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Virgiles Schuhe machten auf der regennassen Straße ein klapperndes Geräusch. Er hatte das große Bürogebäude von Svengali Communication später als gewöhnlich verlassen. Erst als die Sonne unterging, hatte er bemerkt, dass die Uhr, die über seiner Tür hing, stehen geblieben war.

Zwischen Louvre, Verwaltungsgericht und der Comédie Française gelegen, befanden sich die Büroräume der Werbeagentur, für die Virgile arbeitete, in wahrhaft vornehmer Umgebung. Der von bunten Kugeln umrankte Eingang zur Métro-Station entzückte ihn jedes Mal aufs Neue – es sah aus, als hätten Kinder ihn zum Muttertag geschmückt. Dennoch war es kein Viertel, mit dem Virgile jemals warm geworden wäre. Oder vielleicht wurde das Viertel auch nicht warm mit Virgile. Sie bewegten sich nebeneinander her wie Fremde und behielten einander im Auge, wohl wissend, dass alles andere ein schlechtes Ende nehmen könnte. Der junge Mann beanspruchte von diesem Prunkstück des ersten Arrondissements nichts weiter als zwei kleine Inselchen: die Buchhandlung Delamain und das etwas heruntergekommene Café-Restaurant À Jean Nicot, die letzte Bastion gegen die um sich greifende Schickeria.

Er stieg in den Bus und entwertete seinen Fahrschein. Die Métro benutzte er schon seit sechs Monaten nicht mehr, weil er dieses ständige Gefühl der Beklemmung, das sich gelegentlich zu regelrechten Panikattacken auswuchs, leid war. Im Bus wurde er immerhin nur an seine Angst vor Verkehrsunfällen erinnert.

Macht sich der Körper auf den Weg, so folgt ihm der Geist in einigem Abstand. Nur ganz allmählich ließ Virgile seinen Arbeitstag hinter sich. Es reicht eben nicht, das Büro zu verlassen, in den Aufzug zu steigen und die Türen des Gebäudes hinter sich zu schließen. Man braucht einen Übergang. Während der Bus durch den Verkehr glitt und Virgile den Blick über das Gemenge der Fußgänger, Autos und Fahrräder schweifen ließ, lösten sich seine Gedanken von Arbeit und Kollegen. Und je näher er seiner Wohnung kam, desto mehr fand er zu sich. Virgile war nicht immer die beste Gesellschaft für sich selbst, aber das Zusammenleben zwischen dem, was er zu sein glaubte oder zu sein wünschte, und dem, was er war, verlief ohne allzu große Auseinandersetzungen.

Nachdem der Bus beinahe einen Clochard umgefahren hätte, hielt er vor der Gare du Nord. Armelle saß nicht an ihrem üblichen Tisch auf der Terrasse der Brasserie Terminus. Virgile hätte sie gerne gesehen, mit ihren rot geschminkten Lippen und einem Buch in der Hand. Er würde sie nach dem Abendessen treffen und ein Glas Wein mit ihr trinken.

Er grüßte die Prostituierten vor seinem Haus. Sie lächelten ihm zu und winkten grüßend zu ihm herüber. Sein Briefkasten war leer. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte er die Treppe bis in die dritte Etage hinauf, schloss die Tür zu seiner Wohnung auf und warf die Schlüssel in den Obstkorb zwischen die Äpfel und Bananen.

Das rote Lämpchen seines alten Anrufbeantworters blinkte. Virgile liebte es, Nachrichten zu erhalten. Egal ob sie nun von Freunden oder Vertretern für Einbauküchen stammten, sie erinnerten ihn an seine Existenz in der Gesellschaft.

Zuerst einmal wollte er sich aber etwas zu essen machen. Er warf einen prüfenden Blick in den Kühlschrank: Eier, eine bereits offene Dose mit geschälten Tomaten und eine beachtliche Ansammlung von Joghurtbechern. Er schlug zwei Eier in die Pfanne, deckte den Tisch und drückte dann endlich auf die Abspieltaste des Anrufbeantworters.

„Virgile“, sagte eine weibliche Stimme.

Er trat ganz nah an den Lautsprecher heran, um die bezaubernde Melodie besser zu hören. Gott hat eine Frauenstimme, dachte Virgile. Die Nachricht ging weiter:

„Hier ist Clara. Es tut mir leid, aber ich möchte, dass wir Schluss machen. Ich verlasse dich, Virgile. Ich verlasse dich.“

Er hörte sich die Nachricht fünf Mal hintereinander an. Die Eier verbrannten in der Pfanne. Nachdem er sich das Gesicht mit kaltem Wasser gekühlt hatte, betrachtete er sich im Spiegel des Arzneischränkchens. Er schloss die Augen und öffnete sie erst nach ein paar Sekunden wieder. Er schluckte ein Beruhigungsmittel. Dann ging er in die Küche zurück und drehte das Gas aus. Die Eier glichen zwei Kohlestückchen, beißender Rauch stieg von ihnen auf.

Es gibt wenige Erfahrungen, die so schmerzhaft sind wie das Zerbrechen einer Beziehung. Die Trennung wird als ein sorgfältig geplantes Attentat erlebt, denn die Bombe wurde direkt in unserem Herzen platziert: Es ist unmöglich, der Gewalt der Explosion zu entkommen. Aber im vorliegenden Fall erfuhr Virgile, dass er von einer Frau verlassen worden war, die er gar nicht kannte und mit der er – das lag wohl auf der Hand – niemals eine Beziehung gehabt haben konnte. Und während sich ihm die Unwirklichkeit der ganzen Sache aufdrängte, traf ihn dennoch der Schlag, sich als Objekt einer zurückgewiesenen Liebe zu fühlen, mit voller Wucht.

Der Planet Erde war in den Augen von Virgile noch nie ein besonders stabiler Himmelskörper gewesen. Es gab nur wenig, was für ihn zweifelsfrei gewiss war, aber daran hielt er sich fest. Er war Junggeselle. Das war evident. Er besaß den Kühlschrank eines Junggesellen und die Gewohnheiten eines Junggesellen. Sein Junggesellendasein war so sicher wie die Schwerkraft, vielleicht sogar sicherer.

Virgile richtete seine Blicke auf die beruhigenden Dinge des Zimmers: seine Schallplattensammlung, das rot-gelbe Plakat vom Zirkus seiner Eltern, das über dem Sofa mit den platt gedrückten Armlehnen hing, die Dose mit dem Zichorienkaffee, die Telefonrechnung, die unter einem Magneten in Form eines afrikanischen Elefanten am Kühlschrank klebte (die großen, dreieckigen Ohren des Elefanten standen ab wie die Flügel eines Schmetterlings und sein Rüssel reckte sich zwischen den Stoßzähnen empor). Dann stöpselte er den Anrufbeantworter aus und verließ die Wohnung.

Ganz auf seine Schritte konzentriert, ging er den Boulevard Magenta hinunter. Sein Körper tat seinen Dienst – weder die Gelenke noch die Muskeln hatten Schaden genommen, das Blut strömte gleichmäßig durch seine Adern. Sein Gehirn allerdings war am Rande der Überhitzung.

Den ganzen Weg über bis in die Passage des Petites-Écuries, wo die Praxis seiner Psychoanalytikerin lag, hielt Virgile den großen, kantigen schwarzen Anrufbeantworter an seine Brust gepresst. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen diesem Viertel und demjenigen, in dem sein Büro lag, bestand in den vielen Passagen, die den Fußgängern die Möglichkeit boten, den belebten Straßen zu entfliehen. Die Bewohner der Passage des Petites-Écuries hatten Stühle und einen weißen Gartentisch hinausgestellt, ein Rentnerpaar hatte ein paar Rosen gepflanzt, irgendwo stand ein Kinderfahrrad. Das Refugium von Frau Doktor Zetkin lag ganz oben in der dritten Etage des Wohnblocks am hinteren Ende des Hofes. Die vertikalen, horizontalen und diagonalen Balken durchzogen das Gemäuer der Fassade wie dickes, braunes Garn ein Stück grobes Leinen. Unter dem Dach waren Rinnen zu erkennen, die verhinderten, dass das Regenwasser Holz und Gips durchnässte.

Im Wartezimmer blätterte eine junge Frau (in schwarzer Leinenhose und Jacke, die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden) in einer Illustrierten. Sie war offenbar die letzte Patientin des Tages, und es schien sie zu beunruhigen, dass Virgile einen Anrufbeantworter an sein Herz presste. Schließlich vertiefte sie sich wieder in ihre Zeitschrift. Die Tür des Sprechzimmers ging auf, die Hand von Frau Doktor Zetkin erschien, um die junge Frau hineinzubitten.

Virgile summte den letzten Slogan, den er in der Agentur gehört hatte. Die Melodie des Werbespots, der die gesundheitsfördernden Eigenschaften eines Apfelkompotts anpries, beruhigte ihn. Normalerweise ging er im Wartezimmer von Frau Doktor Zetkin noch einmal alle seine momentanen Ängste durch. Er listete die zu besprechenden Punkte auf, legte sich eine absolut sichere Redestrategie zurecht und wappnete sich mit wohlüberlegten Erwiderungen gegen die zu erwartenden Einwände von Frau Doktor Zetkin. Aber unter den gegebenen Umständen sah er lieber davon ab, sein Gehirn unnötig zu strapazieren. Zwanzig Minuten später kam die junge Frau heraus.

Frau Doktor Zetkin war eine etwa fünfzigjährige Frau mit grau meliertem Haar und einer grünen Hornbrille. Sie trug eine feine, malvenfarbene Strickjacke über einer cremefarbenen Bluse, dazu eine Perlenkette und Ringe, die mit Jade und Bernstein verziert waren. Der Geruch von Lapsang Souchong schwebte durchs Sprechzimmer. Für Virgiles Geschmack war dieser Tee zu stark aromatisiert, aber er verknüpfte ihn so sehr mit seinen Sitzungen, dass bereits ein Hauch dieses Duftes ausreichte, um sofortiges Wohlbefinden bei ihm auszulösen.

„Guten Tag, Frau Doktor.“

„Sie hatten keinen Termin.“

Mit einer Handbewegung bat sie Virgile herein. Sie setzten sich am Schreibtisch einander gegenüber. Aus einer roten gusseisernen Teekanne auf einem Serviertischchen vor dem Bücherschrank stieg leichter Dampf auf. Der große, schwarz eingebundene Terminkalender, der aufgeschlagen vor der Ärztin lag, erinnerte an einen Raubvogel in vollem Fluge. Die Seite des heutigen Tages war mit Namen gefüllt und der von Virgile stand nicht dort. Montags hatte er nie einen Termin.

Virgile hatte die Phase der Übertragung hinter sich, er war also nicht eifersüchtig auf die anderen Patienten von Frau Doktor Zetkin. Er dachte im Gegenteil, sie müsse doch bei ihren zahlreichen Patienten feststellen, dass er viel interessanter sei als die Horde der Banal-Neurotiker, die sonst zu ihr kamen. Die Beziehung, die man zu seinem Psychoanalytiker hat, kann nicht aus dem Ruder laufen. Wenn er wirklich professionell arbeitet, wird er Ihre Einladungen zu irgendwelchen Ausstellungen nicht annehmen. Er wird weder ein Freund noch ein Feind werden. Streng genommen ist er nicht menschlich. „Gebt mir einen festen Punkt im All, und ich heble euch die Welt aus den Angeln“, hatte Archimedes gesagt, wohl wissend, dass seine Freunde in Syrakus diese Herausforderung niemals würden annehmen können. So, wie die Dinge lagen, ging es für Virgile darum, seine Neurosen aus den Angeln zu heben, und seine Psychoanalytikerin, das einzige stabile Element in seinem Leben, spielte dabei die Rolle des festen Punktes im All.

„Ich habe einen Unfall gehabt“, sagte Virgile.

„Aha. Was für eine Art von Unfall?“

„Einen Unfall mit der Wirklichkeit.“

Mehr als Gewalt, Krankheiten oder Autounfälle, ist die Wirklichkeit die eigentliche Verursacherin von Verletzungen, Schaden und Leid. Virgile stellte seinen Anrufbeantworter auf den Schreibtisch. Frau Doktor Zetkin kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme. Virgile hielt sich nicht an die Regeln. Er hätte sich auf die Couch legen müssen. Nicht sich hinsetzen. Nicht die räumliche Ordnung ihres Schreibtisches zerstören. Virgile wusste, dass Frau Doktor Zetkin sein Verhalten für ein Symptom hielt. Das konnte er ihr nicht vorwerfen, denn er selbst beteuerte unentwegt, dass jede menschliche Aktion (beispielsweise das Atmen) ein Symptom war.

„Aha“, sagte sie.

Wie gewöhnlich zeigte ihr Gesicht keinerlei Regung. Virgile war es jedoch gelungen, Nuancen in der Neutralität ihres Gesichtsausdrucks festzustellen. Es gab das Neugierig-Neutrale, das Kalt-Neutrale und das Beruhigend-Neutrale. Im Übrigen besaß Frau Doktor Zetkin ein großes Talent, wenn es um Ausdrücke wie „Aha“ ging. Sie bildeten die Grundlage ihres Vokabulars. Es kam natürlich auch vor, dass sie andere Worte gebrauchte wie „gut“, „Wie das?“, „ja“ oder „Sie haben vergessen, Ihre Rechnung zu bezahlen“. Diese Frau überlebte in der Gesellschaft und glänzte in ihrem Beruf mit etwa zehn Phrasen, die sie freilich mit Bedacht zum Einsatz brachte.

Nachdem Virgile den Stecker der Schreibtischlampe herausgezogen hatte, um den Anrufbeantworter einzustöpseln, drückte er auf die Abspieltaste. Die Nachricht erklang.

„Nun, diese Frau hat Sie also verlassen“, sagte die Psychoanalytikerin.

„Nicht wirklich.“

„Sie sagt es aber klar und deutlich. Sie akzeptieren es bloß nicht.“

Frau Doktor Zetkin glaubte, den wunden Punkt getroffen zu haben. Immerhin wussten beide, wie es um das Liebesleben von Virgile stand: Es war durchaus plausibel, dass man ihn sitzen ließ. Wie beim Phänomen der Gezeiten oder dem Zug der Wildgänse gehörte das zur natürlichen Ordnung der Dinge. Virgile war beinahe glücklich, ihr – dieses eine Mal sogar mit Recht – widersprechen zu können.

„Wir waren nicht zusammen. Ich kenne diese Frau nicht einmal.“

Frau Doktor Zetkin nahm ihre Brille ab und begann, die Gläser zu putzen. Der Fall fing an, sie zu interessieren. Nach einem Tag, an dem sie sich mit allen möglichen klassischen Neurosen herumgeschlagen hatte, war ihr etwas Phantasievolleres sehr willkommen. Sie setzte die Brille wieder auf und öffnete ihre Hände mit einer fragenden Geste.

„Und wie deuten Sie das?“

„Ich will nicht deuten, ich will verstehen.“

„Ach ja?“

Virgile befand sich in einem sicheren Umfeld. Die Hauptwerke der Psychoanalyse standen in den Regalen des Bücherschranks. Ein hinter dem Schreibtisch hängendes Foto zeigte Freud, der bei seiner Ankunft in Paris im Jahre 1938 am Zugfenster stehend mit dem Finger auf etwas weist. Eine Kopie der ersten handschriftlichen Seite seiner Studie über Jensens Gradiva hing eingerahmt an der Wand. Auf dem Schreibtisch lagen französische und spanische Fachzeitschriften herum. Virgile gefiel der Gedanke, dass die Reliquien dieser großen Geister den Ort heiligten. Hier konnte er ohne Scheu den Deckel seines Gehirns abheben.

„Es kann kein Irrtum sein“, sagte er. „Sie nennt meinen Vornamen.“

Virgile hatte keinen gängigen Vornamen, das hatte er auf dem Pausenhof zur Genüge erfahren müssen.

„Vielleicht ist es eine Art Scherz“, fuhr er fort.

„Und warum sollte eine Frau, die Sie nicht kennen, einen solchen Scherz mit Ihnen treiben?“

Virgiles Handy klingelte. Er war durch den augenblicklichen Vorfall viel zu beschäftigt gewesen, um daran zu denken, es auszuschalten. Da er die Regeln der Therapiestunde ohnehin schon so weit missachtet hatte, nahm er das Gespräch an. Es war Faustine, eine alte Freundin.

„Ich kann jetzt nicht mit dir sprechen, Faustine. Ich bin bei meiner Analytikerin. Was?! Ich rufe dich zurück.“

Er beendete das Gespräch. Die Dinge gerieten außer Kontrolle. Er fixierte die Fotografie von Freud. Seine Hände waren feucht, in seinen Ohren sauste es, sein Speichel schmeckte nach Eisen. Mühsam holte er Luft. Er fühlte sich wie ein Verunglückter, wie das Opfer eines Zusammenstoßes mit einer unsichtbaren Kraft.

„Habe ich Ihnen schon von Faustine erzählt?“

„Sie gehört zu den Frauen, in die Sie sich verliebt hatten und die jetzt eine gute Freundin ist.“

Virgile wusste nicht, warum, aber um mit einer Frau befreundet zu sein, musste er sich notwendigerweise zuerst in sie verlieben.

„Sie hat gerade erfahren, dass Clara mich verlassen hat. Sie schlägt mir vor, mit ihr zu Abend zu essen, um mich zu trösten.“

„Denken Sie nach: Sind Sie sicher, dass Sie niemals einer Clara begegnet sind?“

Die Ärztin beobachtete Virgile mit halb geschlossenen Augen. War die schmale Grenze zwischen Realität und Einbildung durchbrochen? Virgile konzentrierte sich auf eine Atemübung aus seinem Yoga-Kurs.

Eine Erinnerung tauchte auf. Es war an einem Abend bei Maud vor etwa einem Monat. Maud nahm jedes Wochenende die riesige Wohnung ihrer Eltern in Beschlag, um dort Feste zu organisieren. Diese zeichneten sich vor allem durch eine solche Lautstärke aus, dass die allzu zahlreichen Gäste vergeblich versuchten, irgendwelche Banalitäten auszutauschen – bei dem Lärm, der stets herrschte, ein Ding der Unmöglichkeit. Virgile hatte getrunken. Faustine hatte ihn am Ärmel gezupft, sie versuchte, ihm ein Mädchen vorzustellen. Er sah seine Freundin wieder vor sich, wie sie den Vornamen des Mädchens nannte, während sie ihr großes Cocktailglas schwenkte: Clara. Aber Virgile erinnerte sich weder an ihr Gesicht noch an eine Unterhaltung, die sie geführt hatten. Jedenfalls war nichts geschehen. Virgile erzählte Frau Doktor Zetkin die Episode.

„Vielleicht haben Sie sie geküsst, und sie hat das falsch interpretiert.“

„Ich schüttele Frauen die Hand. Vor allem wenn ich getrunken habe, belasse ich es dabei. Sonst haben meine Lippen den Hang, sich über ihr ganzes Gesicht zu bewegen. Könnte ich denn eine Liebesgeschichte mit ihr gehabt haben, ohne es zu wissen?“

„Sie sind nicht verrückt.“

Die Feststellung erschütterte Virgile. Ohne jede Vorwarnung nahm ihm seine Psychoanalytikerin, eine Frau, die er seit fünf Jahren dreimal in der Woche sah, eine seiner Ängste.

„Und Sie sagen das nicht nur, um mich zu beruhigen?“

„Sie bezahlen mich für meine Objektivität.“

 Virgiles Telefon klingelte erneut. Diesmal war es Nadia. Der Wortwechsel war kurz: Faustine hatte ihr von der Trennung berichtet. Ein Piepton wies ihn auf einen weiteren Anruf hin. Er drückte Nadia in die Warteschleife. Es war noch einmal Faustine. Er versprach seinen Freundinnen, sie später wieder anzurufen. Frau Doktor Zetkin machte sich Notizen.

„Ich fühle mich nicht sehr gut“, sagte Virgile, nachdem er sein Handy ausgeschaltet hatte.

Er wollte sich zugleich übergeben und ohnmächtig werden. Etwas war nicht in Ordnung, und er wusste nicht, was. Er fürchtete, dass es etwas Schwerwiegendes war, etwas, das sein Leben radikal verändern würde.

„Ruhen Sie sich aus.“

„Das ist keine Lösung.“

„Es gibt nicht für alles eine Lösung.“

Es bestand kein Grund zur Eile. Frau Doktor Zetkin war sich sicher, dass die Zeit Licht in die Sache bringen würde. Auch Virgile war gespannt, wie es weitergehen würde, aber er war dabei schließlich kein Zuschauer. Die Psychoanalytikerin klopfte mit dem Füllfederhalter gegen die Schreibtischkante.

„Ich weiß nicht, ob es etwas damit zu tun hat“, führte Virgile jetzt an, „aber ich habe in letzter Zeit Schwindelanfälle. Und ich leide unter Übelkeit.“

Für ihn war es wichtig, einen Sinn in dem zu erkennen, was mit ihm geschah. Die Krankheit war immer sein bevorzugter Zufluchtsort gewesen, wenn er sich überfordert fühlte.

„Sie legen also wirklich Wert darauf, krank zu sein?“

„Ich versuche nur zu verstehen, was geschieht.“

„Glauben Sie das wirklich?“

Virgile hatte das Gefühl, dass sein Blut in den Adern stockte. Er sah kleine Sternchen vor seinen Augen.

„Sie könnten mir“, brachte er mühsam schluckend hervor, „zur Sicherheit doch wenigstens ein paar Untersuchungen verordnen.“

„Wenn Sie das glücklich macht.“

Die Ärztin schrieb so viele Wörter auf ein Rezept, dass es nach mehr aussah als lediglich nach „ein paar Untersuchungen“. Zu Virgiles Talenten zählte die seltene Gabe, das Wort „Röntgenaufnahme“ verkehrt herum lesen zu können.

„Eine Röntgenaufnahme?“, fragte Virgile bestürzt und klammerte sich an die Schreibtischkante.

„Es besteht kein Grund, sich Sorgen zu machen.“

„Es besteht kein Grund, sich Sorgen zu machen“ ist mit Sicherheit der am meisten Sorgen bereitende Satz der gesamten französischen Sprache. Virgile warf einen Blick durch das Fenster. Die Passage des Petites-Écuries lag in Dunkelheit getaucht. Er hatte keine Lust zu gehen, er wollte in diesem Zimmer bleiben und sich in die Decke auf der Couch einwickeln. Frau Doktor Zetkin öffnete die Tür. Mit hochgezogenen Schultern schlich Virgile aus der Praxis. Draußen nahm er die Straßen, die am hellsten beleuchtet waren und am stärksten belebt; er ging an den Imbissstuben in der Rue du Faubourg-Saint-Denis vorbei, um in den Genuss des Lichtscheins der Geschäfte und der Frittiergerüche der Kebabverkäufer zu kommen. Jede noch so geringe Bezeugung menschlicher Zivilisation war ihm mit einem Mal kostbar.

Eine ganze Reihe von Telefonanrufen bei seinen Bekannten in Medizinerkreisen war notwendig, damit Virgile schon am nächsten Tag einen Termin in einer radiologischen Praxis erhielt.

Das Ergebnis stand für ihn sowieso außer Frage. Eine Frau hatte ihn verlassen, und er konnte sich nicht einmal daran erinnern, überhaupt eine Beziehung mit ihr gehabt zu haben! Er war krank, sein Gedächtnis ließ ihn im Stich, und mit dem Fortschreiten der Krankheit würden ganze Abschnitte seines Lebens für immer verschwinden. Wenn er sich konzentrierte, glaubte er, die vernichtende Sense in seinem Kopf wüten zu hören. Natürlich hatte die Medizin in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte gemacht. Aber er gehörte nicht zu denjenigen, die sich Illusionen hingaben.

Ich werde sterben, dachte Virgile. Mehrmals wiederholte er den Satz mit lauter Stimme. Das Ende nahte, da war er sich sicher. Ein Schauer durchfuhr ihn von Kopf bis Fuß. Er hatte Angst vor dem Tod, nicht weil er dann nicht mehr da sein würde – an das Gefühl der Nicht-Präsenz in dieser Welt war er gewöhnt –, sondern weil sterben bedeutete, normal zu werden. Eine Leiche hatte schließlich keine Persönlichkeit. Es war nicht Virgiles Selbsterhaltungstrieb, der den Gedanken an den Tod nicht ertrug, sondern sein Widerspruchsgeist.

Er dämpfte das Licht und setzte sich aufs Sofa. Seine Finger tasteten nach den Unebenheiten, den Fehlstellen und zerschlissenen Kanten des Stoffs, nach dem kreisförmigen Brandfleck einer Zigarette. Konzentriert und nach Erkenntnis gierend befingerte er die Gegenstände um sich herum, wie Helen Keller, wenn sie ein Buch in Blindenschrift überflog. Sieben Jahre hatte er in dieser Wohnung gelebt. Er hatte sie sich so angepasst, wie ein Fuß dem Schuh, den er trägt, seine individuelle Gestalt gibt. Kann man das Gleiche über die Welt sagen? Wird die Welt der Materie einen Abdruck von uns behalten, wenn wir sterben? Werden die Atome die Umrisse unserer Gedanken behalten? Zumindest würde die Wohnung fortbestehen, sinnierte Virgile vor sich hin, seine Freunde würden weiterleben, seine Bücher und Schallplatten würden bei anderen Menschen Aufnahme finden.

Für das Abendessen scheute er keine Ausgaben. Über die Internetseite des Kaufhauses Bon Marché bestellte er in der Feinkostabteilung etwas zu essen und drei Flaschen 1996 Margaux Château Parker. Der Korb wurde ihm eine halbe Stunde später geliefert, und die Qualität des Essens neutralisierte seine düsteren Gedanken ein wenig. Er hörte seine Lieblingsschallplatten. Künstler aus der ganzen Welt und aus den unterschiedlichsten Epochen fanden im Wohnzimmer zu einem letzten huldigenden Konzert zusammen.

Mit einem Glas Wein in der Hand wandelte Virgile in seiner Zweizimmerwohnung umher und verspürte dabei den Wunsch, jeden Quadratzentimeter zu berühren und seine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Die Wülste, Kämme, Bögen, Schleifen und Wirbel seiner Fingerkuppen würden dort versteinern, und weder eine Säuberung noch eine sonst wie geartete Zerstörung würden die Beweise seiner Existenz tilgen. Diese Spuren würden in den Tiefen des unendlich Kleinen verborgen bleiben und darauf warten, dass die Archäologen sie entdeckten. Er hatte einen Artikel über die Töpfer der Antike gelesen, die, ohne es zu wissen, den Schall ihrer Stimme in den Ton auf ihrer Scheibe eingravierten wie auf einer Schallplatte. Auch seine Wohnung war von Millionen Mikrorillen seiner Monologe und Unterhaltungen bedeckt.

Trotz aller Bemühungen gelang es Virgile nicht, sich an Clara zu erinnern. Er rief sich sein Leben seit dem Fest vor einem Monat ins Gedächtnis zurück: die den Abend so häufig beschließenden Treffen mit Armelle in der Brasserie Terminus; die Anrufe seiner Eltern; seine Nachbarin, die sich ein Präservativ von ihm geliehen hatte; seine Arbeit in der Agentur; seine Unternehmungen; die Filme, die er gesehen, die Bücher, die er gelesen hatte. Er rekonstruierte die meisten Tage auf einem Blatt Papier. Aber Clara tauchte nirgendwo auf. Die Krankheit hatte sie ausgelöscht.

Bei der zweiten Flasche Wein stellte er sich vom Rausch beschwingt vor, wie diese geheimnisvolle Frau durch seine Wohnung gegangen war. Er sah, wie sie die Hand auf den Blendrahmen der Küchentür legte, wie sie den Kühlschrank öffnete und sich ein Glas Sojamilch einschenkte oder wie sie mit einem über der Brust verknoteten Handtuch aus der Dusche kam. Er suchte nach Spuren ihres Dagewesenseins, er sah unter das Bett, räumte die Wandschränke aus, untersuchte das Arzneischränkchen. Aber er entdeckte weder einen Ohrring noch einen Strumpf, nicht ein einziges langes Haar und auch keine Tube Feuchtigkeitscreme. Wegen des von den benachbarten Wohnungen zu ihm durchdringenden Lärms wartete er stets eine gewisse Zeit, bevor er ein Mädchen zu sich einlud. Clara war wahrscheinlich niemals hierhergekommen.