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Bertelsmann Stiftung,
Institut für Schulentwicklungsforschung der
Technischen Universität Dortmund,
Institut für Erziehungswissenschaft der
Friedrich-Schiller-Universität Jena (Hrsg.)

Chancenspiegel –
eine Zwischenbilanz

Zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit
der deutschen Schulsysteme seit 2002

Autorinnen und Autoren:
Nils Berkemeyer
Wilfried Bos
Björn Hermstein
Sonja Abendroth
Ina Semper

Unter Mitarbeit von:
Michael Kanders

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Der Inhalt dieser Publikation ist unter folgender Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht:

© 2017 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Vorwort

I   Rahmenkonzept

1.Einleitung

2.Aspekte einer Theorie der Schulsystementwicklung

2.1Gesellschaftliche Entwicklung durch Modernisierung

2.2Die Entwicklung des Schulsystems im Spiegel der integrativen Theorie moderner Gesellschaften

3.Gerechtigkeitstheorien als reflexive Orientierungen im Ideenwettbewerb moderner Gesellschaften

4.Gerechtigkeitsdimensionen und Indikatorentableau des Chancenspiegels

5.Methode und Darstellung

II  Der Wandel der deutschen Schulsysteme seit 2002

6.Die deutschen Schulsysteme im Spiegel von Gerechtigkeitsdimensionen schulischer Bildung – Veränderungsbeschreibungen anhand zentraler Indikatoren

6.1Zur Veränderung von Schulangebotsstrukturen

6.2Zur Integrationskraft der deutschen Schulsysteme

6.3Zur Durchlässigkeit der deutschen Schulsysteme

6.4Zur Kompetenzförderung der deutschen Schulsysteme

6.5Zur Zertifikatsvergabe der deutschen Schulsysteme

6.6Zusammenfassung

III Die Schulsysteme der Länder im Fokus – Länderporträts

7.Einleitung

7.1Baden-Württemberg

7.2Bayern

7.3Berlin

7.4Brandenburg

7.5Bremen

7.6Hamburg

7.7Hessen

7.8Mecklenburg-Vorpommern

7.9Niedersachsen

7.10Nordrhein-Westfalen

7.11Rheinland-Pfalz

7.12Saarland

7.13Sachsen

7.14Sachsen-Anhalt

7.15Schleswig-Holstein

7.16Thüringen

IV Vertiefende Analyse zur Schulsystementwicklung und Diskussion ihrer indikatorenbasierten Beobachtbarkeit

8.Hinweise auf die Bedeutung institutionellen Wandels für die Chancengerechtigkeit von Schulsystemen: Ausgewählte Fallanalysen zum schulrechtlichen Wandel am Beispiel der sonderpädagogischen Förderung

9.Herausforderungen für das Schulsystemmonitoring des Chancenspiegels – oder: Die konzeptionell-methodische Selbsterneuerung in Zeiten des modernisierenden Wandels von Schulsystemen

V  Fazit und Ausblick: Der Wandel der deutschen Schulsysteme – zwischen dynamischer Reform und schleichender Modernisierung

VI Anhang

1.Glossar

2.Literatur

3.Tabellenverzeichnis

4.Abbildungsverzeichnis

5.Die Autorinnen und Autoren

6.Abstract

Vorwort

Chancen sind gestiegen, Risiken bleiben

Der Chancenspiegel 2017 zieht gut 15 Jahre nach dem PISA-Schock eine grundsätzlich positive Bilanz: Die Reformen der letzten Jahre zeigen Wirkung. Der Umbau von der Halbtags- zur Ganztagsschule und die Abkehr von stark trennenden Schulsystemen gehen einher mit weniger Schulabbrechern, höherer Durchlässigkeit und mehr Abiturienten. Bundesweit beobachtet der Chancenspiegel bei Ganztagsausbau, Inklusion und Schulabschlüssen einen stetigen Aufwärtstrend. Ging im Schuljahr 2002/03 nur jeder zehnte Schüler ganztags zur Schule, tut dies heute jeder dritte. 2002/03 besuchte lediglich jedes achte Förderkind eine reguläre Schule, heute gilt das für ein Drittel aller Förderkinder. Und während im Jahr 2002 nur 38,2 Prozent der Schulabgänger das Recht auf ein Hochschulstudium erwarben, gelingt dies heute 52,2 Prozent. Gleichzeitig sank der Anteil der Schulabbrecher von 9,2 auf 5,8 Prozent.

Verantwortlich für diese positiven Trends sind auch Veränderungen in der Schulpolitik. Angestoßen vom Investitionsprogramm der damaligen Bundesregierung, treiben die Bundesländer seit 2002 den Ausbau der Ganztagsschule voran. Seit der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 fördern alle Bundesländer das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Handicap. Zudem machen viele Länder ihre Schulsysteme durchlässiger: In fünf Bundesländern ermöglichen inzwischen mehr als 85 Prozent der Klassen an allgemeinbildenden Schulen den direkten Weg zum Abitur oder Fachabitur.

Die Chancen benachteiligter Schüler haben sich ebenfalls verbessert, bleiben aber die große Herausforderung für die Schulpolitik. Dies gilt vor allem für den Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft. Trotz leichter Verbesserungen liegen Neuntklässler aus sozioökonomisch schwächeren Milieus mit ihrer Lesekompetenz immer noch mehr als zwei Schuljahre hinter ihren Klassenkameraden aus privilegierten Milieus zurück. Für ausländische Schüler war das Risiko eines Schulabbruchs ebenso wie für deutsche Schüler lange Zeit gesunken, doch seit 2011 haben sich die Entwicklungen entkoppelt: Während der Anteil der deutschen Schüler ohne Abschluss weiter abgenommen hat, ist der der ausländischen Schüler wieder leicht auf 12,9 Prozent gestiegen. Das ist ein Warnsignal.

Es ist eine große Herausforderung, Jugendlichen zumindest einen Hauptschulabschluss zu ermöglichen, gerade wenn sie beispielsweise als Flüchtlinge erst spät ins deutsche Schulsystem einsteigen. Schüler mit Handicap sind mittlerweile besser integriert als im vergangenen Jahrzehnt: Immer mehr besuchen eine reguläre Schule. Aber die Zahl der Schüler mit Förderbedarf steigt stetig. Daher werden heute anteilig fast noch genauso viele Kinder wie im Schuljahr 2002/03 separat unterrichtet. Damals gingen 4,8 Prozent aller Schüler auf eine Förderschule, heute sind es 4,6 Prozent. Die Inklusion steigt – die Exklusion geht jedoch kaum zurück. Auch das ist ein Warnsignal und macht deutlich, dass die Zusammenführung von Regel- und Förderschulsystem noch nicht vollzogen ist.

Der Chancenspiegel attestiert allen Bundesländern, ihre Schulsysteme insgesamt leistungsstärker und chancengerechter gemacht zu haben – wenn auch auf unterschiedlichem Niveau und mit unterschiedlichen Schwachstellen. Obwohl durch die heutige Vielfalt in den Klassenzimmern die Herausforderungen an Schule deutlich gestiegen sind, geht der Fahrstuhl in allen Bundesländern nach oben.

Allerdings trüben die großen Unterschiede zwischen den Bundesländern das positive Bild. So schwankt der Anteil der Ganztagsschüler zwischen fast 80 Prozent in Sachsen und 15 Prozent in Bayern. In Bremen besuchen 1,5 Prozent der Schüler eine Förderschule, in Mecklenburg-Vorpommern fast sieben Prozent. Die Aussicht auf ein Ticket fürs Studium reicht von gut 62 Prozent in Hamburg bis 38 Prozent in Sachsen-Anhalt. Und in Brandenburg bleiben nur knapp vier Prozent der ausländischen Schüler ohne Abschluss, in Sachsen hingegen 27 Prozent. Beim Kompetenzerwerb in der neunten Klasse klafft ein Unterschied von mehr als drei Lernjahren zwischen Bremen und Sachsen. Ein öffentliches Schulsystem muss für vergleichbare Chancen sorgen – die im Chancenspiegel ausgewiesenen Disparitäten zeigen, dass das nicht der Fall ist.

Ein weiterer Wermutstropfen in der Zwischenbilanz: Wenn die Reformen im bisherigen Tempo weitergingen, würde es noch mindestens drei Jahrzehnte dauern, bis alle Kinder in Deutschland einen Ganztagsschulplatz erhielten. Auch der Ausbau der Inklusion geht zu langsam voran. Wenn das Reformtempo also quantitativ und qualitativ nicht anzieht, wird es keine weiteren Fortschritte für die Chancen aller Schüler in Deutschland geben. Bund und Länder müssen deshalb mehr in die Schulsysteme investieren und gemeinsame Qualitätsstandards für ganztägige und inklusive Schulen vereinbaren. Ein Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz kann dabei helfen, eine neue Dynamik auszulösen. Denn für ein chancengerechtes Schulsystem ist noch einiges zu tun.

Mit dem vorliegenden Bericht findet der Chancenspiegel als gemeinsames Projekt der Bertelsmann Stiftung, des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Technischen Universität Dortmund und des Instituts für Erziehungswissenschaft (IfE) der Friedrich-Schiller-Universität Jena nach sieben Jahren einen Abschluss. Der Chancenspiegel hat als ergänzendes Instrument der Bildungsberichterstattung in dieser Zeit große Aufmerksamkeit in der allgemeinen Öffentlichkeit gefunden und die Debatte um ein chancengerechtes Schulsystem in der Fachöffentlichkeit bereichert. Und er hat das abstrakte Konzept von Chancengerechtigkeit konkretisiert, messbar und zwischen den Bundesländern vergleichbar gemacht. Die Datenlage hat sich allerdings in den vergangenen Jahren nicht wesentlich verbessert: Kompetenzvergleiche zwischen den Bundesländern in einzelnen Domänen sind beispielsweise nur alle fünf Jahre möglich. Auch erfordern die Veränderungen in der Schulstruktur der letzten Jahre einen neuen Blick auf die Chancendimensionen wie etwa die Durchlässigkeit der Schulsysteme.

Wir danken den Professoren Wilfried Bos und Nils Berkemeyer und ihren Teams dafür, dass sie mit dem Chancenspiegel Maßstäbe für das Bildungsmonitoring in Deutschland gesetzt haben. Wir danken auch den Beiräten, die den Chancenspiegel in den letzten Jahren als kritische Freunde begleitet haben, namentlich Dr. Vera Husfeld und den Professoren Rolf Becker, Thomas Rauschenbach, Knut Schwippert, Isabell van Ackeren, Horst Weishaupt und Lothar Wigger. Wir sind sicher, dass die am Chancenspiegel beteiligten Forscherinnen und Forscher, mit denen wir in den vergangenen Jahren zusammenarbeiten durften, die Leistungsfähigkeit und Gerechtigkeit der Schulsysteme auch weiterhin mit Herzblut und wissenschaftlichem Engagement untersuchen werden.

Die Bertelsmann Stiftung wird ihre Arbeit für bessere Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen im Bildungs- und Schulsystem in Deutschland fortsetzen. Es bleibt zu hoffen, dass auch der Reformehrgeiz der Schulpolitiker im Interesse der Kinder und Jugendlichen in unserem Land nicht nachlässt. Denn wir sind überzeugt, dass Lernchancen Lebenschancen sind, die den Einsatz aller erfordern, die in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft Verantwortung tragen.

Dr. Jörg Dräger

Ulrich Kober

Dr. Nicole Hollenbach-Biele

Mitglied des Vorstands

Director

Senior Expert

Bertelsmann Stiftung

»Integration und Bildung«
Bertelsmann Stiftung

»Integration und Bildung«
Bertelsmann Stiftung

I   Rahmenkonzept

1. Einleitung

Als im Jahr 2012 der erste Chancenspiegel (Berkemeyer, Bos und Manitius 2012) als gemeinsames Projekt der Bertelsmann Stiftung, des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Technischen Universität Dortmund und später dann des Instituts für Erziehungswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena erschien, haben wir definiert, dass es darin fast ausschließlich (von den Übergängen in die berufsbildenden Systeme abgesehen) um die Schulsysteme der Bundesländer geht und wir untersuchen wollen, »was sie in Bezug auf Chancengerechtigkeit zu leisten vermögen« (ebd.: 5). Diese Festlegung auf die Leistungsfähigkeit des gesellschaftlichen Teilsystems und damit eine funktional orientierte Betrachtung der Schule hat sich bewährt und ist für den hier vorgelegten Chancenspiegel ein außerordentlicher Gewinn, wie sich nachfolgend zeigen wird (vgl. insbesondere Kap. 2.1 und 2.2). Denn diese Fokussierung erlaubt, die in diesem Chancenspiegel angestrebte Zwischenbilanz der Entwicklung der bundesdeutschen Schulsysteme nach PISA in eine Theorie gesellschaftstheoretisch fundierter Schulsystementwicklung einzubetten, die wir auch als ökologische Theorie der Schulsystementwicklung bezeichnen können (Berkemeyer et al. 2014). Wenngleich hier nicht der Ort ist, diese Theorie in Gänze zu entfalten, sollen doch einige zentrale Eckpunkte skizziert werden, um zu zeigen, wie die wesentlichen Fragen des Chancenspiegels im Lichte dieser Theorie beantwortet werden können.

Die hier vorgelegte Zwischenbilanz der Entwicklung der bundesdeutschen Schulsysteme nach PISA basiert auf den bewährten Indikatoren des Chancenspiegels, die nun, soweit möglich, vollständig für die Schuljahre 2002/03 bis 2014/15 aufbereitet worden sind. In bekannter Weise werden diese empirischen Indikatoren in den vier Gerechtigkeitsdimensionen (Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzerwerb, Zertifikatsvergabe) der bundesdeutschen Schulsysteme zusammengefasst und in Bezug auf die obere und untere Gruppe kontrastiv gegenübergestellt und analysiert. Mit der hier vorgenommenen Beobachtung über Zeitreihendaten rückt die Frage nach Entwicklungen in den bundesdeutschen Schulsystemen in den Vordergrund und damit zwangsläufig auch die Frage nach Ursachen für diese Entwicklungen. Auch wenn wir im Chancenspiegel sicher noch keine Kausalanalysen anbieten können, sollen doch – und darum brauchen wir eine plausible Theorie der Schulsystementwicklung – potenzielle Gründe diskutiert werden. Hierzu legen wir konkrete Teilanalysen zu möglichen erklärenden Gründen in einem eigenen Kapitel (vgl. Kap. 8) vor.

Zunächst stellen wir nachfolgend die theoretischen und methodischen Grundlagen des Chancenspiegels dar. Im Rahmen der theoretischen Überlegungen gehen wir auf die Frage sozialen Wandels, also der Entwicklung von Gesellschaft und ihren Teilsystemen ein und legen nochmals die gerechtigkeitstheoretischen Prämissen dar. Im Methodenteil erläutern wir die Grundlagen der analytischen Aufbereitung der Zeitreihendaten, die bekannten Gruppendarstellungen und weitere Details, wie beispielsweise Berechnungsgrundlagen, die für das Verständnis der hier präsentierten Daten notwendig sind.

Im Ergebnisteil stellen wir zuerst die bundesdeutschen Entwicklungen seit dem Schuljahr 2002/03 dar. Dies erfolgt entlang der bekannten Darstellung in Ländergruppen. Diese ermöglicht nicht nur Aussagen über Entwicklungstrends, sondern auch zu schauen, ob die Disparitäten zwischen den Bundesländern ab- oder zunehmen. Hieran schließen sich die »Länderporträts« an, mit denen die Entwicklungen mitsamt einigen gerechtigkeitstheoretisch informierten Einschätzungen zur Zwischenbilanz des landesspezifischen Modernisierungsprozesses ausführlich für die jeweiligen Bundesländer dargestellt werden. Den Länderporträts folgen vertiefende Analysen zur Bedeutung schulrechtlichen Wandels, zu Pfaden des Schulsystemwandels sowie einige Diskussionspunkte hinsichtlich der weiteren Aussichten eines indikatorenbasierten Schulsystemmonitorings vor dem Hintergrund institutioneller (und auch datenbezogener) Differenzen der Untersuchungsgegenstände. Den Schluss bilden das Fazit und der Ausblick.

2. Aspekte einer Theorie der Schulsystementwicklung

Wenn es in dieser Ausgabe des Chancenspiegels ganz wesentlich um die Entwicklungen der letzten gut 15 Jahre im Schulsystem geht, stellt sich automatisch die Frage, wie solche Entwicklungen und Veränderungen, aber auch Stagnationen und Stabilitäten zu deuten und zu erklären sind. Erklärungsmodelle für Entwicklungen im Schulsystem sind nicht leicht zu finden und überhaupt scheint die Frage nach der Entwicklung des Schulsystems als Ganzes an sich schon fragwürdig – nicht nur, weil es 16 Schulsysteme sind und Entwicklungen möglicherweise jeweils unterschiedlich zu erklären sind, sondern auch, weil wir es insgesamt mit einer erheblichen Komplexität innerhalb eines jeden singulären Systems zu tun haben. Entsprechend werden zumeist Ausschnitte spezifischer Entwicklungen betrachtet und nach bekannten Mustern analysiert und interpretiert.

So ist es beispielsweise auffällig, dass im »Lehrbuch der Bildungssoziologie« von Becker (2009) das Themengebiet Entwicklung, Veränderung, sozialer Wandel, Evolution etc. kaum Beachtung findet, mit Ausnahme eines Beitrags von Below (2009), in dem immerhin auf gut einer Seite mit dem Neo-Institutionalismus ein Erklärungsansatz angeboten wird. Im »Handbuch Bildungsforschung« (Tippelt und Schmidt 2010) verhält es sich ganz ähnlich; hier findet sich ebenfalls mit knappem Bezug zum Neo-Institutionalismus ein Beitrag (Kuper und Thiel 2010). Auf diese Theorieperspektive greifen unter anderem auch Helbig und Nikolai (2015) zurück, die Veränderungen in den Schulgesetzen der Bundesländer rekonstruieren. Ebenfalls institutionentheoretisch angelegt sind die vergleichsweise pragmatischen Überlegungen von Tippelt (2000). Wir werden darauf in Kapitel 8 zurückkommen, wenn wir kleinere Veränderungsanalysen exemplarisch zeigen und auch mit Veränderungen von schulrechtlichen Grundlagen in Verbindung bringen.

Eine stärker historisch ausgelegte Schulforschung (Zymek 2015) hat sich intensiver mit der Frage der »Transformation« von Schulsystemen befasst (Drewek 2001), wobei Transformation im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Umbrüchen (Ende des Zweiten Weltkrieges, Ende der DDR, Wiedervereinigung etc.) zusammengedacht wird und sozialer Wandel von Systemen dann als Bearbeitung der durch Transformationen gegebenen Problemlagen betrachtet wird (Benner und Merkens 2001). Dieses Vorgehen erinnert in seiner theoretischen Anlage an sequenzielle Konzepte von »Herausforderung und Resonanz« (Challenge and Response), die zur Bearbeitung der Frage nach Bewältigungsprozessen von Akteuren und Systemen fruchtbar erscheinen (Best 2004; Sackmann und Bartl 2007). Die DFG-Forschungsgruppe »Bildung und Schule im Transformationsprozess von SBZ, DDR und neuen Ländern« kommt dabei unter anderem zu dem Ergebnis, dass »zu den Dauerproblemen der Reform moderner Bildungssysteme daher die Frage [gehört], wie gesellschaftlich nachwachsende Ungleichheit durch schulische Bildungsgänge und ergänzende Maßnahmen – wenn schon nicht verhindert, so doch zumindest – beeinflusst und nach Möglichkeit korrigiert werden kann« (Benner und Merkens 2001: 809).

Diese Verbindung von Schulreform, Entwicklung und sozialer Ungleichheit ist nicht selbstverständlich für die Schulentwicklungsforschung (vgl. auch Dietrich, Heinrich und Thieme 2011). Man könnte hier pointiert formulieren, dass mit der Hinwendung zur Einzelschule die Frage nach der Chancengerechtigkeit invisibilisiert worden ist und auch die Forschung zur »Neuen Steuerung« eher an der Frage der Effizienz und Wirkweise Neuer Steuerung interessiert ist als daran, was diese zum Abbau sozialer Ungleichheiten beitragen kann (anders hingegen: Klemm 2014). Ein Indikator für diese Annahme kann sein, dass innerhalb der Schulentwicklungsforschung das Augenmerk häufig darauf gelegt wird, wie bestehende Problemlagen (z. B. die sogenannten Schulen in herausfordernden Lagen; Dobbelstein und Manitius im Ersch.) durch pädagogische Entwicklungsarbeit und Steigerung einzelschulischer Lern- und Problemlösefähigkeit (van Ackeren et al. 2016) bearbeitet werden können, ohne aber nach den auf Ebene von Steuerung und Raumkonstellation (Berkemeyer, Hermstein und Manitius 2016; Emmerich 2015) identifizierbaren Faktoren zu fragen.

So lässt sich beispielsweise in der Darstellung der »Entstehung, Struktur und Steuerung des deutschen Schulsystems« von van Ackeren und Klemm (2009) eine institutionskonforme Darstellung der Funktionsweisen, der Steuerung und Qualitätsentwicklung beobachten, die Entwicklungen im Wesentlichen als zweckrationale Effekte zuständiger Akteure begreift, also die formalen Regelungsstrukturen ausbuchstabiert und diese als hauptursächlich ausweist. Man könnte dies als deskriptive Perspektive oder (weniger neutral) als affirmative Perspektive auf Veränderungen im Schulsystem bezeichnen. Damit ist auch gemeint, dass Gesellschaft und die sie konstituierenden Ordnungen nicht oder nur indirekt als Treiber der Veränderung im Schulsystem Berücksichtigung finden.

In ähnlicher Weise versteht Rahm die »Entwicklung und Gestaltung der Schule als historisch verankerte[n] Reformauftrag« (2005: 5 sowie Kap. 2). Die, im Weber’schen Sinne, Rationalisierung des Schulsystems erfolgt durch einen Transfer reformpädagogischer Wertrationalität in organisierbare Zweckrationalität. Dies wird dann als Lernprozess rekonstruiert, der innerhalb der Institution gestützt und ermöglicht wird, sodass eine fortschreitende Weiterentwicklung und Perfektionierung des Schulsystems in Aussicht gestellt wird.

Deutlich weitreichender, theoretisch umfassender und mit kritischen Anleihen, aber ironischerweise weitgehend vergessen scheint die Arbeit von Dalin (1999), der aus einer Sichtung von Veränderungstheorien einen ersten Entwurf zu einer Theorie der Schulentwicklung, man müsste wohl eher sagen der »Schulsystementwicklung« vorlegt. Darin betont er, in Abgrenzung zum gängigen Widerstandsmythos von Lehrkräften gegenüber Schulreformen (Terhart, Bennewitz und Rothland 2014), dass Innovationen vier Konfliktdimensionen haben. Es geht um Konflikte im Bereich der Werte, im Bereich der Macht, im Bereich des »Praktischen« und im Bereich des Psychologischen. Damit weitet Dalin die Perspektive auch auf kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge aus, die Einfluss auf Veränderungsprozesse haben, und betont insbesondere die konflikthafte Natur von Veränderungen, die in obigen Perspektiven kaum eine Rolle zu spielen scheint, selbst da nicht, wo auf Gewinner und Verlierer im Schulsystem rekurriert wird (van Ackeren und Klemm 2009: 123 ff.).

Es mag gute Gründe für eine Zurückhaltung bei der Erklärung von Veränderungen geben, insbesondere wenn empirisch-deskriptive Herangehensweisen gewählt werden oder aber Erklärungsansätze auf ein im Schulsystem verbranntes Paradigma der Gesellschaftsforschung, wie es eben das konflikttheoretische darstellt, zurückgreifen. Wir werden dies in einer neuen Lesart von Schimank (2015) aufgreifen und für unsere Zwecke weiterentwickeln und sehen uns somit in einer Traditionslinie mit Dalin (1999) sowie frühen Ansätzen bildungssoziologischen Denkens in Deutschland (Berkemeyer und Meißner im Ersch.; Rolff 1967, 1980).

Angesichts der insgesamt dürftigen Theorielage ist es notwendig, dem Chancenspiegel einige dieser Arbeiten sowie die sich daran anschließenden eigenen Überlegungen voranzustellen. Dabei greifen wir zunächst auf einen unlängst publizierten Theorieansatz von Schimank (2015) zurück, der es uns ermöglicht, Schule als konflikthaftes Teilsystem moderner Gesellschaft zu verstehen. Von hier ausgehend, können dann Treiber des teilsystemischen Wandels vor allem in Bezug auf die vorhandenen Institutionen erläutert werden. Abschließend werden wir die theoretischen Erläuterungen mit der bekannten gerechtigkeitstheoretischen Position des Chancenspiegels verbinden.

2.1 Gesellschaftliche Entwicklung durch Modernisierung

Die Entwicklung des Schulsystems wird allzu häufig nur als Resultat schulsystemischer Handlungen verstanden, ohne die gesellschaftlichen Entwicklungen insgesamt in Rechnung zu stellen. Dies verwundert insofern, als dass schon lange Zweifel daran bestehen, dass das Schulsystem hinreichend autonom ist, um eigenständige Entwicklungen und somit auch einen eigenständigen Einfluss auf die Gesellschaft insgesamt zu haben (Fend 1980; Lundgreen 2003). Es ist also notwendig, Gesellschaft stärker als bislang mitzudenken, wenn man schulsystemische Entwicklungen erklären will (Berkemeyer und Meißner im Ersch.; Berkemeyer, Hermstein und Manitius 2016; Berkemeyer 2016).

Wir werden, um diesen Anspruch einzulösen, auf den Entwurf eines »Grundriss einer integrativen Theorie der modernen Gesellschaft« von Schimank (2015) zurückgreifen. Schimank versucht, die drei von ihm identifizierten großen soziologischen Theorierichtungen Differenzierungstheorie, Kulturtheorie und Ungleichheitstheorie zusammenzubinden. Dabei geht er davon aus, dass moderne Gesellschaften Teilsysteme ausgebildet haben, um Leistungen für die Gesellschaft bereitzustellen. So soll das Schulsystem Fähigkeiten vermitteln, um der nachwachsenden Generation eine umfassende Teilhabe an allen anderen Teilsystemen und Lebensbereichen der Gesellschaft zu ermöglichen. Dabei kommt es zu Konflikten zwischen Akteuren der unterschiedlichen Teilsysteme, da diese je unterschiedliche Anforderungen an die Leistungserbringung des Systems stellen. Diese Konflikte folgen jedoch weniger spezifischen Akteurslogiken, wie dies immer wieder behauptet wird, sondern vielmehr strukturellen Logiken, die situationsspezifisch von Akteuren bedient werden und dadurch reproduziert werden (Giddens 1988). Dies wird nicht nur in differenten Politiken, sondern auch in Programmen der jeweiligen Teilsysteme sichtbar, die immer auch als Reaktion auf Fremdreferenz, also eine Einmischung in andere Teilsysteme, zu verstehen sind.

Im Schulsystem mischen sich beispielsweise Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, religiöse Gemeinschaften, Elternvereinigungen, Stiftungen und viele weitere Akteure ein (noch immer sehr instruktiv: Friedeburg 1989; Heinemann im Ersch.), um spezifische Interessen, die sich an Ideen orientieren (kulturtheoretische Perspektive), durchzusetzen. Dabei ist die je verfügbare Macht eine hochrelevante Einflussgröße, die über Positionierungen in zentralen Organisationen und in den gesellschaftlichen Relationen, in die die Akteure eingebunden sind, sichtbar wird. Insofern sehen wir, im Unterschied zur Lesart von Mayntz (2015), durchaus auch machttheoretische (Maurer 2004) Implikationen in der Schimank’schen Gesellschaftstheorie.

Ungleichheitstheoretisch betrachtet »stellt sich die moderne Gesellschaft demgegenüber als eine Ordnung besser- und schlechtergestellter sozialer Lagen dar« (Schimank 2015: 243). Dabei lassen sich je nach Klassifikationskriterium Gruppen, Schichten, Klassen oder Milieus nach ihren jeweiligen Lebenschancen unterscheiden, die ihnen entweder zugeteilt werden (Allokation) oder die sie sich aufgrund ihrer Teilhabemöglichkeiten selbst sichern (reflexive Lebenschancen). Dynamiken entstehen dabei durch die Konflikte und Kämpfe, die sich jeweils um die Versuche entfalten, individuelle oder lagenspezifische Verbesserungen der Lebenschancen zu erzielen.

Im Schulsystem ist beispielsweise gut beobachtbar, dass es bildungsnahen Milieus offensichtlich deutlich besser gelingt, ihre Interessen gegenüber bildungsferneren Milieus durchzusetzen. Dies lässt sich nicht nur am Festhalten am Gymnasium, sondern auch an den zunehmenden Gründungen von Schulen in freier Trägerschaft beobachten. Ungleichheitstheoretisch wird das Schulsystem dann selbst als Ort der Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse erkennbar (Bourdieu und Passeron 1971; Berkemeyer, Hermstein und Manitius 2016). Dies gilt insofern, als dass sich im Kampf um Lebenschancen institutionelle Strukturen herausbilden, die eben vor allem bestimmte Milieus begünstigen, und als dass Schulsysteme selbst kaum Korrektive diesbezüglich vorweisen können. Für den Chancenspiegel ist insbesondere die Frage nach Korrektiven oder Anstrengungen durch schulsystemische Akteure relevant, um in Bezug auf die Gerechtigkeit des jeweiligen Schulsystems Aussagen treffen zu können.

Sodann sieht die kulturtheoretische Perspektive im Verständnis Schimanks (2015: 244) »die moderne Gesellschaft als Ordnung hochgradig generalisierter, gesellschaftsweit geltender evaluativer, normativer und kognitiver Orientierungen sowie dazu gehöriger Praktiken.« Zentral ist dabei die Leitvorstellung moderner Gesellschaft, dass gesellschaftliches Zusammenleben durch Fortschritt gekennzeichnet ist. Dabei wird Fortschritt mit zentralen Werten wie Rationalität, Gleichheit und Individualismus normativ zu bestimmen versucht. Insgesamt werden gesellschaftliche Bestrebungen seitens ebendieser Gesellschaft als auf Fortschritt hin ausgerichtet gedeutet. Der Glaube und die ständige Arbeit an gesellschaftlicher Modernisierung sind als ein zentrales Moment von sich reflexiv gegenüberstehenden Gesellschaften (Giddens 1996) zu begreifen.

Dieser Ansatz wird beispielsweise von Modernisierungstheorien (Zapf 2000, 1971) vertreten, die im Wesentlichen davon ausgehen, dass moderne Gesellschaften von wirtschaftlichem Wachstum und einer Rationalisierung des gesellschaftlichen Lebens, im Sinne eines kulturellen Fortschritts, geprägt sind und zu prägen sind. Zapf bezeichnet diese Annahme auch als »weitergehende Modernisierung« (Zapf 1971: 37), die aus einem Konflikt zwischen modernen Basisinstitutionen entsteht (Beck und Bonß 2001).

Schimank versucht nun, entlang von fünf Kompositionsschritten die drei Perspektiven aufeinander zu beziehen und so eine integrierte Theorie moderner Gesellschaft zu konzipieren. Dieses Vorgehen kann an dieser Stelle nicht im Detail rekonstruiert werden. Hier genügt es, die fünf von Schimank (2015: 246 ff.) formulierten Leitsätze zusammenzufassen. Die erste und wichtigste Grundannahme besteht darin, dass moderne Gesellschaften ihre Leistungsproduktion funktional ausdifferenziert haben und die Gesellschaftsmitglieder in diese partiell inkludiert sind. Zweitens finden die funktional ausdifferenzierten Leistungsproduktionen in sogenannten Wertsphären statt, welche den jeweiligen Kämpfen um die richtige Lesart kulturellen Fortschritts unterliegen. Dadurch kommt es zwischen den Teilsystemen sowie innerhalb der Teilsysteme zu Steigerungsdynamiken. Drittens unterliegt die Gesellschaft einem durch das Wirtschaftssystem und dessen kapitalistische Struktur verursachten Ökonomisierungsdruck, dem der Wohlfahrtsstaat als funktionaler Gegenpol entgegengesetzt ist. Viertens sind die meisten Menschen in modernen funktional differenzierten Gesellschaften einer arbeitsmarktvermittelten Einkommensungleichheit unterworfen. Dies führt zu unterschiedlichen Teilhabemöglichkeiten, die im günstigsten Fall durch wohlfahrtsstaatliche Aktivitäten kompensatorisch reguliert werden. Fünftens gilt, dass der durch die funktionale Differenzierung entfesselten Fortschrittsidee besonders in Bezug auf Wirtschaftswachstum, Gleichheitsansprüche und Ansprüche an individuelle Lebensstandards eine Steigerungsdynamik innewohnt (vgl. auch Dörre, Lessenich und Rosa 2009; Rosa 2015).

Dieser kurzen Einführung in den gesellschaftstheoretischen Rahmenansatz nach Schimank soll nun eine Anwendung auf das Schulsystem folgen, wobei wir eher exemplarisch denn auf Vollständigkeit bedacht vorgehen werden.

2.2 Die Entwicklung des Schulsystems im Spiegel der integrativen Theorie moderner Gesellschaften

Eine Zielsetzung dieses Chancenspiegels besteht in der Nachzeichnung von Entwicklungen der bundesdeutschen Schulsysteme seit PISA 2000 im Rahmen der Methodologie seines Beobachtungsschemas. Um hierbei nicht einseitig deskriptiv zu verfahren, haben wir nach Theorieangeboten gesucht, die Entwicklungen und sozialen Wandel inhaltlich beschreiben können. Erste Ansätze finden sich etwa bei Brüsemeister und Eubel (2003), die Facetten der schulsystemischen Modernisierung unter Rückgriff auf governanceanalytische wie soziologische Kategorien vor PISA beleuchten (bzw. Texte zu diesem Themenfeld versammeln).

Aktuell hat Schimank (2015) einen Vorschlag zu einer integrativen Theorie moderner Gesellschaften vorgelegt (siehe oben), der ebenfalls modernisierungstheoretisch konzipiert ist und daher einen für uns außerordentlich fruchtbaren Ausgangspunkt bildet, nicht zuletzt, weil sein Ansatz auch unmittelbare Anknüpfungspunkte zu unseren bisherigen Überlegungen im Chancenspiegel enthält, wie etwa die differenzierungstheoretische Fokussierung auf die Leistungsproduktion von Teilsystemen. Diese hatten wir zu Beginn noch unter alleiniger Bezugnahme auf die Theorie der Schule von Fend (1980, 2006) diskutiert. Mit der Erweiterung unserer Perspektive wird es möglich, Ordnungsstrukturen, die aufgrund von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zustande kommen, zu beschreiben und zudem, aufgrund der triperspektivischen Hervorhebung der Bedeutung von Konflikten, auch eine Art Meta-Treiber sozialen Wandels in und von Schulsystemen zu identifizieren. Als Meta-Treiber soll dieser insofern konzipiert werden, als dass sich aus ihm weitere Treiber für sozialen Wandel ableiten lassen, wie sie beispielsweise von Lessenich (2012) für den Gegenstand des Sozialstaates herausgearbeitet worden sind (Funktionen, Interessen, Institutionen, Geschlechterverhältnisse, Ideen).

Gerade hierin liegt eine klare Erweiterung unseres bisherigen, zuvorderst auf Fend rekurrierenden Ansatzes. Zudem fasst die integrative Theorie moderner Gesellschaften die funktional differenzierten Gesellschaften als Fortschrittsgesellschaften. Oder anders: Modernisierung wird als Steigerung von Teilsystemzuständen verstanden, die durch das antagonistische Verhältnis von kapitalistischen und wohlfahrtsstaatlichen Kräften der Gesellschaft moderiert werden. Dabei entfalten sich Modernisierungsprozesse entlang zentraler Leitwerte der modernen Gesellschaften wie Wohlstand, Steigerung individueller Lebensverhältnisse sowie der Idee der Gleichheit der Lebensbedingungen. Da insbesondere Konflikte lange Zeit wenig in Schulentwicklungstheorien beleuchtet wurden, so auch in den aktuellen Ansätzen der Governancestudien (mit vereinzelten Ausnahmen, z. B. Brüsemeister, Preuß und Wissinger 2014; Brüsemeister 2016), soll hier vor allem auf diesen Aspekt eingegangen werden, um nachfolgend eine Heuristik schulsystemischen Wandels entlang von Konflikten und Kämpfen anzudeuten. Zentral dabei ist das Konfliktdreieck moderner Gesellschaften, das wir im Anschluss an Schimanks integrative Theorie einer modernen Gesellschaft entwickelt haben (Abb. 1).

Abbildung 1: Konfliktdreieck moderner Gesellschaften

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In Anlehnung an Schimank (2015)

Die Eckpunkte des Konfliktdreiecks bestehen jeweils aus den Kommunikationsanlässen, die Konflikte nach den drei Theorieperspektiven entstehen lassen. In der differenzierungstheoretischen Lesart ist dies der Kampf der systemischen Ausrichtung an entweder der Selbstreferenz oder einer bzw. mehrerer Fremdreferenz(en). Aus der Perspektive der Kulturtheorie geht es um die Frage der Definitionshoheit in Bezug auf die Wertung, was gesellschaftlichen Fortschritt auszeichnet, also um die Durchsetzung der zentralen Werte moderner Gesellschaften oder die Rechtfertigungs- bzw. Anerkennungsordnungen (Boltanski und Thévenot 2014; Honneth 2011). Innerhalb des Paradigmas der Ungleichheitstheorie finden die Kämpfe bezüglich der Allokationsprinzipien sowie der daraus resultierenden Teilhabechancen statt (vgl. auch Rosa 2015; Dahrendorf 1979, 1992). Im Sinne der integrativen Theorie Schimanks lassen sich diese Konfliktfelder nun miteinander verschränken und für die Analyse von Teilsystemen fruchtbar machen. In Bezug auf das Schulsystem bzw. die Schulsysteme lässt sich dann annehmen, dass es Konflikte um inter- und intraorganisationale Positionen gibt, die einerseits zu verbesserten organisationalen Positionen von Akteuren führen können (schlimmstenfalls aber auch zu Exklusionen, vgl. Stichweh 2016) und so zugleich die Referenzstrukturen eines Teilsystems beeinflussen. Innerhalb dieser Dimension können vor allem Akteure bzw. Akteurskonstellationen in Bezug auf ihre Versuche beobachtet werden, sich positional so aufzustellen, dass sie auf die Referenzstrukturen eines Teilsystems Einfluss gewinnen, um so wiederum ihre Position weiter zu verbessern. Dabei können sich die Akteure grundsätzlich an den Antagonismen Wohlfahrtsstaat oder Kapitalismus orientieren, wobei natürlich Hybridformen entstehen.

Eng hiermit verbunden sind die Kämpfe um die Leitwerte und Leitbilder sowie die zentralen Symbole, die in einem System ordnungsstiftend sind und die Handlungen der Akteure zu orientieren suchen. Für das Schulsystem galt und gilt beispielsweise die Idee der Berechtigungsvergabe durch Leistung (Hadjar 2008; Hadjar und Becker 2011). Wenngleich empirisch, nicht zuletzt auch im Chancenspiegel, mannigfach gezeigt worden ist, dass es lediglich einen losen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Platzierung und Leistung gibt (Becker und Schubert 2011), hält sich die Ideologie der Leistungsgerechtigkeit bei vor allem als konservativ eingestuften Akteuren. Der Chancenspiegel, verstanden als korporativer Akteur aus Stiftung und Wissenschaft, versucht ebenfalls, in diesen Kampf um die relevanten Leitbilder einzugreifen (vgl. das folgende Kapitel zu den Gerechtigkeitstheorien), um so letztlich auch als relevante Fremdreferenz für das Schulsystem betrachtet zu werden. Dies gelingt nicht immer unmittelbar, aber zum Beispiel mittelbar, wenn der Chancenspiegel etwa als Referenz für andere Akteure dient und diese dann wiederum ihre Position ausnutzen, um Fremdreferentialität im Schulsystem zu bewirken.

Eine weitere Konfliktperspektive fokussiert auf die Lebenslagen der Gesellschaftsmitglieder, ihrer Position innerhalb der Gesellschaft und ihre teilsystemische Inklusion (Burzan et al. 2008; Stichweh 2016). Diese Perspektive wird aktuell auch von einer erstarkenden Sozialökonomik, bestehend aus »Wirtschaftsgeschichte, Statistik, Theorie und Wirtschaftssoziologie« (Schumpeter 2005) gestärkt, wozu beispielsweise Fratzscher (2016), Piketty (2014), Deaton (2015), Ostrom (2012) oder auch Sen (2001) zu zählen sind. Für das Schulsystem verdeutlicht diese Perspektive (Solga, Powell und Berger 2009) die Bedeutung individueller Bildungsaspirationen, um bessere gesellschaftliche Positionen zu erlangen (Meulemann 1979; Kramer 2011), aber auch eine Bildungspolitik, die stärker als bislang im Sinne eines sozial- bzw. wohlfahrtstaatlichen Handelns begriffen wird (Allmendinger und Nikolai 2010).

In Bezug auf die Ebene der Ideen findet dabei beispielsweise ein Kampf zwischen den Ideologien »Studium« und »Berufsausbildung« statt. Der sogenannte Akademisierungswahn, der mal von deutschen Kaisern, mal von deutschen Philosophen (Nida-Rümelin 2014) moniert wird, ist dann die eine Seite der Frontlinie; die andere formuliert Bildung als Bürgerrecht (Dahrendorf 1965) und betont die Unzulässigkeit der Funktionalisierung von Humanressourcen. Hinter beiden Positionen stecken Vorstellungen über Stabilität bzw. Dynamik der jeweiligen Positionen der Gesellschaftsmitglieder.

Der Modus dieser feldspezifischen Kämpfe ist noch weitgehend unbestimmt, könnte aber durchaus im Sinne von Honneths Kampf um Anerkennung gedeutet werden. Dies wäre jedoch in einer eigenen Untersuchung weiter zu klären. Klar ist allerdings, dass die Kämpfe selbst auch durch die Versuche der Exkludierung bestimmter Akteure geführt werden (vgl. als Beispiel einer klassischen soziologischen Studie: Elias und Scotson 1993), was umso erfolgreicher gelingen kann, je besser die jeweilige Position innerhalb von Organisationen und der Gesellschaft insgesamt ist. Zudem haben diese Ausführungen gezeigt, dass Akteure nie nur eine spezifische Logik verfolgen, sondern vielmehr in Bezug auf Werteorientierung und funktions- und interessengeleitetes Eigennutzenverhalten, also auf Konstellationen struktureller Logiken zu untersuchen sind. Insofern spezifiziert dieser Ansatz gängige Governancemodelle, die eher von unidimensionalen Akteurslogiken ausgehen.

Wenngleich Schimanks Ansatz von Modernisierung die Idee von Fortschritt und Steigerungslogik (vgl. auch Dörre, Lessenich und Rosa 2009) zugrunde liegt, sind auch Stagnation und Stabilität erklärbare Zeitphänomene, die im Sinne von Pattsituationen (eine Anwendung des Theorems der Pfadabhängigkeit auf das Schulsystem bietet z. B. Edelstein 2016) oder einer Steigerung bei gleichzeitiger Wahrung der Kräfteverhältnisse innerhalb der Gesellschaft zu deuten sind. Vor allem die letzte Lesart, die von Beck (1986) als Fahrstuhleffekt bezeichnet worden ist, dürfte für die hier vorzunehmenden Analysen von besonderer Bedeutung sein.

Diesen Punkt abschließend, sei im Sinne der integrativen Theorie moderner Gesellschaften daran erinnert, dass auch den Schulsystemen eine Fortschrittsidee innewohnt (Brüsemeister und Eubel 2003). Dieser Fortschritt wird zwar je nach Wertausrichtung womöglich anders bestimmt, fällt aber in jedem Fall mit Steigerungsimperativen zusammen. Der Chancenspiegel ist hierfür selbst wiederum ein Beispiel, da wir ebenfalls von Fortschritt und gleichzeitig mehr Gerechtigkeit ausgehen (vgl. Kap. 2.3), wenn die Werte der Indikatoren steigen bzw., je nach Aussagerichtung, fallen.

In vielen Teilsystemen leuchtet uns eine solche Steigerungslogik sofort ein. So ist im Gesundheitssystem relativ unumstritten, dass die Zahl der Todesfälle durch Nebenwirkungen medizinischer Eingriffe durch verbesserte Prozessabläufe sinken soll. Ähnliches gilt für das Senken der Zahl der Toten im Straßenverkehr etc. Im Schulsystem sind solche Steigerungslogiken verdächtig, weil die Vorstellung von Leistung immer schon mit selektionsorientierten Vorstellungen verbunden ist und unter den Beteiligten auch Druck erzeugt. Das heißt, dass manche Akteure sich schwertun werden, ein Ziel wie möglichst viele hohe Abschlüsse zu vergeben zu akzeptieren, solange gesellschaftliche Positionen mit Zertifikaten des Schulsystems in Verbindung gebracht werden und auch faktisch in Verbindung stehen (Friedeburg 1989). Einfacher wäre wohl die Zielvorgabe, immer mehr Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern zu erzeugen – allerdings müsste sich dies dann doch auch in Zertifikaten niederschlagen.

Wir werden an dieser Stelle nun eine Heuristik der Schulsystementwicklung nach PISA anbieten, die sich an diesen Konfliktlinien orientiert und auf einige wichtige Zeitzeichen der PISA- und Nach-PISA-Zeit eingeht.

PISA zwischen Ökonomisierungsdruck und Wohlfahrtsstaat

PISA ist vor allem in Deutschland Zentralsymbol der Bildungsreform geworden und markiert eine Zäsur in der Entwicklung der bundesdeutschen Schulsysteme, vor allem auch im Selbstverständnis der Akteure, die für die Leistungsproduktion des Schulsystems verantwortlich zeichnen. Dass PISA besonders in Deutschland so tiefe Spuren hinterlassen hat (Tillmann et al. 2008), liegt womöglich gerade am erwartungswidrig schlechten Abschneiden in der ersten PISA-Studie aus dem Jahr 2000. Die kompetenzorientierte »Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung«, besser bekannt als IGLU, in der Deutschland vergleichsweise gut abgeschnitten hatte (Bos et al. 2004), erzeugte jedenfalls deutlich weniger Aufmerksamkeit. Für unsere Überlegungen ist es nun bedeutsam zu zeigen, dass die integrierte Theorie moderner Gesellschaften in der Lage ist, Phänomene wie PISA zu beschreiben und Verhaltensweisen von Akteuren sowie Entwicklungen gesellschaftlicher Teilsysteme zu erklären.

In differenzierungstheoretischer Lesart haben die PISA-Befunde die antagonistischen Kräfte des Wirtschaftssystems und des Wohlfahrtsstaates aktiviert. Die Sorge um geringe Kompetenzen, Ausbildungsfähigkeit und die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland wurden als Argumente genauso ins Feld geführt wie solche um die mangelnde Chancengerechtigkeit, die sich vor allem im engen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg ausdrückt. In der Folgezeit sind entsprechend, mal mit mehr, mal mit weniger sinnvollem bzw. folgerichtigem Bezug auf PISA, Bildungsreformen vorgeschlagen und teils durchgeführt worden (Tillmann et al. 2008). PISA selbst lässt sich aber auch, wie im Konfliktdreieck moderner Gesellschaften vorgeschlagen, im Sinne einer Neupositionierung der Akteurskonstellation im Schulsystem und mit dem Schulsystem eng verbundenen (strukturell gekoppelten) weiteren Teilsystemen lesen. So hat insbesondere die allgemein als empirische Bildungsforschung bezeichnete (Berkemeyer 2016) Gruppe von Akteuren, die unmittelbar mit der Messung von Kompetenzen befasst waren und sind, sich gänzlich neu positioniert und starke Netzwerke vor allem in die Bildungspolitik und Bildungsadministration hinein auf- bzw. ausgebaut (z. B. das Institut für Qualitätssicherung im Bildungssystem, kurz IQB; siehe auch die Diskussion in der Zeitschrift »Die Deutsche Schule« zwischen Tenorth (2015) und Heinrich (2015)). Wir werden im nächsten Abschnitt beleuchten, wie referenzmächtig diese Entwicklung im Schulsystem gewesen ist.

Hiermit eng verbunden ist auch eine erhebliche Modernisierung der Bildungsverwaltung, die ihren Ausdruck in neuen Abteilungen oder nachgeordneten Behörden findet, die sich sehr spezifisch mit Fragen des kompetenzbasierten Bildungsmonitorings beschäftigen (Tillmann et al. 2008; Fickermann und Maritzen 2014). Im Sinne eines Versuchs der Rationalisierung von Entscheidungen durch Evidenz sollte hierdurch ein neues Niveau der Beobachtungspräzision sowie der Entscheidungsqualität gewonnen werden. Hier ist nicht der Ort, um über den Erfolg dieser Bemühungen zu spekulieren (vgl. z. B. Hermstein et al. 2015; Altrichter und Kemethofer 2016). Wesentlich ist zunächst, dass PISA einen solchen Modernisierungsschub mit hervorgebracht hat. Parallel hierzu lassen sich dann aber Konflikte in Bezug auf die Leitidee eben dieser evidenzbasierten Bildungspolitik finden, die vor allem den durch PISA und die darauf folgende Evidenzpolitik erzeugten Ökonomisierungsdruck kritisieren und dabei vor allem die OECD als treibende Akteurin erblicken (Radtke 2006, 2016; Bellmann und Müller 2011; Höhne 2015; Bloem 2016; Münch 2009). Berkemeyer (2016) hat diesbezüglich weniger auf Ökonomisierung denn auf mangelnden Anerkennungsprozessen basierende Dysfunktionalitäten hingewiesen, die insbesondere durch die vergleichsweise plumpe Einführung eines neuen Kommunikationsmediums (Evidenz) im Rahmen der Neuen Steuerung entstanden sind. Hierbei werden also Probleme der Neuen Steuerung nicht psychologisch als Kompetenzprobleme gefasst, sondern als Konflikte und Kämpfe um Anerkennung. Es geht anders formuliert darum, wer die Werte und Normen für die Bewertung schulischer Praxis formulieren darf, auf die dann zum Zwecke der Affirmation einer spezifischen schulischen Praxis Bezug genommen wird. Damit ist dann auch ausgesagt, dass diese Konflikte vor allem im Wissenschaftssystem und dann auch im politischadministrativen System gewirkt haben und noch wirken. Ob das Schulsystem hiervon im Sinne einer Veränderung auch jener Dimensionen betroffen ist, die wir im Chancenspiegel beobachten, soll nachfolgend genauer erörtert werden.

KMK-Handlungsfelder und die »Implementierung« von Leitideen

In der Kultusministerkonferenz vom 17./18.Oktober 2002 wurden sieben Handlungsfelder verabschiedet (KMK 2002), in denen über die darauffolgenden Jahre schwerpunktmäßig Bildungsreformen angegangen werden sollten. Vielleicht etwas überraschend war dabei die Sekundarstufe I gar nicht unbedingt im Fokus, wie die Auflistung der Handlungsfelder zeigt (KMK 2002: 6f.):

1. Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz bereits im vorschulischen Bereich

2. Maßnahmen zur besseren Verzahnung von vorschulischem Bereich und Grundschule mit dem Ziel einer frühzeitigen Einschulung

3. Maßnahmen zur Verbesserung der Grundschulbildung und durchgängige Verbesserung der Lesekompetenz und des grundlegenden Verständnisses mathematischer und naturwissenschaftlicher Zusammenhänge

4. Maßnahmen zur wirksamen Förderung bildungsbenachteiligter Kinder, insbesondere auch der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund

5. Maßnahmen zur konsequenten Weiterentwicklung und Sicherung der Qualität von Unterricht und Schule auf der Grundlage von verbindlichen Standards sowie eine ergebnisorientierte Evaluation