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Band 3

 

Der Katzer

 

Detlev G. Winter

Hubert Haensel

 

 

 

Am Ende des vierten Jahrtausends: Die SOL, ein über sechs Kilometer langes Raumschiff, ist in der Gewalt eines unbekannten Gegners. Den rund 100.000 Menschen und Außerirdischen an Bord, für die das Schiff längst zur Heimat geworden ist, droht der Untergang ...

Nur ein Mann kann die SOL noch retten: Atlan. Der uralte Arkonide stand der Menschheit über Jahrtausende hinweg als Ratgeber und Freund zur Seite. Seine ersten Schritte an Bord der SOL enden aber im Chaos. Atlan wird von mächtigen Gegnern gejagt und muss erkennen, dass die vor ihm liegenden Herausforderungen weit größer sind, als angenommen.

Welche Ereignisse sind geschehen, die die SOL zu einem Ort des Chaos gemacht haben? Atlan erkämpft sich das Logbuch des Raumschiffs und liest. Ein Kapitel befasst sich mit einem seltsamen Mann – diesen Mann nennt man den Katzer ...

Prolog

 

Im Dezember des Jahres 3586 übergibt Perry Rhodan das terranische Fernraumschiff SOL offiziell an die Solaner, jene Menschen, die an Bord des Hantelraumers geboren wurden und diesen längst als ihre Heimat betrachten. Kurz darauf bricht das Schiff mit rund 100.000 Menschen und Außerirdischen in die Weiten des Weltraums auf. Über zwei Jahrhunderte lang bleibt es verschollen.

Dann jedoch – im Jahr 3791 – gelangt der relativ unsterbliche Arkonide Atlan auf die SOL. Auch von ihm fehlte nach seinem Verschwinden mit dem geheimnisvollen Kosmokratenroboter Laire mehr als zweihundert Jahre lang jede Spur.

Bereits die ersten Tage auf dem Hantelraumer machen deutlich, dass es Atlan alles andere als leicht haben wird, denn um den kosmischen Auftrag zu erfüllen, den ihm die geheimnisvollen Geisteswesen jenseits der Materiequellen mitgegeben haben, muss er zunächst einmal die chaotischen Zustände an Bord beseitigen. Die SOL ist in die Gewalt eines starken Energiestrahls geraten, der sie unaufhaltsam in ein fremdes Sonnensystem hineinzieht. Was das Schiff dort erwartet, weiß niemand.

Intern ist die Lage ebenfalls verfahren. Die SOLAG, ein komplexes Kastensystem unter der Führung von Chart Deccon, dem despotischen High Sideryt, herrscht über die Solaner mit unnachgiebiger Strenge und brutaler Gewalt. Als Deccon erfährt, dass sich ein mysteriöser Fremder in die SOL eingeschlichen hat, setzt er alles daran, diesen gefangen zu nehmen. Atlan gelingt es zwar, Kontakt zu SENECA, der allgegenwärtigen Schiffspositronik des Hantelraumers, aufzunehmen, doch muss er feststellen, dass der Bordrechner offenbar schwer gestört und keine Hilfe für ihn ist. Währenddessen öffnet Chart Deccon das geheime Logbuch der SOL und taucht tief in die im Dunkel liegende Vergangenheit des legendären Raumschiffs ein ...

1.

 

Seit eineinhalb Monaten befand sich die SOL nun bereits im Bann des geheimnisvollen Energiestrahls, dessen übermächtige Kraft das Schiff immer tiefer in das System Mausefalle hineinzog. Inzwischen galt es als sicher, dass der von der Sonne aus gezählte siebte Planet das Ziel der unfreiwilligen Reise sein würde.

Doch diese Welt hielt ihre Geheimnisse weiterhin unter einer dichten Wolkendecke verborgen. Die pausenlos arbeitenden Instrumente der Fernbeobachtung hatten bisher keine brauchbaren Erkenntnisse geliefert, und die Versuche, durch Sonden und Beiboote Einzelheiten zu erfahren, waren längst eingestellt worden. Die physikalischen Besonderheiten des Zugstrahls beschränkten den Aktionsradius ausgeschleuster Objekte auf ein Minimum. Der Einsatz von Material und Menschen war deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Dass neben der SOL noch eine Menge anderer Objekte von der unbekannten Kraft eingefangen worden waren und hilflos durch den Raum trieben, bedeutete für Chart Deccon, den Kommandanten des Hantelraumers, keinen Trost. Vielmehr erhöhte sich dadurch die Gefahr, dass die Besatzung des Generationenschiffs durch eine Kollision ein unrühmliches Ende fand. Erst vor Kurzem hatte der drohende Zusammenstoß mit einem riesigen Asteroiden nur durch den Einsatz aller verfügbaren Bordwaffen verhindert werden können.

Der High Sideryt hatte sein Amt vor zwei Jahren und fünf Monaten angetreten, aber einem Problem wie diesem war er bislang noch nicht begegnet. Aus allen möglichen Lagen hatte es stets irgendeinen Ausweg gegeben. In der jetzigen Situation schienen jedoch alle Mittel zu versagen. Die SOL, dieses große, mächtige Schiff, war zum Spielball unbekannter Mächte geworden und nicht fähig, sich aus eigener Kraft zu befreien. Selbst der konzentrierte Einsatz aller verfügbaren Triebwerke hatte keinen Erfolg gebracht. Der Zugstrahl erwies sich als zu stark.

Chart Deccon hielt es für einen glücklichen Umstand, dass sich außer ihm und den Magniden kaum ein Solaner des ganzen Ausmaßes der Gefahr bewusst war. Wenn sich erst herumsprach, wie aussichtslos die Lage von der Schiffsführung eingeschätzt wurde, konnten die diversen Krisenherde an Bord leicht eskalieren.

Hinzu kam jener mysteriöse Fremde, der sich seit vier Wochen in der SOL aufhielt und den sämtliche Einsatzkräfte der SOLAG offenbar nicht zu fassen bekamen. Allein die Anwesenheit dieses Mannes bedeutete für Deccon und seine Organisation eine Bedrohung. Was die ganze Sache noch schlimmer machte, war der Umstand, dass der Unbekannte seine äußerliche Ähnlichkeit mit einem Arkoniden, der vor vielen Jahrzehnten eine Rolle an Bord des Hantelraumers gespielt hatte, schamlos ausnutzte. Er nannte sich Atlan und hatte damit insbesondere bei den Terra-Idealisten sehr schnell erheblichen Einfluss gewonnen.

Der High Sideryt war nach wie vor entschlossen, den Fremden verhaften zu lassen. Die überall schwelenden Unruhen unter den Solanern verlangten es, ihn so schnell wie möglich dingfest zu machen. Noch immer hatten die SOL und ihre Besatzung kein festes Ziel, eine Aufgabe, auf die man sich fokussieren konnte und die dabei half, die Verhältnisse an Bord in stabile Bahnen zu lenken. In dieser Situation konnte Deccon einen zusätzlichen Unsicherheitsfaktor wie diesen Unbekannten nicht brauchen.

Manchmal wurde ihm das alles zu viel. Er merkte es in jenen Momenten, in denen er allein war und sich seine Gedanken im Kreis drehten.

Dann wurde er sich seiner Ohnmacht bewusst, seiner Unfähigkeit, die anstehenden Probleme sachlich zu analysieren und Entscheidungen zu treffen.

Wieder, wie so oft in den letzten Wochen, begann er damit zu liebäugeln, die Schläfer zu wecken. Nur in einer äußerst schweren Krise war das erlaubt, wenn es keinen anderen Ausweg mehr zu geben schien. Nur dann durften sie aus ihrem Kälteschlaf erlöst werden, um dem Wohl der Menschen an Bord des Hantelraumers dienen zu können. Aber noch zögerte Chart Deccon.

Mit ihrem Wissen mochten die Schläfer, die viele auch gerne die Weisen oder einfach die Alten nannten, tatsächlich eine wertvolle Hilfe sein. Aber das konnte auch unversehens dazu führen, dass er selbst den größten Teil seiner Macht einbüßte. Das Risiko wollte er nicht eingehen. Noch nicht.

Er kannte die frühere Bedeutung der fünf Schläfer, deren auf ein Minimum reduzierte Lebensfunktionen seit mehr als einhundert Jahren von SENECA überwacht wurden. Er kannte ihre Namen und Taten aus vielen Erzählungen, die er im Logbuch gelesen hatte, und er wusste, dass sie ein unkalkulierbares Risiko bedeuteten. Davor fürchtete er sich. Es war keineswegs sicher, dass die Schläfer mit ihm Hand in Hand arbeiten würden.

Träge erhob sich der High Sideryt aus seinem thronähnlichen Sessel und stieg die Stufen des Podests hinab. Sein Blick fiel auf den Zeitmesser, der den 3. April 3791 anzeigte. Der gregorianische Kalender, überlegte er in einem Anflug von Ironie, war wohl das einzige Relikt aus der terranischen Ära, das bis auf den heutigen Tag in unveränderter Form Bestand hatte. Niemand war damals, im Zuge der allgemeinen Loslösung von dem belastenden irdischen Erbe, auf den Gedanken verfallen, eine neue Zeitrechnung einzuführen.

Die Gründe dafür, warum er sich so gern mit der Vergangenheit beschäftigte, waren Chart Deccon selbst nicht ganz klar. Vielleicht lag es an seinem Hang zur Einsamkeit, dem er manchmal gar zu ausgiebig frönte, gepaart mit der seltsamen Faszination, die die alten Eintragungen im Logbuch vermittelten.

Die Gedanken an die Schläfer hatten sein Interesse unvermittelt wieder geweckt. Durch einen knappen Rückruf in die Zentrale vergewisserte er sich, dass an Bord weitgehend Ruhe herrschte. Einige Stunden der Muße durfte er sich leisten. Von den Geschichten aus längst vergangenen Tagen konnte er sich ablenken lassen; er konnte Kraft sammeln für die kommenden Herausforderungen.

Etwas von der drückenden Düsterkeit, die das schwarze Mobiliar dieses Raumes vermittelte, sprang auf Chart Deccon über. Seine Bewegungen waren langsam, als er sich einem der Schränke zuwandte. Kein Muskel zuckte in dem massigen Gesicht, und die kleinen Augen blickten kalt. Es hieß, dass er keine Gefühle kannte. Er selbst wusste es besser. Oft genug musste er sich eisern beherrschen, um seine Emotionen nicht offen zu zeigen. Auch in diesem Moment, als ihn eine seltsame Melancholie erfüllte, hielt er die Maske aufrecht.

Er blieb vor dem Schrank stehen und öffnete eine Schublade. Ein paar Sekunden hielt er inne, um die Schatulle zu betrachten. Es war ein wertvolles Stück, aus reinem Elfenbein gefertigt und mit silbernen Beschlägen versehen.

Beinahe andächtig öffnete er das Behältnis und nahm das Logbuch heraus. Dann ging er zurück und ließ sich wieder in seinem Thronsessel nieder. Prüfend wog er das Buch in der Hand.

Es war kein Logbuch im herkömmlichen Sinn, kein Datenspeicher mit nüchternen elektronischen Aufzeichnungen. Dies waren Papierblätter, lose gebunden, mit zum Teil sogar handschriftlichen Eintragungen.

Einmal ließ Chart Deccon die Längskanten der Blätter an seiner Daumenkuppe entlanggleiten. Dann schlug er die erste Seite auf. Er tat das fast jedes Mal, bevor er sich einen anderen, beliebigen Eintrag heraussuchte. Den Text kannte er mittlerweile fast auswendig, trotzdem las er ihn immer wieder.

 

Das Ereignis, auf das wir so lange gewartet und hingearbeitet haben, ist endlich eingetreten.

Perry Rhodan hat uns die SOL übereignet.

Wir sind unter uns.

Wir – das sind jene Menschen, die innerhalb des Schiffes geboren wurden, die zwischen den Sternen leben wollen und die das Dasein auf der Oberfläche eines Planeten nicht mehr ertragen können.

Keiner von den Alten ist bei uns geblieben. Alle Terraner haben sich auf die BASIS zurückgezogen.

Ich gebe zu, dass die Trennung schmerzt. Mit vielen, die nun nicht mehr bei uns sind, habe ich mich gut verstanden. Sie waren aufrichtige Menschen, Freunde gar, auch wenn wir oft genug gegensätzliche Standpunkte vertreten mussten. Selbst bei harten Auseinandersetzungen blieben sie immer fair: Perry Rhodan, Reginald Bull, Mentro Kosum, Jentho Kanthall und wie sie alle heißen. Nicht zu vergessen den kleinen Gucky, dessen muntere Späße mir fehlen werden.

Aber ich möchte mich hier nicht in Sentimentalitäten verlieren. Die SOL hat sich von der BASIS gelöst und das System der Wynger verlassen. Unsere lange Reise hat begonnen. Wir können endlich so leben, wie wir es immer wollten. Das allein zählt.

Allerdings bereitet mir die erlangte Unabhängigkeit, sosehr ich sie immer befürwortet habe, auch Sorgen. In ihrer Euphorie, die sie in diesen Tagen beherrscht, vergessen die Solaner allzu leicht, dass ein Leben, das sich ausschließlich im Weltraum abspielt, auch auf lange Sicht eine Illusion bleiben wird. Wir werden immer auf Planeten und deren Ressourcen angewiesen sein. Die meisten wollen es nicht wahrhaben. Sie eifern einer Philosophie nach, deren Voraussetzungen für meine Begriffe schlichtweg falsch sind.

Auch Gavro Yaal gehört dazu. Er hat schon immer einen kompromissloseren Kurs vertreten als ich. Die Zahl seiner Anhänger wird in dem Maß steigen, in dem mein eigener Einfluss nun, nachdem die Solgeborenen keinen Sprecher mehr brauchen, nachlässt. Es besteht die Gefahr, dass er sich in seinem Bestreben nach der ultimaten Unabhängigkeit der SOL in einen Fanatismus verrennt, der für uns alle existenzbedrohend werden kann.

Ich schreibe diese Zeilen, weil ich glaube, dass es wichtig ist, auch andere Auffassungen und Darstellungen festzuhalten als die, die im offiziellen Logbuch zu finden sind. Ich hoffe, dass man mich und meine Skepsis an der Haltung von Gavro Yaal später besser verstehen wird als heute.

Diesem Buch werde ich meine Gedanken anvertrauen. Ich werde Ereignisse aufzeichnen, die aus meiner Sicht wichtig sind. Es soll eine Art Tagebuch werden, das keine nüchternen Daten enthält, sondern als ein Spiegel persönlicher Anschauungen und Einschätzungen dient. Ich schreibe es nicht allein für mich, sondern vor allem für spätere Generationen, die sich ein Bild über die Geschehnisse an Bord der SOL machen wollen. Und ich hoffe, dass es nach mir jemanden geben wird, der diese Aufzeichnungen weiterführt.

Joscan Hellmut am 24. Dezember 3586

 

Chart Deccon klappte das Buch zu und sah auf. Im Grunde genommen war er ein einsamer Mensch, einsamer noch, als Joscan Hellmut es damals gewesen war, als er das Logbuch begann. Hellmut hatte immer mit jemandem reden können. Es hatte immer Leute gegeben, die ihn unterstützten, anspornten oder auch kritisierten.

Chart Deccon hatte dagegen niemanden. Er übte seine diktatorische Macht bestenfalls im Verbund mit den zehn Magniden aus. Die überwiegende Mehrzahl der Besatzungsmitglieder kannte nicht einmal seinen Namen.

In Augenblicken wie diesem bedrückte ihn das. Aber er war auch davon überzeugt, dass nur auf die von ihm und den früheren High Sideryts praktizierte Weise die Verhältnisse an Bord halbwegs sicher unter Kontrolle gehalten werden konnten.

Tief ein- und ausatmend strich er sich über die Glatze. Er hatte nicht vorgehabt, mit seinen Gedanken in der Gegenwart zu bleiben. Abermals schob er alles, was mit dem Heute zu tun hatte, beiseite und konzentrierte sich auf das Logbuch. Vor mehr als zweihundert Jahren war es begonnen worden, und tatsächlich hatte es auch nach dem Abtritt Joscan Hellmuts immer Leute gegeben, die die Eintragungen fortgeführt hatten. Auf diese Weise war ein schwerer, dicker Band entstanden, vollgepackt mit Informationen und persönlichen Aufzeichnungen.

Für seine Lektüre wählte Chart Deccon eine Stelle aus, die nur wenige Jahre nach der Übergabe der SOL an die Solaner geschrieben worden war. Aus den zwangsläufig oft knappen Aufzeichnungen des Chronisten versuchte er die Geschichte zu rekonstruieren, wie sie sich damals abgespielt hatte.

2.

 

Manchmal beruhigt es mich, zu sehen, dass es auch heute noch Leute gibt, die die totale Abkehr von der Außenwelt nicht widerspruchslos hinnehmen. Allerdings wird es von Tag zu Tag gefährlicher, an den Postulaten Gavro Yaals Kritik zu üben. Man treibt sich damit selbst in die Isolation. Deshalb kann ich das, was Perg Ivory vorhat, auch nicht befürworten.

Ich habe lange mit ihm gesprochen, ohne ihn jedoch umstimmen zu können. Was er tun will, hat mit seiner inneren Überzeugung, was die eigentliche Bestimmung der Solaner betrifft, im Grunde genommen nichts zu tun. Schon gar nicht will er damit gegen die Schiffsführung opponieren. Es ist mehr eine Bestätigung seiner selbst, die er braucht, ein Ausleben persönlicher Bedürfnisse, die sich nach so vielen Jahren als Pilot nicht unterdrücken lassen.

Trotzdem bin ich fast sicher, dass Gavro Yaal seine Handlungsweise anders auffassen wird. Er wird sie als Affront ansehen. Wie er darauf reagiert, wage ich jetzt noch nicht zu beurteilen. Im Moment ist nur sicher, dass das Leben für Perg Ivory nach seiner Rückkehr erheblich schwerer sein wird.

Frances Vater hat sich von meinen Bedenken nicht überzeugen lassen. Er wird tun, was er sich vorgenommen hat, selbst wenn er sich damit schadet.

Ich habe ihn gewarnt ...

Joscan Hellmut am 13. Juli 3590

3.

 

Für Perg Ivory gab es keinen Grund, sich zu verstecken. Die Möglichkeit, dass er auf seinem Weg jemandem begegnete, war um diese Zeit denkbar gering, und wenn es doch geschah, würde er sich irgendwie herausreden.

Es war schon spät am Tag. Die Nachtphase hatte vor etwa einer Stunde begonnen, und die meisten Solaner hielten sich in ihren privaten Unterkünften auf. Die Beleuchtungskörper in den Korridoren waren zurückgeschaltet und verbreiteten nur matte Helligkeit.

Weit vor sich, am Ende des Ganges, erkannte er bereits das Schott, das den Hangar von den übrigen Bereichen der SOL trennte. Zügig hielt er darauf zu, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass er sich mit der Ausführung seines Vorhabens viele Feinde schaffen würde.

Vor dem Schott blieb er stehen und betätigte die Öffnungsautomatik.

»Identifikation!«, verlangte die mechanische Stimme des Kontrollrechners. Ohne zu zögern, schob der Mann seine Personalkarte in den dafür vorgesehenen Schlitz.

»Perg Ivory«, sagte er. »Technische Wartung.«

Das Lautmuster seiner Stimme in Verbindung mit den auf der Karte gespeicherten Daten genügte der Automatik, um seine Berechtigung zum Betreten des Hangars anzuerkennen. Der Grund seines Hierseins hatte sie nicht zu interessieren. Das Schott fuhr auf.

Pergs Bewegungen wurden hektischer, als er die Halle betrat. In der Zentrale würde man sein Eindringen bemerken. Er musste gestartet sein, bevor jemand ernsthaft Verdacht schöpfte.

Mehrere Lightning-Jets standen in dem Hangar aufgereiht. An einer von ihnen hatte er bereits heute Mittag im Zuge der allgemeinen Wartungsintervalle gearbeitet. Er ging auf die Maschine zu und kletterte in die Pilotenkanzel. Mit wenigen Handgriffen traf er die Vorbereitungen für einen Normalstart. Kontrolllämpchen zeigten an, dass das Triebwerk aufgeheizt wurde.

In diesem Moment bellte eine Stimme durch den Hangar.

»Wer bist du und was hast du vor?«

Im ersten Schreck zuckte Perg zusammen, doch gleich darauf wurde er wieder ruhiger. Er hatte damit gerechnet, dass man auf ihn aufmerksam werden würde, und sich eine entsprechende Erklärung zurechtgelegt.

»Ich bin Perg Ivory«, antwortete er bereitwillig über den Normalfunk der Jet. »Ich glaube, dass ich vorhin einen Flüchtigkeitsfehler begangen habe, und möchte ihn korrigieren.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Der Wachhabende in der Zentrale würde überprüfen, ob er, Perg, tatsächlich zur Wartung dieser Maschine eingeteilt gewesen war. Das verschaffte ihm Zeit, seinen Plan zu Ende zu führen. Hastig betätigte er weitere Schaltungen. Sekunden später war die Jet startklar.

»Worum genau handelt es sich?«, klang die Stimme erneut auf, diesmal ebenfalls über die Funkanlage.

»Ich habe in meiner Kabine den Wartungsplan nochmals studiert«, erklärte Perg. »Dabei ist mir aufgefallen, dass ich zwei Kontrollen übersehen habe. Ich hole sie jetzt nach.«

Er spürte, wie er allmählich nervös wurde. Der Eindruck, endlich wieder vor den Instrumenten eines startbereiten Flugkörpers zu sitzen, vermischte sich mit der Angst, frühzeitig entlarvt zu werden. Er beobachtete das innere Schleusenschott, das sich zögernd zu öffnen begann. Plötzlich ging ihm alles viel zu langsam.

»Warum erledigst du diese Arbeit nicht morgen?«, fragte der Wachhabende. »Dann bist du ausgeruht und hast genügend Zeit dazu. Es handelt sich ohnehin nur um Routineüberprüfungen, die nicht allzu wichtig sind. Niemand wird mit der Lightning-Jet diese Nacht starten wollen.«

Doch!, dachte Perg grimmig. Ich will es!

»Ich bin nicht bereit, mir mangelndes Pflichtgefühl nachsagen zu lassen«, entgegnete er mit absichtlicher Schärfe, während die Maschine auf einem Leitstrahl in die Schleusenkammer glitt. Hinter ihr schloss sich das Innenschott. Die Luft wurde abgepumpt.

»Ist es für deine Arbeiten nötig, dass du einen Start simulierst?«

»Ja.«

Allein die Frage des Wachhabenden deutete darauf hin, dass dieser nicht die geringste Ahnung von den Abläufen einer Routineprüfung hatte.

»Ich ... ich werde das nachprüfen.«

»Ich habe nichts dagegen.«

Perg wusste nicht, ob er die letzten Worte laut gesagt oder nur gedacht hatte. Das Außenschott öffnete sich und gab den Blick in den Weltraum frei. Perg spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. Nun konnte ihn niemand mehr stoppen. Das erste Mal seit vielen Jahren würde er wieder eine Lightning-Jet steuern! Er würde die SOL verlassen und in eigener Verantwortung durchs All fliegen!

Das war es, wovon er so lange geträumt hatte. Früher, als Gavro Yaal noch nicht das Kommando an Bord führte, waren oft Erkundungseinsätze mit den Jets unternommen worden, und meistens war Perg dabei gewesen. Er war Pilot mit Leib und Seele, nicht einmal ein schlechter dazu, und die Umstellung auf die Arbeiten beim Wartungsdienst war ihm mehr als schwergefallen. Immer hatte er gehofft, irgendwann wieder fliegen zu dürfen, doch je länger die Reise der SOL dauerte, desto unwahrscheinlicher war ihm die Erfüllung seines Wunschs erschienen.

Und nun stand er kurz davor, den Traum zu verwirklichen. Er allein würde das kleine Raumfahrzeug steuern, und mochte es um den Preis sein, fortan als Geächteter außerhalb der Gesellschaft zu leben.

»Perg Ivory!« Nun erst schien der Wachhabende in der Zentrale begriffen zu haben, was wirklich vor sich ging. »Du wirst hiermit aufgefordert, die Startvorbereitungen sofort abzubrechen. Ein Probeflug liegt nicht in deinem Kompetenzbereich!«

Perg lachte heiser. Er würde sich nicht mehr aufhalten lassen. Entschlossen betätigte er die Startautomatik. Antigravfelder katapultierten die Jet aus dem Hangar. Dann zündete er das Triebwerk.

Es war, als würden ihm die Sterne entgegenspringen. Von den Beharrungskräften spürte er nichts. Die Andruckabsorber arbeiteten einwandfrei. Auf den Heckbildschirmen konnte er verfolgen, wie die SOL hinter ihm zurückblieb.

»Perg Ivory, du wirst zur sofortigen Rückkehr aufgefordert!«

Er kümmerte sich nicht um den Aufruf, der über Hyperfunk hereinkam. Eine unnatürliche Ruhe bemächtigte sich seiner. Er manövrierte die Jet so sicher, als hätte er in den letzten Jahren nichts anderes getan.

Die Kugel des Planeten, in dessen Orbit die SOL seit einigen Stunden schwebte, wuchs vor Perg auf. Der Anblick überwältigte ihn. Es war ein Unterschied, ob man die Annäherung an fremde Welten über einen kleinen Bildschirm verfolgte oder gar nur aus nüchternen Berichten davon erfuhr – oder ob man, selbst an den Kontrollen eines Fluggeräts sitzend und nur durch eine Panzerglasscheibe vom freien Raum getrennt, unmittelbar am Geschehen teilnahm.

Es war ein einmaliges, lange entbehrtes Erlebnis. Perg Ivory fühlte sich wie in einem Rausch. Ursprünglich hatte er lediglich die Absicht gehabt, für einige Minuten durch das All zu jagen und schnell zur SOL zurückzukehren. Nun wollte er mehr. Er war Lightning-Jet-Pilot, und er wollte sich und allen anderen beweisen, dass er es zeit seines Lebens bleiben würde.

Die ständigen Funkanrufe aus dem Mutterschiff kümmerten ihn nicht. In weitem Bogen zog er die Maschine herum. Kurz musste er die Augen schließen, als sich die Sonne des Systems hinter der Masse der SOL hervorschob und ihn zu blenden drohte. Die Sichtkuppel der Jet verdunkelte sich automatisch und verhinderte dadurch, dass er erblindete.

Vor ihm wuchs der Planet zu imposanter Größe auf. In einem Winkel von vierzig Grad tauchte er in die Atmosphäre ein, deren Partikel beim Auftreffen auf den Schutzschirm grelle Lichteffekte erzeugten. Perg drosselte die Geschwindigkeit und wählte einen flacheren Eintrittswinkel. Sofort besserten sich die Sichtverhältnisse.

Die Maschine durchstieß eine lockere Wolkenschicht, womit der Blick auf die Oberfläche des Planeten endgültig frei wurde. In rasendem Flug nahm Perg alles in sich auf, was er zu sehen bekam. Wälder und Grasebenen zogen unter ihm vorbei, ausgedehnte Wüsten, bläulich schimmernde Meere, Savannen, Eisflächen, Gletscher, Gebirge ... und mehrere dunkle Punkte, die er nicht genau identifizieren konnte, von denen er aber annahm, dass es sich um Ansiedlungen primitiver Eingeborener handelte.

Dreimal umkreiste er diese Welt, wechselte dabei ständig die Höhe, änderte Flugwinkel und Geschwindigkeit. Keine Sekunde kam er auf die Idee, eine Landung zu versuchen. Wie allen Solgeborenen war ihm die Vorstellung, eine Planetenoberfläche betreten zu müssen, verhasst. Seine Heimat war das Schiff, nirgendwo anders wollte er leben. Nur die Eintönigkeit, die dieses Leben manchmal mit sich brachte, hatte ihm in letzter Zeit so stark zugesetzt. Er brauchte die Abwechslung hinter den Kontrollen einer Flugmaschine.

Ruhig richtete er den Bug nach oben und beschleunigte. Die Landschaft fiel unter ihm zurück. Er schoss durch die Wolken und verließ die Atmosphäre. Die Schwärze des Weltraums schloss sich um ihn.

Nun näherte er sich wieder dem hantelförmigen Raumschiff. Keine Spur von Wehmut oder Traurigkeit kam in ihm auf. Auch das Einschleusen der Jet gehörte zu den Aufgaben des Piloten. Mehr, als allein diese Aufgabe auszuführen, hatte er nicht tun wollen. Nun kehrte er heim.

Die zwei kugelförmigen SOL-Zellen schoben sich zu beiden Seiten aus seinem Blickfeld, während das leuchtende Rechteck des Hangars im Mittelteil des Schiffes näher und näher kam. Wenig später setzte er auf, noch immer von innerer Ausgeglichenheit erfüllt. Das Röhren des Triebwerks verstummte, Luft wurde in die Schleusenkammer gepumpt, dann öffnete sich das Innenschott.

Zwei Kampfroboter stürmten ihm entgegen, die Waffen im Anschlag. Perg registrierte es mit nachsichtigem Lächeln. Gefasst stieg er aus der Jet.

Der Innenraum des Hangars war nun hell erleuchtet. Zwischen den aufgereihten Fluggeräten stand ein Mann, der ebenfalls eine Waffe in der Hand hielt. Perg ging auf ihn zu, von den beiden Robotern eskortiert. Er hatte damit gerechnet, dass er mit seinem Vorgehen erheblichen Wirbel an Bord auslösen würde, auch damit, dass er sich nach seiner Rückkehr vor den zuständigen Gremien verantworten musste. Dass sie gleich zwei Kampfmaschinen und einen Sicherheitsoffizier aufbieten würden, die ihn mit entsicherten Blastern bedrohten, erschreckte ihn allerdings doch.

»Kraft der mir übertragenen Befugnisse nehme ich dich fest«, erklärte der Offizier, als Perg vor ihm stehen blieb. »Du bist verhaftet.«

Er wurde unruhig. Das konnten sie nicht tun! Sie mochten ihn verwarnen und ihm eine Disziplinarstrafe auferlegen – aber er hatte schließlich kein Verbrechen begangen, das einen Arrest rechtfertigte. Sein Hochgefühl und die innere Ausgeglichenheit verflogen. Seine Auffassung von Selbstverwirklichung war für ihn zu einer Falle geworden.

»Wessen werde ich beschuldigt?«, fragte er. Seine Stimme zitterte. Der Offizier deutete in die Schleusenkammer, wo die Arbeitsgeräusche der Jet langsam erstarben.

»Des Diebstahls«, antwortete er mit merkwürdigem Unterton. Dann, nach einer kurzen Pause, fügte er hinzu: »Und der Meuterei.«

Perg Ivory erstarrte. Die Welt brach für ihn zusammen.

 

Allmählich wurde es eng in dem Wohnraum. Normalerweise hielten sich dort kaum mehr als zwei Personen auf; für deren Bedürfnisse war er konzipiert und eingerichtet. Nun mochten es sechs- oder siebenmal so viel sein: Freunde, Bekannte und Leute aus den Nachbarkabinen hatten sich eingefunden. Selbst Komty Wamman ließ es sich nicht nehmen, seinen Sohn heute zu besuchen.

Der, dem der Trubel galt, hielt sich eher bedeckt. Er stand etwas abseits von der Menge und beteiligte sich kaum an den Gesprächen. Ebenso vermied er es, die Gedanken der anderen zu lesen. Menschenansammlungen, die mit seiner Person zusammenhingen, mochte er nicht.

»Was ist los mit dir?« Joscan Hellmut trat neben ihn und sah ihn von der Seite an. »Du tust so, als berührte dich das alles nicht. Dabei sind sie wegen dir gekommen. Sie wollen dir Glück wünschen.«

»Für die meisten von ihnen ist das nur ein Vorwand.« Es klang abweisend. »In Wahrheit wollen sie mich sehen.«

Der ehemalige Sprecher der Solgeborenen senkte den Blick. Einmal mehr erkannte er die Tragik, die sein junger Freund in manchen Situationen zu bewältigen hatte. Wenn sich Leute um ihn kümmerten, mit denen er ansonsten kaum oder gar nichts zu schaffen hatte, setzte er voller Vorurteile voraus, dass sie ihn nur begaffen wollten. Dabei waren sein Anblick und die Art seines Auftretens an Bord der SOL längst jedermann vertraut.

»Deine abweisende Haltung hat andere Gründe«, behauptete Joscan. »Du bist enttäuscht, dass die Person, mit der du gern zusammen wärst, nicht hier ist. Um es einfach auszudrücken: Du leidest an Liebeskummer!«

Er erhielt keine Antwort mehr, denn in diesem Moment öffnete sich der Eingang. Die Zwillinge Sternfeuer und Federspiel betraten nebeneinander den Raum. Dabei balancierten sie eine überdimensionale Platte Synthonahrung, in deren Oberfläche jemand mit zittriger Hand die Worte Happy Birthday geritzt hatte.

Die Gespräche verstummten. Aller Augen richteten sich auf die zwei Jugendlichen, als erwartete man von ihnen, dass sie ein Lied anstimmten. Mit so viel Aufmerksamkeit hatten diese freilich nicht gerechnet. Unsicher blieben sie stehen, während zu allem Überdruss nun auch noch Douc Langur erschien und sich an den beiden vorbeizwängte. Als er der erwartungsvollen Stille gewahr wurde, verharrte auch er und wedelte unschlüssig mit seinen fühlerähnlichen Sinnesorganen.

Joscan Hellmut stieß seinem Freund auffordernd in die Seite. Doch der war ebenfalls so überrascht, dass er sich zunächst nicht rührte. Es war Sternfeuer, die schließlich den Bann brach.

»He, Bjo!«, rief sie. »Wie lange sollen wir das Ding noch halten? Es ist verdammt schwer.«

Endlich kam wieder Leben in die Anwesenden. Jemand lachte, andere begannen zu sprechen, während sich auch Bjo Breiskoll aus seiner Starre löste. Geschmeidig trat er auf die Zwillinge zu und nahm ihnen die Platte ab.

»Vielen Dank, ihr zwei«, lächelte er.

Man konnte ihm ansehen, dass seine Freude echt war. Wie eine Trophäe hielt er die Platte über den Kopf und trug sie zum Tisch.

»Eigentlich hätten wir gar nicht kommen dürfen«, plapperte Federspiel hinter ihm her. »Mutter war nicht sehr begeistert, als wir dich mitten in der Nacht besuchen wollten, aber dann hat sie es doch erlaubt. Allerdings müssen wir gleich wieder gehen. Du bist uns deshalb nicht böse, nicht wahr, Katzer?«

Es war eine fließende Bewegung, mit der Bjo Breiskoll die Platte auf dem Tisch abstellte und blitzartig herumfuhr. Man hätte meinen können, er würde im nächsten Augenblick auf den Jungen losgehen. Douc Langur packte ihn jedoch mit einer seiner Greifklauen am Arm und sagte:

»Bjo! Es sind Kinder.«

Breiskoll bewegte den Kopf, als wolle er etwas abschütteln, was ihn umklammerte.

»Nein«, sagte er dann leise und versuchte abermals zu lächeln. »Ich bin euch nicht böse. Ihr könnt mich ja ein anderes Mal besuchen.«

»Alles klar, Bjo«, lachte Sternfeuer. »Das machen wir.« Federspiel versetzte ihm einen freundschaftlichen Rippenstoß und wandte sich ab. Hand in Hand verließen er und seine Schwester den Raum.

Joscan Hellmut erkannte den schuldbewussten Ausdruck im Gesicht des Freundes, als er sich wieder zu ihm gesellte. Douc Langur trottete hinter ihm her.

»Mitunter benimmst du dich unmöglich«, warf ihm der Kybernetiker vor. »Himmel, Bjo! Jeder an Bord nennt dich Katzer – und wenn du diesen Namen aus dem Mund eines Jugendlichen hörst, spielst du plötzlich verrückt.«

Bjo senkte den Kopf.

»Es tut mir leid. Ich habe für einen Moment die Kontrolle über mich verloren.«

Joscan nickte wissend. Der Sohn von Lareena Breiskoll und Komty Wamman war ein hauptsächlich telepathisch veranlagter Mutant. Viele bezeichneten ihn darüber hinaus als Kosmo-Spürerkatzenhaft