Shipman, Pat Mit dem Herzen einer Löwin

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Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Frey

 

© dieser Ausgabe, Piper Verlag GmbH 2018

© 2004 by Pat Shipman

Titel der englischen Originalausgabe: »To the Heart of the Nile«

© William Morrow/HarperCollins Publisher in New York 2004

© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2005

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

 

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Für Familie Baker, die damalige wie die heutige, die mich durch ihren unbezähmbaren Mut und ihre offenherzige Großzügigkeit inspiriert hat

VORBEMERKUNG DER AUTORIN

Über Florences frühe Kindheit gibt es nur spärliche Aufzeichnungen – sie war einfach schon immer eine geheimnisvolle Frau. Auch wenn es mir gelungen ist, einige Aufzeichnungen über ihre leiblichen Eltern ausfindig zu machen, habe ich mich bei vielen Details ihre frühen Jahre betreffend daran orientiert, was man sich in der Familie Baker darüber erzählt oder was meine Recherchen zur ungarischen Revolution und dem Sklavenhandel im Osmanischen Reich ergaben. Anstatt schwerfälliger Formulierungen wie »mag sie gesagt haben« oder

»hat er sich vermutlich gefragt« habe ich Florence und den Menschen, die sie umgaben, Gedanken und Worte in den Mund gelegt, die in Einklang mit ihrem Charakter und den überlieferten Äußerungen stehen.

All jenen, die glauben, daß die besten Biographien nur belegbare Fakten enthalten, möchte ich widersprechen. »Letztendlich ist jede Biographie eine Fiktion«, hat Bernard Malamud einmal gesagt. Als Florences Biographin halte ich es für meine Aufgabe, ein angemesseneres Bild ihrer Persönlichkeit zu zeichnen und ihre Bedeutung treffender zu beurteilen, als es die bloßen Fakten zu tun vermögen. Die Lücken zu schließen – und das heißt für mich, fundierte Hypothesen vorzustellen – ist nicht nur erforderlich, sondern auch gerechtfertigt.

Wenn ich Begriffe wie »schwarz«, »weiß«, »Neger« oder »Eingeborener« verwendet oder einige Äußerungen und Meinungen zitiert habe, die dem Leser vielleicht als unverhohlen rassistisch erscheinen, folge ich lediglich den Konventionen des neunzehnten Jahrhunderts. Meine eigenen Ansichten, die ich in den vielen Jahren meiner Arbeit in Afrika gewonnen habe, drücken sie nicht aus, sondern stellen vielmehr einen Versuch dar, die imperialistische Haltung der viktorianischen Zeit möglichst authentisch wiederzugeben.

In direkten Zitaten habe ich eine weitgehend einheitliche Schreibweise der afrikanischen Eigennamen verwendet, wenngleich sie in den Originaldokumenten widersprüchlich ist. Da manche der Ortsnamen nicht als tatsächlich existierende Orte identifiziert werden konnten, habe ich mich grundsätzlich an die im neunzehnten Jahrhundert übliche Schreibweise gehalten, wie Florence sie verwendete.

ANMERKUNG DER ÜBERSETZERIN

Die Übersetzung verzichtet wegen der oben genannten Uneinheitlichkeit bei der Schreibung der afrikanischen Eigennamen, Orte und Stämme auf eine »Eindeutschung« und richtet sich nach der von der Autorin gewählten Schreibweise.

1

Ich bin doch keine Sklavin!

Die Mädchen im heiratsfähigen Alter sollten im Januar 1859 verkauft werden – so der Wunsch Finjanjian Hanims, der Matriarchin der Familie Finjanjian. Sie zählte zu den einflußreichsten lizensierten Händlerinnen für weiße Sklavinnen in Viddin und konnte stolz sein auf ihre Ware. Wenn es darum ging, vielversprechende, blutjunge Mädchen auszuwählen, für den Harem auszubilden und im geschlechtsreifen Alter zu Höchstpreisen wieder zu verkaufen, bewies Finjanjian Hanim einen untrüglichen Instinkt[1].

Einen besonders regen Handel mit weißen Sklaven gab es in Viddin[2] allerdings nicht, selbst für den europäischen Teil des Osmanischen Reichs. Als Pascha oder Gouverneur nach Viddin geschickt zu werden war in den meisten Fällen eine Strafe für irgendein Fehlverhalten. Mit den Mitgliedern der Sklavenhändlergilde von Konstantinopel oder Kairo, die ihre Mädchen mit ein wenig Glück sogar im kaiserlichen Harem unterbrachten, konnte sich eine hanim nicht messen. Und in Viddin gab es auch nichts, was mit dem legendären Topkapi-Palast und seinem riesigen Harem vergleichbar gewesen wäre. Dennoch hatte Finjanjian Hanim einige Mädchen von außergewöhnlicher Qualität heranziehen können, die in große, berühmte Harems aufgenommen worden waren, was den Wohlstand und das Ansehen der Familie gemehrt hatte. Die Zeiten, als die Finjanjians noch einfache Porzellanhändler gewesen waren – das Gewerbe, auf das ihr Name zurückging[3] –, waren längst vorbei.

Im Januar wurden immer die hübschesten Mädchen verkauft, und tatsächlich hatte die hanim gerade ein Mädchen mit ganz außergewöhnlichen Qualitäten im Angebot: Florenz. Die blonde, junge Schönheit war in den vergangenen zehn Jahren mit äußerster Sorgfalt aufgezogen und unterrichtet worden. Gemeinsam mit den Enkelinnen der hanim hatte sie im Harem Mathematik, Lesen, Schreiben, Geographie, Musik und sämtliche Künste einer Frau gelernt. Finjanjian Hanim hatte dafür gesorgt, daß Florenz ihre Kenntnisse des Ungarischen und des Deutschen, der Sprachen ihrer leiblichen Eltern, bewahrte und zudem Arabisch lernte, die allgemein gebräuchliche Sprache im Harem, denn das Beherrschen europäischer Sprachen war eine Fähigkeit, die bei den Mädchen besonders geschätzt wurde. Nachdem die hanim Florenz im hamman, dem Bad des Harems, mit prüfendem Blick beobachtet hatte, war sie zu der Überzeugung gekommen, daß das Mädchen die Geschlechtsreife und damit den Höhepunkt seiner Attraktivität erreicht hatte. Es würde von nun an in der Öffentlichkeit den Schleier tragen[4] müssen.

In einem Jahr würde das Mädchen zwar einen volleren Busen und eine weiblichere Figur haben, doch Finjanjian Hanim hatte noch einen anderen Grund, Florenz schon jetzt zu verkaufen. In Konstantinopel war ein neues Einwanderungsgesetz[5] erlassen worden, das allen, die ins Osmanische Reich immigrierten, ausgesprochen günstige Bedingungen zusicherte. Verpflichteten die Einwanderer sich zur Loyalität gegenüber dem Reich, dann war es ihnen sogar gestattet, ihre eigenen Religionen ungehindert auszuüben. Finjanjian Hanim befürchtete, daß diese Gelegenheit zu einer wahren Flut von Einwanderern aus Tscherkessien und Georgien führen würde, da die dort lebenden Russen die einheimische Bevölkerung schikanierten und zu vertreiben versuchten.

Ihre Schönheit und helle Haut machten tscherkessische und georgische Mädchen zu äußerst begehrten Konkubinen. Manche von ihnen waren entführt[6], bei Überfällen verschleppt oder einfach als Kriegsbeute mitgenommen worden, bevor man sie schließlich einem Harem anbot. Es gab auch Eltern, die ihre eigenen Töchter verkauften, was keineswegs als Schande galt. Immerhin war ein Leben im Harem wesentlich angenehmer und luxuriöser als die endlose Arbeit, die die Mädchen als Ehefrauen armer Bauern erwartete. Wenn nun aber viele solche Familien in die Provinz kamen, gab es für sie wohl kaum eine günstigere Gelegenheit, um das Geld für einen Neubeginn aufzubringen, als eine ihrer hübschen Töchter einem Sklavenhändler anzubieten. Der Zustrom tscherkessischer und georgischer Mädchen konnte das Geschäft mit den weißen Sklavenmädchen ruinieren. Es war also besser, Florenz jetzt zu verkaufen, als noch länger zu warten.

Zuerst benachrichtigte Finjanjian Hanim die anderen Mitglieder der Sklavenhändlergilde für den Fall, daß sie sich mit ihren Mädchen an der Versteigerung beteiligen wollten. Ein paar Mädchen mit geringeren Qualitäten würden den ersten Appetit des Publikums befriedigen und Florenz im Vergleich besser aussehen lassen. In den Zeitungen Konstantinopels, Sofias, Viddins und Wiens wurden diskrete Vorankündigungen plaziert. Potentielle Kunden erhielten Prospekte, und von Mund zu Mund gelangte die Neuigkeit bis weit nach Europa hinein. Finjanjian Hanim spekulierte bereits genüßlich über die Gäste, die wohl erscheinen mochten, und malte sich aus, wieviel Geld sie verdienen würde.

Als Mutter des Familienoberhaupts hatte sie das Sagen im haremlik, dem abgeschlossenen Bereich des Hauses, in dem in klösterlicher Abgeschiedenheit alle Frauen und Kinder lebten. Ihr Titel im Harem war Sultana Validé, und sie genoß ein höheres Ansehen als alle anderen, einschließlich der Lieblingsfrau des Herrn. Ein bekanntes türkisches Sprichwort lautete: »Ein Mann mag viele Frauen haben, doch er hat nur eine Mutter.« Sie entschied, wer verkauft werden sollte und wann. Sie bestimmte, wer wo im haremlik wohnte und wer neben seinem pa¸smalik, dem »Pantoffelgeld«, noch zusätzlich etwas bekam. Und nun beschloß sie, daß Florenz das besondere Privileg gewährt werden sollte, neue, kostbare Kleider für die Auktion zu erhalten.

Florenz ahnte nicht, warum man sie so bevorzugt behandelte. Schließlich gab es ja noch andere Mädchen, die Kleider bekamen. Ihrer Freundin, der Enkelin der Sultana Validé, hatte man ebenfalls hübsche, neue Gewänder geschenkt, erst vor wenigen Wochen, kurz bevor die goruçu zu ihr gekommen war, eine der älteren Frauen, die als Heiratsvermittlerinnen agierten. Florenz fragte sich, ob auch sie nun bald Besuch von einer goruçu bekommen würde. Sie war zwar nicht gerade begeistert von dieser Vorstellung, aber irgendwann würde sie ja vermutlich heiraten müssen, und dies war nun einmal der übliche Weg. Sie hoffte nur, daß der Gatte, den die Finjanjians für sie aussuchen würden, ein freundlicher, liebenswerter Mann war. Die Sultana Validé war eine kluge Frau und erwähnte die geplante Versteigerun gegenüber Florenz nicht, da sie befürchtete, es würde sonst Schwierigkeiten mit dem Mädchen geben.

Kaum war der Termin für die Auktion publik gemacht worden, begannen die Überstunden für die Küchensklaven: Sie bereiteten Gebäck und andere Köstlichkeiten zu und preßten Obst für Fruchtsäfte und Scherbett-Getränke. Man holte das edelste Kaffeegeschirr hervor und reinigte es gründlichst, frischte die Vorräte an feinbestickten Seidenservietten auf und polierte das Küchensilber auf Hochglanz. Die Musikanten übten eifrig: Sie sollten sich unauffällig im großen Empfangssaal, dem selamlik, aufstellen, dem öffentlichen Bereich des Hauses, den auch Männer betreten durften, und den Raum mit ihrer Musik erfüllen.

Alles und jeder wurde gewaschen und herausgeputzt. Als der große Tag gekommen war, verwendeten die Mädchen besondere Sorgfalt auf ihre Frisur und Kleidung. Die Sultana Validé hatte Florenz vorgeschlagen, für ihre neuen Kleider helle, zarte Farben zu wählen – am besten verschiedene Schattierungen von Hellblau und Lavendel –, aber Florenz hatte andere Vorstellungen. Gemeinsam mit der ikbal, der Lieblingskonkubine des Herrn, suchte sie sich prachtvolle Gewänder in kräftigem Blau und Grün mit leuchtendgelben Mustern aus, die ihr Haar gut zur Geltung brachten, und zog neue, gelbe Stiefel an, welche ihre zierlichen Fesseln eng umschlossen.

Dann wurde der große Empfangssaal für die erlauchten Gäste vorbereitet. Man säuberte die Wände, die kunstvoll mit blauen und grünen Kacheln bedeckt waren, und besserte die Vergoldungen des reich verzierten Deckengewölbes aus. Die Kronleuchter wurden poliert, bis sie nur so funkelten. Die niedrigen Diwane bekamen frische Bezüge, ein paar europäische Stühle wurden aus dem Lager geholt, abgebürstet oder neu aufgepolstert, die ausgeklopften Teppiche wurden zurechtgelegt. Im hinteren Teil des Saales stellte man eine kurz zuvor zusammengebaute Zwischenwand aus Gitterwerk auf, die mit dünnem Stoff bespannt war. In dem abgetrennten Bereich sollten die Mädchen warten, bis man sie holte, um sie zur Schau zu stellen. Der Schreiber besorgte volle Tintenfässer und ein neues Buch, in dem er die Höchstgebote notieren und die Steuerzahlungen festhalten würde.[7] Zudem bereitete er Quittungen vor, die jeder, der eine neue Sklavin ersteigert hatte, ausfüllen mußte. Der Buchhalter würde das Geld vom Käufer entgegennehmen und den Kaufvertrag für gültig erklären. Den schwarzen Eunuchen Ali beauftragte man damit, die Mädchen während der gesamten Dauer der Verhandlungen vor Eindringlingen zu beschützen. Er sollte zudem sicherstellen, daß die Mädchen erst dann dem jeweiligen Käufer ausgehändigt wurden, wenn dieser bezahlt und die entsprechenden Urkunden erhalten hatte.

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Die Entführung (1875). Viele hübsche tscherkessische und georgische Mädchen wurden noch im Kindesalter geraubt und manchmal sogar von ihren Eltern als Sklavinnen verkauft.[8]

 

Finjanjian Effendi, der Sohn Finjanjian Hanims, stellte sein Siegel für die Kaufverträge zur Verfügung und spielte sonst vor allem die Rolle des Zeremonienmeisters: Er begrüßte die Gäste, wies ihnen gemäß ihrem Stand und Vermögen einen Platz zu und sorgte dafür, daß alle mit Erfrischungen versorgt waren. Auch Finjanjian Hanim legte großen Wert darauf, gesehen zu werden, damit alle wußten, wem sie die hübschen Mädchen zu verdanken hatten, die zur Auktion standen. Sie war in ein prächtiges, weißes gomlek gekleidet, ein Hemd aus zartem, hauchdünnem Stoff, das oben am Hals offenstand und dann bis unter die Knie zugeknöpft war. Dazu trug sie eine shalwar, eine lange Hose aus feinster, blau-grün gemusterter Seide, auf die Perlen, Goldfäden und Spitze aufgenäht waren. Um die Taille saß eine dick auftragende, mehrfach gefaltete Schärpe, ku¸sak genannt, mit einem verschlungenen Muster in leuchtendem Gelb, Rot und Blau. Darüber trug sie einen anteri, einen langen, ärmellosen Umhang, aus blau-goldenem Brokat. Er lag am Rücken eng an und wurde von einer prachtvollen, juwelenbesetzten Brosche über der Brust zusammengehalten. Wenn Finjanjian Hanim hin und her ging, öffnete er sich und raschelte über den Boden. Um ihren faltigen Hals hingen dicke Perlenschnüre, und zahllose goldene Spangen schmückten ihre plumpen Arme. Ihr dunkles, geöltes Haar war kunstvoll geflochten, eingerollt und mit Schmuck verziert, der die Form von Blumen hatte. Er war aus Edelsteinen gefertigt, die zitternd auf dünnen Stengeln aus Gold saßen.

Ein eigens dazu angestellter Sklavenhändler[9] hatte die Aufgabe, jedes einzelne Mädchen anzupreisen, wenn es vorgeführt wurde, und die Gebote entgegenzunehmen. Bei besonderen Auktionen wie dieser wurden die Mädchen einzeln und in ihren schönsten Kleidern präsentiert. Anders als die cariyes, die gewöhnlichen Sklavenmädchen, wurden Jungfrauen niemals nackt zur Schau gestellt und durften von den potentiellen Käufern auch nicht gestreichelt oder genauer untersucht werden. Jede von ihnen verfügte über eine von einer Hebamme unterzeichnete Urkunde, die ihre Jungfräulichkeit garantierte, denn die Unberührtheit eines Mädchens machte einen wesentlichen Bestandteil seines Marktwertes aus.

Während die potentiellen Käufer in den Empfangssaal strömten, spähten die Mädchen neugierig durch die Trennwand, musterten die Männer und kicherten aufgeregt. Unaufhörlich und voller Begeisterung ließen sie sich über Kleidung, Aussehen und Wesen der Käufer aus, soweit sie dieses beurteilen konnten. Diese Männer würden über ihr weiteres Schicksal bestimmen, über ihr zukünftiges Leben. Sie konnten freundlich sein, aber auch grausam, gutaussehend oder häßlich, großzügig oder geizig – Eigenschaften, die für sie von entscheidender Bedeutung waren. Außerdem waren es für die meisten der Mädchen, einmal abgesehen von ihrer Familie und dem Herrn, die ersten Männer, die sie in ihrem Leben zu Gesicht bekamen.

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In den privaten Auktionsräumen – Kenner lassen sich die »Besitztümer« zeigen (1875). Seltene viktorianische Darstellung einer weißen Sklavin. Ein Mädchen wie Florence, das (nach heutigem Wert) bis zu 21000 englische Pfund einbringen konnte, wurde jedoch vermutlich nicht in einem so schäbigen Zelt versteigert.[10]

 

Erst als die Versteigerung des ersten Mädchens, Fatima, begann, begriff Florenz, was hier vor sich ging. Sie war entsetzt.

Als sie in den Harem gekommen war, hatte man Ali zu ihrem lala bestimmt. Zehn Jahre lang hatte er sich um sie gekümmert, war ihr Beschützer, ihr Vormund und ihre emotionale Stütze im Harem gewesen. Er liebte sie abgöttisch. Es war das erste Mal gewesen, daß man ihn zum lala ernannt hatte. Natürlich hatte er selbst keine Kinder und keine eigene Frau. Er hatte nicht einmal richtige Freunde. Ein Harem war eine Welt für sich voller Komplotte und Intrigen, und es gab immer jemanden, der sich eine günstige Position verschaffen wollte oder auf Geld oder Gunst aus war. Ein so hochrangiger Eunuch wie Ali mußte sich von den anderen fernhalten, um nicht Gefahr zu laufen, daß eine im Vertrauen geäußerte Mitteilung irgendwann gegen ihn verwendet wurde. Er hatte sich daran gewöhnt, von Menschen umgeben zu sein, die aus egoistischen Gründen Ränke schmiedeten und Verschwörungen anzettelten.

Florenz war da ganz anders. Sie wuchs heran und blühte, unschuldig wie eine Blume im Sonnenschein. Ali hatte das Gefühl, daß ihr der Gedanke, sich eine bessere Stellung im Harem zu sichern, völlig fremd war. Statt dessen schien sie gegen jede Art von Neid so gut wie immun zu sein. Freude und Heiterkeit waren ihr in die Wiege gelegt worden. Mit ihr hatte Ali zum ersten Mal seit langen Jahren – im Grunde seit seiner Kindheit – jemanden gefunden, den er lieben konnte. Wenn Florenz Heimweh nach ihrer Familie hatte, legte er ihr den Arm um die Schultern und erzählte ihr Geschichten aus Afrika, die er von seiner Mutter gehört hatte, als er ein kleiner Junge war. Wenn sie voller Verzweiflung von ihm wissen wollte, warum ihr Vater sie nicht endlich holte, tröstete er sie zärtlich: »Ich weiß es nicht, mein Blümchen. Aber ich bin sicher, daß er dich liebt und daß er kommen würde, wenn er nur könnte.« Sie war noch zu jung, um zu begreifen, daß ihr Vater nicht wissen konnte, wo er sie finden würde, selbst wenn er sie suchte. Wenn sie nachts aufwachte, weil die Erinnerungen an Feuer und Blut sie ängstigten, war Ali immer zur Stelle, um ihr ein Lied vorzusingen und sie wieder in den Schlaf zu wiegen. War sie krank, dann kühlte er ihr die Stirn mit Wasser und brachte ihr etwas Besonderes zu essen oder einen heilenden Trank. Und wenn ihr langweilig war, spielte er für sie auf seiner kleinen Flöte, und sie tanzte wie eine Gazelle durch das hohe Gras draußen im Garten.

Wenn irgendetwas Florenz ängstigte oder beunruhigte, so wie jetzt, dann rief sie nach Ali, der immer gleich zu ihr kam.

Er beugte sich ein wenig zu ihr hinunter, bis sein breites, schwarzes Gesicht neben dem ihren war, so daß sie niemand hören konnte, und fragte: »Nun, meine Kleine, was gibt es?«

»Die Männer wollen Fatima ersteigern«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Sie werden sie kaufen wie eine Kuh oder eine Elle Stoff!«

»Ja, mein Kind, das ist wahr«, erwiderte Ali sanft. »Sie ist eine Sklavin, und es ist an der Zeit, daß sie in einen neuen Harem kommt. Du hast doch gesehen, wie die Mädchen zu uns gekommen und dann wieder gegangen sind. Du wußtest doch, daß sie verkauft wurden.

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Der Haremswächter (1859). Zur Bewachung des Harems wurden schwarze Eunuchen abbestellt, die manchmal auch als lalas fungierten und sich um die kleinen Kinder kümmerten. Gemälde von Jean-Léon Gérôme.[11]

 

Eine so wichtige Auktion haben wir allerdings noch nie in unserem Haus gehabt, seit du hier bist.«

»Aber –«, stotterte Florenz, die kaum über die Lippen brachte, was ihr nun allmählich klar wurde, »aber das waren doch immer die anderen, nicht ich. Werden wir denn jetzt alle verkauft? Alle?«

»Nun ja, ein oder zwei der Mädchen werden vielleicht keinen Käufer finden«, räumte Ali ein. »Manche von ihnen sind sehr einfach und besitzen keine Anmut. Du dagegen«, fuhr er mit einem stolzen Blick auf seinen Schützling fort, »wirst gewiß einen stattlichen Preis erzielen. Du wirst das Kronjuwel der ganzen Versteigerung sein.«

»Aber ich bin doch keine Sklavin! Ich bin nicht wie die anderen Mädchen!« widersprach Florenz ihm so heftig, daß ein paar der anderen ihr bedeuteten, ruhig zu sein. Schließlich wollte das Publikum keine aufgebrachten Stimmen hinter der Trennwand vernehmen.

Ali umfaßte das Gesicht seiner geliebten Florenz mit seiner mächtigen Hand und sagte ihr die Wahrheit, die sie anscheinend nie ganz begriffen hatte. »Mein Juwel, mein leuchtender Stern, du bist eine Sklavin, so wie ich auch ein Sklave bin. Du bist eine Sklavin, seit du hier bist, seit du zu deinem Ali kamst. Erinnerst du dich? Du warst damals noch so klein und hattest solche Angst, sogar vor mir. Aber dann hat dich die Sultana Validé fürsorglich aufgezogen, neben ihren eigenen Enkelinnen, damit du einmal in ein großes Haus aufgenommen wirst und ein schönes Leben hast. Du wirst heute wahrscheinlich einen der höchsten Preise erzielen, die es jemals in Viddin gegeben hat, und voller Stolz in dein neues Zuhause einziehen. Ich selbst werde nicht mit dir gehen können«, setzte er traurig hinzu, »es sei denn, du überredest deinen neuen Herrn, daß er auch deinen häßlichen, alten lala[12] mit seiner schwarzen Haut und den vernarbten Wangen kauft. Wenn du erst einmal ikbal bist und den Herrn mit deinen Reizen betört hast, kannst du ihn darum bitten, und dann kann ich vielleicht auch kommen und weiter für dich sorgen.«

Florenz war vor Zorn und Schreck wie betäubt. Sie war noch so klein gewesen, als man sie in den Harem gebracht hatte, daß sie sich selbst nie als Sklavin gesehen hatte. Tatsächlich war sie meistens genauso wie die Enkelinnen der Sultana Validé behandelt worden: Sie konnte alles tun, was auch sie taten, und schlief Seite an Seite mit ihnen. Irgendwie hatte sie, halb unbewußt, immer angenommen, sie sei eine Art Adoptivkind. Hatten all die anderen die ganzen Jahre hindurch etwa gewußt, daß auch sie nur eine Sklavin war, die man kaufen und verkaufen konnte? Warum hatte ihr das niemand gesagt? Wütend und verletzt blickte sie Ali an. Sie erwartete von ihm eine Erklärung, suchte seinen Trost. Erst jetzt verstand Ali, was ihr zu schaffen machte.

Er war erstaunt. »Aber Florenz, hast du das denn nicht gewußt? War dir denn nicht klar, daß du eine Sklavin bist – und zwar nicht irgendeine, sondern die beste unter all den Mädchen, die hier unterrichtet wurden?« Sie schüttelte heftig den Kopf. Ali legte seine mächtigen Arme um sie und drückte sie an sich. »Ach, mein Kind, mein liebes Kind«, murmelte er. »Und ich dachte, du hättest längst begriffen, was sich hier abspielt, ich dachte, du wüßtest Bescheid.« Sie weinte bittere Tränen, die auf sein leuchtendgelbes Hemd fielen wie Regentropfen.

Als Florenz an der Reihe war hinauszugehen, strich Ali ihr mit seiner knallroten Schärpe sanft über das Gesicht und steckte ihr eine lose Haarsträhne in die kunstvoll geflochtene Frisur zurück. »Ich bin sehr stolz auf dich«, erklärte er ihr. »Du bist mein kleines Mädchen, die hübscheste von allen. Vergiß nicht, was man dir beigebracht hat, und sieh zu, daß du einen anständigen Preis erzielst!«

Verglichen mit den Mädchen vor ihr, war Florenz tatsächlich eine ganz besondere Erscheinung. Ihr Haar war hell und seidig, und winzige Perlen betonten ihre langen Zöpfe. Neben den bunten Kleidern fielen auch ihre feinen Gesichtszüge und ihre grazile Haltung ins Auge, so daß ein bewunderndes Raunen durch die Masse der potentiellen Käufer ging. Dieses Mädchen war wirklich vom Feinsten. Während der Sklavenhändler ihre Vorzüge und Fertigkeiten pries – »eine zertifizierte Jungfrau aus Ungarn[13], die nicht nur eine, sondern gleich zwei europäische Sprachen beherrscht und eine exzellente Tänzerin und Reiterin ist« –, packte Florenz die Wut. Sie würde es sich nicht gefallen lassen, daß man mit ihr umsprang wie mit einer Kuh auf dem Markt. Sie würde zwar dastehen, sich drehen und sich zur Schau stellen, denn etwas anderes blieb ihr gar nicht übrig, aber die Verschämte würde sie nicht spielen. Sie würde keine Sklavin sein[14]. Ihre Wangen röteten sich, was ihr sehr gut zu Gesicht stand, und sie hob das Kinn und starrte mit ihren blauen, zornig funkelnden Augen geradewegs ins Publikum. Ihr Blick schweifte über die Ansammlung türkischer und bulgarischer Männer mittleren Alters, deren Kleidung und Auftreten den Geruch von Reichtum und Standesdünkel verströmten. Sie hatte nichts als Verachtung für sie übrig.

Ihr Blick blieb an einem Mann hängen, der sich irgendwie von der Masse abhob – ein breitschultriger, hellhäutiger Europäer mit blauen Augen, rötlichem, gelocktem Haar, langen Koteletten und einem Schnurrbart. Er trug einen Tweedanzug – offensichtlich eine Maßanfertigung, nach dem zu urteilen, wie er um seine mächtige Brust und die kräftigen Arme saß. Sein Begleiter auf dem Sessel neben ihm war ein schlanker Mann mit dunkler Haut. Er trug elegante seidene Kleider und einen Turban aus Satin, der mit großen Edelsteinen und einer Feder geschmückt war. Ihn zierten sogar noch mehr Perlenketten als die Sultana Validé. Die beiden waren ein seltsames Gespann, dieser stämmige Europäer und der junge Maharadscha, und wirkten irgendwie fehl am Platz unter all den Osmanen.

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Sam Baker (1857). Nachdem Sam und der Maharadscha Duleep Singh im Winter 1859/60 auf der Donau mit ihrem Boot eine Eisscholle gerammt hatten, gingen sie bei Viddin an Land.[15]

 

Während Florenz den Europäer musterte, trafen sich ihre Blicke, und in diesem Moment geschah etwas Außergewöhnliches zwischen ihnen: Ganz plötzlich durchfuhr beide ein intensives Gefühl der Sympathie und Zuneigung, das Mädchen ebenso wie den Mann. Er verstand genau, was in ihr vorging, verstand ihren Trotz und ihre Empörung, und das spürte Florenz.

Sam Baker ließ das Mädchen nicht aus den Augen. Ohne genau zu wissen, was er tat, hob er die Hand und gab ein Gebot ab. Er hatte bestimmt nicht vorgehabt, ein Sklavenmädchen zu ersteigern. Wie fast alle Engländer war er aus moralischen Gründen gegen die Sklaverei. Die Versteigerung sollte lediglich seinem Begleiter für ein paar Stunden Zerstreuung bieten und ihn davon abhalten, schon wieder irgendeinem Mädchen, das nicht zu ihm paßte, einen Heiratsantrag zu machen. Bei dem jüngeren Mann mit dem Turban handelte es sich um den Maharadscha Duleep Singh, einen enteigneten indischen Prinzen mit romantischer Veranlagung. In sämtlichen Zeitungen von Frankfurt bis Wien war zu lesen gewesen, daß der Maharadscha sich vor kurzem verlobt hatte – und zu allem Unglück waren diese Berichte auch von drei Londoner Tageszeitungen aufgegriffen und abgedruckt worden. Den Maharadscha auf dieser Reise von kompromittierenden Liebschaften abzuhalten hatte sich als schwieriger erwiesen, als Sam erwartet hatte.

In diesem Moment war Sam seine Verantwortung als Sittenwächter allerdings einerlei. Er hatte nur noch Augen für die zornige Schöne auf dem Podest. Doch prompt wurde er von einem gutgekleideten Diener überboten[16]. In der Menge raunte man sich zu, er handele im Auftrag des Paschas von Viddin höchstpersönlich. Schließlich waren alle außer Sam ausgestiegen, denn der Gedanke daran, einen so mächtigen Mann zu verärgern, bereitete ihnen Unbehagen. Sam aber wußte nicht, wer gegen ihn bot, und Florenz kümmerte es nicht. Der Preis stieg immer weiter. Schon bald erhöhte der Diener des Paschas auf siebzigtausend kuru – etwa achthundert englische Pfund. Sam beriet sich kurz mit seinem Begleiter, dieser nickte einmal, und Sam gab ein überwältigendes Gegengebot ab. Die Menge wartete gespannt, wie der Diener des Paschas darauf reagieren würde. Er erhöhte das Gebot. Sam blickte zu Duleep Singh hinüber, doch dieser schüttelte gleichgültig den Kopf. Er langweilte sich und wollte Sam heute nicht noch mehr Geld leihen, sondern die Auktion verlassen. Damit galt das letzte Gebot: Florenz gehörte dem Pascha von Viddin.

Aus dem Publikum waren stürmischer Applaus und aufgeregtes Stimmengewirr zu vernehmen. Das war ein Spektakel gewesen! Dieses blonde Mädchen hatte einen noch nie dagewesenen Preis erzielt. Finjanjian Effendi und Finjanjian Hanim mußten überglücklich sein! Wer war dieser Fremde, der es gewagt hatte, gegen den Gesandten des Paschas höchstpersönlich zu bieten? Irgendjemand hatte ihn sprechen gehört und vermutete, daß er Engländer war, aber sein Begleiter war ganz offensichtlich keiner.

Die Männer erhoben sich, und während sie sich Richtung Türe schoben, plauderten sie unablässig über die verschiedenen Mädchen. Diese pausbackige, entzückend pummelige Tänzerin – sah die etwa nicht leidenschaftlich aus? Und die mit dem dunklen, üppigen Haar, die angeblich so hervorragenden Kaffee kochen konnte! Ein anderer war ganz angetan von der Kleinen, die so hinreißend singen konnte, auch wenn sie schon ein wenig alt aussah. Diejenigen, die ein Mädchen gekauft hatten, drängten lärmend hinüber zum Schreiber und dem Buchhalter, manche voll Selbstzufriedenheit, andere voll plötzlicher Zweifel. Einige schnappten sich gierig noch ein letztes Bonbon oder Gebäckstück, bevor sie wieder hinaus auf die Straße oder ins Kaffeehaus gingen, wo die Versteigerung noch wochenlang das Gesprächsthema Nummer eins sein würde.

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Der Maharadscha Duleep Singh (1854). Der Maharadscha Duleep Singh, der Sam auf seiner Jagdexkursion begleitete, war ein Frauenheld und begeisterter Jäger. Die primitiven Bedingungen, unter denen Sam reiste, behagten ihm gar nicht.[17]

 

Finjanjian Effendi fing den Gesandten des Paschas ab und schlug ihm vor, zu warten, bis die Menge sich verlaufen habe, und derweil noch einen Kaffee und etwas Süßes zu nehmen. Der Pascha hatte der Familie Finjanjian eine große Ehre erwiesen, indem er seinen Diener zu der Versteigerung geschickt und dieser ein so hervorragendes Höchstgebot abgegeben hatte.

Sobald die Auktion für beendet erklärt war, sprang Sam auf und stieß den Maharadscha an. »Wir müssen augenblicklich aufbrechen«, erklärte er. »Beeil dich bitte!«

Duleep Singh mußte lächeln. Er glaubte, es sei seinem englischen Freund peinlich, daß er für ein Mädchen geboten hatte, und vor allem, daß er überboten worden war. Sams Unbedachtheit erstaunte ihn. So reizend die Kleine auch sein mochte: Sie hätte ihm vermutlich ganz schön zu schaffen gemacht. Sam konnte froh sein, daß seine überstürzte Aktion ohne Erfolg geblieben war. Auch dem Maharadscha hatten einige der Mädchen ausgesprochen gut gefallen, doch er wußte, er würde keine von ihnen mit zurück nach England bringen können, ohne den Zorn Königin Viktorias zu erregen. Er war so etwas wie das Maskottchen an ihrem Hof. Sie hatte ihm den Status eines Prinzen zugestanden, als er noch ein Kind war und die britische Oberherrschaft in Indien sich das ihm zustehende Königreich und den Diamanten Koh-i-Noor angeeignet hatte. Die Königin kam auch großzügig für seine Spesen auf. Er wagte es nicht, nur wegen eines Liebesabenteuers ihre schreckliche Mißbilligung zu riskieren. Immerhin gab es genügend willige Mädchen: Dienerinnen, Zofen und sogar ein paar höhergestellte Damen, die fanden, daß ein Sikh einen exotischen und aufregenden Verehrer abgab.

Aha, dachte Duleep Singh insgeheim, da hat Sam sich wohl in seiner übereifrigen Art wieder einmal ein Abenteuer für heute nachmittag ausgedacht. Er hoffte nur, daß dies nicht bedeutete, bis zu den Knien in einem kalten, schlammigen Sumpf stehen und auf Enten schießen zu müssen. Auf dieser Reise hatte er sich schon ausgiebig sportlich betätigen können, allerdings unter für seinen Geschmack ziemlich primitiven und unbequemen Umständen. Sam machte das spartanische Leben nichts aus, was Singh äußerst überrascht hatte. Mit dem Boot die Donau hinunterzufahren und auf die Jagd zu gehen hatte im Salon eines vornehmen Hauses in Schottland, wo Sam ihm die Reise vorgeschlagen hatte, durchaus spannend geklungen. Als Duleep Singh dann aber das primitiv umgebaute Schiff sah, das sie flußabwärts bringen sollte – üblicherweise transportierte man mit so einem Kahn Weizen –, war er entsetzt: Auf diesem Ding sollten sie nun mehrere Tage lang wohnen? Die Realität war schließlich noch viel schlimmer als seine Befürchtungen. Wie sollte man auch Vergnügen am Schießen finden, wenn einem die ganze Zeit über erbärmlich kalt war? Und wo blieben die wärmenden Lagerfeuer, die üppigen Mahlzeiten und die geistreichen Konversationen während des Abendessens? Was für einen Sinn hatte es, sich unter primitivsten Bedingungen und mit lediglich drei Dienern auf eine Reise zu begeben?

»Duleep Singh«, unterbrach Sam ihn barsch, »hör auf zu träumen, wir müssen augenblicklich fort! Hol bitte unsere Mäntel, geh hinaus auf die Straße, und ruf eine araba für uns. Achte aber darauf, daß es eine geschlossene Kutsche ist! Ich komme gleich nach, ich muß nur noch etwas erledigen.«

Sobald Sam sicher war, daß Singh sich in Richtung Ausgang begab, bahnte er sich energisch einen Weg durch die Menge hinüber zu Ali.

»Ich brauche Eure Hilfe«, erklärte er dem Eunuchen leise.

»Sehr wohl, Effendi.« Ali verbeugte sich leicht. »Was kann ich für den Effendi tun?«

»Dieses Mädchen …«, begann Sam. »Dieses blonde Mädchen, das von gerade eben.«

»Ja, Effendi, das ist mein Schützling«, antwortete Ali, und seine Augen glänzten vor Stolz. »Das ist Florenz. Sie war die beste, die hübscheste von allen, findet Ihr nicht auch?«

Sam beugte sich vor und klemmte Ali ein Bündel Geldscheine hinter die Schärpe[18]. »Ich möchte, daß Ihr mir dieses Mädchen zum Hinterausgang des Hauses bringt«, sagte er mit gedämpfter Stimme.

»Die Angelegenheit erfordert größte Umsicht.«

Ali würdigte die Scheine keines Blickes, aber er konnte spüren, daß es sich um einen gehörigen Batzen Geld handelte. Er hatte mitbekommen, daß Sam ernsthaft und bis zuletzt gegen den Diener des Paschas geboten hatte. Und es war ihm nicht verborgen geblieben, wie Sam und Florenz einen Blick gewechselt hatten, der von großer Zuneigung zeugte. Wenn Ali sich an Florenz’ Entführung beteiligte und irgend jemand davon erfuhr, würde ihn das den Kopf kosten. Doch vielleicht war es das Risiko wert. Florenz würde so oder so fort sein, und wenn Ali mit äußerster Vorsicht vorgehen und diesem Fremden helfen würde, wäre er ein reicher Mann.

Mit leiser Stimme und scheinbar unbeteiligt – für den Fall, daß sie jemand beobachtete –, bat er Sam, beim Tor an der Südseite des Hofes zu warten.

Dieser machte sich augenblicklich auf den Weg und verließ den Saal, ohne sich noch einmal umzusehen. Ali ging zum Schreiber hinüber und gab ihm mit der Hand ein Zeichen: Er müsse sich rasch erleichtern, erklärte er ihm, und er und der Buchhalter möchten doch derweil bitte darauf achten, daß keiner der Käufer versuche, ein Mädchen mitzunehmen, ohne zu bezahlen.

Dann verließ Ali den Saal durch die Türe, die in den Raum hinter der Zwischenwand führte, wo die Mädchen zu zweit oder dritt beieinanderstanden und schnatterten. Sanft ergriff er Florenz’ Hand. »Du gehst jetzt hinaus auf den Korridor, Kleines«, sagte er eindringlich. Dann blickte er sich um, als suche er ein Mädchen, nach dem man draußen verlangt habe. Florenz gehorchte, und Ali schloß die Tür hinter sich ab und folgte ihr. Er führte sie durch den selamlik, wo er kurz stehenblieb, um ihr einen Männerumhang überzuwerfen und einen Fez aufzusetzen, der ihr Haar verbarg – eine nicht gerade überzeugende Verkleidung. Florenz stellte keine Fragen. Durch ein hohes Bogenfenster kletterten sie hinaus in den Garten, der hinter dem Haus in der Nähe der Küche lag.

»Ich kann dich nicht zum Pascha schicken«, versuchte Ali ihr verzweifelt verständlich zu machen, während sie sich dem Hinterausgang näherten. »Er ist ein böser Mann, selbstsüchtig und grausam, und du würdest ihn hassen. Du wirst mit dem Engländer gehen, der gegen ihn geboten hat.«

Florenz konnte sich nicht erklären, woher Ali wußte, wie sehr sie sich zu dem Engländer hingezogen fühlte, aber sie hatte vollstes Vertrauen zu ihrem lala. Er hatte sie noch nie im Stich gelassen, sie niemals getäuscht, und sie liebte ihn. »Sei bitte vorsichtig, Ali«, flehte sie mit leiser Stimme.

»Ach, mein kleiner Augenstern.« Ali grinste und ließ die Lücke sehen, wo ihm die vier unteren Schneidezähne gezogen worden waren. »Dazu bin ich viel zu schlau. Sie werden niemals herausfinden, daß ich es war.« Er stieß das Tor auf und schob sie in die verdunkelte Kutsche. »Barakallah«, flüsterte er – »Allah segne dich.«

»Jazakallahu khayran«, erwiderte Florenz. »Möge Allah deine gute Tat belohnen.«

2

Schüsse, Messer, Schreie, Tote und Feuer

Guten Tag, mein Fräulein«, begrüßte Sam sie auf deutsch, der einzigen Sprache, die sie beide beherrschten. Er deutete auf die einfache Polsterbank an der gegenüberliegenden Wand der Kutsche und bat sie, sich zu setzen. Dann stellte er sich und seinen Begleiter vor:

»Mein Name ist Samuel Baker, und das hier ist Maharadscha Duleep Singh.«

»Guten Tag, meine Herren«, erwiderte Florenz höflich und sagte dann: »Ich heiße Florenz.« Ihren Nachnamen nannte sie nicht, denn sie war ein wenig verwirrt. Hieß sie nun Florenz Barbara Maria Szász? Oder nur Barbara Maria Szász, als die sie geboren worden war? Fast zehn Jahre lang war sie Florenz genannt worden. Die ganze Zeit über hatte sie die Finjanjians für ihre Adoptiveltern gehalten. Während sie bisher jedoch geglaubt hatte, sie seien einfach nur nett zu ihr gewesen, mußte sie jetzt davon ausgehen, daß die Finjanjians sie gekauft hatten. War sie dann Florenz Finjanjian? Nahmen Sklaven den Nachnamen der Familie an, der sie gehörten?

Als die araba anfuhr und über die holperigen Straßen rumpelte, setzte Florenz sich anmutig. Sie hatte große Angst, denn sie wußte nicht, was von ihr erwartet wurde; seit ihrer frühesten Kindheit war sie keinem Mann mehr so nahe gewesen. Sie begriff jetzt, daß dieser Schritt unwiderruflich, ja vielleicht sogar verhängnisvoll war, und ihre Hände zitterten. Sie drückte sie in ihrem Schoß fest gegeneinander, um sie stillzuhalten und ruhiger zu wirken. Mit großen, ängstlichen Augen blickte sie zu Sam hinüber, dem Mann, in dessen Händen ihr weiteres Schicksal nun lag. Ich gehöre ihm, machte sie sich nervös bewußt. Sein freundliches Benehmen und die ausgesprochene Anständigkeit, die er ausstrahlte, beruhigten sie jedoch ein wenig. Trotzdem hatte sich in den letzten Stunden ihre ganze Welt verändert, und sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete. »Darf ich fragen, wohin wir fahren?« erkundigte sie sich mit vermeintlich zurückhaltender Neugierde.

»Ja, genau«, schaltete auch Duleep Singh sich ein, verwirrt und ein wenig besorgt. Seine Deutschkenntnisse waren sehr rudimentär, und er befürchtete, es würde ihm langweilig werden, wenn die beiden ihre Unterhaltung auf deutsch fortsetzten. »Wohin fahren wir überhaupt, Sam? Und was sollen wir mit diesem Mädchen? Du weißt, daß es der Pascha war, der dich überboten hat. Er wird uns gewiß seine Männer hinterherschicken. Ich habe keine Lust, Bekanntschaft mit einem türkischen Gefängnis zu machen!« Sams Unbekümmertheit schien ihn ziemlich aus der Fassung zu bringen.

»Ich werde dich beim Hotel absetzen«, erklärte Sam das weitere Vorgehen. »Laß die Diener unser Gepäck richten und komm so schnell wie möglich hinunter zu den Docks. Unser Boot wird vermutlich noch nicht repariert sein, wir lassen es also hier zurück. Ich werde schon jemanden finden, der uns ans andere Ufer der Donau bringt.«

»Und was machen wir mit dem Mädchen, mit Florenz?« fragte Singh noch einmal auf englisch. Von allen Angewohnheiten seines Reisebegleiters ärgerte ihn am meisten, daß Sam die Dinge gerne überstürzt anging. Einem gemächlichen Tempo konnte er einfach nichts abgewinnen. »Sie werden uns sofort entdecken«, prophezeite Singh.

»Ein Sikh und ein Engländer, die mit einem Haremsmädchen auf der Flucht sind – so werden wir nicht unbemerkt entkommen können.«

»Das stimmt«, gab Sam zu. Wieder auf deutsch fuhr er fort: »Wir brauchen andere Kleider für sie.« Er hatte allerdings keine Idee, wie er das anstellen sollte.

»Ich weiß eine Frau auf dem Basar, die europäische Kleider verkauft«, schlug Florenz vor. »Sie könnten den Fahrer dorthin schicken und ihn holen lassen, was ich benötige.«

»Ausgezeichnet!« rief Sam und rieb sich die Hände. »Wir werden dir für die Reise etwas ganz Schlichtes anziehen und dich als eine unserer Bediensteten verkleiden. Niemand wird sich mehr daran erinnern, ob es nun drei oder vier gewesen sind. Eine fabelhafte Idee, Florence!«

Sam war bereits zur englischen Aussprache ihres Namens übergegangen, auch wenn er Deutsch mit ihr sprach, und so trug sie von da an diesen Namen. Nun heiße ich also Florence, dachte sie mit einer gewissen Erleichterung. Früher, als ich klein war, nannte man mich Barbara und in Viddin, im haremlik, Florenz. Aber jetzt heiße ich Florence.

»Ich bleibe derweil im Hotel«, schlug der Maharadscha in einem leicht flehentlichen Ton vor. »Vielleicht kann ich ja einen kleinen Imbiß zu mir nehmen, bevor wir aufbrechen.«

»Iß etwas, wenn es unbedingt sein muß, aber denk daran: Wir gehen in spätestens zwei Stunden an Bord«, ermahnte Sam ihn streng.

»Sei rechtzeitig mit den Dienern und dem Gepäck zur Stelle, oder ich muß ohne dich fahren. Mit jeder Minute, die wir uns länger hier aufhalten, wächst für uns die Gefahr.«

Zwei Stunden später trafen alle bei den Docks wieder zusammen. Der Fährmann erschien, und die Bediensteten plagten sich damit ab, die Unmengen an Gepäck auf dem Schiff zu verstauen. Dabei fiel dem Fährmann besonders eine hübsche Dienerin auf, ein schlankes Mädchen in einem schlichten, zweckmäßigen Kleid, dessen Haar ordentlich hochgesteckt und sittsam unter einer Haube verborgen war.

Sie fuhren los, quer über die breite Donau, und hatten kaum den schützenden Uferbereich hinter sich gelassen, als ihnen ein schneidender Wind entgegenschlug. In Calafat angekommen, wurden sie in einen kleinen, schmutzigen Raum des Zollamtes geführt. Auf einem Diwan, dessen Bezug so alt war, daß man seine ursprüngliche Farbe schon gar nicht mehr erkennen konnte, räkelte sich ein türkischer Beamter in einer schlechtsitzenden Uniform.

shipman-europa

Mitteleuropa (um 1850). Florence mußte während der ungarischen Revolution ihr Zuhause im transsilvanischen Nagy-Enyed verlassen und folgte den Truppen nach Temesvar; nach deren Niederwerfung gelangte sie in ein Flüchtlingslager in Viddin im Osmanischen Reich. Gemeinsam mit Sam und dem Maharadscha Duleep Singh floh sie von dort nach Calafat und dann weiter nach Bukarest.[19]

 

»Wartet draußen beim Gepäck«, befahl Singh den drei Dienern und Florence mit einer gebieterischen Handbewegung. »Hier ist es zu eng.« Gehorsam verließen sie den Raum und stellten sich zu dem Gepäck auf die kalte Straße. Florenz war ganz aufgeregt wegen all der fremden Dinge und Gerüche. Sie durfte nicht vergessen, ihren Mund zu halten und eine gewisse Würde auszustrahlen, damit es aussah, als sei sie schon immer so herumgereist, aber sie war fast noch nie außerhalb des haremlik von Viddin gewesen, und es gab hier doch so viel zu sehen.

Der Zollbeamte beherrschte keine der Sprachen, die Sam und Singh zu sprechen vorgaben. Der Türke bedeutete ihnen, sich auf den Teppich zu setzen, und die beiden kamen seiner Aufforderung nach. Dann klatschte er in die Hände, und ein Diener erschien und brachte auf einem Tablett winzige Porzellantassen mit dickflüssigem Kaffee, an dem sie höflich nippten. Er war zu süß und ganz trüb vor lauter Kaffeesatz. Sie revanchierten sich, indem sie ihm Zigaretten anboten, eine Höflichkeitsgeste, die sich schon öfters als hilfreich erwiesen hatte. Der Beamte nahm sich ein halbes Dutzend und zündete sich eine davon gleich an. Ein paar Minuten lang saßen sie so da, er rauchte seine Zigarette, sie nippten am Kaffee, und nur das Heulen des Windes, der vom Fluß her in den kühlen, feuchten Raum pfiff, durchbrach die Stille.