du trotzdem ausgeben. Da kommst du nicht drum herum.«

Das Gespräch mit Dr. Spethmann verlief nüchtern und kurz. Er bestätigte alles, was der Arzt berichtet hatte und fügte nur hinzu, dass sein Ball im Loch gelegen habe und er im Übrigen nicht wissen könne, ob er Frau Wallmann getroffen habe oder nicht.

»Das wird die Gerichtsmedizin feststellen, Herr Dr. Spethmann«, konstatierte Theresa und wollte von ihm noch wissen, woher er überzeugt sein könne, dass es sein Ball war, der da im Loch lag.

»Beim Beginn der Runde geben wir alle an, welchen Ball wir spielen werden. Man muss in der Lage sein, auf dem Platz seinen eigenen Ball zu identifizieren, und die Mitspieler müssen das natürlich kontrollieren können.«

»Wo ist Ihr Ball?«

»Wie bitte?«

»Na, Ihr Ball, der im Loch lag?«

»Ach so, den habe ich mitgenommen. Ein Hole-in-one-Ball ist eine Trophäe, die lasse ich mir auf ein Silberpodest montieren.« Ein kurzes trockenes Lachen folgte auf diese Bemerkung. Bisher war Theresa nie klar gewesen, was die Leute meinten, wenn sie von einem trockenen Lachen sprachen. Als sie Spethmann hörte, wurde es ihr schlagartig bewusst. Wie konnte ein Lachen humorlos sein, und doch war es so: unsympathisch und humorlos. Ein unangenehmer Mann.

»Gut, gut, aber dieser ist auch ein Beweisstück, das sollten Sie als Jurist doch wissen, vielleicht sind Spuren daran« – Sie Blödmann, ergänzte Theresa still für sich.

Er schaute sie ziemlich betroffen an.

»Meinen Sie wirklich, dass ich sie getroffen habe?«

»Ist doch schön, dass sich hier endlich ein Lebewesen um die arme Frau da draußen Sorgen macht.« Theresa merkte, wie der ganze Verein sie allmählich ankotzte.

»Kann ich den Ball jetzt haben?«, fragte die Kommissarin, sich nur mühsam beherrschend. Als er das Corpus Delicti aus seiner Tasche zog, rollte sie mit den Augen.

»Das zum Thema Spuren.«

Sie zog einen Handschuh an, nahm den Ball entgegen und ließ ihn in eine Plastiktüte fallen.

»Und ja«, kam sie ihm zuvor, »Sie können den Ball später wiederbekommen.«

Der dritte Herr aus dem Flight erregte schon bei den ersten Begrüßungsworten Theresas Missfallen. Er benutzte den lokalen Dialekt auf merkwürdig gedrechselte Weise. Es sollte vornehm klingen. In Hamburg ging das, in München mit dem bayerischen Dialekt zur Not auch – in Köln war es peinlich, eben ein Kölscher, der in dem Umfeld des feinen Golfclubs seine Herkunft zu kaschieren versuchte. Die hiesige Mundart, die auf dem Markt in Nippes fröhlich und natürlich klang, verlor, derartig gequält, ihren Charme.

»Willi Wirtz«, stellte der dritte Golfspieler sich vor.

Theresa überlegte angestrengt, wo sie den Namen schon einmal gehört oder gelesen hatte. Im Zusammenhang mit Baukorruption oder irgendeinem politischen Skandal im allgegenwärtigen Kölner Klüngel? Oder hatte Wirtz einfach nur die Schlachterei im Veedel? Wieso nur klang in dieser Stadt alles ein bisschen wie im Hänneschen Theater? Selbst eine Straftat wie Korruption bekam den niedlichen Klüngel-Anstrich verpasst. Und Herr Wirtz fügte sich nahtlos in diese Szene ein. Zwei Kölsch zu viel, und der Typ krakeelte laut herum, wurde derb und anzüglich, was für ein Arschloch, schätzte Theresa und sah im Geiste ihre Mutter, wie sie verzweifelt die Augen verdrehte. Die Arroganz, die ihre Mamá dem Rest der Menschheit entgegenbrachte, hatte im Alter ein unerträgliches Ausmaß angenommen. Es blieb kaum ein Lebewesen übrig, das sie für wert erachtete, mit ihr zu verkehren, abgesehen von ihrer rachitischen englischen Bulldogge. Theresa erwischte sich neuerdings bei einer ähnlichen Haltung. »Die Spiegelneuronen explodieren«, ermahnte sie sich in Erinnerung an ihr Psychologiestudium. Das Vorbild der Eltern schlägt eben doch brutal durch.

»War’n astreiner Schlag vom Rudolf – supa Golfer«, ging es bei Wirtz im kölschen Singsang weiter. Seine geölte und auf der Sonnenbank gebräunte Haut verbarg nicht, dass der Mann zu viel Alkohol trank. Seine Jugendjahre befanden sich weit hinter ihm, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte. Die zu langen und mit Gel bearbeiten Haare täuschten kaum darüber hinweg, dass sein Alter jenseits der 50 lag.

»Blind Hole – kamma nix machen, keine Glocke jehört! Jesehen hamma se auch nich. Feine Frau, aber Jolf, da hatte die keinen Schimmer von, nö, nette Frau sonst, kamma nix sagen. Traurig – so’n schöner Tach, und dann liegt se da plötzlisch tot an der Fahne. Is’n Schock für uns jewesen. Fröhliche Herrenrunde und plötzlisch so wat.«

Ohne dass die Kommissarin eine Frage an ihn gerichtet hatte, sendete Herr Wirtz pausenlos weiter. Mal schauen, dachte Theresa und hoffte, dass vielleicht irgendetwas Interessantes herauskäme, ihm ein Detail entschlüpfte, das sie nicht kannte. Die Hoffnung wurde enttäuscht. Sie bezweifelte, dass Wirtz in seinem Leben überhaupt je etwas Interessantes gesagt hatte.

»Is’n schöner Sport sonst«, sprudelte es weiter aus ihm heraus, »und haben wir immer viel Spass hier, is ne nette Runde, alles janz feine Herren, kann man nix sagen. Is’n doller Club hier, kost auch einiges, Mitgliedschaft und auch sonst, muss man immer mal einladen, hamma alle Spass dran, jeden Mittwoch und Donnerstag dann die Frauen, meine Frau spielt hier auch mit und mein Sohn, is’n feiner Golfer, einstellig, hören Se mal, die Jungs nee, bei denen jeht dat wie nix, hat den Papa überholt, is man ja stolz drauf.«

Wie Theresa vermutet hatte, der Mann würde bis Sonnenuntergang weiter schwafeln, ohne etwas von Bedeutung von sich zu geben. Sie brach das Gespräch ab, ging noch einmal zum Herrentisch, dankte dort für die Unterstützung und bat um eine Liste aller Herren, die heute beim Spiel dabei gewesen waren.

»Kein Problem«, sagte der Arzt-Doktor, sprang auf und bot sich an, sie zum Caddie-Master zu begleiten. »Sie bekommen unsere Startliste mit allen Namen. Kann ich Ihnen sonst behilflich sein?«

Er drückte ihr seine Visitenkarte in die Hand.

»Alles klar – Sprechstunden, immer außer am Mittwochnachmittag«, scherzte Theresa und wunderte sich, warum sie auf seine Anmache überhaupt einging.

»Ich würde Sie auf Herz und Nieren untersuchen, besonders auf Herz, das ist mein Spezialgebiet«, antwortete er und, sie fragte sich, wie oft er den Spruch schon gebracht hatte, verkniff sich aber ein Nachhaken. Darauf würde ein Wort das andere geben, und dann saßen sie plötzlich beim Abendessen. So liefen die Dinge doch, und das brauchte sie jetzt gar nicht. Zu Hause wartete ein Ehemann auf sie, immerhin Nummer drei. Am Verlust des ersten traf sie durchaus eine Mitschuld. Der zweite war sieben Jahre zuvor gestorben, und ausgerechnet er hatte perfekt zu ihr gepasst. Warum sie eine dritte Ehe eingegangen war, konnte sie sich im Grunde nicht erklären. An der Beziehung mit Georg gab es nichts auszusetzen, aber ohne Trauschein wäre es auch gegangen. Die Verbindlichkeit erschien ihr zeitweise beengend, das Leben unter einem Dach kein unbedingter Gewinn. Heute Abend zum Beispiel würde sie gern in ein nur von ihr bewohntes Haus heimkehren; sich mit einem Glas Wein und einem Stück Käse auf die Terrasse setzen; den Tag, den heutigen Fall Revue passieren lassen; vor allem keine Fragen beantworten müssen; lesen, wenn ihr danach war; vielleicht »Tatort« gucken. Manche der Kommissare mochte sie wirklich gern, und es machte Spaß, sie bei Fehlern zu erwischen, die nur ein Insider entdecken konnte. Georg verstand nicht, warum sie nach ihrem Job Krimis anschaute. Sie wusste das selbst nicht genau, wollte es auch gar nicht erklären müssen. Theresa wunderte sich, warum sie gerade in diesem Moment ihre Beziehung in Frage stellte. Vielleicht wäre sie tatsächlich gern mit Rasmussen essen gegangen. Irgendetwas reizte sie an dem Mann, war wahrscheinlich nur eine Augenblickssache.

Sie fuhr erneut zu dem Grün, auf dem die tote Frau lag. Diesmal steuerte sie den Elektrowagen selbst; den Weg hatte sie sich gemerkt. Auf dem vierten Grün lief die normale Routine: Spurensicherung und erste Untersuchung der Toten. Tatsächlich hatte Frau Wallmann seitlich am Kopf ein Hämatom, das von den Haaren verdeckt wurde.

»Über die Ursache kann ich jetzt nichts sagen«, erklärte der Gerichtsmediziner.

»Wie wär’ es damit?« Theresa reichte ihm die Plastiktüte mit dem Golfball, den sie sichergestellt hatte.

»Kann sein«, antwortete er knapp. Dr. Mario Bellutt hasste es zu spekulieren. »Ja, und ich weiß, so schnell wie möglich«, ergänzte er mit einem Augenrollen.

»Hab doch gar nichts gesagt«, protestierte Theresa. »Ich glaube nicht an ein Gewaltverbrechen. Vielleicht, weil es ein zu schöner Tag ist und ich nach Hause will.«

»Nach meiner Erfahrung spielt das Wetter keine große Rolle, gemordet wird bei Regen und bei Sonnenschein.« Wie Bellutt das sagte, klang es fast fröhlich.

Die Spurensicherung hatte ebenfalls nichts Besonderes ergeben. Eine zurückgelassene Golfausrüstung hatten sie in der Umgebung nicht entdecken können. Theresa fuhr zurück zum Caddie-Master und fragte, wo Schläger und Taschen untergebracht seien.

»Im Caddiehaus.«

»Können Sie überprüfen, ob die Sachen von Frau Wallmann dort sind?«

»Selbstverständlich – ich habe einen Generalschlüssel.«

Er kehrte nach ein paar Minuten zurück und berichtete, dass Golftasche und -wagen im Schrank eingeschlossen seien.

»Merkwürdig«, fügte er hinzu, »was hat sie nur auf dem Platz gesucht ohne Ausrüstung.«

4. Kapitel