Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Das SPIEGEL-Gespräch

KAPITEL 1

Wie liquidiert man Stalin?
Das erste SPIEGEL-Gespräch, das es gab - über den Ungarischen Aufstand
Der große Prügel
Das erste explizit so genannte „SPIEGEL-Gespräch“ - mit Verteidungsminister Franz Josef Strauß
Vom Volkswagen zum Volkskapitalismus
SPIEGEL-Gespräch mit Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard - zum ersten Mal mit der Abschiedsformel „Wir danken Ihnen für dieses Gespräch“
Gesamtdeutsche Wahlen - warum nicht schon morgen?
Walter Ulbricht, erster Sekretär des SED-Zentralkomitees
„Man hat mich seelisch gelyncht“
Sopranistin Maria Callas
„Wir sind alle Luthers Opfer“
Dramatiker Jean-Paul Sartre
„Ich bin bereit, mit Ostberlin zu verhandeln“
Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt
„Wir hätten auf die Mauer härter reagieren sollen!“
Ex-US-Vizepräsident Richard Nixon
„Alle sind im Grunde reisemüde“
Dirigent Herbert von Karajan

KAPITEL 2

„Für Völkermord gibt es keine Verjährung“
Philosoph Professor Karl Jaspers
„Sagen Sie, wie sich die Welt dreht?“
Bundeskanzler a.D. Konrad Adenauer
„Wen haben wir geteert, gefedert, gelyncht?“
Boxer Muhammad Ali
„Wir fordern die Enteignung Axel Springers“
Studentenführer Rudi Dutschke
Professoren als Staats-Regenten
Philosoph Herbert Marcuse
„Drei Monate sind viel für einen Sterbenden“
Herzchirurg Christiaan Barnard
„Was wir 'Sinn' nennen, wird verschwinden“
Philosoph Max Horkheimer
„Jedes Land muß Konzessionen machen“
Rumäniens Partei- und Staatschef Nicolae Ceauşescu
„Wir sind ein erstklassiger Partner“
Bundeskanzler Helmut Schmidt

KAPITEL 3

„Mit einer Stimme Mehrheit oder weniger“
CDU-Kanzlerkandidat Helmut Kohl
„Moskau hat Vereinbarungen verletzt“
US-Präsident Jimmy Carter
„Das Volk ist nun aufgewacht“
Schiiten-Führer Ajatollah Chomeini
„Rebellion gegen den Geist Ägyptens“
Ägyptens Präsident Anwar el-Sadat
„Versetzen Sie sich mal in unsere Lage ...“
Der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew
„Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt“
Künstler und Anthroposoph Joseph Beuys
„Wie geht's, mein kleiner Zwetschgenröster?“
Filmemacher Billy Wilder
„Man lügt über mich wie über einen Toten“
Schriftsteller Alexander Solschenizyn

KAPITEL 4

„Politiker sollten ihre Worte wägen“
KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow
„Alle gegen Deutschland - nein!“
Großbritanniens Premierministerin Margaret Thatcher
„Weiße haben nichts zu fürchten“
ANC-Chef Nelson Mandela
„Geheimnis des Genscherismus“
Außenminister Hans-Dietrich Genscher
„Habt keine Angst vor uns“
Der ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk
„Erhalte mir das Unglück“
Der Stasi-Beauftragte Joachim Gauck und Theaterregisseur Frank Castorf
„So kann es nicht weitergehen“
Altbundespräsident Richard von Weizsäcker
„Ich bestimme die Richtlinien“
Der designierte Bundeskanzler Gerhard Schröder
Erinnerung kann man nicht befehlen
Martin Walser und Rudolf Augstein

KAPITEL 5

„Dieser Weg musste beendet werden“
Außenminister Joschka Fischer
„Ich bin ein Spieler“
Tennis-Idol Boris Becker
„Die Schizophrenie des Ganzen“
Altkanzler Helmut Schmidt
„Literatur muss Spaß machen“
Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki
„Europa ist Europa ist Europa“
US-Senatorin Hillary Clinton
„Du sollt Gott nahe sein“
Der amerikanische Regisseur Quentin Tarantino
„Ich bin nicht ängstlich“
Die künftige Kanzlerin Angela Merkel
„Wir werden die Dinge richten“
US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld

KAPITEL 6

„Wir sind entschlossen“
Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad
„Ich bin ein echter Demokrat“
Russlands Präsident Wladimir Putin
„Die Schweiz ist eine Mafia“
Der libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi
„Alice, räche uns“
Frauenrechtlerin Alice Schwarzer
„Eine Lüge bleibt eine Lüge“
Syriens Staatschef Baschar al-Assad
„Ohrstöpsel sind unfair“
Lemmy Kilmister, Chef der Heavy-Metal-Band Motörhead
„Und dann stirbste“
Ex-Außenminister Guido Westerwelle
Schaffen wir das?
Schriftsteller Navid Kermani
„Mehr und mehr Spaltungen“
US-Präsident Barack Obama

Anhang

Impressum
Mehr zum SPIEGEL-Jubiläum
Vorwort • Einleitung

Der argumentative Gehalt der Kontroverse: das SPIEGEL-Gespräch

Von Klaus Brinkbäumer
„Wie liquidiert man Stalin?“, das ist die Überschrift des ersten SPIEGEL-Gesprächs. Im Dezember 1956 wurde es geführt, Lothar Ruehl, damals Korrespondent in Paris, befragte Anna Kethly, die Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Ungarns. Das Gespräch hieß allerdings noch nicht so, die Rubrik lautete „Interview“. 
Das erste SPIEGEL-Gespräch, das diesen Namen trug, erschien kurz darauf, in Heft 1/1957, 1100 Zeilen lang. „Ein SPIEGEL-Gespräch mit dem Bundesminister für Verteidigung Franz Josef Strauß“ steht in der Unterzeile. „Auch für ein wiedervereinigtes Deutschland gibt es nur eine einzige potentielle Gefahr“, sagte Strauß, „den Osten.“ Ein Gesprächsfoto fehlte, die fragenden Kollegen blieben anonym. 
Und noch einmal wenige Wochen später, im Februar 1957, findet sich die Formel „Wir danken Ihnen für dieses Gespräch“ zum ersten Mal. Ludwig Erhard, der Wirtschaftsminister, ist das Gegenüber. 
Auch dies ist die Geschichte eines Anfangs. 
1947 wurde der SPIEGEL erfunden, wir haben im Januar 2017 den 70. Geburtstag gefeiert. Nachrichtengeschichten waren wesentlicher Bestandteil der ersten Hefte, auch Reports, also analytische Hintergrundberichte, zählten sofort dazu. Die Titelgeschichte, diese viele Seiten lange und möglichst komplette Durchdringung des hoffentlich relevantesten Themas der Woche, wurde schnell entwickelt und bildet bis heute das Zentrum jedes Heftes. Serien wurden früh konzipiert und sollten einerseits komplexe, oft historische Stoffe erklären, andererseits aus sporadischen Lesern Abonnenten machen. 
Und als die Hefte dann dicker wurden, weil langsam die Anzeigen hinzukamen, und als unsere Vorgänger nach Formenvielfalt suchten, um den SPIEGEL vor der Monotonie zu bewahren, da entdeckten sie in „U.S. News & World Report“ das angelsächsische Interview und importierten diese Textform nach Deutschland. 
Die SPIEGEL-Gespräche, so beschrieb es Rudolf Augstein, „sollten eine Art Gespräch, notfalls Streitgespräch werden, bei dem sich die Meinung des befragten Fachmanns mit der Fachkenntnis des fragenden Journalisten in einer Art scheinbarer Gleichberechtigung begegnen, umeinander ranken, bei dem sie ein Resultat haben“. Mitunter, so erinnerte sich Augstein, hätten die Fachleute enttäuscht, da ihre Fachkenntnis dem „im Schnellverfahren angeeigneten“ Wissen der Fragenden vom SPIEGEL unterlegen gewesen sei. „Natürlich“, so Augstein weiter, „war es niemals Sinn der SPIEGEL-Gespräche, jemanden intellektuell zu besiegen, aber es war auch keine Niederlage, vom Befragten besiegt zu werden auch das ist passiert, zwar nicht oft genug, aber doch zuweilen. Öfter wäre mehr gewesen. 
Zunächst wurde in ungefähr jeder zweiten Ausgabe ein SPIEGEL-Gespräch gedruckt, heute versammeln wir in nahezu jedem Heft mehrere. Ungewohnt sei das journalistische Rollenspiel für das Publikum zunächst gewesen, schrieb der Publizistik-Professor Michael Haller (ein ehemaliger SPIEGEL-Redakteur): „Da sitzen meist zwei Journalisten einer prominenten Persönlichkeit gegenüber, zeigen sich genau informiert, reden wie Experten und können mitunter mit präzisen Gegeninformationen aufwarten. Sie fassen nicht nur nach, sondern bringen in der Pose des stets ungläubigen Skeptikers Einwände und Vorhalte, als hätten sie den Befragten zu examinieren … Zur Informationsvermittlung hinzu trat der argumentative Gehalt der Kontroverse … Diese Strategie geriet in den siebziger Jahren mehr und mehr zu einer Art Turnier-Ritual mit möglichst hohem Unterhaltungswert. 
Gibt es ein Geheimnis? Selbstverständlich. Mehrere. 
Wir unterscheiden heute zwischen Interviews und Gesprächen. Erstere betreffen ein konkretes Thema und sind kürzer, oft aktueller und flüchtiger. Gespräche reichen tiefer, sind umfassend, sollen bleiben. Zur Wahrheit gehört, dass wir manche Gespräche mit Politikern lieber zu Interviews hätten herunterkürzen sollen, da sie sich dann doch eher an der Oberfläche aufhielten oder jedenfalls beim Autorisieren an die Oberfläche gehoben wurden. Liest man die Texte viele Jahre später noch einmal nach, ist ebendies zu spüren: SPIEGEL-Gespräche mit Schriftstellern, Künstlern, auch Sportlern und Konzernchefs, haben oftmals eher einen bleibenden Wert als jene mit Politikern. Fürchten diese die Peinlichkeit eher? Sind lediglich ihre Themen eher vergänglich? 
Die Arbeitsweise, unsere Methode ist immer ähnlich. Der Kollege Walter Busse, der 1970 ein Taschenbuch mit SPIEGEL-Gesprächen herausgab, notierte: „Der Stenograph sitzt dabei, das Tonband läuft. Die Personen, die ein Gespräch mit dem SPIEGEL führen, oder, höflicher gesagt, die eine Bitte der Redaktion um ein solches Gespräch akzeptieren, wissen immer, worauf sie sich einlassen. Oft haben sie sich vorgenommen, was sie sagen wollen, und sie sagen es dann in der ersten halben Stunde, in der ersten Stunde, sie beantworten Fragen, von denen sie möchten, dass sie ihnen gestellt werden sollten – ihre eigenen. Ist das passiert, kann das Gespräch beginnen. 
Und weiter, so Busse: „SPIEGEL-Gespräche sind zuweilen keine diskursive, sondern eine literarische, zumindest journalistische, bestimmt eine redaktionelle Arbeit. Mitunter werden sie hergestellt. Kein Gespräch soll erscheinen, dessen Formulierung der Gesprächspartner nicht zugestimmt hat. Er darf jedes eigene Wort streichen, ändern, darf zufügen. Zuweilen tun das seine Vorgesetzten, zuweilen wird nach dieser Prozedur das Resultat so, dass man, dass jedenfalls der SPIEGEL es nicht mehr drucken möchte. Desgleichen ist passiert, allerdings selten. 
Diese Praxis des Autorisierens ist in der Redaktion umstritten. 
Unstrittig ist, dass kein Gespräch druckbar ist, ohne dass es bearbeitet würde. Selbst der beste Gesprächspartner sagt in zwei, drei Stunden einige redundante Sätze, oder er verspricht sich, oder er sagt „äh“ und „öh“. Unser Ziel ist stets, das Gespräch so wiederzugeben, wie es geführt wurde, aber wir verdichten und korrigieren dann doch, und wir vervollständigen unvollständige Sätze, und manchmal stellen wir auch um: Eine Passage, die da, wo sie steht, keinen Sinn ergibt, an einer anderen Stelle aber einen Gedanken erst zu Ende führt, wandert eben deshalb eben dorthin. 
All dies geschieht, damit ein druckbarer Text entsteht, ein gehaltvoller auch, hoffentlich ein Lesegenuss. Und nach dieser möglichst sanften Bearbeitung legen wir den Text dem Gesprächspartner vor, der mit dem, was aus dem Gesagten in geschriebener Form geworden ist, einverstanden sein möge.   
Umstritten ist diese Praxis deshalb, weil in Deutschland inzwischen allzu viele Pressesprecher und Berater auf jeden Satz ihrer Schutzbefohlenen blicken wollen und erstaunlich viel Angst haben. Sie fürchten sich vor allem Prägnanten, vor Sätzen, die hängen bleiben und Folgen haben, also vor genau jenen Sätzen, auf die wir Journalisten hoffen. 
Das ist in Amerika anders, wo Prominente allerdings auch meist rhetorisch geschult sind. In den USA also gilt das gesprochene Wort, alle Beteiligten wissen das vorher, und beseitigt wird beim Aufschreiben nur das Nötigste: die „Ähs“ und „Öhs“. Ein Vorbild? Unbedingt, es ist sportlicher, aufregender, ein Gewinn für beide Seiten und vor allem für die dritte Seite, die Leser. 
Es gibt SPIEGEL-Gespräche, die für mich als Leser unvergesslich geblieben sind. Leonid Breschnew. Alexander Solschenizyn. Nelson Mandela. Muammar al-Gaddafi. Navid Kermani. Fast alle diese Texte finden sich in diesem Buch, unter vielen anderen. 
Und es gibt SPIEGEL-Gespräche, die jene SPIEGEL-Leute, die dabei sein durften, nicht vergessen: Höhepunkte eines Journalistenlebens. 
 Zusammen mit den Kollegen Stefan Aust und Heiner Schimmöller habe ich Boris Becker befragt, als dieser auf dem Zenit seines sportlichen und, durchaus auch, seines intellektuellen Könnens war; „Ich“ stand dann auf dem Titelbild. Mit Dieter Bednarz saß ich Baschar al-Assad in Damaskus gegenüber, mit Sonia Seymour Mikich in Berlin dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama. Und Dirk Kurbjuweit und ich sprachen mit Guido Westerwelle über sein politisches und sein privates Leben und das Leben mit dem Krebs; und wir sprachen auch über das Sterben, doch das verstanden der Kollege und ich erst wenige Monate später.     
Hamburg, Februar 2017 
KAPITEL 1
Anna Kethly, Lothar Ruehl (sitzend): Die Stimme der Sozialisten des Ostens
Anna Kethly, Lothar Ruehl (sitzend): Die Stimme der Sozialisten des Ostens
SPIEGEL 50/1956

Wie liquidiert man Stalin?

Die politischen Erfahrungen des ungarischen Aufstandes – Ein Interview des SPIEGEL-Korrespondenten Lothar Ruehl mit Anna Kethly, Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Ungarns
Die Vorsitzende der ungarischen Sozialdemokratischen Partei, Anna Kethly, hatte in Brüssel ein Gespräch mit dem Pariser SPIEGEL-Korrespondenten Lothar Ruehl. Frau Kethly ist vielleicht als einzige unter den politischen Führern des ungarischen Aufstandes heute in Freiheit. Sie ist ihrer politischen Herkunft nach Sozialistin. Für ihre demokratische Überzeugung mußte sie lange Jahre in den Gefängnissen des kommunistischen Ungarn büßen. Als Vorsitzende der am 31. Oktober neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei wurde sie auf einer Reise nach Wien von ihrer Heimat abgeschnitten und blieb so im Westen. Sie nutzte ihr unfreiwilliges Exil, indem sie am Sitz der Uno in New York das Schicksal ihrer Landsleute schilderte und vertrat. Als aktive Mit-Führerin des ungarischen Aufstandes erscheint Frau Kethly – und darin liegt das Motiv der nachstehenden Aufzeichnungen – in besonderem Maße kompetent für die Frage, ob es für Ost und West in Osteuropa eine Möglichkeit des friedlichen Ausgleichs gibt. Als Arbeiterführerin betrachtet sie diese Frage, ebenso unübersehbar wie erklärlich, mit einer gewissen Einseitigkeit unter den Aspekten ihrer politischen Überzeugung, zu der nicht nur die Demokratie, sondern auch der Sozialismus gehört.
SPIEGEL: Wie hat der ungarische Volksaufstand begonnen? Ich meine: Was waren die Ursachen, die Triebkräfte? Was war der Anlaß des Ausbruchs?
Kethly: Es ist nicht wahr, daß reaktionäre, konterrevolutionäre oder faschistische Gruppen ein Komplott gegen die ungarische Volksrepublik vorbereitet hätten oder daß der Volksaufstand sich zu einer antisozialistischen Konterrevolution entwickelt hätte.
SPIEGEL: Darf ich ...
Kethly: Die Ursache des Aufstandes war in der Tat die vollkommene Trennung von Regime und Volk, von kommunistischer Partei und Arbeiterschaft. Die Wut im Volk wuchs von Tag zu Tag.
SPIEGEL: Man sollte aber doch denken, daß die Regierung, ich meine das Rakosi-Regime, davon hätte etwas merken müssen?
Kethly: Ja, schon Monate vor dem 23. Oktober warnte ich im Gespräch einen kommunistischen Funktionär vor der Volkswut: „Je länger Sie die Reformen aufschieben, je größer wird die Gefahr einer blutigen Schlächterei.“
SPIEGEL: Und was sagte er dazu?
Kethly: Er sagte mir, daß sie das Netzwerk des Regimes sehr schwer abbauen könnten, weil ... Es gibt beinahe 200 000 kleinere und wichtigere Funktionäre, AVO-Leute und so weiter, die mit ihrer Existenz an das Regime gebunden sind.
SPIEGEL: Dann war es also eine relativ kleine Funktionärskaste, die das Regime zwar hielt, aber letzten Endes auch an einer elastischen Politik hinderte? War es so?
Kethly: Nun ja, es war allerdings für die Kommunisten unvermeidlich geworden, den Anspruch auf Alleinherrschaft aufzugeben. Eine kommunistische Vorherrschaft in einem reformierten, sozialistischen Staat war genauso unmöglich. Tatsächlich war das Beste, was die Kommunisten sich noch erhoffen konnten, eine unblutige Verdrängung von der Macht und die Zulassung zur Mitarbeit in einer demokratisch gewählten Regierung, die die sozialistischen Errungenschaften gewährleistet und den sozialistischen Staat erhalten haben würde.
SPIEGEL: Das war aber wohl für die Funktionäre schwer annehmbar.
Kethly: Doch, es gab manche Kommunisten, vor allem kommunistische Intellektuelle und unter ihnen wieder die Schriftsteller und Dichter in Budapest, die Studenten, aber auch viele kommunistische Arbeiter, die das erkannt und akzeptiert hatten.
SPIEGEL: Immerhin erstaunlich, daß ...
Kethly: Ja, aber die Parteiführung war nicht dazu bereit.
SPIEGEL: Darf ich noch genauer fragen? Es ist ja wichtig zu wissen, wie so ein Funktionärs-Regime im Innern funktioniert, ob es dort eine Art innerparteilicher Demokratie oder nur Kommandos der Parteiführung gibt. War die Mehrheit der Funktionäre am Vorabend der Revolution für oder gegen Konzessionen?
Kethly: Das war so: In der kommunistischen Partei war eine sehr ernste Spaltung zwischen den Anhängern der alten Stalinisten und zwischen denen, die eine neue Linie befürworteten, entstanden. Die Reformwilligen gruppierten sich um Imre Nagy und hofften, daß es ihm möglich sein würde, das Land aus der verzweifelten Lage herauszuführen. Dabei war Rakosi im Wege. Aber er war auch den Stalinisten im Wege, denn mit seinem Namen war für das Volk die Schreckensherrschaft unlösbar verbunden.
SPIEGEL: Mit anderen Worten, es gab also bei den Kommunisten eine Abneigung gegen Rakosi aus Opportunismus. Man wollte den populären Nagy gewinnen. In diesem Zusammenhang eine Frage: Wie kam es, daß Nagy kurz nach Ausbruch der Revolution die Sowjets zur Hilfe rief?
Kethly: Nagy hat die Sowjets niemals zu Hilfe gerufen. Er hatte auch keinen Grund dazu. Er war vom Volk an die Regierung gebracht worden, gegen den Widerstand von Gerö. Schließlich entschied sich selbst die Parteispitze für Nagy und gegen Gerö.
SPIEGEL: Und die Russen?
Kethly: Auch die Russen waren bereit, mit Nagy zu verhandeln, wenigstens taten sie so.
SPIEGEL: Hatte Nagy wirklich die Mehrheit des Volkes hinter sich oder nur die Mehrheit der Kommunisten? Sie verstehen den Sinn der Frage. Der SPIEGEL-Korrespondent in Budapest hatte damals den Eindruck, daß die ungarische Revolution die nationalkommunistische Position Nagys im Zuge des immer heftiger werdenden Voranschreitens überrollen würde.
Kethly: Alle Patrioten sahen in Nagy die einzige Chance, das Schlimmste zu verhüten, und alle Demokraten wußten, daß sie ihn gegen die Gerö-Clique stützen mußten, um ihm dabei zu helfen.
SPIEGEL: Sie – ich meine: die Demokraten – stützten also Nagy, indem sie Forderungen stellten, die aus der kommunistischen Partei nicht zu erwarten waren, die aber auf ihn einwirkten, seine Regierung so lange umzuformen, bis sie eine nationale und demokratische Regierung geworden war?
Kethly: Ja, das konnte nur in einzelnen Schritten erreicht werden und jeder Schritt mußte unter dem Druck der nationalen demokratischen Revolution stehen. Das Volk hatte Nagy an die Regierung gebracht, das Volk allein konnte Nagy an der Regierung halten, das Volk ...
SPIEGEL: Verzeihung, daß ich Sie unterbreche. Um es ganz klar zu haben: Es gab also eine Art von Zusammenspiel zwischen Nagy und den Aufständischen.
Kethly: Ja, das Volk allein konnte ihm Macht und gegenüber den Russen Verhandlungsgewicht schaffen.
SPIEGEL: Und zu diesem Zweck leisteten die Revolutionäre den Russen Widerstand und forderten ihren Abzug und immer neue Zugeständnisse von Nagy?
Kethly: Ja, das war der Grund für die Haltung der Aufständischen in Budapest, die ja in ihrer Mehrheit Sozialisten waren. Der Widerstand des Volkes war unsere einzige Kraft. Das Volk mußte auf der Straße, auf den Barrikaden die Position der Regierung sichern.
SPIEGEL: Was dann freilich von der Regierung und den Revolutionsräten schwer zu kontrollieren war, nicht wahr?
Kethly: Das ist nun einmal so. Die Stärke der Revolution war ihr spontaner und populärer Charakter. Ein organisierter Putsch war ja nicht möglich gewesen. Aber trotzdem war die Revolution diszipliniert, im großen und ganzen. Nur auf halbem Wege konnte sie nicht stehenbleiben. Das Volk wollte seine innere Freiheit und die Unabhängigkeit des Landes. Daran war nichts zu rütteln und nichts einzusparen.
SPIEGEL: Aber hatten Bürgertum und Bauernschaft nicht eine andere Vorstellung von Freiheit als etwa die Sozialisten?
Kethly: Alle unterstützten die Revolution.
SPIEGEL: Unterstützten auch alle den Kommunisten Imre Nagy?
Kethly: Die Mehrheit jedenfalls. Die Leute wollten Land, Brot und Freiheit. Das hatte Nagy versprochen. Dafür war er schon früher eingetreten. Das wollten auch die sozialistischen Arbeiter. Das, was man vielleicht „bürgerlich“ nennen kann, war mit den Arbeitern, und auch die Bauern waren mit den Arbeitern.
SPIEGEL: Zeichneten sich bei den Bürgerlichen und den Bauern Führungskräfte ab? Traten sie hervor? Was forderten sie?
Kethly: Die neuen Parteien, die sich wiederformten, auch die nicht-sozialistischen Parteien und Gruppen waren einig, die sozialistischen Errungenschaften von 1945 oder besser von 1947 anzuerkennen und zu gewährleisten.
SPIEGEL: Nur für den Augenblick, um erst mal anzufangen oder auch ohne Rücksicht auf den Ausgang freier Wahlen, die Nagy versprochen hatte?
Kethly: Die Kommunisten wären in freien Wahlen ohne Zweifel von der Macht verdrängt worden und zu einer Minderheitspartei geworden. Das war allen klar. Aber die Sozialdemokraten waren da und die Partei der kleinen Landwirte, die die Mehrheitspartei gewesen war. Diese Parteien hatten sich eindeutig auf den sozialistischen Staat festgelegt. Die anderen Parteien, die Bauernpartei und die demokratischen und liberalen Gruppen, hatten sich ebenfalls für die Erhaltung der sozialistischen Errungenschaften erklärt, denn ...
SPIEGEL: Aber, entschuldigen Sie, aber...
Kethly: Hören Sie: Allen war klar, daß die Bauern, die nach dem Krieg das Land der Großgrundbesitzer erhalten hatten, nur das Ende der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wollten, nicht aber die Rückkehr der enteigneten Großgrundbesitzer. Der Fürst Esterhazy zum Beispiel, der jetzt nach seiner Freilassung auf seinen Gütern lebt, hatte den Bauern seiner ehemaligen ungarischen Ländereien Hilfssendungen geschickt. Trotz Not und Hunger haben die Bauern das zurückgeschickt und gegen die Einmischung des alten Grundherrn protestiert. Von ihm wollen sie nichts mehr. Dasselbe gilt für die Arbeiter gegenüber den enteigneten Fabrikbesitzern. Die Arbeiterschaft will eine gerechte sozialistische Ordnung in Freiheit und mit Demokratie, aber nicht die Rückkehr der Fabrikanten und Bankiers und der ausländischen Kapitalisten.
SPIEGEL: Da sahen Sie also keine ernsthafte Gegenbewegung gegen den sozialistischen Staat?
Kethly: Niemals. Die Reaktion hat in Ungarn keine Chance, und selbst die bürgerlichen Parteien, die für das Privateigentum und den freien Handel eintreten, respektieren den sozialen Frieden und die sozialen Errungenschaften.
SPIEGEL: Was sind diese, wie Sie sagen, sozialen Errungenschaften außer der Enteignung des Großgrundbesitzes und der Fabriken?
Kethly: Die Verstaatlichung der Fabriken, der Banken und der großen Transportdienste; die Eisenbahnen waren schon vor dem Kriege staatlich. Ja, und die Energieversorgung und natürlich alle Bodenschätze.
SPIEGEL: Wie stand denn der Kardinal Mindszenty dazu? Er wollte doch eine christlich-demokratische Partei gründen?
Kethly: Der Kardinal wollte die christlich-demokratische Partei wiedergründen, die schon nach dem Kriege bestanden hatte, und diese Partei hatte wie die anderen nicht-sozialistischen Parteien die Verstaatlichung und die Landverteilung und die übrigen sozialen Errungenschaften anerkannt. Und das würde sie wie alle anderen auch wieder tun.
SPIEGEL: Welche Rolle spielte der Kardinal überhaupt während der Revolution?
Kethly: Er war unfähig, an der Vorbereitung der Befreiung Ungarns und der Aufrichtung der Demokratie teilzunehmen – und aus gutem Grund: Er war von der Außenwelt abgeschlossen gewesen und konnte die politische Lage nicht korrekt beurteilen.
SPIEGEL: Hat ihn diese Unfähigkeit nicht zu ernsten Irrtümern verführt?
Kethly: Er unterstützte die Revolution und er hat nie vorgehabt, ihr einen reaktionären Charakter zu geben. Er wollte Horthy und die Kapitalisten nicht zurückbringen. Er war loyal.
SPIEGEL: Hat er die Regierung Nagy unterstützt?
Kethly: Als er vor amerikanischen Journalisten in der US-Gesandtschaft sprach, hat er ausdrücklich erklärt, daß er die Regierung Nagy unterstütze.
SPIEGEL: Das war aber doch, nachdem die Regierung Nagy schon am Ende war. Fand dieses Interview in der amerikanischen Gesandtschaft nicht erst statt als die Russen wieder in Budapest einrückten?
Kethly: Ja, aber er hat nie gegen die demokratische Regierung Stellung genommen.
SPIEGEL: Kam die Unterstützung nicht zu spät, um der Regierung Nagy noch Autorität zu verschaffen?
Kethly: Dazu kann ich nichts sagen. Ich war schon nicht mehr in Ungarn. Angeblich hat zwischen Nagy und Mindszenty eine Unterredung stattgefunden, aber ich kann das jetzt nicht genau feststellen.
SPIEGEL: Spiegelte das Zögern Mindszentys sich nicht in der Haltung der Aufständischen wider? Warum legten sie vor dem 31. Oktober trotz der Appelle Nagys die Waffen nicht nieder?
Kethly: Sie wollten und konnten die Waffen nicht niederlegen, solange sie nicht die Gewißheit hatten, daß die Russen abzögen und ein stalinistischer Konterschlag unmöglich war.
SPIEGEL: Das war dann ja auch die Haltung der Sozialdemokraten. Wann traten Sie und Ihre Parteigenossen in die Regierung Nagy ein?
Kethly: Am 31. Oktober, als alle unsere Forderungen erfüllt waren.
SPIEGEL: Und die waren gewesen?
Kethly: Abzug der russischen Truppen aus Ungarn – der, wie es schien, im Gang war. Aufhebung des Ausnahmezustandes und des Belagerungsrechtes – was geschehen war. Verbindliche Zusage freier gleicher geheimer Wahlen – die gegeben war. Wiederzulassung der Sozialdemokratischen Partei – was genehmigt war.
SPIEGEL: Wie kam es dann, daß Nagy, als die Verhandlungen mit den Sowjets über die Räumung Ungarns durch ihre Truppen noch im Gange war, den Warschauer Pakt kündigte, die Neutralität Ungarns verkündete und das Land unter den Schutz der Vereinten Nationen stellte?
Kethly: Das war eine Forderung des ganzen Volkes und auch ein Wunsch Nagys. Es war auch eine Forderung der Sozialdemokraten.
SPIEGEL: Stellten Sie diese Forderung als Bedingung für Ihren Eintritt in die Regierung?
Kethly: Ja, das haben wir getan.
SPIEGEL: Glaubten Sie an die Erfüllbarkeit dieser Bedingung, das heißt, nahmen Sie an, daß die Russen das hinnehmen würden?
Kethly: Wir glaubten an die Ehrlichkeit der russischen Versprechungen, daß Ungarn wie jedes andere Land seinen eigenen Weg zum Sozialismus gehen und unabhängig sein dürfe. Wir rechneten nicht mit dem Eingreifen russischer Truppen, um das ungarische Volk erneut zu unterdrücken.
SPIEGEL: Wie stellten Sie sich die Regelung des internationalen Status Ungarns vor?
Kethly: So wie Österreich, also ohne Bündnis, aber mit Garantie der Großmächte.
KAPITEL 1
Abbildung
SPIEGEL 1/1957

Der große Prügel

Ein SPIEGEL-Gespräch mit dem Bundesminister für Verteidigung Franz Josef Strauß
SPIEGEL: Würden Sie uns, Herr Minister, zuerst einmal in großen Zügen die allgemeinen Grundsätze Ihrer Arbeit im Verteidigungsministerium umreißen?
Strauß: Zunächst: Das zu verteidigende Gebiet ist die Bundesrepublik. Bei ihrer geographischen Situation, bei der gegenwärtigen militärisch-politischen Lage und bei dem Stand der Waffentechnik einschließlich der Entwicklung fernlenkbarer Großkampfwaffen, die sich über weite Entfernungen hin auswirken, müssen wir von der Vorstellung einer spezifisch deutschen Verteidigung, wie sie vielleicht von 1870 bis zum Kriege Hitlers das Denken beherrscht hat, loskommen.
SPIEGEL: Das ist der politische Unterschied der Situation zu früher ...
Strauß: Ja. Ein Blick auf den Globus genügt, um zu sehen, daß, wenn der einzige potentielle Gegner die Sowjet-Union ist Sowjet-Union plus Anhang, obwohl letzteres, Gott sei Dank, fragwürdig geworden ist in den vergangenen Monaten –, daß in diesem Fall von vornherein jede Art des Generalstabspiels von früher wegfällt, wie etwa Aufmarsch gegen Italien, Frankreich, Maßnahmen gegen England, Dänemark. An ihre Stelle ist jetzt nur eine einzige Aufgabe getreten: die Abwehrbereitschaft gegen die Sowjet-Union, gegen einen als solchen festgestellten ernsthaften Angriff Rußlands.
SPIEGEL: Wie will man das Risiko vermeiden, daß die Kampfmittel, mit denen die Bundeswehr und die mit ihr verbündeten Streitkräfte den Gegenschlag führen sollen, bereits durch den ersten überraschenden Atom-Feuerüberfall der Sowjets zerschlagen werden?
Strauß: Ich halte es für ausgeschlossen, daß ein derartiger Überraschungsangriff ohne vorausgegangene politische oder nachrichtendienstliche Warnungen erfolgen kann.
SPIEGEL: Wenn solche Warnungen nun vorliegen, will das alliierte Hauptquartier in Europa auch dann so lange warten, bis die Sowjets die ersten Raketen abfeuern?
Strauß: Ja, was aber nicht heißen soll, daß man nicht mit eigenen Verbänden in der Luft wäre. Was die Russen in der Sowjetzone stehen haben, kann innerhalb von 48 Stunden kriegsbereit gemacht werden. Aber diese 6000 bis 7000 Panzer würden auf sich allein gestellt nicht ausreichen, um damit in Europa den Sieg zu erringen – in Anbetracht der Luftwaffen- und Panzereinheiten, die ihnen gegenüberstehen.
Im übrigen: Bei einem erkannten Großaufmarsch würde man doch nicht mit dem Finger am Drücker sitzen bleiben und abwarten, bis sie kommen. Es würde eine große politische Aktion einsetzen. Man würde keinen Präventivkrieg führen, sondern bis zur letzten Minute versuchen, durch die Uno, durch Erklärungen, durch die Vorbereitung von Gegenmaßnahmen, den Ausbruch des Krieges zu verhindern.
SPIEGEL: Wenn auf unseren Radarschirmen festgestellt wird, sowjetische Fliegerverbände auf Westkurs...
Strauß: Ich muß mich im Falle einer Aggression an die politischen Direktiven halten. Dem militärischen Oberbefehlshaber muß man Spielraum geben, das zu veranlassen, was nötig ist. Es ist unmöglich, die Fülle der Möglichkeiten selbst im Rahmen eines Handbuchs zu erfassen.
SPIEGEL: Würden die eigenen Fliegerverbände schon zu diesem Zeitpunkt starten? Würden sie Atombomben oder Brisanzbomben bei sich haben – wenn noch nicht klar ist, mit welcher Bombensorte die anfliegenden Sowjet-Maschinen ausgerüstet sind . . .
Strauß: No comment.
SPIEGEL: Wer entscheidet in letzter Instanz, ob es sich um eine Aggression im Weltmaßstab handelt, die den atomaren Vergeltungsschlag auslöst, oder um eine lokale Angelegenheit?
Strauß: Der Rechtslage nach der Atlantikrat, de facto die Vereinigten Staaten, beraten vom Nato-Oberbefehlshaber. Bei einem Angriff über unsere Grenze würde auch die deutsche Lagebeurteilung naturgemäß von Einfluß sein. Wenn sich die USA angegriffen fühlen, sind sie zu einem schnellen Gegenschlag auch ohne Zustimmung des Nato-Rats berechtigt. Aber darüber können Sie 10 000 Fragen stellen, und es kann passieren, daß keine einzige den vielleicht einmal eintretenden Fall trifft. Es besteht jedoch kein Grund zur Beunruhigung, weil die Tendenz in den USA ausgesprochen dahin geht, mit der Auslösung des Gegenschlages bis zum letztmöglichen Risiko zu warten.
SPIEGEL: In diesem Zusammenhang ein kurzes Wort zur Umrüstung, Herr Minister. Was versteht man unter diesem Schlagwort?
Strauß: Das Schlagwort ist mißverstanden worden und auch mißverständlich gebraucht worden. Der Radford-Plan* enthielt ursprünglich nicht die atomare Umrüstung, sondern die Verstärkung des Abschreckungsgedankens, und zwar in der Form, daß man die eigenen Flugplätze und Raketenabschußbasen so zurückgezogen und zerstreut anlegen wollte, daß sie vom Gegner nicht durch einen Feuerüberfall zermalmt werden könnten. Außerdem: Radford wollte so viele Vergeltungswaffen anhäufen, daß der Angreifer buchstäblich untergehen würde, wie Großstädte im Bombenteppich untergegangen sind.
SPIEGEL: Und wie ist es mit dem Schutz gegen lokale Übergriffe?
Strauß: Dies auch – aber das wichtigste Ziel, politisch und militärisch, ist die Verhinderung des general war, des totalen Atomkrieges. Die Planung, die wir zu machen haben, hat in erster Linie Abwehr für den Fall des general war zu sein, wobei die übrigen möglichen Fälle, abgestuft nach unten bis zum harmlosen Grenzzwischenfall, nicht vergessen werden dürfen. Ich habe kürzlich schon von der einschränkenden Auslegung des Begriffes der Aggression gesprochen. Man schlägt nicht mit einem großen Prügel zurück, wenn man eine Fliege vertreiben will. Man schlägt nicht das Geschirr auf dem Tisch kaputt, um eine Wespe zu verjagen.
SPIEGEL: Dürfen wir direkt fragen: Der erklärte Zweck des Atlantikpaktes, also auch der Bundeswehr, ist doch, durch Abschreckung einen Krieg zu verhüten. Bedeutet dies nicht, daß man, wenn ein Konflikt da ist, bemüht sein müßte, ihn zu lokalisieren?
Strauß: Unser Fall ist der Gegner aus dem Osten in verschiedenen möglichen Abstufungen. Hier beginnt aber das Eigenartige, um nicht zu sagen das Paradoxe: Damit die Auslösung des general war verhindert wird, ist ein aktives Abwehrsystem von einer solchen Stärke und Widerstandsfähigkeit vonnöten, daß ein Befehl zur Auslösung bei kühler Überlegung und Abschätzung der Chance nicht gegeben wird. Schon in der Bibel ist die Rede von dem König, der mit 10 000 Mann gegen 20 000 zieht, das heißt, der es sich überlegt, bevor er losschlägt, und es dann eben nicht tut.
SPIEGEL: Also Abschreckung durch Existenz der Abwehrmittel. Aber es gibt noch eine andere Gefahr: Torschlußpanik. Sie ist doch heute denkbar, nicht gerade bei Amerika ...
Strauß: Bei den USA ist das völlig ausgeschlossen.
SPIEGEL: ... bei den Russen haben wir es bisher auch nicht für möglich gehalten. Aber es scheint jetzt immerhin vorstellbar ...
Strauß: Das ist wichtig, weil auf unserer Seite zwar nicht mit der Wahrscheinlichkeit, kaum mit der Möglichkeit, aber nicht mit der hundertprozentigen Ausgeschlossenheit eines russischen Kurzschlusses gerechnet wird.
SPIEGEL: Kaum mit der Möglichkeit – das ist wohl der richtige Ausdruck?
Strauß: Man darf bei Verteidigungsüberlegungen aber nicht von Hypothesen ausgehen. Es nutzt nicht viel, hinterher zu sagen: Wir haben uns getäuscht. Das Verteidigungssystem muß eine so große Schlagkraft vorsehen, daß man allen nur erdenklichen Möglichkeiten begegnen kann. Deutschland allein wird kein Objekt des general war sein. Wenn Deutschland alleiniger Gegner wäre, brauchte es nicht unbedingt zum general war zu kommen.
SPIEGEL: Würde Amerika nicht immer angegriffen sein, wenn Deutschland angegriffen wird?
Strauß: Dafür liegen keine Anhaltspunkte vor. Das muß ich der Einsicht derer überlassen, die sich an die politische Wunschidee halten.
SPIEGEL: Ist das nicht militärischer Kalkül, der mit Politik nichts zu tun hat?
Strauß: Sie geben sich doch damit in das diskreditionäre Ermessen des Protektoratsherrn, der den Schutzbefohlenen so lange schützt, wie es ihm in sein Konzept paßt: Mit der Feststellung allein: „Sie können uns nicht aufgeben“ wird noch kein Fact geschaffen. Eigene Anstrengungen gehören dazu. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen ...
SPIEGEL: Soweit ja.
Strauß: Man ist geneigt, damit zu rechnen, daß der andere uns schützen wird, weil er von seiner bisherigen Politik ohne groben Wortbruch und ohne empfindliche Prestigeeinbuße nicht abweichen kann. Aber es könnte sein, daß, rein militärisch gesehen, Europa für die Amerikaner uninteressanter wird. Die Hauptkampfwege für Fernkampfwaffen zwischen den USA und der Sowjet-Union brauchen nicht mehr über Europa zu gehen.
SPIEGEL: Wir möchten nun auf ein Thema zu sprechen kommen, das von Ihnen selber vor einigen Monaten aufgeworfen wurde: Gesamtverteidigungsplan! Was verstehen Sie darunter? Wer plant die Gesamtverteidigung?
Strauß: Die Gesamtverteidigung nach der NATO-Theorie von Schwert und Schild – das Schwert, das abschreckende Wirkung ausüben soll, der Schild, der verhindern soll, daß die Basis des Schwertes vom Gegner erreicht wird – kann nur von einem integrierten Stab geplant werden, der im Alarmfall über integrierte Truppen zu Lande, zur See und in der Luft verfügen kann. Diese Pläne liegen schon seit Jahren vor. In diese globale Planung en detail sind nur sehr wenige eingeweiht, da sie die höchste Geheimstufe hat. Ich gehöre noch nicht dazu.
SPIEGEL: Sie sind noch nicht überprüft?
Strauß: Ja, so etwa. Und in diese Nato-Planung muß jetzt eine nationale Verteidigungsplanung eingebaut werden.
SPIEGEL: Wer ist dafür zuständig?
Strauß: Sie müssen dreierlei unterscheiden:
▷ Die mobilen oder operativen Verbände – die berühmten zwölf Divisionen, die taktische Luftwaffe, strategische haben wir nicht, und die Marine – unterstehen der Nato.
▷ Es unterstehen nicht der Nato die Bodenständige Landverteidigung und die mit dem Radarsystem arbeitende Boden-Luftabwehr. Für beide gilt aber die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit mit der Nato.
▷ Über den Bevölkerungsschutz kann ich keine genauen Angaben machen. Da ist der Bundesinnenminister federführend.
SPIEGEL: Wenn so militärische und zivile Verteidigung getrennt sind – wie will man da zu einem Gesamtverteidigungsplan kommen?
Strauß: Es ist möglich, daß in diesem Hause, im Verteidigungsministerium, die Federführung für die Gesamtverteidigung liegt, daß aber die Abgrenzung der Dinge, die die einzelnen Ministerien zu erledigen haben – auf Grund der hier gemachten Planung –, durch den Bundesverteidigungsrat erfolgt. Und daß die einzelnen Ministerien dann die ihnen obliegenden Aufgaben erfüllen.
SPIEGEL: Das ist die Lösung, die Sie befürworten?
Strauß: Das ist die Lösung, die ich jetzt vorschlagen werde. Andernfalls ergäbe sich die für unsere Verfassung und für die zivilen Notwendigkeiten unerträgliche Situation, daß praktisch die Militärs überall ein indirektes Anordnungs- oder Vetorecht haben. Wenn man den Begriff der Landesverteidigung umfassend auslegt, wie es leider notwendig ist, bekämen wir sonst, solange wir Grenzland neben dem Sowjet-Block und der Roten Armee sind, ein System der totalen militärischen Führung, das ich für unerträglich halte.
SPIEGEL: Sie nannten drei Organisationsformen der Landesverteidigung:
▷ Mobile Streitkräfte,
▷ Bodenständige Landverteidigung und Boden-Luftabwehr und
▷ zivilen Bevölkerungsschutz.
Welchen Personalbestand sollen die mobilen Streitkräfte – Heer, Luftwaffe, Marine – in der Endplanung haben?
Strauß: Ich bitte, meine Antwort richtig aufzufassen: So viel, daß sie an Kampfwert dem entsprechen, was unter der Planung von 500 000 Mann und zwölf Divisionen für Deutschland im Rahmen der Nato-Planung immer vorgesehen war.
SPIEGEL: Also eventuell eine geringere Personalstärke, als früher geplant, nach dem alten Erfahrungssatz: Moderne Waffen erhöhen den Kampfwert?
Strauß: Das unterliegt der technischen Entwicklung.
SPIEGEL: Zur allgemeinen Wehrpflicht: Gibt es dafür vertragliche Vorschriften?
Strauß: Die Wehrpflicht ergibt sich aus dem Sinn des Nato-Bündnisses und der Parität der Pflichten.
SPIEGEL: Und die Dauer der Wehrpflicht?
Strauß: Der Rechtslage nach könnten wir auch eine sechsmonatige Wehrpflicht einführen. Mit derselben Loyalität, die wir von unseren Bundesgenossen verlangen, müssen auch wir unsere Verpflichtungen erfüllen. Dazu gehört, auch wenn es nicht schwarz auf weiß geschrieben steht, nun einmal die Wehrpflicht, wenn auch nach meinen Vorstellungen in den verschiedenen Formen der Bundesverteidigungspflicht.
SPIEGEL: Aber nach dem Wortlaut der Pariser Verträge wäre es nicht erforderlich, die Wehrpflicht einzuführen?
Strauß: Wenn Sie den Artikel 5 des Nato-Vertrages wörtlich nehmen, könnten Sie auch sagen: Wir stellen nur Sanitätstruppen oder liefern Gesangbücher für Feldgottesdienste. Gemäß Artikel 5 sind die Hilfeleistungen nämlich in das freie Ermessen der Teilnehmerstaaten gestellt.
SPIEGEL: Wenn es hier losgeht, brauchten die Amerikaner auch nur Gesangbücher zu schicken?
Strauß: Es gibt ungeschriebene Vertragsbedingungen, deren Verletzung politische Folgen nach sich ziehen würde.
SPIEGEL: Liegen noch nicht so viele Freiwilligenmeldungen vor, daß die ersten Zwischenziele für den Aufbau der Bundeswehr ausschließlich mit Freiwilligen erreicht werden könnten? Oder gibt es andere Gründe dafür, daß bereits am 1. April 10 000 Wehrpflichtige einberufen werden sollen?
Strauß: Wir haben rund 250 000 Bewerbungen, darunter 175 000 ehemalige Soldaten, vom Unteroffizier an aufwärts, im Alter von 30 bis 60 Jahren. Der Rest sind ungediente Freiwillige. Ich kann Ihnen aber folgende Gründe dafür nennen, daß die Wehrpflicht baldmöglichst effektuiert wird: Wir müssen das Bewußtsein wecken, daß keine Fremdenlegion, sondern ein Landesverteidigungssystem geschaffen wird. Auch die SPD wird daran eines Tages nicht vorbeikommen. Andernfalls kriegen wir eine Uno-Polizeitruppe, die man nach Ägypten oder sonstwohin schicken kann. Außerdem darf der einzelne Bürger nicht den Eindruck bekommen, er käme mit einer Art Kopfgebühr frei, für die Söldner gedungen werden, die für ihn die Landesverteidigung ausüben. Wir müssen eine gesunde Mischung zwischen Wehrpflichtigen und Berufssoldaten anstreben.
SPIEGEL: In welchem Verhältnis?
Strauß: Das Zahlenverhältnis zwischen den Wehrpflichtigen auf der einen Seite und den Berufssoldaten und Längerdienenden auf der anderen Seite wird beim Heer eins zu eins – genauer 45 zu 55 Prozent sein.
SPIEGEL: Wieviel Wehrpflichtige werden jährlich einberufen werden?
Strauß: Wir wollen alles erfassen, aber im Rahmen dessen, was ich die Bundesverteidigungspflicht genannt habe, und zwar je nach dem Grad der Tauglichkeit in den verschiedenen Funktionen.
SPIEGEL: Wird die Zahl der Wehrpflichtigen, die jährlich einberufen werden, nicht hinter der Gesamtzahl aller tauglichen Wehrpflichtigen des betreffenden Jahrganges zurückbleiben?
Strauß: Für die Gesamtverteidigung: nein.
SPIEGEL: Und wie werden die Wehrpflichtigen auf den Gesamtrahmen der Landesverteidigung verteilt?
Strauß: Wenn Sie sich vorstellen, daß von 100 Prozent der Wehrpflichtigen etwa 60 Prozent volltauglich sind und wenn Sie diese 60 Prozent unterteilen in tauglich 1, 2 und 3, könnte man unter Berücksichtigung aller individuellen Faktoren dazu kommen, daß die Leute der Tauglichkeitsstufe 1 bei den mobilen Streitkräften zu verwenden sind, die des 2. und 3. Tauglichkeitsgrades bei der Bodenständigen Landverteidigung und bei der Boden-Luftabwehr, und daß man die anderen, die nur tauglich 4 sind, im Katastrophenschutz ausbildet. Das sind dann wohl keine Soldaten, aber diese Ausbildung würde der Erfüllung der Wehrpflicht gleichgestellt; das müßte noch festgelegt werden.
SPIEGEL: Würden Sie für den Fall, daß die jetzige Regierungskoalition auch die nächste Bundestagswahl gewinnt, dafür plädieren, daß der Bundestag den Grundwehrdienst auf achtzehn Monate festlegt?
Strauß: Nein, von mir aus verbindlich: nein. Ich kann ehrenwörtlich versichern, daß die Behauptung falsch ist, wir seien nur für Wahlkampfzwecke mit der Wehrdienstzeit heruntergegangen, mit dem Dolus, hernach gehen wir wieder auf achtzehn Monate herauf.
SPIEGEL: Welche militärischen Gründe veranlassen Sie, an der einjährigen Dienstzeit festzuhalten, die von dem Militärexperten Ihrer Fraktion im Bundestag, Herrn Berendsen, als „organisierter Massenmord“ bezeichnet wurde?
Strauß: Es wäre übertrieben, wenn man sagen wollte, zwölf Monate gewährleisteten eine perfekte militärische Ausbildung. Aber ich bin mit acht Wochen Ausbildung ins Feld gezogen...
SPIEGEL: ... und trotzdem heil zurückgekommen?
Strauß: Ich habe es allerdings nicht sehr weit gebracht dabei. Das hängt ab von der Funktion und den individuellen Fähigkeiten. Doch wenn man jetzt den Betrieb auf unseren Unteroffizier- und Offizierschulen verfolgt und sieht, mit welch unwahrscheinlicher Schnelligkeit sich die Leute das Können ihrer Ausbilder angeeignet haben, die zehn oder noch mehr Dienstjahre auf dem Buckel haben, dann erhält die Angelegenheit ein anderes Gesicht.
SPIEGEL: Werden diejenigen, die für diesen Wehrdienst nicht in Frage kommen, beispielsweise als Luftschutzwarte ausgebildet?
Strauß: Wenn sie körperlich tauglich sind, das Amt auszufüllen. Wenn einer völlig untauglich ist, scheidet er ganz aus. Aber der Tauglichkeitsgrad 4 käme für den zivilen Bevölkerungsschutz in Frage.
SPIEGEL: Ist auch ein Arbeitsdienst im Rahmen der zivilen Bundesdienstpflicht vorgesehen?
Strauß: