Inhaltsverzeichnis


Die Bombe

Vorwort

Kapitel I

Wir Hundesöhne
Ein General, ein Physiker und ein gigantisches Team von Helfern machten die USA zur ersten Atommacht der Welt
Zweite Klasse
Warum die deutschen Bombenbauer scheiterten
Der Pazifist und die Bombe
Wie Albert Einstein auf den US-Präsidenten einwirkte
Geistesblitze in der Badewanne
Der exzentrische Physiker Leó Szilárd ersann die nukleare Kettenreaktion
Kämpfer an der unsichtbaren Front
Die sowjetische Bombe war vor allem ein Werk des Geheimdienstes
Glücksritter und Verzweifelte
Bergwerke in Thüringen und Sachsen lieferten das Uran für Moskau
Die Liebe des Dr. Seltsam
Edward Teller warb für Massenvernichtungswaffen und sah sich als Mann des Friedens
Schlüssel zur Apokalypse
Wie die Bombem funktionieren

Kapitel II

„Als wäre die Sonne vom Himmel gefallen“
Eine Überlebende, die heute 84 Jahre alt ist, berichtet vom Tag der Katastrophe und ihrem Leben danach
Das japanische Trauma
Wie das Land den nuklearen Schrecken bis heute verdrängt
„Ich bin nicht stolz“
Zwei US-Soldaten, die am Tag des Abwurfs in der „Enola Gay“ saßen, erinnern sich

Kapitel III

Mit Stöcken und Steinen
Globales Wettrüsten und Logik der Abschreckung: Im Kalten Krieg war die Atombombe eine politische Waffe
Blaue Springmaus
Menschen und Natur leiden noch immer unter den Folgen der mehr als 2000 Bombentests
Die Welt am Abgrund
Die Kubakrise 1962 eskalierte zur gefährlichsten Auseinandersetzung seit dem Zweiten Weltkrieg
„Das große Desaster“
Der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer über die Kraft der Friedensbewegung und die Gefahr eines neuen Wettrüstens
Sehnsucht nach den Dingern
Die nuklearen Träume deutscher Politiker und die bis heute fortdauernde Wirklichkeit der „Teilhabe“
Schwerter statt Pflugscharen
Die Angst vor Atomwaffen und die Sorge um den Frieden waren große Themen in beiden deutschen Staaten
„Gefährliche Logik“
Der ehemalige Sowjetführer Michail Gorbatschow über die Notwendigkeit der atomaren Abrüstung
Skorpione in der Flasche
Die gefährliche Rivalität der Nuklearmächte Indien und Pakistan
25 Minuten bis zum Einschlag
Wie ein defekter Computer beinah den Atomkrieg auslöste

Kapitel IV

„Reine Glückssache“
Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei über die harten Realitäten der Rüstungskontrolle
Vernichtende Fracht
Bomber, U-Boote, Raketen - die wichtigsten atomaren Waffensysteme
Politische Kontrolle
Welche Verträge halten die Bombe im Zaum? Ein Überblick
Rüstungswettlauf 2.0
Wie die Militärs unter dem Deckmantel der Modernisierung neue Atomwaffen entwickeln
Geschenk des Himmels
Von Godzilla bis James Bond: das nukleare Inferno als Kino-Spektakel
Legal, illegal, scheißegal
Im Völkerrecht, das auch die Kriegführung regelt, gibt es für die Atombombe keinen Platz
Buchempfehlungen

Anhang

Impressum
Die Bombe • Einleitung

Vorwort

Am 6. August 1945, um 8.15 Uhr morgens, warf die Besatzung des US-Bombers „Enola Gay“ ihre mörderische Fracht über Hiroshima ab, in 600 Meter Höhe explodierte die Atombombe. Rund 70 000 Menschen starben unmittelbar nach der Detonation, Zehntausende erlagen danach den Folgekrankheiten. Noch nie hatte der Mensch eine derart zerstörerische Waffe entwickelt, zum ersten Mal in seiner Geschichte ist er seitdem in der Lage, jegliche Zivilisation auszulöschen, ja, alles Leben zu vernichten.   
Tausende Wissenschaftler, darunter viele Nobelpreisträger, hatten Ende der Dreißiger- und Anfang der Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts an der tödlichsten aller Waffen gebaut. Die entfesselte nukleare Macht führte daraufhin zum Kalten Krieg und einem bis dahin ungekannten Wettrüsten. Bis heute bestimmt die Atombombe die internationale Politik und stellt die vielleicht größte Gefahr für die menschliche Zukunft dar. Trotzdem arbeiten die USA und Russland derzeit an der Modernisierung ihrer Nuklearstreitkräfte, die beiden Großmächte wollen dafür in den nächsten zehn Jahren hunderte Milliarden Dollar ausgeben.   
Die beiden Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow, ehemaliger Kremlchef, und Mohamed ElBaradei, früherer Inspektor der Internationalen Atomenergiebehörde, warnen bis heute vor den enormen Risiken und werben für die Vernichtung aller atomarer Waffen. Gorbatschow: „Die Lage ist beängstigend. Die Atommächte haben immer noch Tausende Atomsprengköpfe.“ ElBaradei: „Ich kämpfe für eine Welt ohne Atomwaffen.“ Der ehemalige deutsche Außenminister und Grünen-Politiker Joschka Fischer sorgt sich wegen einer weiteren Verbreitung von Atomwaffen und insbesondere der Gefahr, die von Fanatikern ausgeht. „Ein echter Albtraum wäre doch vagabundierendes Nuklearmaterial, das in die Hände von Terroristen gelänge.“  
Das vorliegende Buch beschreibt die Entwicklung der Atombombe, ihren katastrophalen Einsatz in Hiroshima, ihre Bedeutung im Kalten Krieg und die Risiken der atomaren Waffen für unsere heutige Welt.
Joachim Mohr
Kapitel I • Entwicklung der Atombombe

Wir Hundesöhne

Ein übergewichtiger General und ein labiler Physiker leiteten das geheime „Manhattan-Projekt“ zum Bau der ersten Atombombe. Es war das größte und teuerste Experiment der Menschheitsgeschichte. Von Konstantin von Hammerstein
An Tag 1113 des Zweiten Weltkriegs steigt das Thermometer in Washington schon vormittags auf über 30 Grad. Es ist schwül an diesem 17. September 1942, ein leichter Nieselregen fällt, doch der Oberst ist bester Dinge.
Bis zum Mittag soll sich Oberst Leslie Groves entscheiden, ob er ein Kommando in Übersee annimmt, und natürlich wird er zusagen. Er hat genug von der Hauptstadt. „Ich hoffte, an die Front zu kommen, um ein kleines bisschen Frieden zu finden“, erinnert sich Groves später voller Sarkasmus. Um 10.30 Uhr begegnet er auf den Fluren des Kongresses seinem höchsten Vorgesetzten.
„Diesen Posten in Übersee“, sagt der General, „sagen Sie den ab.“ – „Warum?“, will Groves wissen. „Der Kriegsminister hat Sie für einen sehr wichtigen Auftrag ausgewählt.“ – „Wo?“ – „Washington.“ – „Ich will nicht in Washington bleiben.“ – „Wenn Sie die Sache richtig machen“, sagt der General vorsichtig, „werden wir den Krieg gewinnen.“
Groves, der plötzlich realisiert, was mit der „Sache“ gemeint ist, entfährt nur ein knappes „Oh“. Was für eine Enttäuschung! Eben noch sah er sich bei der kämpfenden Truppe, jetzt soll er sich bis zum Ende des Krieges mit einem Haufen exzentrischer Wissenschaftler rumschlagen und seine Kraft auf ein Vorhaben verschwenden, dessen Erfolgsaussichten zweifelhaft sind.
„An dem Tag, an dem ich erfuhr, dass ich das Projekt leiten sollte, das am Ende zum Bau der Atombombe führte, war ich wahrscheinlich der wütendste Offizier der gesamten United States Army“, schreibt der Absolvent der legendären Kadettenschule West Point später.
Als stellvertretender Leiter aller Bauvorhaben der US-Armee gibt Groves jetzt in einer Woche mehr Geld aus, als für das gesamte Atombombenprojekt vorgesehen ist. Soeben hat er den Bau des Pentagon vollendet, es ist der Höhepunkt seiner bisherigen Karriere. Und nun das! Doch Groves weiß, was von einem guten Soldaten erwartet wird, und er hält sich für einen sehr guten. Er gehorcht. Wenige Tage später wird er zum Brigadegeneral ernannt.
Der dänische Atomphysiker und Nobelpreisträger Niels Bohr prophezeite 1939, man werde den Atombombenstoff Uran 235 nur dann in ausreichender Menge gewinnen können, wenn man das Land in eine riesige Fabrik verwandle, und genau das ist nun Groves' Mission.
In nur drei Jahren wird er an über 30 Standorten in den USA, Kanada und Großbritannien gewaltige Atomanlagen errichten lassen, in denen mehr als 125 000 Menschen an der schrecklichsten Waffe arbeiten, die jemals von Menschen ersonnen wurde. In Rekordzeit baut er eine völlig neue Industriestruktur auf, die in ihren Dimensionen an die amerikanische Automobilbranche herankommt.
Seit dem japanischen Überraschungsangriff auf die US-Pazifikflotte in Pearl Harbor im Dezember 1941 befinden sich die Vereinigten Staaten im Krieg. Aus Deutschland geflohene Wissenschaftler berichten, dass die Nazis an einer Atombombe arbeiten, und plötzlich spielt Geld keine Rolle mehr. Es ist nur noch die Zeit, die zählt.
Die Größenordnung der riesigen Atomfabriken „kann als Maßstab gelten für die verzweifelte Anstrengung, mit der die Vereinigten Staaten sich gegen die ernsteste, potenzielle Bedrohung ihrer Souveränität, die sie je erfahren hatten, zu schützen suchten“, schreibt der Pulitzer-Preisträger Richard Rhodes in seinem Standardwerk „Die Atombombe oder die Geschichte des 8. Schöpfungstages“.
Das „Manhattan-Projekt“, wie das geheime Entwicklungsprogramm nach seinem ersten Standort in New York genannt wird, funktioniert auf den ersten Blick wie andere große Baufirmen. Es kauft Grundstücke, stellt Leute ein, engagiert Subunternehmer, errichtet Unterkünfte, bestellt Material, baut eine Verwaltung auf, versucht, die Finanzen unter Kontrolle zu halten. Doch in Wahrheit ist das, was der frisch ernannte General nun umsetzt, ohne Beispiel. Der enorme Zeitdruck führt dazu, dass mit dem Bau der Fabriken sofort begonnen werden muss, obwohl weder klar ist, wie die Bombe am Ende aussehen soll, noch ob sie überhaupt funktionieren wird. Es ist der planerische Albtraum. Hunderte Millionen werden in völlig neue und ungetestete Verfahren investiert. Ständig muss die Produktion unterbrochen werden, und die Stimmung schwankt zwischen Verzweiflung und Zuversicht.
Die Geheimhaltung ist so strikt, dass viele Menschen, die bei dem Projekt angestellt sind, erst realisieren, woran sie die Jahre über gearbeitet haben, als im Radio der Atombombenabwurf auf Hiroshima gemeldet wird. Um nicht aufzufallen, werden Standorte an den entlegensten Orten gewählt, Arbeiter müssen unter einer Legende engagiert werden, doch für Groves hat die Geheimhaltung einen entscheidenden Vorteil.
Solange er die Unterstützung von Präsident Franklin D. Roosevelt genießt, muss er anders als in Friedenszeiten keine politischen Rücksichten nehmen. Weder der Kongress noch Roosevelts Vizepräsident Henry A. Wallace sind in das geheime Atomwaffenprogramm eingeweiht.
Der General ist 1,80 Meter groß, trägt Schnurrbart, hat krause, kastanienbraune Haare, blaue Augen und ist so dick, dass sich sein Bauch von oben und unten über sein Armeekoppel wölbt. In seinem Bürotresor stapeln sich streng geheime Dokumente, eine Pistole, Munition und Berge von Karamellbonbons, Erdnüssen und Schokolade. Zucker ist Energie für ihn, und der General braucht eine Menge Energie für seinen Job.
Sein engster Mitarbeiter hält ihn für den „gemeinsten Schweinehund, mit dem ich je zu tun hatte, aber auch für einen der fähigsten Männer, die ich kenne. Ich habe oft gedacht, wenn ich diese Arbeit noch einmal tun müsste, würde ich Groves wieder als Vorgesetzten wählen. Ich hasste ihn bis aufs Blut, wie es jedermann tat, aber wir verstanden uns auf unsere Art.“
Groves ist kein Mann, der lange fackelt. An seinem ersten Arbeitstag kauft er 1130 Tonnen Uranoxid aus Belgisch-Kongo, das die Belgier 1940, alarmiert von der deutschen Besetzung ihres Landes, in 2000 Stahlfässern nach New York geschafft haben. An seinem zweiten Arbeitstag ordnet er den Kauf von über 240 Quadratkilometer Land am Clinch River im Bundesstaat Tennessee an. Dort soll der Produktions-„Standort X“ des Manhattan-Projekts entstehen.

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Wer sich Groves entgegenstellt, wird niedergewalzt. Als sich Donald Nelson, der Chef der Behörde für Kriegsproduktion, am selben Tag weigert, dem Manhattan-Projekt die oberste Dringlichkeitsstufe einzuräumen, springt Groves auf, um den Raum zu verlassen. „Ich werde dem Kriegsminister empfehlen, das Projekt einzustellen, weil sich Mr. Nelson weigert, die Wünsche des Präsidenten auszuführen.“ Nelson knickt ein.
Der General macht keine halben Sachen. Hat sich Groves einmal verpflichtet, gibt es für ihn kein Zurück. In den kommenden Monaten wird er gewaltige Summen und Ressourcen verplanen. Bis zum Ende des Krieges werden Groves und sein Stab die unvorstellbare Summe von zwei Milliarden Dollar ausgeben, das entspricht der heutigen Kaufkraft von 26 Milliarden Dollar.
Er zockt mit hohem Einsatz, und damit das Spiel weitergehen kann, müssen immer neue, immer gewaltigere Mittel lockergemacht werden. Dieser Dynamik kann sich keiner der Beteiligten entziehen. Eine gigantische Maschine hat Fahrt aufgenommen, mit Groves am Steuer, und je schneller sie wird, desto weniger ist sie zu stoppen.
Vier Wochen nach seinem Amtsantritt trifft Groves eine folgenreiche Entscheidung. Der General macht Robert Oppenheimer zum wissenschaftlichen Leiter des Manhattan-Projekts. Die Spionageabwehr der Armee ist entsetzt. Ausgerechnet Oppenheimer.
Der Professor für theoretische Physik an der kalifornischen Universität Berkeley ist ein wandelndes Sicherheitsrisiko. Er hat den ganzen Marx gelesen und verkehrt, wie er selbst bekennt, in einem Kreis „linksgerichteter Freunde“. Seine frühere Verlobte, seine Ehefrau, sein Bruder, seine Schwägerin – alle waren sie Mitglieder der Kommunistischen Partei.
Und auch die Wissenschaftler sind irritiert. Warum soll ausgerechnet ein Theoretiker, der keine Erfahrung mit dem Führen großer Gruppen hat, das Labor leiten, das sich vor allem mit experimentellen und technischen Fragen beschäftigt? Aber es gibt noch einen anderen Einwand, und der wiegt schwerer. Seine Projektleiter sind Nobelpreisträger, Oppenheimer ist es nicht. Werden sie ihn respektieren?
Doch wie immer beharrt Groves auf seiner Entscheidung. „Er ist ein Genie“, wird er nach dem Krieg einem Gesprächspartner vorschwärmen, „ein wirkliches Genie.“ Und als Oppenheimer Jahre später gefragt wird, warum ihn Groves ausgewählt habe, antwortet er ohne jeden Selbstzweifel, der General habe nun mal „eine fatale Schwäche für gute Leute“.
Es ist ein merkwürdiges Gespann, das jetzt beim Manhattan-Projekt den Ton vorgibt. Auf der einen Seite der schwergewichtige Rambo-General, der seine Untergebenen unter maximalen Druck setzt, auch um sie auszutesten. Wer zerbricht, wird erbarmungslos beiseitegeräumt, wer durchhält, wird nun selbst hart.
Auf der anderen Seite der spindeldürre Theoretiker, der Gedichte liest, Romane, Theaterstücke, sich in hinduistische Mystik vertieft, Sanskrit lernt und gegenüber Ökonomie und Politik so gleichgültig ist, dass er keine Zeitung liest und von dem Börsen-Crash 1929 erst Monate später erfährt.
Bei aller Brillanz ist Oppenheimer labil. In den Zwanzigerjahren soll er seinem Tutor im englischen Cambridge einen mit Laborchemikalien vergifteten Apfel hingelegt haben. Um dem Uni-Rauswurf zu entgehen, verpflichtet er sich zu regelmäßigen Therapiesitzungen. Ein prominenter Psychiater in London bescheinigt ihm eine spezielle Form der Schizophrenie und stuft ihn als hoffnungslosen Fall ein.
Mithilfe seines Bruders gelingt es ihm, das seelische Tief zu überwinden, doch auch später, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, hat er einen Hang zur Selbstzerstörung. Oppenheimer ist Kettenraucher, hustet ständig, das Gebiss ist verwüstet, seinen meist leeren Magen malträtiert er mit seinen gerühmten Martinis und sehr stark gewürztem Essen. Sein Körper ist ausgemergelt, er schämt sich dafür und vermeidet es, sich am Strand auszuziehen.
Die Damen aber liegen ihm zu Füßen. Eine Mitarbeiterin behauptet, es gebe wohl keine Frau auf dem Laborgelände in Los Alamos, die nicht ein wenig in „Oppie“ verknallt sei und heimlich von seinen blauen Augen schwärme. Als seine Ehefrau Kitty im Dezember 1944 eine Tochter zur Welt bringt, stehen die Frauen vor der Säuglingsstation Schlange, um einen Blick auf die Kleine vom Boss zu werfen.
Männern geht er öfter auf die Nerven. „Robert konnte den Leute klarmachen, dass sie Dummköpfe seien“, sagt sein Freund Hans Bethe. Er ist der „schnellste Denker, den ich je getroffen habe“, bescheinigt ihm der italienische Physiker Emilio Segré, mit einem „eisernen Gedächtnis“, doch hat er auch „gravierende Unzulänglichkeiten“, so etwa die „gelegentliche Arroganz“. Als Oppenheimer 1927 seine Doktorarbeit verteidigt, bekennt einer seiner Prüfer, der frisch gekürte Nobelpreisträger James Franck: „Ich bin rechtzeitig rausgekommen. Er fing gerade an, mir Fragen zu stellen.“
So unterschiedlich sie auch sein mögen, der General und sein Forschungsdirektor sind ein Dream-Team. Groves erkennt, dass Oppenheimer von einem „maßlosen Ehrgeiz“ angetrieben wird und nutzt das für sich. Der Physiker ist enttäuscht, weil ihm seine Forschungsbeiträge nicht die gewünschte Anerkennung verschafft haben. Das Bombenprojekt eröffnet ihm nun überraschend die Chance auf Unsterblichkeit. Und er nutzt sie. So wie Groves.
Beide machen sich an die Arbeit. Der General traut den schwatzhaften Wissenschaftsprimadonnen nicht und will die einzelnen Forschungsgruppen strikt voneinander trennen. Physiker, Chemiker, Mathematiker, Metallurgen, Theoretiker, Waffentechniker und Sprengstoffexperten sollen ihre Erkenntnisse auf keinen Fall untereinander austauschen. Sie könnten sonst die Geheimnisse der Bombe ausplaudern. Zudem besteht Groves darauf, die Forscher für die Dauer des Projekts als Armeeangehörige zu verpflichten.
Oppenheimer ist strikt dagegen. Er weiß, dass nur ein offener wissenschaftlicher Diskurs am Ende zur Bombe führen wird. Er wirbt für ein zentrales Labor, „wo man frei miteinander reden könnte, wo theoretische Ideen und experimentelle Ergebnisse zueinander in Beziehung treten, wo Ineffizienz und Frustration und Irrtum, wie aus so vielen voneinander abgegrenzten experimentellen Studien bekannt, vermieden werden“.
Am Ende setzt er sich durch. Doch im Gegenzug besteht Groves darauf, dass die geplante Forschungsstadt irgendwo weit weg in der Pampa entsteht, „damit im Falle unvorhergesehener Auswirkungen unserer Aktivitäten nicht nahe gelegene Ansiedlungen in Mitleidenschaft gezogen würden“.
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Der eiserne Zaun und die Stacheldrahtrollen um das neue Gelände dienen allerdings kaum dem Schutz vor unbeabsichtigten Explosionen. Wenn er schon den Austausch untereinander nicht unterbinden kann, will Groves die Wissenschaftler zumindest von der Außenwelt isolieren.

Und so entsteht in der Wüste New Mexicos, 60 Straßenkilometer nordwestlich von Santa Fe, auf einem einsamen Plateau in 2200 Meter Höhe, zwischen Kakteen und niedrigen Nadelhölzern, das Herz des Manhattan-Projekts, der Standort Y: das geheime Atombombenlabor Los Alamos.
Rastlos fährt Oppenheimer durch das Land, um die Stars der Wissenschaft für das größte Experiment der Menschheitsgeschichte zu rekrutieren. Doch die finden es wenig verlockend, mit ihren Familien für Monate oder gar Jahre unter militärischen Vorzeichen in der Wüste zu verschwinden, abgeschnitten von ihren Freunden und der Außenwelt.
Oppenheimer ist dennoch erfolgreich: „Fast alle waren sich bewusst, dass damit die unvergleichliche Gelegenheit verbunden war, fundamentale eigene Kenntnisse und die Kunst der Wissenschaft zum Wohle des Landes in die Waagschale zu werfen. Dieses Gefühl von innerer Erregung, Hingabe und Patriotismus gab am Ende den Ausschlag. Die meisten von denen, mit denen ich sprach, kamen.“
Es ist eine historisch wohl einmalige Ballung von Intelligenz, die sich bald auf der Mesa, der Hochebene von Los Alamos, versammelt. Jüdische Wissenschaftler, die vor den Nazis aus Europa geflohen sind, die Nachwuchsstars der amerikanischen Eliteuniversitäten, Nobelpreisträger wie der Italiener Enrico Fermi oder zeitweilig der Däne Niels Bohr.
„Alle kleideten sich in Western-Manier“, stellt Françoise, die Frau des polnischen Mathematikers Stanislaw Ulam, bei ihrer Ankunft erstaunt fest, „Jeans, Stiefel, Parkas. Es herrschte neben dem Kasernencharakter eine Atmosphäre von Gebirgskurort“. Abends gibt es Theateraufführungen, Hauskonzerte und gemeinsame Tanzstunden. Trotz aller Sicherheitsüberprüfungen der Armee entwickelt sich eines der Frauenwohnheime zum inoffiziellen Bordell. Nachfrage ist da, schließlich sind viele der jungen Forscher alleinstehend.
In Los Alamos lässt sich aber auch beobachten, wie schnell Wissenschaftler ihre Unschuld verlieren. Dem ungarischen Physiker Edward Teller, der als Friedensaktivist startete, reicht bald schon die Atombombe nicht mehr aus. Sein Vernichtungswille ist so groß, dass er mit der Wasserstoffbombe eine noch schrecklichere Waffe entwickeln will.
1943, die Atombombe ist immer noch in weiter Ferne, schlägt Nobelpreisträger Fermi vor, mit Strontium 90 möglichst viele Deutsche zu töten. Oppenheimer ist begeistert. Man könne Lebensmittel mit dem radioaktiven Isotop versetzen und so eine halbe Million Menschen vergiften. Nur der Umstand, dass Streuverluste den Erfolg der Aktion mindern könnten, bereiten dem früheren Anhänger des hinduistischen Prinzips von der Gewaltlosigkeit Kummer. Am Ende wird die Idee fallen gelassen.
Während die Wissenschaftler in Los Alamos noch immer über den Grundsatzfragen brüten, die für den Bau der Bombe beantwortet werden müssen, nehmen die riesigen Atomfabriken, die Groves im ganzen Land hat bauen lassen, die Produktion auf. Es gibt theoretisch mehrere Verfahren, mit denen der Bombenstoff hergestellt werden kann. Und da keines von ihnen bislang getestet ist, geht der General auf Nummer sicher. Er ordnet an, gleich alle in großindustriellem Maßstab anzuwenden.
So bauen allein in Oak Ridge, Tennessee, 20 000 Arbeiter auf einer Fläche von 20 Fußballfeldern 268 Gebäude, inklusive acht Umspannwerken und 19 Wasserkühltürmen. Für die Anreicherung von Uran durch elektromagnetische Isotopentrennung werden riesige Magnete aufgestellt, die so stark sind, dass sie nicht nur den Arbeiterinnen die Haarnadeln aus der Frisur ziehen. Sie verrücken auch 14-Tonnen-Tanks, die mit Stahlbügeln am Boden festgeschweißt werden müssen. Und dennoch produziert die Anlage nur wenige Gramm des kostbaren Bombenmaterials am Tag.
Da Kupfer im Krieg knapp ist, handelt Groves dem Finanzministerium über 10 000 Tonnen Silber ab, das in lange Streifen ausgewalzt und für die riesigen Elektromagneten auf einen Eisenkern gewickelt wird. Sorgfältig führt er über jede Unze der 300-Millionen-Dollar-Leihgabe Buch, um sie nach dem Krieg wieder vollständig zurückzugeben.
Die Dimensionen des amerikanischen Atomprogramms sind inzwischen so gigantisch, dass die ersten Wissenschaftler zurückschrecken. Hier geht es erkennbar nicht mehr darum, den Deutschen bei der Bombe zuvorzukommen oder den Krieg zu verkürzen. Der scheint sich zumindest in Europa ohnehin dem Ende zuzuneigen. Nein, alle Anstrengungen deuten darauf hin, dass Kernwaffen in Zukunft fester Bestandteil des amerikanischen Rüstungsarsenals werden sollen.
Zehn Wochen, nachdem die Deutschen bedingungslos kapituliert haben, sind Groves und Oppenheimer am Ziel. Am 16. Juli 1945 um 5 Uhr, 29 Minuten und 45 Sekunden zündet auf dem Bombenabwurfplatz bei Alamogordo, gut 300 Kilometer südlich von Los Alamos, die erste Atombombe der Welt.
Der Physiknobelpreisträger Isidor Isaac Rabi beobachtet die Explosion vom Basiscamp des Testgeländes: „Plötzlich gab es einen ungeheuren Lichtblitz, das hellste Licht, das ich – oder wie ich glaube, überhaupt ein Mensch – je gesehen habe. Es explodierte; es schoss auf einen zu; es bohrte sich durch einen durch. Es war ein Bild, das man nicht nur mit den Augen sah. Man sah es, und es brannte sich für immer ein.“
Für den Leiter des „Trinity“-Tests, den Physiker Kenneth Bainbridge, ist es „eine widerliche und Ehrfurcht gebietende Vorführung“. Sie haben die Welt verändert an diesem Morgen in der Wüste New Mexicos. Das ist den beteiligten Wissenschaftlern klar. „Jetzt sind wir alle Hundesöhne“, sagt Bainbridge zu Oppenheimer, und der bekennt, das sei das Beste gewesen, „das jemand nach dem Test sagte“.
Als Rabi den Forschungsdirektor des Manhattan-Projekts später im Basecamp trifft, wirkt Oppenheimer verändert: „Sein Gang war wie in ,Zwölf Uhr mittags' – ich glaube, so kann ich es am besten beschreiben –, diese Art von stolzem Gang. Er hatte es getan.“
Einer der Offiziere wendet sich zu Groves: „Der Krieg ist zu Ende.“ Doch der General antwortet: „Ja, nachdem wir zwei Bomben auf die Japaner abgeworfen haben.“
Mail: konstantin_hammerstein@spiegel.de
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Kapitel I • Entwicklung der Atombombe

Zweite Klasse

Auch die Nazis träumten von der Atombombe. Im Zweiten Weltkrieg arbeiteten die prominentesten deutschen Physiker an dem Projekt. Warum scheiterten sie? Von Martin Doerry
Am späten Nachmittag des 6. August 1945 erhält Major T. H. Rittner einen Anruf seiner Dienststelle in London: Der britische Offizier soll die in Farm Hall bei Cambridge internierten deutschen Atomforscher über den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima informieren. Rittner geht zuerst zu dem Mann, dessen Erkenntnisse die Bombe überhaupt erst möglich machten. Gut gerüstet, mit einer Flasche Gin und zwei Gläsern in den Händen, betritt er das Zimmer von Otto Hahn, dem Entdecker der Kernspaltung.
Die Nachricht schockiert Hahn, er erleidet einen Schwächeanfall. Der Wissenschaftler fühlt sich sofort für den Tod Zehntausender verantwortlich. Erst nach einigen Gläsern Gin sieht sich Hahn in der Lage, den übrigen deutschen Gefangenen im Speisesaal des Landsitzes von dem historischen Ereignis zu berichten.
Die neun Männer, darunter Koryphäen wie Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, reagieren mit ungläubigem Staunen. Seit 1939 sind sie auf der Spur der Bombe gewesen, sie haben bis zu ihrer Gefangennahme im April 1945 an einem geheimen Versuchs-reaktor gearbeitet. Dass die Kollegen in Amerika schneller und vor allem erfolgreich gewesen sind, kränkt jeden von ihnen persönlich.
Hahn verspottet erst mal Heisenberg, den führenden Kopf der deutschen Physiker, er sei wohl doch nur „zweitklassig“. Heisenberg selbst braucht Stunden, um die Nachricht vom Abwurf der Bombe zu akzeptieren. Zunächst spricht er sogar von einer Propagandameldung. „Ich glaube nicht, dass es etwas mit Uran zu tun hat“, behauptet er. „Irgendein Dilettant in Amerika“ habe diese Geschichte erfunden.

Am Ende muss sich auch Heisenberg den Tatsachen beugen. Bis in die tiefe Nacht diskutieren die internierten Wissenschaftler nun darüber, warum ihnen die Amerikaner den Rang abgelaufen haben. Die britischen Soldaten, die jedes Zimmer in Farm Hall verwanzt haben, werden dabei zu Zeugen dramatischer Anklagen und Selbstbezichtigungen.
Um drei Fragen vor allem kreisen die Gespräche der Gelehrten in dieser Nacht – drei Fragen, über die bis heute gestritten wird: Warum war es ihnen nicht gelungen, die Bombe zu bauen? Wollten sie die Bombe in Wahrheit gar nicht bauen? Oder sollten sie die Bombe nicht bauen?
Unbestritten war, dass die Deutschen einen klaren Startvorteil hatten. Im Dezember 1938 hatte Otto Hahn die Kernspaltung in seinem Berliner Labor entdeckt. Und schon im März 1939, so erinnerte sich später Carl Friedrich von Weizsäcker, seien er und andere Physiker zu der Gewissheit gelangt, dass mit dem Prinzip einer kontrollierten Kettenreaktion auch das Rezept für eine verheerende Waffe zur Verfügung stand.

Am 29. April 1939 wurde im Reichserziehungsministerium in Berlin der sogenannte Uranverein gegründet, ein Gremium der führenden deutschen Kernphysiker, das sich die Herstellung eines Kernreaktors zum Ziel setzte. Schnell etablierten sich Forschergruppen an mehreren Instituten – in Berlin, Leipzig, Göttingen und Hamburg. Außerdem wurde in Gottow bei Berlin ein Versuchslabor für die neue Kernforschungsabteilung des Heereswaffenamts eingerichtet. Hier ging es schon nur noch um die Entwicklung einer Atombombe.
Der Kriegsausbruch im September 1939 habe auf die Pläne für eine militärische Nutzung der Atomenergie wie ein „Brandbeschleuniger“ gewirkt, meint der Heisenberg-Experte Richard von Schirach. Heisenberg, Nobelpreisträger des Jahres 1932, wartete damals eigentlich auf seine Einberufung zu den Gebirgsjägern. Stattdessen holte man ihn nach Berlin und gab ihm den Auftrag, am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik die Grundlagen der kontrollierten Kernspaltung zu erkunden. „Schreiben Sie doch bitte auf, wie Sie sich das denken“, bat ihn Kurt Diebner, der Chef des Versuchslabors in Gottow.
Der Siegeszug der Wehrmacht zu Beginn des Krieges verhalf den Wissenschaftlern bald zu jenen Rohstoffen, die sie für ihre Versuche dringend benötigten. So wurden aus Belgien insgesamt 3500 Tonnen Uranerz beschafft, das in Belgisch-Kongo abgebaut worden war. Und in Norwegen fiel den Deutschen die einzige Fabrik der Welt in die Hände, in der schweres Wasser gewonnen wurde.
Erste Erfolge wurden sichtbar. Im Frühjahr 1941 meldete Carl Friedrich von Weizsäcker ein geheimes Patent für den Bau einer Plutoniumbombe beim Berliner Patentamt an. Die bei der Kernspaltung frei werdende Energie, so hieß es in dem Dokument, würde jeden bekannten Sprengstoff „rund zehn Millionen Mal übertreffen“. Eine technische Umsetzung lag zwar noch in weiter Ferne, aber die Bombe schien machbar.