Wie weiterleben, wenn ein geliebter Mensch stirbt?

Thich Nhat Hanh

Wie weiterleben, wenn ein geliebter Mensch stirbt?

Übersetzt von Ursula Richard

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Thich Nhat Hanh

Thich Nhat Hanh, 1926 in Vietnam geboren, genießt als Meditationslehrer, Zen-Meister, Dichter und Vertreter eines engagierten Buddhismus weltweit hohes Ansehen. Seit über siebzig Jahren lehrt er Achtsamkeit und inspirierte Millionen von Menschen durch seine Präsenz. Sein unermüdliches Eintreten für Frieden und soziale Gerechtigkeit hat ihn weit über buddhistische Kreise hinaus bekannt gemacht. Er ist der spirituelle Leiter der Gemeinschaft Intersein und Gründer des berühmten Zentrums Plum Village in Frankreich und des Europäischen Instituts für Angewandten Buddhismus in Waldbröl (NRW).

www.eiab.eu

www.plumvillage.org

Einssein

 

Im Augenblick, in dem ich sterbe,

will ich versuchen, zu dir

so schnell wie möglich zurückzukehren.

Ich verspreche, es dauert nicht lang.

Stimmt es nicht so,

dass ich bereits jetzt bei dir bin,

während ich jeden Augenblick sterbe?

Jeden Moment kehre ich zu dir zurück.

Schau nur hin

und fühle meine Gegenwart.

Wenn du weinen möchtest,

so weine nur.

Und wisse,

dass ich mit dir weine.

Die Tränen, die du vergießt,

werden uns beide heilen.

Deine Tränen sind auch meine.

Anmerkung der Herausgeberinnen und Herausgeber:

In diesem Buch finden Sie einige der zentralen Lehren des Zen-Meisters Thich Nhat Hanh über Trauer und Verlust. Ergänzt wurden sie von Meditationen und Praktiken zur Selbstfürsorge aus der Plum-Village-Tradition, die von uns zusammengestellt wurden. Wir hoffen, dass diese Ihnen dabei helfen werden, sich mit dem geliebten Menschen und dem ganzen Leben zu verbinden.

Trauer

Die Menschen, die wir lieben, sind in uns und wir sind in ihnen. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, stirbt auch ein Teil von uns.

 

Manchmal glauben wir vielleicht, unser Verlust sei so groß, dass wir nie wieder glücklich sein werden.

Wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, ist unser Herz von einem so tiefen Leid erfasst, dass wir gar nicht wissen, wie wir dem Ausdruck verleihen könnten. Aber unseren Schmerz können wir durch unsere Tränen ausdrücken. Wir können weinen. Wenn Sie weinen können, werden Sie sich besser fühlen.

Auch Männer können weinen. Mir ist zum Weinen, wenn ich jemand anderen weinen sehe. Zu weinen liegt in unserer menschlichen Natur. Sind wir imstande zu weinen, bringt uns das Trost, Erleichterung und Heilung.

Wenn du weinen willst, bitte weine,

in dem Wissen, dass ich mit dir weinen werde.

Die Tränen, die du vergießt, werden uns beide heilen.

Deine Tränen sind meine.

Ich stampfte mit den Füßen und weinte laut

in dem Moment, als Mutter starb.

Dieser Morgen war ein schöner, rosiger Morgen,

aber um Mitternacht wehte ein scharfer Wind.

Wie ein Baum im Sturm

Spüren Sie, wie ein schmerzhaftes Gefühl in Ihnen aufkommt, ist es gut, wenn Sie innehalten und mit dem, was Sie gerade beschäftigt, aufhören und sich sofort um dieses Gefühl kümmern. Gehen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zu dem, was in Ihrem Körper geschieht. Die Übung ist einfach.

Legen Sie eine Hand auf Ihren Bauch, und spüren Sie die Bewegung des Atems. Bringen Sie Ihre Achtsamkeit, die möglicherweise noch bei Ihren Gedanken und Emotionen ist, in die Nabelgegend und hören Sie auf, darüber nachzudenken, was Sie so aufgewühlt hat. Bei einem Sturm schlagen die Äste an der Spitze des Baumes wild aus und die Blätter zittern aufgeregt an den Zweigen. Der Baum wirkt so zerbrechlich und schutzlos, als könnte er jeden Moment umknicken und zersplittern. Aber wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit nach unten zum Stamm des Baumes lenken, sehen Sie, dass der Stamm doch recht ruhig und still ist. Und so haben Sie keine Angst mehr, weil Sie erkennen, dass der Baum stark und stabil ist, dass er tief im Boden verwurzelt ist und dem Sturm standhalten kann.

 

Selbstfürsorge: Bauchatmung

Ein starkes, heftiges Gefühl ist wie ein Sturm, aber wenn wir wissen, wie wir gut damit umgehen können, werden wir den Sturm überleben. Fühlen wir uns in einem Sturm heftiger Emotionen gefangen, ist es wichtig, sofort zu erkennen, was unsere emotionale Reaktion ausgelöst hat, und uns dann sanft davon zu lösen. Ob es ein Gedanke, ein Bild, ein Geräusch, ein Geruch, eine Berührung oder die Worte eines Menschen waren, wir wenden unsere Aufmerksamkeit für einen Moment davon ab und bringen sie zurück zu unserem Atem. Es würde unsere heftigen Gefühle nur verstärken, wenn wir den Ursachen unseres Leidens weiterhin unsere Aufmerksamkeit schenken und darüber nachgrübeln würden.

Also üben wir uns in der tiefen Bauchatmung. Ob wir dabei stehen, sitzen oder liegen, als Erstes werden wir uns unserer Atmung bewusst. Atmen wir schnell und flach, nehmen wir das wahr. In einem nächsten Schritt bringen wir unsere Aufmerksamkeit nach unten zum Bauch und konzentrieren uns auf das Heben und Senken der Bauchdecke.

Die Übung ist einfach:

 

Beim Einatmen bin ich mir bewusst, wie sich meine Bauchdecke hebt.

Beim Ausatmen bin ich mir bewusst, wie sich meine Bauchdecke senkt.

 

Allmählich wird sich der Sturm legen; unsere Atmung und unser Herz werden sich beruhigen, und wir werden uns friedvoller fühlen.

Sich selbst zuhören

Wenn Sie einen schweren Verlust erlitten haben und es Ihnen sehr schlecht geht, dann brauchen Sie Menschen, die bei Ihnen sind und Ihnen mitfühlend zuhören. Aber noch wichtiger ist es, dass Sie sich selbst mitfühlend zuhören können. Dafür müssen Sie die Kunst des tiefen Zuhörens erlernen. Sie hören mit dem auf, was Sie gerade im Außen beschäftigt hält, und wenden sich nach innen. Sie schauen tief in sich hinein, um Ihr Leiden zu erkennen, ihm einen Namen zu geben und es zärtlich zu umarmen. Sich dem eigenen Leiden in tiefer Weise zuzuwenden und es anzuhören, ist ein Akt des Selbstmitgefühls.

 

Selbstfürsorge: Bewusstes Atmen

Verlieren wir einen geliebten Menschen, haben wir vielleicht, besonders wenn dies plötzlich und unerwartet geschieht, das Gefühl, uns würde der Boden unter den Füßen weggezogen und wir bekämen keine Luft mehr.

Das Wichtigste ist in solchen Momenten, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Die Praxis des bewussten Atmens kann uns helfen, in den gegenwärtigen Moment zurückzukehren und uns wieder in unserem Körper zu beheimaten.

Wie beruhigt man ein heftig schlagendes Herz und eine unregelmäßige Atmung? Eigentlich ist es ganz einfach – wir bringen unsere ganze Aufmerksamkeit zu unserem Atem und konzentrieren uns ausschließlich auf unser Atmen. Wir denken nicht mehr an irgendetwas anderes, sondern folgen dem Atem, wie er in den Körper ein- und wieder ausströmt.

 

Folgen Sie Ihrer Atmung eine Weile. Spüren Sie die kühle Luft in Ihren Körper einströmen, und nehmen Sie wahr, wie sie den Körper erwärmt verlässt. Werden Sie sich bei jedem Ein- und Ausatmen bewusst, wie sich Bauch und Brustkorb heben und senken.

Schaffen Sie es für eine Weile, aufmerksam bei Ihrem Atem zu bleiben, wird er mit der Zeit leichter, ruhiger und friedvoller. Allmählich wird sich auch der emotionale Sturm legen, und Ihr Geist und Körper werden zur Ruhe kommen.

 

Ihr Atem ist Ihr Rettungsboot in einem stürmischen Meer, Ihr Anker, der Sie in Ihrem Körper hält. Folgen Sie Ihrem Atem, und nehmen Sie wahr, was in Ihrem Körper geschieht. Spüren Sie, wie sich Ihre Bauchdecke hebt und senkt. Wenn Sie sehr aufgewühlt sind, wird Ihre Atmung oft schnell und flach sein und nur der Brustkorb hebt sich. Konzentrieren Sie sich einfach auf all diese Körperempfindungen. Nehmen Sie wahr, wo sich etwas eng und einschnürend anfühlt, wo Sie Schmerzen spüren, und versuchen Sie, in diese Stellen hineinzuatmen und so die Spannungen zu lösen. Bleiben Sie mit der Aufmerksamkeit bei Ihren Körperempfindungen und dem Atemfluss. Versuchen Sie aber nicht, einzugreifen, etwas verändern oder erzwingen zu wollen; werden Sie sich einfach nur dessen bewusst, was geschieht. Ihre Atmung wird sich von ganz alleine beruhigen, Geist und Körper werden sich allmählich entspannen und ebenfalls zur Ruhe kommen.

Wir können uns in bewusstem Atmen üben, wo immer wir sind, ob wir sitzen, gehen, stehen oder liegen. Allein schon dem Atem aufmerksam zu folgen, kann uns Frieden schenken und Erleichterung bringen. Wann immer wir von Kummer, Verzweiflung oder Sorgen überwältigt werden, ist unser Atem der stabile, feste Boden, auf den wir uns flüchten und wo wir Zuflucht finden können.

 

Es ist hilfreich, um auf unsere Atmung konzentriert zu bleiben, wenn wir bei jedem Ein- und Ausatmen im Stillen sagen: